Читать книгу Graues Land - Michael Dissieux - Страница 8

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Ich weiß nicht, ob man die Zukunft träumen kann. Doch ich glaube, dass ich genau dies mein Leben lang getan habe.

Schon als kleiner Junge bin ich in der Nacht schreiend aufgewacht, das grässliche Abbild einer Welt vor Augen, die still und leer war, und deren Asche den Himmel verfinstert hatte.

Erst durch die tröstenden Worte meiner Mutter und ihrem vertrauten, warmen Geruch verblasste die schreckliche Szenerie in meinem Kopf und verkroch sich in die dunkelste Ecke meines kindlichen Verstandes, nur um in irgendeiner weiteren Nacht erneut aus ihrem Pfuhl emporzusteigen.

In den wiegenden Armen meiner Mutter verschwanden mit den Zerrbildern dieser stummen, entarteten Welt auch die Kreaturen, die sich in Schatten und Dunkelheit verbargen.

Ich vermisse meine Mutter sehr. Selbst jetzt noch, da ich ein alter Mann von fast siebzig Jahren bin, denke ich oft an diese einzigartige Frau zurück. Wenn ich heute von Ihnen träume, ist niemand mehr da, dessen Körperwärme mich beruhigen kann.

Bis vor zwei Jahren hatte Sarah in dieser Beziehung die Rolle meiner Mutter übernommen. Zweiundvierzig Jahre sind wir nun verheiratet. Sie hatte mich bereits mit meinen schrecklichen Träumen kennengelernt. Und trotzdem, oder vielleicht sogar gerade deswegen, hat unsere Ehe so lange gehalten. Rückblickend glaube ich heute, dass ich schon vor langer Zeit den Verstand verloren hätte, wenn meine Sarah nicht gewesen wäre.

Wenn ich in den Nächten mit einem heiseren Schrei auf zitternden Lippen und mit bebendem Körper aufgewacht war, meine Stirn vor Schweiß geglänzt und ich mir, wie ich sehr zu meiner Schande eingestehen muss, in den letzten Jahren immer öfter während meiner Träume in die Hose gemacht hatte, dann hat sie mich mit der gleichen warmen Stimme und den gleichen zärtlichen Berührungen beruhigt, wie es einst meine Mutter getan hatte.

Sie hat über den Gestank hinweg gesehen, der von meinen Laken aufgestiegen war, mir das nasse Haar aus der Stirn gestrichen und mich in ihren Armen gewiegt. Und nicht selten haben wir dann bis zum Morgengrauen auf diese stille Weise, wie man es nur nach über vierzig Jahren Ehe tun kann, im Bett gelegen. Ohne zu reden, einfach nur füreinander da und darauf wartend, dass der dämmernde Morgen die grausamen Alpträume mit sich fortträgt.

Ich habe Sarah nie erzählt, von was ich träume, und sie hat auch nie danach gefragt. Obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht habe, als endlich jemandem mit mir zusammen in den schwarzen, morastigen See eintauchen zu lassen, den mein Unterbewusstsein beherbergt.

Doch ich konnte es nicht. Manchmal denke ich, dass mich irgendetwas daran gehindert hat, meine Traumgespinste preiszugeben.

Vielleicht waren Sie es sogar, die mir einen seelischen Bannfluch auferlegt haben, der es mir unmöglich macht, mich selbst Menschen gegenüber, die ich über alles liebe, zu öffnen.

Sie, jene fürchterliche Kreaturen, die schattengleich durch das Dunkel dieser entvölkerten Traumwelt schleichen und mich in den Nächten martern.

Über diesen Aspekt habe ich mir nie Gedanken zu machen gewagt, denn eine solch konfuse und unheimliche Gedankenfolge hätte mich unweigerlich um den letzten Rest von Verstand gebracht.

Heute denke ich anders darüber.

Mittlerweile bin ich aus tiefster Seele davon überzeugt, dass es nicht mein eigenes Zutun ist, das mich daran hindert, von meinen nächtlichen Alpträumen zu erzählen.

Eine Zeit lang dachte ich an eine Art göttliche Obhut, die mich vor dem Spott meiner Mitmenschen zu schützen versucht. Denn wir wissen alle, wie grausam Menschen werden können, wenn sie in der Fassade ihres Gegenübers einen Riss entdecken.

Und in nichts ist der Mensch geschickter als gekonnt seine Finger in diesen Riss zu legen, zu reißen und zu graben, und die Ängste und Phobien ans Tageslicht zu befördern, die man dahinter zu verbergen sucht.

Doch wenn mich ein Gott vor Verhöhnung zu schützen versuchte, wieso ließ er es dann erst zu, dass mich meine Träume immer und immer wieder befielen?

Wurde in der Kirche nicht gepredigt, Gott sei allmächtig?

Besaß er nicht die Macht, diese grässlichen Ungetüme in meinen Träumen zu bannen?

Diese düstere Welt in meinem Kopf zu vernichten?

Die These eines göttlichen Schutzes verwarf ich schnell. Ich war nie ein sehr gläubiger Mensch gewesen. Über einen himmlischen Beistand nachzudenken und zu dem Schluss zu kommen, dass ein solcher überhaupt nicht existierte, würde mir mit Sicherheit den letzten erbärmlichen Funken an biblischem Glauben nehmen.

Schnell kam ich zu der Überzeugung, dass mir eine innere Fessel angelegt worden war. Ich schaffte es einfach nicht, über die Wesenheiten in meinen Träumen zu reden. Selbst der kleinste Versuch schürte eine unsägliche Furcht in mir, die zu Schweißausbrüchen und zitternden Anfällen führte. Und eine derart unmenschliche Angst konnte ich mir letzten Endes nur durch einen Fluch jener Kreaturen selbst erklären, welche die dunkle Seite meines Verstandes bewohnten.

Alles was ich Sarah jemals erzählen konnte, war, dass ich von einem schrecklichen Ort träumte, an dem es keine Menschen gab.

Mehr bekam ich nicht über meine Lippen, und ich weiß bis heute nicht, ob Sarah mir diese Worte je geglaubt hatte.

Aber mehr hatten Sie nie zugelassen.

Heute erzähle ich Sarah nichts mehr von meinen Träumen. Dafür, dass sie mich und meine Eigenheiten über vierzig Jahre geduldig ertragen hat, denke ich, dass sie nun, in den letzten Zügen ihres Lebens, ein klein wenig Ruhe vor meinen Psychosen verdient.

So bleibe ich seit fast zwei Jahren alleine mit jenen Träumen.

Bislang bin ich ganz gut damit klargekommen. Von einigen extremen Anfällen in der Nacht abgesehen, war ich bisher stolz darauf gewesen, meine traumatischen Gedankenspiele auch ohne die Hilfe anderer im Griff zu haben.

Doch seit einigen Tagen ist alles anders.

Während ich über die Ereignisse der vergangenen Woche nachdenke, bereite ich mit automatisierten Bewegungen Sarahs Abendessen zu.

Warmer Haferschleim, eine zerdrückte Banane und eine Kanne mit Tee.

Viel mehr habe ich nicht in der Speisekammer gefunden.

Damals, in den Tagen, als Sarah und ich unser kleines Haus auf dem Hügel noch mit Lachen und allerlei unsinnigen Scherzen erfüllt hatten, gehörte der abendliche Tee zum festen Bestandteil unseres Lebens. Als wir das Haus mit seinen niedrigen Räumen und rustikalen Klinkersteinen zu Beginn unserer Ehe gebaut hatten, war es Sarah gewesen, die das dringende Bedürfnis nach einem offenen Kamin im Wohnzimmer äußerte. Und als verliebter, junger Romeo las man seiner Julia natürlich jeden Wunsch von den Lippen ab.

So hatten wir in all den Jahren fast jeden Abend in kleinen, robusten Korbsesseln vor dem wärmenden Feuer verbracht. Während wir unseren Tee tranken, uns gegenseitig über den Rand der Tasse ansahen und ein Lächeln nicht unterdrücken konnten, hatte das Knistern und Knacken der Holzscheite im Kamin eine ganz eigene, melancholische Symphonie für uns gespielt.

Wir hatten einfach nur dagesessen, im Hintergrund leise Musik, und über das geredet, was uns der vergangene Tag beschert hatte.

Die Nähe meiner Sarah zu spüren, ihre ruhige Stimme zu hören und ihr beim Reden zuzusehen, wie sich immer wieder ein Lächeln zwischen ihre Worte stahl und ihre weißen Zähne aufblitzten, war alles, was sich ein glücklicher Mann wünschen konnte.

Ich steige die Treppe ins Schlafzimmer hinauf. Das Geschirr klappert leise auf dem Tablett, und ich bleibe stehen.

Wieder einmal trifft mich die allgegenwärtige Stille wie ein Schlag. Fast erscheint es mir, als hätte ich mich in einen tiefschwarzen Mantel gehüllt, der alle Geräusche der Welt von mir fernhält.

Das Tablett auf einer Hand balancierend, blicke ich mich im Dämmerlicht des Flurs um. Lediglich einige Kerzen stehen auf dem kleinen Schränkchen, auf das wir damals immer achtlos unsere Schlüssel oder Briefe geworfen hatten.

Mein Schatten gleicht dem eines dürren Riesen an der Wand.

Als die Stille begonnen hatte, war mir das Haus wie ein düsteres Grab erschienen.

Dort, wo früher die vertrauten Lampen gebrannt und die ebenso vertrauten Schatten sich in den Ecken gedrängt hatten, versteckten sich nun Horden unsichtbarer Wesen in nachtschwarzen Nischen, deren Mäntel die vereinzelten Kerzen nicht zu durchbrechen vermochten.

Manchmal bilde ich mir ein, ihre trippelnden Füße in der Dunkelheit zu hören. Dann habe ich das Gefühl, dass sie sich mir zu nähern versuchen, jedoch nie die schützenden Schatten verlassen, so dass ich einen Blick auf ihre abnormen Körper werfen könnte.

Mir ist bewusst, dass ich mir das alles nur einbilde. Das Alter, in Verbindung mit Dunkelheit und plötzlicher Stille, ist etwas, das ich scheinbar nur schwer ertragen kann.

Es gelingt mir kaum noch, das beklemmende Gefühl abzulegen, das mich jeden Abend aufs Neue befällt, wenn ich die Kerzen anzünden muss.

Am Tag ist es nicht sehr viel heller in den Räumen. Das düstere Grau, das durch die Fenster sickert, erscheint mir sogar noch betrüblicher als das Flackern der Kerzen, das mich zumindest teilweise noch an die Abende vor dem Kaminfeuer zurückdenken lässt.

Das Schlimmste aber ist die Stille.

Abgesehen vom gelegentlichen Stöhnen des Gebälks und dem tiefen Ächzen des Fundaments im Keller, hat sich ein dichtes Tuch des Schweigens über die Welt gelegt.

Mit der freien Hand fahre ich über die Augen und spüre eine tiefe Müdigkeit hinter den Lidern. Meine Finger zittern. Ich starre sie einen Moment an, dann balle ich sie zur Faust und blicke die Treppe empor, wo eine einzelne Petroleumlampe auf dem Pfosten des Geländers ein weiches Licht über die obersten Stufen fließen lässt.

Seufzend und mit schwerfälligen Schritten steige ich den Rest der altertümlichen Holzstiege hinauf.

Das Knarren der mittleren Stufe erscheint mir, wie jeden Abend, als das schönste Geräusch, das man in dieser Welt noch finden kann. Selbst das müde Schaben meiner Füße in ihren Pantoffeln ist eine willkommene Abwechslung zum ewigen Schweigen.

Alles, was mich an eine normale Welt denken lässt, sauge ich begierig auf.

Doch es gibt nicht mehr viel, das normal ist. Nicht mehr viel, dass mich aufrecht hält.

In einem Buch eines amerikanischen Schriftstellers, das ich vor unzähligen Jahren gelesen hatte, hieß es einmal `Die Welt hat sich weitergedreht´.

Ich muss oft an diesen einen Satz denken, der mich damals schon emotional tief berührt hat.

Es mag sich verrückt anhören, aber im Stillen habe ich diesen einen Satz zur Schlagzeile der vergangenen Tage erkoren.

Wenn ich noch meine Zeitung bekommen würde, wäre der Satz von Mister Stephen King wahrscheinlich in fetten Lettern auf die erste Seite gedruckt.

Darunter das Foto einer schwarzen Welt, unter deren Himmel Aschewolken dahin ziehen, und die still und leer geworden ist.

Aber ich bekomme keine Zeitung mehr. Der junge Daryll, der mit seinem roten Fahrrad und den wehenden Haaren immer den steinigen Weg durch die Hügel gefahren ist und bei jedem der weit verteilten Häuser seine Zeitung abgeliefert hatte, war seit über einer Woche nicht mehr hier gewesen.

Ich frage mich, ob der Junge noch lebt. Und sein leuchtend rotes Fahrrad, auf das er so lange gespart hatte; steht es noch in der Garage seiner Eltern? Liegt es irgendwo auf der Straße oder in einem der Gräben, die sich aufgetan haben?

Den Jungen vermisse ich wirklich. Es tat gut, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, wenn er mir die Zeitung selbst an Regentagen durch den Vorgarten bis zur Haustür gebracht hatte. Seine Jugend ließ mich oft vergessen, wie alt ich bin.

Aber noch mehr vermisse ich meine Zeitung.

Mit ihr war auch der Strom verschwunden. Und den Generator im Schuppen anzuwerfen, wage ich nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nach all den Jahren, in denen er unbenutzt hinter Brettern und Kisten verborgen vor sich hingerostet hatte, nicht einmal daran, dass er noch funktionieren würde.

Irgendwie haben Sarah und ich nie so weit gedacht. Wir besaßen alles, was wir brauchten, um glücklich zu sein, genossen die Abgeschiedenheit unseres Heimes und die Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation, und hätten nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass es einmal anders kommen könnte.

Dass die Welt sich weiterdreht, wie es Mister King vor vielen Jahren so treffend formuliert hatte.

Als ich die oberste Stufe erreiche, verharre ich einige Sekunden, um meinen geschundenen Knochen etwas Ruhe zu gönnen. Dann greife ich mit der freien Hand die Petroleumlampe auf dem Geländerpfosten und gehe den Flur entlang zum Schlafzimmer.

Die Schatten weichen respektvoll vor mir zurück. Das durch einen Glaszylinder gedämpfte Licht der Lampe wirft einen sanften Schein auf die alte Tapete, deren Blumenmuster vor ungefähr vierzig Jahren modern gewesen ist. Es gibt so viel, was mich an Sarah erinnert. An manchen Tagen brennt der Schmerz wie Feuer in meinen Eingeweiden. Dann versuche ich zu vermeiden, dass meine Augen an ihrer Sammlung von Porzellanfiguren hängen bleiben. Oder an den gerahmten Fotos auf dem Kaminsims, die mir voller Hohn die Geschichten einer längst erloschenen Zeit erzählen wollen.

Als ich die Schlafzimmertür erreiche, bleibe ich stehen und blicke zur dunklen Decke empor. Wie jedes Mal, wenn ich Sarahs Zimmer betrete, schicke ich einige verzweifelte Worte an einen Gott, den es womöglich gar nicht gibt.

Ich sagte ja bereits, ich war nie ein besonders gläubiger Mensch gewesen. Gott und die Kirche habe ich als etwas akzeptiert, das sich nun mal in meiner unmittelbaren Umgebung befindet. Etwa so wie die große Wiese hinter dem Haus, die sich bis zu den Schatten des Waldrands erstreckt. Oder aber den schäbigen Gemischtwarenladen des alten Murphy, wo Sarah und ich immer unsere Einkäufe erledigt und anschließend mit ihm noch eine Tasse Tee getrunken hatten.

All diese Dinge gehörten zu meinem Leben eben dazu. Und genauso haben Gott und seine Prediger dazugehört.

Aber er war nie etwas Besonderes für mich gewesen. Was die anderen in ihm und seinem Wirken gesehen hatten, konnte ich tief in meinem Innern nie nachvollziehen.

Warum ich ausgerechnet jetzt das Wort an ihn richte, kann ich nicht sagen.

Ein Mann mit meinem Glauben sollte der erste sein, der sagt, Gott hat sich von seiner Schöpfung abgewendet. Unter normalen Umständen müsste ich ihm vorwerfen, dass er die Menschen im Stich gelassen hat. Und wahrscheinlich hätte ich das auch wirklich lautstark getan.

Würde hinter der Tür nicht Sarah liegen.

Sie war alles, was mir noch geblieben ist. Gott hatte mir alles genommen. Die Geräusche und Gerüche der Welt, so wie ich sie seit siebzig Jahren kenne. Er hat mir das Licht genommen und die behagliche Wärme. Und nicht zuletzt jegliche Hoffnung auf das Erleben meiner Zukunft.

Nur Sarah hat er mir gelassen, auch wenn sie nicht mehr dieselbe ist wie früher.

Die Worte, die ich an Gott richte, sind kein Gebet, sondern einfach nur eine Bitte. Ich wünsche mir, wenn ich den Raum betrete und mich an ihr Bett setze, ihren Atem zu spüren und zu sehen, wie sich ihre Brust schwach hebt und senkt.

Es werden nie Gebete sein. Und auch keine Fragen nach dem Warum.

Einfach nur der Wunsch, nicht völlig allein auf der Welt zurückgelassen zu werden.

Wenn Gott nicht tot ist, wird er mir diese kleine Bitte erfüllen.

Als ich die Tür mit meiner Hüfte aufstoße, schlägt mir abgestandene Luft entgegen. Eine trockene Wärme streicht über mein Gesicht, und der säuerliche Geruch von Schweiß und Urin steigt mir in die Nase.

Die Tür quietscht leise in den Angeln.

Wieder ein Geräusch, das mich an bessere Tage zurückdenken lässt.

Sarah hatte mich oft darum gebeten, etwas gegen das nervtötende Quietschen zu unternehmen. Und immer habe ich nur genickt, und es dann vergessen.

Durch den Spalt der geschlossenen Holzläden vor dem Fenster kann ich einen letzten, dunkelgrauen Streifen Tageslicht erkennen. Als versuche eine brackige Masse durch die Ritzen ins Zimmer zu sickern. Auf einem Tisch in der Ecke brennt eine einzelne Kerze. Deren Flamme beginnt hektisch zu tanzen, als die stille Luft des Raumes von mir durcheinandergewirbelt wird.

Plötzlich erwachen die starren Schatten an den Wänden zu verzweifeltem Leben. Der alte Eichenschrank, den wir uns nur ein paar Tage nach unserer Hochzeit gekauft hatten. Der kleine Schminktisch, den Sarah noch bis vor einigen Jahren benutzt hatte, um sich hübsch zu machen. Oder aber die massigen Pfosten des Bettes, die wie stumme Wächter an der Wand emporragen, und die das Liebste beherbergen, das ich je im Leben besessen habe.

Ich stelle die Petroleumlampe neben die Kerze und blicke zum Bett hinüber.

Von irgendwo draußen dringt langgezogenes Heulen in den Raum.

Mein Blick wandert kurz zu dem finsteren Spalt zwischen den Holzläden. Dann wieder zum Bett.

Alles, was ich erkennen kann, ist die dicke Federdecke, über deren Muster die Schatten der Kerze und der Lampe huschen.

Als ich näher trete, bemerke ich, wie sich die Decke kaum merklich hebt und senkt.

Erleichtert atme ich aus und registriere erst jetzt, dass ich die ganze Zeit, seit ich den Raum betreten habe, die Luft angehalten habe.

Ein kurzer Blick zur Decke, ein ebenso kurzes und schlichtes `Danke´ an jenes Wesen, das andere als Gott bezeichnen.

Die Federn des alten Bettes quietschen leise, als ich mich neben Sarah setze. Das Tablett lege ich auf meinen Knien ab und halte es mit einer Hand fest, während ich mit der anderen zögerlich nach Sarahs blassem Gesicht taste.

Sie blickt in meine Richtung. Das macht sie immer, wenn ich mich neben sie setze. Aber manchmal bin ich mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt wahrnimmt. Vielleicht ist es auch nur Zufall, dass ihr Kopf auf diese Seite geneigt ist.

Ihre Augen blicken ausdruckslos, die Pupillen sind mit einer milchigen Schicht überzogen. Früher einmal waren sie von einem bestechenden Blau gewesen.

Oftmals liest man in romantischen Romanen von tiefen Seen, die man in den Augen wunderschöner Frauen finden kann. Und dass man auf ewig darin versinken könnte, hinabtauchen bis auf den Grund des Paradieses.

Bei Sarah waren diese Worte keine leeren Phrasen gewesen. Ihre Augen hatten geleuchtet und wurden von einem kindlichen, neugierigen Leben beseelt. Wenn sie einen angeblickt hatte, war die Welt um einen herum zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden. So klischeehaft sich das auch anhören mag. Ein Blick in dieses unergründliche Blau - in diese tiefen, geheimnisvollen Seen - und man war nur noch von dem Wunsch besessen, absolut alles für den Besitzer dieser herrlichen, kraftvollen Augen zu tun.

Heute ist der Spiegel ihrer Seele zerbrochen. Über die blaue See hat sich immerwährender, dichter Nebel gelegt, der jede Farbe in tristes Grau verwandelt.

Ihr Mund ist offen, ihre Lippen rissig und grau. Saurer Atem, wie man ihn vom morgendlichen Erwachen her kennt, schlägt mir in schwachen Zügen entgegen.

Ich streiche durch ihr Haar, das ihr zerzaust in die Stirn hängt.

Wann immer es geht, versuche ich ihr das Haar zu kämmen. Doch meistens schaffe ich es nur, sie zu waschen und umzuziehen, bevor sie wieder ihre Augen schließt und einschläft.

Mit zärtlichen Bewegungen versuche ich, ihre grauen Locken zu ordnen. Die Haut ihrer Stirn ist trocken und schuppig. Um ihre Augen haben sich tiefe Ringe gebildet.

»Sarah«, flüstere ich leise und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Der Gestank von Schweiß und frischen Fäkalien steigt mir in die Nase.

»Liebling. Ich habe dein Essen mitgebracht.«

Ich drehe mich in ihre Richtung, so dass das Tablett zwischen uns auf meinen Knien balanciert.

»Und frischen Tee.«

Die Erinnerung, die der Geruch der Teekanne mit sich trägt, tut immer noch so weh wie am ersten Tag. Eine einzelne Träne rollt über meine Wange.

»Komm, Liebling. Lass uns essen, bevor es kalt wird.«

Der Haferschleim ist schon fast abgekühlt. Ich lege meine linke Hand unter ihren Kopf und stütze Sarah, während ich mit der rechten den Löffel in den Haferschleim tauche.

Ein leises Stöhnen tröpfelt zwischen ihren spröden Lippen hervor, als ich den Löffel in ihrem Mund verschwinden lasse.

Ob sie mich wahrnimmt, weiß ich nicht. Ebenso wenig, ob sie spürt, dass sie etwas zu Essen bekommt.

Manchmal bewegen sich ihre Pupillen unter der milchigen Schicht ihrer Augen.

Doch meistens starren sie mich nur aschenfarbig an.

Während ich Sarah füttere, beginne ich erstickt `Blue Spanish Eyes´ zu summen.

Unser beider Lieblingslied.

Der graue Spalt zwischen den Fensterläden wird zu tiefem Schwarz. Irgendwann setze ich mich in den großen Korbsessel, den ich vor das Fenster gestellt habe und der so ausgerichtet ist, dass ich Sarah betrachten kann.

Sie ist eingeschlafen, nachdem ich ihre Windeln gewechselt habe.

Das Tablett mit dem leeren Teller und der noch halb vollen Teetasse steht auf dem Nachttisch neben dem Bett.

Meine Gedanken schweifen ab. Während ich auf das bleiche Oval von Sarahs Gesicht starre, denke ich an Barry. Wie mag es ihm wohl ergangen sein? Und was ist mit Ashley? Was mit Demi? Die nächste Fragen, die unweigerlich folgen, sind, ob unser Sohn und seine Familie überhaupt noch am Leben sind. Ob es ihnen gut geht, und falls ja, was sie wohl gerade tun.

Wie immer, wenn diese Fragen wie ein Rudel gefräßiger Raubtiere über mich herfallen, spüre ich eine schmerzhafte Beklemmung in der Brust, und das Atmen fällt mir schwer. Wie oft habe ich Barrys Nummer gewählt, als das Telefon noch funktionierte? Und wie oft habe ich der anonymen Computerstimme gelauscht, die mir emotionslos mitteilte, dass der Gesprächspartner vorübergehend nicht erreichbar sei. Ich konzentriere mich wieder auf Sarah und lausche ihrem zufriedenen Brummen und gelegentlichen tiefen Luftholen. Dann schließe ich selbst die Augen, und die gespenstische Stille dieser toten Welt nimmt mich mit in einen unruhigen Schlaf.

`Ich muss die Vorräte auffüllen´, denke ich noch.

Dann schlafe ich ein.




Sarah hat mich zu einem leidenschaftlichen Schwimmer gemacht. Schon als ich sie das erste Mal im Haus meines Bruders gesehen hatte, war ich in das tiefe Blau ihrer Augen eingetaucht.

Und auch heute Abend existiert nur diese berauschende Farbe in meiner kleinen Welt.

Während ich neben ihr hergehe, werfe ich immer wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung. Sie hält den ihren gesenkt, so dass ihr Gesicht in den Schatten ihres langen Haares verborgen ist.

Auf diese Weise kann sie mich nicht dabei ertappen, wie ich sie immer wieder ansehe.

Selbst ihr Schatten, der von den Straßenlaternen auf das Pflaster geworfen und verzerrt wird, hat etwas Sinnliches.

Die Art und Weise, wie unsere beiden Schatten miteinander auf dem Grau der Straße harmonieren, gefällt mir. Irgendwie habe ich das unbestimmte Gefühl, dass die beiden Konturen zueinander gehören. Wir werden beide in die Länge gezogen, wenn die Laterne hinter uns zurückbleibt, und verschwinden kurz, wenn die nächste Lampe auftaucht.

Ich bin versucht, unsere Schatten miteinander verschmelzen zu lassen, indem ich ihre Hand nehme. Doch der Gedanke ist absurd.

Dieser Abend ist unser erster von unzähligen, die noch folgen sollten.

So behalte ich den Wunsch bei mir und konzentriere mich darauf, einen möglichst seriösen Eindruck auf Sarah zu machen. Mein Vater hat mir einmal gesagt, der erste Eindruck, den man bei einer Frau hinterlässt, sei der Wichtigste.

Sie redet nicht viel, und wenn, dann mit leiser Stimme.

Die meiste Zeit schweige auch ich, da ich weiß, dass es viele Frauen nicht gerne haben, wenn ihre männliche Begleitung zu viel redet.

Seit einer Woche bin ich nun aus Europa zurück.

`Eine Auszeit nehmen´, nannte ich meinen Trip über den Atlantik. Mein trister Bürojob war mir zuviel geworden, ebenso die stets gepflegten Masken meiner Kollegen und das gleißende Neonlicht, denen ich acht Stunden am Tag ausgesetzt war.

Das, in Verbindung mit dem hektischen Klappern der Schreibmaschinen, hatte mich irgendwann zu der Überzeugung gebracht, dass es an der Zeit war, ein paar Wochen Urlaub zu nehmen und dem mechanisierten und langweiligen Leben den Rücken zu kehren. Mit meinen Ersparnissen konnte ich mir eine Reise quer durch Europa finanzieren. Und so hatte ich voller Inbrunst die Metropolen des Kontinents besucht, von denen ich normalerweise nur aus den Zeitschriften oder dem Fernsehen etwas erfahren hatte.

Paris, London, Athen und München waren nur einige Stationen meiner Odyssee gewesen. Und in jeder dieser Städte fühlte ich mich, trotz des Trubels und der lauten Menschen, zufrieden und entspannt. Obwohl die Rastlosigkeit, die sie ausstrahlten, die Eile im Büro noch bei Weitem übertraf.

Am zweiten Tag, nachdem ich wieder sicher in der Heimat gelandet war, hatte mich mein Bruder Alan in sein Haus eingeladen, um den Abend mit ihm und seiner Frau Sheila beim gemütlichen Abendessen zu verbringen.

Zu diesem Anlass war auch Sheilas beste Freundin Sarah eingeladen.

Ob es Zufall war oder ein inszeniertes Spiel wusste ich nicht zu sagen.

Doch war ich Alan und Sheila für dieses Arrangement durchaus dankbar gewesen.

Denn von diesem Abend an war Blau meine Lieblingsfarbe.

Es hat weitere zwei Tage gedauert, bis ich endlich den Mut gefunden hatte, Sarah über die Telefonnummer, die mir Sheila mit einem Augenzwinkern zugesteckt hatte, anzurufen. Und weitere zwei Tage musste ich harren, bis ich endlich mit ihr durch die Straßen unserer kleinen Stadt schlendern konnte.

Wir sind auf dem Weg zu einem kleinen Restaurant, das mir Alan empfohlen hatte.

Wenn ich daran denke, Sarah beim Essen gegenüberzusitzen, bekomme ich weiche Knie. Ich weiß, dass ich sie anstarren und mich wie ein kleiner, schüchterner Junge verhalten werde. Ihr außerdem Komplimente wegen ihrer herrlichen Augen machen werde, die sie alle schon hundert Mal gehört hat. Und ich werde ihr meine Abenteuergeschichten aus dem Büro erzählen, bis sie sich gelangweilt von mir abwendet.

`Dieser Abend ist etwas ganz Besonderes in meinem Leben´, denke ich mir. Und gleichzeitig werde ich mit jedem Schritt, mit dem wir uns dem Restaurant nähern, nervöser.

So seltsam sich das auch anhören mag, aber ich will nicht, dass die beiden Schatten auf dem trostlosen Pflaster jemals wieder getrennt werden …


Ein langgezogenes, unmenschliches Heulen lässt mich aufschrecken.

Verwirrt blicke ich mich um. Die Kerze ist heruntergebrannt. Die Flamme der Petroleumlampe leuchtet ruhig.

Die Schatten im Zimmer haben sich in ein vergessenes Grau gewandelt.

Von Sarahs Bett kann ich ein leises Schnarchen hören.

Ein Blick zum Holzladen vor dem Fenster bestätigt mir meine Vermutung. Ich muss am Abend eingeschlafen sein und habe die ganze Nacht in dem Korbsessel verbracht.

Das Heulen …

Erschrocken starre ich auf den grauen Spalt zwischen den Läden. Der neue Tag beginnt mit der gleichen Dunkelheit wie die Tage davor.

Fast eine Minute lausche ich angestrengt. Doch dieser unheimliche Laut, der seit Tagen das Einzige ist, das das Schweigen der Welt bricht, wiederholt sich nicht. Mein kraftloser Blick fällt auf die Uhr an meinem Handgelenk. Das letzte Geschenk von Sarah. Ich drehe den Arm so, dass der gelbe Schein der Lampe sich auf dem Glas der Uhr spiegelt.

Fast acht Uhr.

Die Nacht ist vorüber. Am Tage hört man Sie nicht.

Das Heulen muss von einer letzten verirrten Kreatur stammen. Oder von meinen düsteren Träumen erzeugt worden sein.

Mein Blick fällt wieder auf Sarah.

Sie wirkt friedlich. Ihre Brust hebt sich in langsamen Atemzügen. Dass ich in dieser Nacht nicht neben ihr gelegen habe, hat sie nicht einmal gemerkt.

So, wie sie oft nicht weiß, dass ich bei ihr bin.

Oder dass sie noch lebt …

Meine Knochen protestieren ächzend ob der langen Nacht im Sessel. So gerne ich mir auch einzureden versuche, für mein Alter relativ rüstig zu sein, so sehr werde ich in diesen Minuten Lügen gestraft.

Es kostet mich eine gewaltige Anstrengung zum Bett zu gelangen, wo ich mich mit einem heiseren Stöhnen auf den Rand der Matratze setze.

Während ich mit der Hand den schmerzenden Rücken zu massieren versuche, blicke ich auf das friedliche, schlafende Gesicht von Sarah.

Ihre Augenlider flackern. Ich frage mich, von was sie gerade träumt.

War sie überhaupt noch dazu in der Lage zu träumen?

Die Haut über ihren Wangen spannt sich. Im Schein der Petroleumlampe und des dämmernden Morgens wirkt sie kränklich gelb.

Ihre Lippen sind nicht mehr als eine zusammengekniffene Linie. Trocken und rissig.

Ein glänzender Speichelfaden rinnt aus ihrem Mundwinkel und läuft ihre Wange hinab zum Hals.

»Erzähl mir deine Träume«, flüstere ich und streiche ihr verschwitztes Haar aus der Stirn. Ich habe das Gefühl, harte Stahlwolle zu berühren.

Sie regt sich kurz. Ihr Gesicht scheint sich mir entgegenzustrecken. Ein tonloses Keuchen entrinnt ihrer Kehle.

Ich denke an den Traum der Nacht zurück. Bruchstücke davon haben sich in meinem Unterbewusstsein abgesetzt.

Sarahs Augen und unsere Schatten auf rissigem, grauen Asphalt. Meine Angst, mich ihr in dem kleinen Restaurant gegenüberzusetzen.

Am meisten jedoch der unbändige Wunsch, dass sich diese Schatten nie wieder trennen mögen.

Mit zitternden Fingern nehme ich ihre Hand in meine und drücke sie sanft.

Ich weiß, dass ich zart mit ihr umgehen muss, denn ihr Körper ist zerbrechlich geworden. Ein Schatten jener Sarah, an deren Stärke ich mich einst geklammert hatte.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie meinen Druck erwidert. Doch mir ist bewusst, dass dies bloß die Wünsche eines einsamen, alten Mannes sind.

Ihre Hand liegt schlaff und kalt in der meinen.

Auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett steht das Tablett mit einem letzten Rest Haferschleim. Er erinnert mich daran, was ich an diesem Tag zu erledigen habe.

Nachdem ich Sarah mit einem Lappen gewaschen und sie umgezogen habe, setze ich mich noch einmal zu ihr und betrachte ihr hageres Gesicht.

Bilder meines Traumes versuchen, sich in meine Erinnerung zu stehlen. Doch ich verdränge sie.

»Ich gehe zu Murphy«, sage ich leise und beuge mich dabei nach vorn, damit Sarah mich besser verstehen kann. Ich weiß, dass sie es nicht tut. Doch es ist eine alte Gewohnheit von mir. Und Gewohnheiten sind alles, was mir von unserer gemeinsamen Zeit geblieben ist.

»Unsere Vorräte gehen zur Neige.«

Mein Blick fällt zu dem schmalen Streifen Licht, der zähflüssig durch die Ritzen des Fensterladens tropft.

»Ich hoffe nur, dass es Murphy gut geht.«

Die letzten Worte sage ich zu mir selbst, während ich Sarahs kalte Hand nervös in der meinen halte. In Gedanken füge ich hinzu … und er noch lebt.

Fast zehn Tage ist es her, seit ich Murphy zum letzten Mal gesehen habe.

Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wir hatten Strom und Wasser. Und am Abend konnte ich mich vor den Fernseher setzen und mir eine Wiederholung von `Quincy´ auf dem Serienkanal anschauen. Dazu natürlich eine Tasse Tee, um der alten Zeiten willen.

Doch die Welt hat sich weitergedreht, denke ich mir. Mein Blick verharrt auf dem kränklichen Streifen Tageslicht, der sich auf dem Teppich wie eine schmutzige Pfütze ausbreitet.

Die Welt jenseits der Fensterläden ist still geworden. Und keiner weiß, was wirklich geschehen ist.

In den ersten beiden Tagen, als der Strom noch da war, habe ich einiges im Fernsehen gesehen, das mich zunächst nicht wirklich interessiert hatte.

Sie sprachen von terroristischen Anschlägen und Vergeltungsmaßnahmen. Und von Bakterien, die freigesetzt wurden. Als ich damit begann, den nervösen Nachrichtensprechern näher zuzuhören, fiel der Strom aus. Und bis heute habe ich ihn nicht wiederbekommen. Eine Zeitung erhalte ich auch nicht mehr. Der junge Daryll hat sich seit Beginn der … der was? Der Stille? Der Wandlung?

Der junge Daryll hat sich nicht mehr blicken lassen. Aber das erwähnte ich ja bereits. So bin ich auf das angewiesen, was meine Phantasie aus den wenigen Meldungen formt, die ich im Fernsehen bewusst wahrgenommen habe, und wie sie diese verarbeitet.

Und das Ergebnis meiner nächtlichen Grübeleien gefällt mir ganz und gar nicht.

Selbst das Telefon funktioniert inzwischen nicht mehr. Und ein Handy haben Sarah und ich nie besessen.

Früher habe ich oft mit Murphy telefoniert. Es waren nie lange Gespräche gewesen. Männer sagen sich, was zu sagen ist, und das war es dann auch schon.

Das ist einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen Männer und Frauen.

Plötzlich beginne ich, mir Sorgen um Murphy zu machen.

Zehn Tage sind vergangen, seit ich das letzte Mal in seinem Laden gewesen bin.

Kurz bevor die Welt zum Teufel gegangen ist.

Ich frage mich, wieso ich nicht früher auf die Idee gekommen bin, mal zu Murphy zu fahren und nachzuforschen, ob er mehr weiß als ich.

Irgendwie ist mir der Gedanke nie gekommen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich ein alter Mann bin. Senilität und ähnliche Worte, die ich zu vermeiden suche. Vielleicht aber hatte ich einfach nur Angst, was ich zu sehen bekomme, wenn ich runter zu Murphys kleiner Blockhütte fahre, in der er lebt und seinen Gemischtwarenhandel betreibt. Ich habe, seit es begonnen hat, kein Auto vorbeifahren gehört. Oder sonst irgendwelche Geräusche, die mich an etwas Lebendiges da draußen erinnern.

Aber die leere Speisekammer in der Küche zwingt mich dazu, die Sicherheit meines Hauses zu verlassen. Ob ich nun will oder nicht.

Mit einem heiseren Stöhnen auf den Lippen beuge ich mich zu Sarah hinab und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie riecht nach frischer Seife. Doch vermag dies den Gestank eines Sterbenden nicht zu überdecken.

»Ich bin bald zurück, Liebes«, flüstere ich. Dann decke ich sie zu und lösche die kleine Flamme der Petroleumlampe.

»Ich werde Tee mitbringen.«

Mittlerweile fällt genügend Tageslicht durch die geschlossenen Läden, dass ich mich in den grauen Schatten des Hauses sicher bewegen kann.

Auf einem kleinen Sekretär vor dem Schlafzimmer liegt mein altes Jagdgewehr.

Ich war nie ein Freund der Waffe und habe sie in all den Jahren nie benutzt.

Aber Sarah war stets der Meinung gewesen, dass sie ein gewisser Schutz in dieser abgelegenen Gegend beruhigen würde. Deshalb hab ich vor über zwanzig Jahren in Devon, der nächstgrößeren Stadt, das Gewehr gekauft und es in einem eigens dafür angefertigten Schrank aufbewahrt. Dort hat es dann all die Jahre unberührt gestanden, vergessen von Sarah und mir.

Es war eine AYA mit Kaliber 12 gewesen, für die ich auch ein größeres Format bekommen hätte.

Doch ich hatte damals keine Ahnung von Waffen, und Kaliber 12 erschien mir in der friedlichen Umgebung unserer Hügel als ausreichend.

Erst jetzt habe ich es wieder hervorgeholt und war nach kurzer Überprüfung erstaunt, dass es immer noch funktionstüchtig ist. Ich habe es etwas gesäubert und eingeölt und die Kammern für die Patronen sowie den Doppellauf überprüft.

Alles scheint in Ordnung zu sein, sofern ich das mir meinem laienhaften Blick beurteilen kann.

Zu Anfang hatte ich geglaubt, dass ich das Gewehr ganz sicher nicht brauchen werde. Im Grunde habe ich es nur aus dem Schrank genommen, um Sarah einen Gefallen zu tun. Ich habe ihr immer ihre Wünsche von den Augen abgelesen. Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Auch wenn sie wohl nie erfahren wird, dass ich das Gewehr nach all den Jahren wieder an mich genommen habe.

Mittlerweile denke ich über den Grund, weshalb ich so viel Sorgfalt auf die Funktionalität der Waffe gelegt habe, anders.

Seit ich vor vier Tagen eine dieser Kreaturen gesehen habe ...

Ich kann nicht einmal sagen, um was es sich eigentlich gehandelt hatte.

Mein erster Gedanke war gewesen, dass ich einen Shoggothen gesehen habe.

Auch wenn seine Erscheinungsform nicht der jener gallertartigen Wesen glich, die H.P. Lovecraft in seinen Geschichten umschreibt.

Aber es war der erste Begriff, der mir in den Sinn gekommen war, als hätte mir jemand dieses Wort zugeflüstert. Deshalb nannte ich die Kreatur so.

Sarah hatte damals schon recht gehabt. Man fühlt sich sicherer mit einer Waffe.

Gerade in Tagen wie diesen. Ich nehme das Gewehr, überprüfe, ob die Kammern geladen sind, und stecke einige weitere Munitionshülsen in die Tasche meiner alten Cordjacke, die über dem Sekretär an einem Haken hängt.

Dann gehe ich ins Badezimmer, zünde zwei Kerzen an und erledige mein Geschäft. Ich wasche mich mit kaltem Wasser aus einer alten Porzellanschüssel, die ich ins Waschbecken gestellt habe.

Dabei versuche ich das alte, verzweifelte Gesicht im Spiegel zu ignorieren.

Mit der Jacke und dem Gewehr gehe ich in die Küche und lasse einen kritischen Blick durch die Speisekammer wandern. Schließlich stecke ich etwas Geld ein und gehe durch den Hintereingang hinaus in den kleinen Garten, den Sarah früher einmal angelegt hat. Heute wachsen dort nur noch Unkraut und dorniges Buschwerk.

Auf der kleinen hölzernen Veranda bleibe ich stehen. Das Gewehr liegt in meiner Armbeuge, der Lauf ist zu Boden gerichtet.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich in der letzten Woche nach draußen gegangen bin.

Zweimal war ich frisches Wasser aus dem alten Brunnen holen. Und einmal hatte ich versucht über das Autoradio einen Sender zu empfangen, jedoch ohne den geringsten Erfolg.

Jedes Mal, wenn ich auf der Veranda gestanden hatte, hat mich diese unnatürliche Stille wie eine undurchdringliche Wand empfangen.

Ich stehe reglos auf den verwitterten und ausgetretenen Holzblanken und lasse meinen Blick durch den Garten gleiten.

Die welken Blätter einiger Büsche bewegen sich leicht in einer kühlen Brise. Und durch das an manchen Stellen kniehohe Unkraut streicht eine traurige Bewegung, als würde selbst der Wind zu fliehen versuchen. Doch all das erzeugt in meinem Kopf keinerlei Geräusche.

Das Land ist still.

Ein körperhaftes Schweigen hat sich wie eine gigantische Glocke über die Welt gelegt. Fast bekomme ich das Gefühl, ich bräuchte nur die Hände nach vorn auszustrecken, um diese Stille ergreifen zu können.

Mein Blick fällt über den windschiefen Lattenzaun zu der weiten Wiese hin, die sich bis an den Rand des Waldes erstreckt.

Die schwarze Front der Bäume ist lediglich als grauer Schemen im morgendlichen Dunst zu erkennen. Die Wiese wirkt starr, als wäre sie über Nacht gefroren. Über kleinen Tümpeln, die sich in den Senken gebildet haben, kann ich das träge Spiel weißer Nebelschleier beobachten.

Wenn ich früher an dieser Stelle gestanden habe, konnte ich das Geschrei der Vögel hören, die über das Gras flogen und sich im Sturzflug auf ihre Beute stürzten.

Oder das einsame Röhren der Hirsche drang aus den Wäldern zu mir herüber.

Jetzt höre ich gar nichts.

Als würde ich mir ein düsteres Gemälde betrachten, so erscheint mir die Welt jenseits des kleinen Gartens.

Mein Blick fällt zu dem notdürftig zusammengezimmerten Carport, unter dessen Dach mein alter Pick-up steht. Die Scheiben sind angelaufen und auf der Motorhaube kann ich eine hauchdünne Schicht Raureif entdecken.

Einen letzten Blick in die still gewordene Welt werfend, stapfe ich durch das hohe Gras zu meinem alten Wagen hinüber. Das Schleifen der Halme um meine Stiefel kommt mir wie das Zischen unzähliger Schlangen vor. Hinter mir bleibt eine nasse Spur im Gras zurück. Unwillkürlich blicke ich mich nach allen Seiten um, den Lauf des Gewehrs nach vorn gerichtet, den Zeigefinger auf dem kalten Abzug liegend.

Vier Tage ist es her, dass ich den Shoggothen gesehen habe.


Ich war gerade auf dem Weg zum Brunnen in der hintersten Ecke des Gartens gewesen. Um mich vor der morgendlichen Kälte zu schützen, trug ich einen dicken Morgenmantel. Der Anblick, den ich dabei abgegeben habe, muss wohl ziemlich lächerlich auf einen zufälligen Beobachter gewirkt haben. In den Händen hielt ich jeweils einen alten Blecheimer, die jahrelang im Schuppen in einer Ecke gestanden hatten und mir jetzt gute Dienste erwiesen. Denn keiner konnte sagen, wie lange es dauern würde, bis wir wieder mit fließendem Wasser versorgt werden würden. Und bis dahin würde ich das Wasser eben mühsam aus dem alten Brunnen holen müssen. Auch wenn die Zeiten im Moment schlecht erschienen, so wollte ich doch auf keinen Fall meine Aufgaben, Sarah betreffend, vernachlässigen.

Und dazu gehörte es nun einmal, sie morgens und abends zu waschen und ihr zu den Mahlzeiten einen Tee zuzubereiten. Zumindest diesen letzten Teil ihrer Erinnerung an bessere Zeiten wollte ich ihr bewahren.

Ich hatte an jenem Tag gerade die Hälfte der Strecke zwischen Veranda und Brunnen zurückgelegt und spürte die Kälte der Grashalme an den Schienbeinen, als mir im Augenwinkel eine Bewegung auffiel.

Schlagartig blieb ich stehen. Seit Tagen war das Einzige, das sich in dieser Welt bewegt hat, mein Spiegelbild und Sarahs langsames Atmen gewesen. Selbst die Bäume und Sträucher scheinen an manchen Tagen erstarrt.

Über der Wiese jenseits des Gartenzaunes hing feuchter Nebel, der mir wie Watte erschien. Den Waldrand am Ende des Feldes konnte ich schon nicht mehr erkennen.

Zunächst traute ich meinen Augen nicht. Ich blinzelte und schellte mich in Gedanken bereits einen alten Narren, der beginnt, Geister zu sehen.

Doch so sehr ich auch mit den Augen zwinkerte und mir schließlich sogar mit dem Ärmel des Morgenmantels durchs Gesicht fuhr, die Erscheinung war kein Trugbild.

Mitten auf der Wiese, umhüllt von grauen Nebelschleiern, stand eine braune, hoch aufgerichtete Kreatur. Auf den ersten Blick dachte ich, der hagere Leib des Wesens sei mit Fell bewachsen. Doch je länger ich hinsah, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass die Kreatur vollkommen nackt war. Die Haut war braun mit schwarzen Flecken, als hätte man das Fleisch des Geschöpfes fest zusammengepresst und ihm anschließend die Haut abgezogen.

Der Schädel erinnerte mich auf die Entfernung hin an die Form eines Hundekopfes.

Spitze Ohren standen stachelgleich in die Höhe. Der Fang war leicht geöffnet.

Ich konnte den kondensierenden Atem der Kreatur erkennen, wie er sich mit dem Nebel verband.

Die Augen erschienen mir gelben Raubtieraugen gleich. Und sie waren auf mich gerichtet.

Wir sahen uns an. Ich war unfähig mich zu bewegen. In diesen wenigen Sekunden schien die Zeit stillzustehen. Mein Verstand glitt ruhig dahin, und ich dachte unwillkürlich an das unheimliche Heulen, das ich seit einigen Nächten hörte.

Einmal hatte ich geglaubt, in der Nacht Geräusche an der Verandatür zu hören. Schwerfällige Schritte und das Kratzen von Krallen auf Holz.

Doch sie waren so schnell verschwunden, dass ich mich mit der Gewissheit, mich in den Fängen einer meiner Albträume zu befinden, wieder schlafen legte.

Konnten diese Geräusche von jenem schauerlichen Wesen herstammen?

Als mich die riesige Kreatur über den Gartenzaun hinweg anstarrte, ihr Atem stoßweise als weißer Dunst aus seinen Fängen aufstieg und ich plötzlich krallenbewehrte Klauen erkannte, wo sich Finger befinden sollten, wusste ich, dass ich in jener Nacht keinem Traum erlegen war.

Ich kann heute nicht mehr sagen, wie lange wir so da in der Morgenkälte gestanden hatten.

Die Zeit schien in diesem Moment keine Rolle mehr zu spielen.

Irgendwann stieß das Geschöpf ein zorniges Schnauben aus.

Ein Schwall weißer Wolken entstieg seinen Nüstern. Dann schüttelte es den Kopf, so dass ich selbst auf die Entfernung hin feine Wassertropfen aufspritzen sehen konnte. Die Nebelschwaden gerieten wie bei einem Theatervorhang in Bewegung.

Schließlich wandte es sich ab, legte seinen Schädel schief, als lauschte es auf etwas, und rannte in weitausholenden Sätzen auf den nahen Waldrand zu.

Noch bevor die Kreatur die ersten Bäume erreichte, wurde sie vom trostlosen Grau des Nebels verschluckt.

Ich stand noch eine ganze Weile da, die Blecheimer in den Händen und starrte in die Richtung, in die das Wesen verschwunden war.

Doch der Tag hatte zu seiner alten, gespenstischen Stille zurückgefunden, und die Landschaft lag reglos vor mir. Lediglich der Nebel bewegte sich träge über die weite Wiese.


Ich weiß heute nicht mehr, wieso ich an die Shoggothen dachte, als ich diesem blasphemischen Geschöpf gegenübergestanden hatte.

H.P. Lovecraft war seit meiner Kindheit mein Lieblingsschriftsteller. Und jene Kreatur auf der Wiese hatte nichts mit dem künstlich entwickelten Protoplasma gemein, das Lovecraft in seinem Cthulhu-Mythos als eine Schöpfung der `Großen Alten´ darstellte. Laut der Legende waren Shoggothen dazu in der Lage, temporäre Gliedmaßen aus ihrem Gewebe entstehen zu lassen, was sie zu effektiven Arbeitsgeräten der `Alten´ machte.

Jenes Wesen auf der Wiese wirkte dagegen nicht wie stupides Protoplasma, sondern wie die Ausgeburt einer Hölle, die über die Erde gekommen war.

Dennoch denke ich seit diesem Tag, wenn ich das furchterregende Jaulen in den Nächten vom Wald her höre, sofort an Lovecrafts Shoggothen.

Als ich den Pick-up erreiche und den Schlüssel ins Türschloss stecken will, merke ich, wie sehr meine Hände zittern. Erst nach mehreren Versuchen kann ich knarrend die Tür öffnen. Abgestandene, nach Tabak stinkende Luft schlägt mir aus dem Führerhaus entgegen.

Mein Gewehr lege ich auf den Beifahrersitz, auf dem Sarah früher immer mit mir zusammen zu Murphys Laden gefahren war. Seit ihrer Krankheit hat niemand mehr dort gesessen. Der Sitz symbolisiert etwas Heiliges für mich. Ebenso wie der verrostete Wagen es tut, denn es war unser Wagen gewesen.

Gerade als ich einsteigen will, kommt mir ein Gedanke, der so schlicht ist, und der mich doch innerlich aufschreien lässt.

So schnell es meine alten Knochen zulassen, laufe ich durch die Wellen des Grases zurück zur Hintertür. Als ich die Küche betrete, brauchen meine Augen einige Momente, um sich an das Dunkel des Hauses zu gewöhnen. Dann durchsuche ich die Schubladen des alten Küchenschrankes, ohne mir einzugestehen, dass meine Bewegungen zunehmend fahriger und nervöser werden. Es gefällt mir nicht, mich ohne Waffe und Kerze in dem dunklen Raum zu befinden.

Ich habe in den wenigen Tagen, in denen die Welt sich weitergedreht hat, gelernt, dass sich das Heulen der Kreaturen nur auf die Nacht beschränkt. Daraus schließe ich, dass sich die Geschöpfe, sofern es denn mehrere von ihnen gibt, am Tage in die Wälder zurückziehen. Oder an andere Orte, an denen es dunkel und still ist. Als ich die Kreatur auf der Wiese gesehen habe, war die Morgendämmerung noch nicht völlig hereingebrochen gewesen. Wahrscheinlich war es aus diesem Grunde so schnell in den Schutz des Waldes verschwunden.

Hätte mich dieses Geschöpf bei Nacht erspäht, wer weiß, ob ich dann noch leben würde. Endlich finde ich, wonach ich suche. Als sich meine Finger um den kalten Griff der Taschenlampe schließen, fühle ich mich augenblicklich wohler. Ich überprüfe ihre Funktion und atme erleichtert auf, als ein heller Lichtkegel die Dämmerung in der Küche zerschneidet. Zwar hat der Tag bereits begonnen, doch ich habe keinerlei Ahnung, wie die Welt jenseits des Zaunes aussieht. Auch wenn ich diesen Gedanken nie zulassen würde, so bin ich mir doch sicher, dass sich das Leben in den Hügeln, wie ich es bisher kannte, in einen düsteren Alptraum verwandelt hatte.

Ob dies mit den schrecklichen Nachrichten zusammenhängt, die ich im Fernsehen gesehen hatte, bevor alles auseinanderbrach, kann ich nicht sagen.

Dies ist ein weiterer Punkt, über den ich mich weigere, mir Gedanken zu machen. Die Zeiten haben sich geändert. So viel steht fest. Und alles, was noch zählt, ist jeden einzelnen Tag zu überleben, ohne wahnsinnig zu werden.

Mit der Taschenlampe bewaffnet laufe ich auf die Veranda hinaus und verharre dort. Ein Instinkt, den ich mir in den letzten Tagen angeeignet habe. Mein Blick wandert durch den verwilderten Garten, durch die Wipfel der Bäume, zum Schuppen und über den Rand des Brunnens. Überall, von wo aus Gefahren lauern können. Dann betrachte ich mir das weite Feld jenseits des Zaunes. Doch die Wiese liegt unbeweglich. Das Gras wirkt ausgedörrt. Kein Halm bewegt sich in der kühlen Morgenluft.

Der Geruch von feuchtem Gras und dampfender Erde steigt mir in die Nase, als ich zum Wagen zurückgehe. Während ich den Motor starte und sein rostiges Knattern das Schweigen der Welt zerstört, blicke ich zum Haus zurück. Meine Augen klettern die Fassade aus morschen, farblosen Holzlatten empor zu unserem Schlafzimmerfenster. Es widerstrebt mir, sie alleine zu lassen. Schon der Gang zum Brunnen, um Wasser zu holen, kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, in der ich sie in ihrem stillen Zimmer zurücklassen muss.

Zu Murphys Laden sind es gut fünfzehn Minuten mit dem Wagen. Ich kann also frühestens in einer Stunde zurück sein, wenn ich all meine Einkäufe erledigen und mich nach Murphys Wohlbefinden erkunden will.

»Pass auf sie auf«, flüstere ich und blicke dabei in das düstere Grau des Himmels.

Ich weiß nicht, ob ich meine Worte wirklich an Gott richte. Doch er scheint der Einzige zu sein, den ich in dieser Welt noch um Hilfe bitten kann. Einen letzten Blick auf die Holzläden des Schlafzimmerfensters werfend, lege ich den Rückwärtsgang ein, was ein protestierendes Knirschen im Getriebe zur Folge hat, und fahre mit dem Wagen über den schmalen Pflasterweg zur Vorderseite des Hauses.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend lasse ich den Pick-up über den sandigen Weg bis hinunter zur Straße rollen.

Das Metall ächzt unter mir, und ich muss das Lenkrad mit beiden Händen festhalten, damit der Wagen nicht ausbricht.

Als ich die asphaltierte Straße erreiche, blicke ich mich nach allen Seiten um. Doch irgendwie weiß ich, dass ich die Strecke für mich alleine habe. Während ich den Hügel hinunter zu Murphys Hütte fahre, legt sich meine rechte Hand unwillkürlich auf den kalten Schaft des Gewehres.



Als das brüchige, graue Band der Straße an mir vorbeirauscht, habe ich das absurde Gefühl mich immer tiefer in eine surreale Welt hineinzuwagen.

Ich kenne die Gegend um die Hügel seit über vierzig Jahren. Jeder Baum und jede Unebenheit auf der Straße bedeuteten bisher für mich einen unverzichtbaren Teil meines Lebens.

Doch an diesem Morgen, dem ersten, an dem ich mein Haus verlasse, seit es begonnen hat, erscheint mir die Welt wie ein fremdartiges, fürchterliches Gemälde.

Als versuche Gott selbst seine Schöpfung zu verspotten.

Durch die dicke Wolkendecke dringt kaum Tageslicht. Die Sonne ist lediglich als blasser Schemen hinter grauem Dunst zu erahnen und taucht den Himmel in kränklichen Schimmer. Tiefe Schatten liegen über dem Land und verwandeln die Wälder und Felder in ein gespenstisches Kunstwerk. In den Senken der schwarzen Äcker hängen bleiche Nebelschwaden wie lange vergessene Seen.

Nichts ist mehr, wie es einmal war.

Das Land ist fremd. Als hätte sich ein Riss aufgetan und eine fürchterliche, leere Welt offenbart.

Plätze und Bäume, die mich stets an meine Zeit mit Sarah erinnert hatten, wirken plötzlich bedrohlich. Die Wälder düster und das Land aufgezehrt, als sei es jeglichen Lebens beraubt worden. Die früher nach Gras und Erde duftende Luft ist erfüllt mit dem herben Gestank von Zerfall.

Während das Land als unwirklicher Alptraum an mir vorüberzieht, sucht meine Hand unweigerlich den Weg zu dem altertümlichen Radio, das Sarah und mich in so manchen Vollmondnächten begleitete, als wir einfach nur am Straßenrand angehalten und uns gemeinsam die Herrlichkeit einer stillen, klaren Sternennacht betrachtet hatten. So althergebracht sich das auch im ersten Moment anhören mag, für zwei verliebte Menschen waren diese Augenblicke der Himmel auf Erden und sind unvergänglich.

Der Knopf des Radios gibt ein lautes Klicken von sich. Danach folgt lediglich statisches Rauschen.

Was hatte ich erwartet?

Meine Finger drehen am Sendersuchlauf. Doch ich weiß, dass ich selbst die kleine Station in Devon nicht empfangen würde. Dennoch drehe ich noch eine Weile, wobei sich das Rauschen mit schrillen Pfeiftönen abwechselt.

Keine Musik. Keine simplen Scherze, über die ich nie hatte lachen können und nach denen ich mich jetzt plötzlich so sehr sehne.

Keine Nachrichten, die mich bis in meine Albträume verfolgen.

Als ich das Radio wieder abschalte, bleiben das rostige Quietschen der Fahrerkabine und das träge Klopfen kleiner Steine gegen den Boden des Pick-ups zurück.

Das träge Dröhnen der alten Maschine erscheint mir plötzlich als das schönste Geräusch der Welt. Eines der wenigen Überlebenden aus der alten Zeit.

Ich schüttele den Kopf, um meine Gedanken klar zu bekommen.

Die gute alte Zeit.

Woher will ein alter Mann, abseits jeder größeren Stadt, wissen, ob die gute alte Zeit zu Ende ist? Wer hatte ihm denn gesagt, dass sie beendet sei?

Die wichtigste und gleichzeitig auch beängstigende Frage aber leuchtet wie eine grelle Neonreklame in meinem Kopf.

Was kommt nach der guten, alten Zeit?

Was konnte besser als gut sein?

Nach gut kommt schlecht, sage ich mir und spüre im gleichen Augenblick, wie sich eine düstere Trübung über meine Gedanken legt und jegliche aufkeimende Verzweiflung zu unterbinden sucht. Mit ausdruckslosen Augen starre ich in die bizarre Welt jenseits meiner mit Fliegen und Dreck beschmutzten Windschutzscheibe hinaus, wobei ich es vermeide, meinen Blick zu den Bäumen oder Feldern wandern zu lassen.

Ich möchte nicht daran erinnert werden, dass ich wohl nie wieder den vertrauten Anblick meiner Heimat sehen oder das Gefühl von Geborgenheit in mir spüren würde, wenn ich mich auf den Weg zu Murphys Laden mache.

Vielleicht habe ich auch einfach nur Angst davor, einen weiteren Shoggothen zu sehen.

Meine Augen starren stur auf das graue Straßenband, das mir verwaist und lange schon unbenutzt erscheint.

Wann war wohl der letzte Wagen auf dieser Strecke gefahren?

Ich versuche mich zu erinnern, ob ich in den letzten Tagen das Geräusch eines Motors oder rumpelnder Reifen gehört hatte.

Doch alles, was ich in meiner Erinnerung finde, ist die Stille, welche zu meinem und Sarahs ständigem Begleiter geworden ist.

Kein Auto. Kein rotes Fahrrad, das den kleinen Daryll den Hügel hinaufbringt, damit er mir mit einem erschöpften Lächeln die Zeitung bringen kann. Sein Lächeln war stets eine Spur breiter geworden, wenn ich ihm den einen oder anderen Dollar entgegengehalten hatte.

Die Welt hat sich weitergedreht.

Doch in welche Richtung ..?

Ich fühle mich schläfrig ohne Musik und die Abwechslung der Natur, die ich stets genossen habe. Das, was da an den Wagenfenstern wie eine schauerliche Parade entlangzieht, will ich nicht sehen. Als meine Hand erneut den unweigerlichen Griff zum Radio versucht, denke ich an jenen letzten Abend vor einigen Tagen zurück, an dem ich in das aufgebrachte und erschöpfte Gesicht der jungen Nachrichtensprecherin im Fernsehen geblickt hatte …


An jenem Abend hatte ich mich beeilt, Sarah zu waschen und für die Nacht frisch einzukleiden. Ich fühlte mich ihr gegenüber lausig, denn jetzt lag sie viel früher in ihrem dunklen Zimmer, als sie es gewohnt war - sofern sie dies überhaupt noch registrierte.

Doch ich wollte mit meinen täglichen Arbeiten fertig sein, um die Abendnachrichten im Fernsehen anzuschauen.

Ich wusste nicht, woher dieser Drang kam. Doch die Nachrichten der vergangenen Tage hatten selbst einen alten Narren wie mich nervös gemacht.

Bislang hatte ich stets in der Annahme gelebt, dass sich alles Schlimme, das man am Abend in den Nachrichten zu sehen bekam, lediglich auf den Rest der Welt beschränkte.

Nie hätte ich den Gedanken zugelassen, dass sich eines Tages einmal der verpestete Atem einer Welt, die schleichend, aber unabdingbar vor die Hunde ging, die Hügel hinauf durch die Wälder schlängeln würde und unsere eigenen Gedanken mit Furcht durchtränkte.

Doch genau dies war geschehen.

Etwa eine Woche ist es her, als eine junge Nachrichtensprecherin, die ich immer schon im Geheimen als bezaubernd und hübsch empfunden hatte, mit ernstem Gesicht von fürchterlichen Anschlägen in Europa berichtete.

Sie erzählte mit einer Stimme, die all ihre Erotik, die mir stets so an ihr gefallen hatte, vermissen ließ, von einem bislang unbekannten arabischen Terrornetzwerk, das mittels als Schläfer getarnte Attentäter Anschläge mit nuklearen und bakteriellen Atomwaffen in verschiedenen europäischen Großstädten verübt hatte.

Ich konnte damals nicht wirklich viel mit diesen Meldungen anfangen, denn Gewalt und menschliche Dummheit gehörten schon fast zum festen Bestandteil von Nachrichten aus der Welt jenseits unserer Hügel. Doch das Zittern in der Stimme der jungen, hübschen Frau und ihr Blick, der dem eines eingeschüchterten Kindes glich, hatten mich unweigerlich an den Fernseher gefesselt. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum, aus dem man trotz eines fürchterlichen Schreis nicht erwachen wollte.

Sie sprach von einer kaum vorstellbaren Zahl an Toten.

Doch erst als ihre bestürzte Stimme berichtete, dass die Städte Montpellier und Enschede nicht mehr existierten, sickerte das ungeheuerliche Ausmaß dieser Anschläge zähen Tropfen gleich in meinen Verstand.

Natürlich erinnerte ich mich der Attentate vom elften September oder von Oklahoma City. Doch die Bilder der Zerstörung, die sich nur schwerlich ihren Weg in meinen Kopf bahnen konnten und mit wackeliger Kamera aufgenommen waren, ließen diese Verbrechen wie simple Ladendiebstähle erscheinen.

Der Fokus der Kamera schwenkte über rauchende Krater und eingestürzte Häuser, deren schwelende Stahlträger wie freigelegte Rippen in einen aschegeschwängerten Himmel stießen. Straßen hatten sich in flammende Äcker verwandelt. Überall standen verbrannte Bäume wie schwarze Skelette in einer unwirklichen Gegend, die als Kulisse eines Horrorfilmes hätte dienen können. Hubschrauber flogen in Schwärmen über den schwarzen Himmel, da es keine Straßen und Autobahnen mehr gab. Menschen in rußgeschwärzten Strahlenschutzanzügen stoben hilflos wie winzige Insekten durch das Chaos der Zerstörung. Es schien Nacht zu sein auf den Aufnahmen. Doch glaubte man der am unteren Bildrand eingeblendeten Uhr, so wurden die Bilder zur Nachmittagszeit aufgenommen.

In der oberen Ecke prangte das Logo `Montpellier´, das fortan die Gräuel von Ground Zero verdrängen würde.

Es folgten Aufnahmen von Enschede, ebenfalls zur Mittagsstunde aufgenommen, obwohl sich bereits die Nacht über eine zerrissene und rauchende Landschaft gesenkt zu haben schien. Die Kamera hatte Schwierigkeiten den dichten Schleier aus Asche und Ruß zu durchbrechen.

Doch da hatte ich mich bereits abgewendet, mein Gesicht in den Händen vergraben und versuchte, den rasenden Zug der Gedanken in meinem Kopf zu stoppen.

Schon Tage zuvor hatte ich in den Abendnachrichten und dem Autoradio von Internetbotschaften und Warnungen einer arabischen Terrorvereinigung gegen die westliche Welt gehört.

Doch hatte sich mein Empfinden, was das Grauen des Alltages betrifft, wie wohl bei den meisten Menschen in unserem Zeitalter, auf ein Minimum reduziert.

Zu schreckliche Dinge waren in den letzten Jahren geschehen. Zu viel Blut hatten meine Augen sehen und zu viele Schreie von Sterbenden und Kindern hören müssen.

Da war Timothy McVeigh, der Oklahoma - Bomber, der 1995 das Alfred P. Murrah Building in Oklahoma City in die Luft sprengen wollte und dabei mehrheitlich Kinder in den Tod riss. Oder der Giftgasanschlag auf die Untergrundbahn von Tokio, ebenfalls 1995. Und natürlich `Nine-Eleven´, wie man heute freimütig den größten Terroranschlag in der Geschichte bezeichnete.

All diese Ereignisse und Nachrichten hatten uns abstumpfen, vielleicht sogar innerlich sterben lassen, ohne dass wir uns dessen bewusst geworden waren.

War es also wirklich so verwunderlich, dass Drohungen aus der östlichen, radikalen Welt gegen den Westen nicht mehr den Schrecken in uns entfachen konnten wie wohl noch vor dreißig Jahren?

Man hört den angespannten Stimmen der Sprecher zu. Doch ihre Worte finden nicht wirklich ihren Weg in die Tiefen unseres verletzlichen Verstandes. Sie prallen am Bollwerk unserer Ignoranz ab.

Doch an jenem letzten Abend, an dem ich mir die Nachrichten im Fernsehen ansah, war irgendetwas anders.

Die grauenvollen Bilder aus Frankreich und den Niederlanden entfachten ein bislang namenloses und unbekanntes Feuer von archaischer Angst in mir.

Ich saß da, in meinem alten, ramponierten Lieblingssessel, dessen altmodischer Bezug schon seit vielen Jahren zerschlissen war, und machte mir zum ersten Mal Gedanken darüber, was es bedeuten könnte, zu sterben.

Ich dachte über das Ende der Welt nach, so, wie wir sie kannten.

An diesem Abend sah ich auch zum ersten Mal diesen verdammten Satz aus dem verdammten Buch wie das grelle Licht einer Leuchtreklame vor mir …

… die Welt hat sich weitergedreht …

Was auf die Berichte aus Europa folgte, waren die üblichen hektisch einberufenen Versammlungen von Staatsoberhäuptern und Stellungnahmen verschiedenster Menschen, die sich an Wichtigkeit zu übertreffen versuchten, und deren Blicke mir nur noch mehr Angst einflößten. Denn jeder von ihnen wiederholte in seinem Wortlaut lediglich die von der zitternden Kamera aufgenommen Abscheulichkeiten zweier ehemaliger Städte. Eine ratlose Beschreibung des Offensichtlichen. Zu mehr war ihr geschulter Verstand nicht fähig.

Das Einzige, was mir noch in Erinnerung geblieben war, ist die Rede des amerikanischen Präsidenten, dessen Gesichtszüge schmal und übermüdet wirkten. In seinen Augen hatte ich trotz seiner straffen Haltung eine tiefempfundene Furcht entdecken können. Wenn man so alt geworden ist wie ich, dann erkennt man die Emotionen der Menschen in ihren Augen ohne größere Schwierigkeiten.

Der Mann sprach mit ernster Stimme von einem unverzeihlichen Angriff auf die gesamte westliche Welt, und er drückte sein unendliches Bedauern und seine persönliche Anteilnahme für das Leid der Menschen in Europa aus.

Auf keinen Fall würde man einen derart barbarischen Akt der Verachtung von Menschenwürde und menschlicher Zivilisation ohne die geeigneten Gegenmaßnahmen hinnehmen.

Zu lange schon hätten er, wie auch seine Vorgänger in dem Amt und seine europäischen Kollegen, vor dem rebellischen Verhalten der arabischen Länder und ihrer religiösen Ausrichtung und politischen Zielsetzungen in der Welt gekuscht. Mit dieser Politik der Toleranz müsse von dieser Stunde an Schluss sein. Ich kann mich heute nicht mehr an den genauen Wortlaut der Rede des Präsidenten erinnern. Doch ich weiß noch, dass er von geeigneten Vergeltungsmaßnahmen sprach, und davon, dass diese nicht lange auf sich warten lassen würden.

Das amerikanische und europäische Volk würde sich zusammenschließen und all ihre militärische Macht in die Waagschale werfen, um die Gerechtigkeit siegen zu lassen und den Osten in seine Schranken zu verweisen.

Er sprach nie von Krieg. Das Wort hatte er nie verwendet.

Und zu einem Krieg ist es im Grunde auch nie gekommen.


Zu meiner Linken taucht die Einfahrt zum Haus der Millers aus dem trüben Licht des Morgens auf. Zwei alte Holzpfosten flankieren den Weg. Ihre schwarze, wettergebleichte Farbe wirkt wie das stumpfe Grau abgestorbener Haut.

Ich halte den Wagen am Straßenrand und erschrecke, als das monotone Quietschen der Karosserie verstummt. Lediglich das unregelmäßige Knattern des Motors zerteilt die Stille der Welt.

Plötzlich werde ich zum bizarren Teil dieses fremdartigen Gemäldes, in das sich der Hügel und die Wälder verwandelt haben.

Ich blicke den ausgetretenen Sandweg hinauf zu der kleinen Blockhütte, in der Cindy und Danny Miller seit ungefähr fünf Jahren leben. Sie waren damals aus Los Angeles gekommen, auf der Suche nach Ruhe und Inspiration für ein Buch, das Danny schreiben wollte, aber bis zum heutigen Tage nie beendet hat, wie ich weiß. Cindy hatte schnell eine Anstellung als Lehrerin in Devon gefunden, und beide engagieren sich sehr in der Kirche der kleinen Stadt, wofür ihnen der alte Pater Morris überaus dankbar war.

Seit die Welt zu Grunde gegangen ist, habe ich beide nicht mehr gesehen.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich in den letzten zehn Tagen keinen einzigen Gedanken an Danny und Cindy verschwendet habe. Ein weiterer Aspekt der menschlichen Natur. In Krisenzeiten scheint man sich tatsächlich nur um die eigenen Belange zu kümmern. `Jeder ist sich selbst der Nächste´, ist alles andere als eine bloße Redewendung.

Blätter liegen auf dem Weg zur Hütte. Die Büsche zu beiden Seiten wirken starr und kalt.

Die Fliegengittertür steht offen und schwankt sanft im Wind. Als ich das Fenster des Pick-ups herunterkurbele, kann ich das leise Schnarren der Scharniere hören.

Es ist das einsamste Geräusch, das ich jemals in meinem Leben gehört habe.

Keine Bewegung ist zu sehen. Ich versuche zu erkennen, ob die Haustür hinter dem Fliegengitter geschlossen ist. Doch die Luft ist dunstig, und der Regen der Nacht steigt als leichter Nebel aus dem Vorgarten auf, so dass die Tür in Dunkelheit bleibt.

Vielleicht sollte ich mir einige Minuten Zeit nehmen und den Sandweg zur Hütte hinauflaufen. So, wie ich es unzählige Male zuvor getan habe, wenn mich Cindy dazu eingeladen hat, ihr doch einiges von ihrem selbst angebauten Gemüse abzunehmen.

Sie hatte nie etwas dafür haben wollen und bestand darauf, dass ich Sarah einen herzhaften Salat oder frisch gepressten Rübensaft oder etwas in der Art zubereite.

Meistens habe ich Cindy Milch oder einmal sogar eine gute Flasche Wein im Tausch mitgebracht, die ich zuvor in Murphys Laden gekauft hatte. Ich war stets der Ansicht gewesen, es gehöre sich einfach für eine gute Nachbarschaft, dass man die Gutmütigkeit solcher Leute nicht schamlos ausnutzt.

Mir vorzustellen, an diesem Morgen den Weg zwischen den beiden morschen Holzpfosten entlang zu gehen, die Luft einzuatmen, die mir fremd und schlecht erscheint und mich von der Sicherheit meines alten Wagens zu entfernen, gefällt mir gar nicht.

Der hellblaue Buick von Danny parkt vor dem Haus. Dennoch erscheint mir die Hütte verlassen. Vielleicht sind beide zu Fuß in die Stadt unterwegs. Oder sie waren schnell zu Murphy gegangen, um sich mit Lebensmitteln einzudecken.

Oder sie liegen tot in ihrer Wohnung, seit Tagen, und ihre bleichen Körper beginnen bereits zu verwesen …

Ich schließe die Augen und schüttele den Kopf. Es fällt mir nicht schwer, mich an die veränderten Verhältnisse in der Sicherheit meines eigenen Hauses, in Sarahs Nähe, zu gewöhnen. So grotesk sich das auch anhören mag.

Jedoch mitten auf der Straße, inmitten einer Welt, über die irgendetwas gekommen war, das sich der menschliche Verstand nicht erklären kann, schnüren mir derartige Gedanken die Kehle zu.

Bin ich wirklich auf dem besten Wege, den Verstand zu verlieren?

Cindy und Danny würde ich mit Sicherheit in Murphys kleinem, altbackenen Laden finden. Bei einer guten Tasse Kaffee würden wir vielleicht sogar die alte Ordnung der Dinge wiederherstellen können.

Warum steht Dannys Wagen vor dem Haus ...?

Ich kurbele das Fenster hoch und bin froh, als das metallische Klappern des Motors nur noch als leises Brummen zu hören ist.

Warum ist Danny nicht mit dem Buick zu Murphy gefahren ...?

Sollte ich die beiden wider Erwarten nicht in dem kleinen Laden antreffen, würde ich auf der Rückfahrt wieder hier anhalten und nach dem Rechten sehen.

Der Gedanke beruhigt mich nicht in dem Maße, wie ich erhofft habe.

Das Haus wirkt fremd und weit entfernt. Als wäre es schon lange unbewohnt, und als hätten nie Freunde darin gelebt. Doch ich schaffe es einfach nicht, auszusteigen und den Weg hinaufzulaufen.

Selbst bei dem Gedanken daran beginnen meine Beine zu zittern. Mit einem Gefühl im Magen, für das ich mich schäme und das mir den Tag noch ein klein wenig düsterer erscheinen lässt, lege ich knirschend den Gang ein und fahre weiter die Straße entlang hinunter nach Devon.

Nur noch etwa zwei Meilen, und ich würde bei Murphy vorbeikommen.

Und dann würde hoffentlich alles gut werden.

Niemand läuft zwei Meilen, wenn er einen Wagen vor der Tür stehen hat …

Doch mit der Scham kommt die Gewissheit, dass überhaupt nichts gut werden würde …


»Halte hier bitte an, Harv.«

Sarah legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel und massierte ihn leicht.

Eine Berührung, die mich selbst nach fünf Jahren immer noch um den Verstand bringen konnte.

Ich ließ meinen Impala langsam am Straßenrand ausrollen und schaltete den Motor ab.

Augenblicklich umhüllte uns die Stille der Berge, wie man sie wohl nirgendwo sonst auf der Welt finden konnte. Lediglich die leise Stimme der wunderbaren Karen Carpender im Radio leistete uns Gesellschaft.

Ich lehnte mich zu Sarah und nahm ihre Hand in meine.

»Ist das nicht wundervoll«, flüsterte sie und blickte mit glänzenden Augen durch die Windschutzscheibe. Wir hatten uns beide etwas in unseren Sitzen nach vorn gebeugt, um das unvergleichliche Schauspiel eines Sonnenunterganges in den Bergen zu bewundern.

Die Welt vor meinem alten Chevy wurde in einen goldenen Schimmer getaucht, der die Luft mit einem zarten Dunst überzog. Über die Wipfel des nahen Tannenhains hatte sich ein schwaches Glühen gelegt, das sich bis ins Tal nach Devon hinunterzog, als würde Honig den Hang hinabfließen.

Ich betrachtete Sarah von der Seite, wie sie dasaß, meine Hand fest in ihrer hielt und mit offenem Mund in den Sonnenuntergang blickte.

Seit vier Jahren lebten wir nun schon hier in den Hügeln oberhalb von Devon. Es war unser erstes gemeinsames Haus, das ich nach unseren Wünschen abseits der Straße errichtet hatte. Für uns war nie etwas anderes in Frage gekommen.

Mit dem Trubel der Städte konnten wir nichts anfangen, da wir beide unsere Kindheit in ländlichen Gegenden verbracht hatten und sehr genau wussten, wie es sich anhörte und roch, wenn eine Kuhherde in den frühen Morgenstunden über die Dorfstraße zu den Weiden geführt wurde.

Devon war unsere erste Wahl gewesen, als wir uns vor fast vier Jahren nach etwas umschauten, das wir unser eigenen nennen konnten. Die Preise waren billig, und die Lage geradezu perfekt.

Ich hatte mich in der Zeit an die unbeschreiblichen Entfaltungen der Natur hier oben gewöhnt. Doch für Sarah schien jeder Tag etwas Neues zu bringen, das sie entdecken konnte. Selbst ein Sonnenuntergang, wie wir ihn schon zu Dutzenden von unserer Veranda oder aus meinem Impala heraus bestaunt hatten, enthielt immer wieder neue Farben und Gerüche für sie.

Ihre Augen strahlten, als würde man einem Kind am Weihnachtsmorgen seine Geschenke geben. Und genau das war es, wieso die Hügel selbst für mich immer wieder aufs Neue erstrahlten, wenn ich Sarah an meiner Seite hatte.

Sie schenkte mir stets etwas von ihrer kindlichen Freude und der Fähigkeit, Dinge zu sehen, die für andere alltäglich geworden waren. Deshalb liebte ich sie immer noch wie am ersten Tag, und ich war mir damals schon sicher, dass dieses Gefühl in mir nie abklingen würde.

Selbst in vierzig Jahren nicht.

»Denkst du, dass Gott das mit Absicht macht?«, fragte sie und sah mich an.

»Was meinst du?«

Sie deutete mit dem Arm über die ganze Windschutzscheibe.

»Na, das. Ich meine, es gibt auf der ganzen Welt nichts Schöneres. Vielleicht will Gott uns damit sagen, dass nicht alles schlecht ist. Dass es auch Momente im Leben gibt, in denen nur ein Sonnenuntergang zählt und all das Böse in der Welt am Rande unseres Sichtfeldes verblasst.«

Sarahs Gesicht wurde ernst.

»Ob uns der Sonnenuntergang in der Stadt genauso gut gefallen würde?«

Wieder sah sie mich an, und ich bemerkte, dass es ihr mit dieser Frage durchaus ernst war.

Das waren die Momente im Leben, in denen man als Mann nur das Falsche sagen konnte. Doch ich war in der beneidenswerten Lage, dass ich genauso dachte und fühlte wie Sarah. Deshalb hatten wir vor fünf Jahren auch zueinandergefunden.

Und aus diesem Grund verstand ich durchaus, was sie mit dieser Frage meinte.

»Nein«, sagte ich leise, zog sie an mich und brachte ihre Wange nahe an meine.

Die letzten Sonnenstrahlen begannen, in den Augen zu blenden. Über die Spitzen der Berge jenseits von Devon hatte sich ein rötlicher Schleier gelegt, der langsam die Hänge hinabkroch.

»Ich glaube nicht, dass es in der Stadt überhaupt einen Sonnenuntergang gibt. Städte sind grau. Wo willst du die vielen Farben herholen? Außerdem …«

Ich zog Sarah noch näher an mich heran, berührte ihr Kinn mit den Fingerspitzen und drehte ihr Gesicht zu mir. Als sie mich anblickte, konnte ich das gleiche Glitzern in ihren Augen sehen, das sie dem Sonnenuntergang geschenkt hatte.

» … außerdem würden die Leute in der Stadt den Sonnenuntergang gar nicht sehen können. Denn es gibt keine Sarahs dort, die sie ihnen zeigen könnte.«

Sie lächelte, und ich küsste sie.

»Dich gibt es nur hier.«


Erinnerungen können die schrecklichsten Gefühle sein, zu welchen der Mensch fähig ist.

Ich schüttele den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken zu bekommen.

Die Erinnerungen an Sarah und unsere gemeinsame Zeit überfallen mich oft wie ein lauerndes Tier, das mich aus den Schatten der Wälder anspringt.

Plötzlich und unerwartet.

Immer wenn ich die Straße hinunter nach Devon oder zu Murphys Laden fahre, kommen mir Begebenheiten in den Sinn, die ich im Laufe der Jahre fast schon vergessen hatte.

Oftmals gebe ich mich ihnen hin, da diese Gedanken den einzigen Weg für mich bedeuten, wieder ein kleines Stückchen näher an meine Sarah heranzurücken und mit ihr zumindest für die Dauer der Fahrt zu kuscheln.

Das Erwachen aus diesen unbezahlbaren Träumen schmerzt jedes Mal. Doch in diesen Tagen, in denen die Welt jeden Platz, der mich je an Sarah erinnert hatte, in einen dunklen, verdorbenen Fleck verwandelt hat, schmerzt sogar die Erinnerung. Behalte ich normalerweise Sarahs Gestalt als letzte Reflexion meiner Erinnerungen vor Augen und sehe sie gar noch einige Minuten neben mir im Wagen sitzen, so wird mir ihr Antlitz an diesem Tag von dem Grau des neuen Tages mit brachialer Gewalt entrissen.

Ich bin alleine und fahre durch ein Land, in dem es nur noch mich zu geben scheint.

Meine Augen sind stur auf das graue und zerrüttete Band der Straße gerichtet.

Das gleichmäßige Dröhnen des altersschwachen Motors und das protestierende Quietschen der Karosserie, wenn ich durch Schlaglöcher und über Äste fahre, erfüllen meinen Verstand wie ein Schwarm Insekten. Sie scheinen mich mit ihrem Zirpen und Schnattern zu verhöhnen, fressen am Rand meines Bewusstseins und lassen die Hügel wie dunkle Auswüchse erscheinen.

Trotz des frühen Morgens hüllt sich der Tag in finstere Schatten. Die Berge und Felder, an denen mich die Straße vorbeiführt, ducken sich unter den grauen Wolken, die tiefer zu hängen scheinen als an anderen Tagen.

Vielleicht ist es wirklich so, dass der Himmel eines Tages auf die Erde fällt und alles Leben erlischt, denke ich und blicke zum Beifahrersitz. Mit der rechten Hand streiche ich über das zerschlissene Polster, dessen Nähte bereits aufreißen.

Nicht einmal mehr Sarahs Abbild aus meinen Erinnerungen kann ich mir bewahren.

Der Platz neben mir ist leer. Das Polster kalt.

So wie alles um mich herum ...

Instinktiv sucht meine Hand erneut ihren Weg zum Radio. Gerade will ich es einschalten, und sei es nur, um das statische Rauschen und Pfeifen zu hören, als die Abfahrt zu Murphys Laden zu meiner Linken auftaucht. Der Anblick der schmalen Asphaltstraße, die sich zwischen zwei hohen Hecken hinunter zur Hütte schlängelt, reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich bremse viel zu stark ab, so dass der Wagen mit schlingernden Reifen zum Stehen kommt. Das Gewehr rutscht vollständig in den Schatten des Fußraumes.

Die Taschenlampe fliegt polternd hinterher.

Mit zusammengekniffenen Augen starre ich die schmale Straße hinunter, die zu einem kleinen Parkplatz führt. Murphys alter Ford steht dort direkt vor den Holzstufen, die zum Laden führen.

Braune Blätter tanzen in kleinen Wirbeln über den Platz. Auf der Treppe liegen die dürren Gerippe von trockenen Ästen, die der Wind von den Birken gerissen hat, welche die Hütte in tiefen Schatten versinken lassen.

Die Tür zum Laden ist geschlossen, die beiden Fenster an den Seiten des Einganges mit großen Holzplatten vernagelt.

Der Anblick lässt meine Hoffnung auf ein Gespräch mit Murphy und eventuelle Vorräte sinken und macht mir gleichzeitig bewusst, welch ein Narr ich gewesen bin, mich überhaupt auf den Weg zu machen.

Zu Hause liegt Sarah alleine in ihrem Bett und braucht mich mit Sicherheit dringender als der alte Murphy, der noch nie die Hilfe eines anderen in Anspruch genommen hat.

Manche sagen, er sei ein verschrobener, merkwürdiger Kauz, mit dem nicht gut Kirschen zu essen sei. Die Leute kommen nur zu ihm, um ihre Einkäufe zu erledigen. Nur die wenigsten bleiben noch etwas länger, um mit Murphy ein paar Worte zu wechseln.

Jene, die mit Murphy nicht mehr als nötig zu tun haben wollten, kann ich nur recht geben. Denn wenn man sich etwas näher mit dem alten Mann befasst, merkt man schnell, dass er eine eigene Meinung zum Leben mit sich herumträgt und nicht gut auf seine Mitmenschen zu sprechen ist.

Doch diejenigen, die Murphy, so wie ich, seit über vierzig Jahren kennen, wissen, was ihn zu solch einem derartigen Griesgram hatte werden lassen.

Denn es sind nicht seine Mitmenschen, denen er aus dem Weg zu gehen versucht. Vielmehr gehe ich davon aus, dass Murphy in seinem Glauben an Gott gebrochen hat.

Ich selbst hatte Audrey gut gekannt und sie sehr gerne gemocht. Sie war eine bezaubernde, stille Person mit dem größten Herzen, das man sich in der heutigen Zeit vorstellen kann. Manchmal, wie ich mir sehr zu meiner Schande eingestehen muss, hatte ich darüber sinniert, dass ich, hätte ich meine Sarah nie kennengelernt, mit Sicherheit einen Menschen wie Audrey an meiner Seite haben wollte.

Diesen Gedanken habe ich allerdings nie mit jemandem geteilt. Weder mit Murphy noch mit Sarah. Beide hätten damit wohl wenig anfangen können.

Murphy hatte Audrey über alle Maßen geliebt. Er hatte mir einmal anvertraut, dass er den Laden nur eröffnet hatte, um seiner Frau ein besseres Leben zu ermöglichen. Was er nicht gekonnt hätte, wenn er als einfacher Kurierfahrer weiter gearbeitet hätte.

Er wollte, dass Audrey glücklich war, und er hatte dafür alles getan.

In früheren Jahren waren wir oft zu viert nach Devon zum Tanzen gefahren oder hatten uns ein paar schöne Stunden auf dem Volksfest gemacht, das zweimal im Jahr am Fuße der Hügel gastierte. Es waren unbeschwerte Augenblicke, in denen der Anblick unserer lachenden und schwatzenden Frauen bereits ein purer Genuss gewesen war. Damals war Murphy ein anderer Mensch.

Ich kann heute nicht mehr erklären, in welcher Form. Vielleicht offener und den Kopf nicht so voll mit verrückten Gedanken über Gott und seine Art, seinen Geschöpfen das Leben zur Hölle zu machen.

Vor allem hatte er damals nicht gewusst, was tiefempfundener Schmerz und brennende Trauer waren. Das hatten wir beide nicht.

Für ihn war das Leben mit Audrey und seinem kleinen Laden eine immer blühende Blumenwiese gewesen, über deren Gräser der Wind sanft dahinstrich und auf ewig die Sonne schien, um den Tau funkeln zu lassen.

Der Gedanke, dass sich über diese Wiese einmal die Nacht senken könnte, war ihm nie gekommen. Warum auch? Murphy und ich waren zwei verliebte Narren gewesen, die in ihrem Leben mit ihren Frauen das große Los gezogen hatten. Da wurde düsteren Gedanken im Kopf einfach der Zutritt verwehrt.

Und doch hatte das Schicksal eines Tages einen besonders harten Schlag für Murphy bereitgehalten, denn niemand auf der Welt ist glücklich, ohne irgendwann die Rechnung dafür bezahlen zu müssen.

Und Murphys Rechnung war verdammt hoch ausgefallen.

Acht Jahre sind jetzt fast vergangen, seit er eines Abends in den Laden kam und Audrey hinter der Kasse gefunden hatte. Sie hatte leblos dagelegen, mit verrenkten Gliedern und einer kinderfaustgroßen Wunde an der Stirn, wo sie jemand einfach mit einem der großen Bonbongläser niedergestreckt hatte.

Die Kasse hatte immer noch offen gestanden, rote und gelbe Bonbons lagen verstreut auf dem Boden.

Aus dem Regal für Zigaretten hatten fast alle Päckchen gefehlt. Audreys Augen hatten blicklos zur Decke gestarrt, und als Murphy sie an jenem Abend so fand, war irgendetwas in ihm zerbrochen.

Er war nie wieder derselbe gewesen, was ich durchaus verstehen konnte, wusste ich doch, was Audrey meinem Freund bedeutet hatte.

Manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, einem vollkommen Fremden gegenüberzustehen.

Murphy hatte sich zurückgezogen. Von allem und jedem. Selbst von mir und Sarah. So oft sie in dieser Zeit auch zu ihm gegangen war, um für ihn da zu sein oder einfach nur mit ihm zu reden, so frustriert war sie auch wieder nach Hause gekommen.

Auch ich, der ich mich damals als Murphys besten Freund bezeichnet hatte, fand keinen Zugang zu seiner Trauer und schaffte es nicht auch nur ein einziges Steinchen aus seiner selbst errichteten Mauer der Isolation herauszubrechen.

Nach Devon fuhren wir nie wieder.

Murphy entwickelte sich immer mehr zum Eigenbrötler, dessen Augen oft in weite Ferne gerichtet schienen, und der nur das Nötigste sprach.

Ich glaube, wenn ich heute so darüber nachdenke, waren Sarah und ich zu dieser Zeit die Einzigen gewesen, mit denen er zumindest ab und zu noch eine Tasse Tee getrunken hatte, nachdem wir in seinem Laden einkaufen waren. Geredet hatte er dabei nie viel. Er antwortete auf unsere Fragen oder sprach über Belanglosigkeiten. Das Thema Audrey vermieden wir alle drei.

Später, als Sarah nicht mehr mit in den Laden kommen konnte, wandte Murphy sich mir etwas mehr zu, ohne sich jedoch weiter zu öffnen, als er es selbst wollte. Vielleicht tat er das nur, weil er mit mir mitfühlen konnte.

Er wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man den Menschen verlor, der einem am wichtigsten im Leben war.

Wenn der Sonnenschein über der Blumenwiese plötzlich von dunklen Wolken verdeckt wurde.

Zu jener Zeit waren wir wieder so etwas wie Freunde gewesen. Zwar nicht in dem Maße, wie wir es auf den Volksfesten in Devon waren, wenn sich das Funkeln blinkender Lichter in unseren verliebten Augen gespiegelt hatte. Aber doch so weit, dass ich Murphy meinen Schmerz anvertrauen konnte und er mir zuhörte, ohne peinlich berührt in eine andere Richtung zu schauen.

Daran muss ich denken, als ich den verwaisten Parkplatz vor dem Laden betrachte.

Sein Ford scheint seit Tagen nicht mehr bewegt worden zu sein. Um die Reifen haben sich hohe Blätterhaufen angesammelt, die im Morgenwind fast schon zärtlich mit dem porösen Gummi spielen.

Im Obergeschoss der Hütte, in dem Murphy damals mit Audrey lebte, und er jetzt allein in der geräumigen Wohnung dahinvegetiert, sind die Holzläden geschlossen.

Sie wirken wie die blinden Augen eines Toten auf mich und verleihen der Hütte den Eindruck der Verwahrlosung und Aufgabe.

Ich lasse den Pick-up am Straßenrand stehen, nehme das Gewehr und sehe mich nach allen Seiten um. Die Welt bleibt still, nichts bewegt sich.

Als würde man eine farblose Fotografie betrachten.

Mit langsamen Schritten gehe ich die schmale Auffahrt zur Hütte hinunter.

Über mir kann ich das Rauschen der Birken hören, als würden die Bäume verzweifelte Hilferufe in den Himmel schreien.


Sonst folgt mir nur dieses unheimliche, zur neuen Welt gehörende Schweigen.

Als ich mich dem Haus nähere, versuche ich verzweifelt den Schwall an Erinnerungen zu unterdrücken, der aus jeder Ritze der Hütte zu sickern scheint. Ich konzentriere mein Augenmerk auf die geschlossenen Fenster der Wohnung. Doch das Haus macht einen verlassenen Eindruck. Nichts zeugt davon, dass die Räume Leben beherbergen. Die Kälte und das Gewicht des Gewehrs in meinen Händen beruhigen mich etwas. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass sich eine erbitterte Furcht in meinem Körper einnistet und jedes Organ mit seinen kalten Klauen umschlingt. Sarah würde mich einen ausgewachsenen Narren nennen, wenn sie wüsste, was ich hier tue.

Ein Blick auf Murphys Haus genügt, um zu wissen, dass mein Freund nicht mehr hier lebt.

Doch dann schaue ich zu seinem klapprigen Ford mit den braunen Blätterhaufen um die Reifen. Erst jetzt erkenne ich zahlreiche Äste und Zweige, die auf der langen Motorhaube liegen und beginnen, die fleckige Windschutzscheibe zu bedecken.

Noch nie in meinem Leben habe ich mich innerlich so zerrissen gefühlt.

Noch nie so einsam …

Unschlüssig stehe ich am Rande des kleinen Parkplatzes und lasse meinen Blick über die vertraute und doch so erschreckend fremde Szenerie wandern.

Keine Erinnerungen, denke ich und spüre einen bitteren Kloß in der Kehle.

Plötzlich wünsche ich mir, weit weg von der Hütte zu sein. Irgendwo anders auf dieser Welt, die sich weitergedreht hat.

Vielleicht in Devon in einer der Bars am Stadtrand, die einen üblen Ruf genießen, jetzt aber genau der richtige Ort für mich wären.

Seltsamerweise sehe ich mich in Gedanken in einer schummrigen Ecke sitzen, das Gesicht in Schatten gehüllt, während der Schein einer roten Lampe über meine Hände auf dem Tisch streichelt und die Whiskeyflasche in ihnen in goldenen Glanz hüllt.

Sogar die von Zigaretten und Schweiß geschwängerte Luft kann ich riechen.

Verdammt, ich beginne, den Verstand zu verlieren.

Wie kann ich an eine dreckige Spelunke denken, während der einzige Ort auf der Welt, an dem ich jetzt sein möchte, Sarahs Schlafzimmer ist?

Doch an sie will ich nicht denken. Nicht an diesem Ort.

Wie oft waren wir die Holzstufen zur Ladentür hinaufgestiegen.

Lachend, Hand in Hand. Und mit Murphys braunen Lebensmitteltüten waren wir wieder hinuntergestiegen, den Geschmack von heißem Tee auf der Zunge und Murphys abgenutzte Geschichten im Ohr, die er uns jedes Mal erzählte, meist etwas anders ausgeschmückt als beim letzten Mal, in der Hoffnung, wir würden es nicht bemerken.

Sarah trug ihren beigefarbenen Mantel und …

»Murphy.«

Meine Stimme erscheint mir wie das Schreien eines Ungetüms in einem kleinen Raum.

Erschrocken ducke ich mich und beobachte den Waldrand hinter dem Haus.

Die Dunkelheit zwischen den schwarzen Bäumen dräut wie eine mahnende Wand.

Ich bilde mir ein, Schatten darin zu erkennen, die flink umherhuschen.

»Murphy. Ich bin es. Harv.«

Diesmal rufe ich etwas leiser. Meine Hände legen sich hart um den Gewehrkolben.

In Gedanken schweife ich zur finsteren Front der Bäume hinter dem Laden zurück.

Kein Vogel ist zu hören. Kein Zweig knackt unter dem Gewicht eines Hufes. Nichts raschelt in den Gräsern und Büschen.

Irgendjemand hatte den Stecker der Welt herausgezogen.

Der Wald wirkt bedrohlich, als würden sich all die finsteren und verderbten Schatten der Hölle hinter der Blockhütte auftürmen.

Als ich zum Obergeschoss blicke, glaube ich schwachen Lichtschein zwischen den Ritzen eines der Holzläden flackern zu sehen.

Ich starre auf das graue, morsche Holz, als könnte ich durch pure Anstrengung in den dahinterliegenden Raum sehen.

»Verdammt, Murphy …«

Meine Worte werden von kaltem Schrecken erstickt, der sich auf mich stürzt, als etwas Glänzendes zwischen den Holzläden erscheint und das trübe Licht des Tages reflektiert. Der Laden wird ein kleines Stück auseinandergedrückt, und ein Schatten verdeckt das flackernde Licht dahinter. Unwillkürlich trete ich einen Schritt zurück.

»Was willst du, Harv«, brüllt Murphy. Erst jetzt erkenne ich in der blinkenden Reflexion den Lauf eines Gewehrs, der offensichtlich auf mich gerichtet ist.

Noch nie in meinem Leben hatte jemand mit einer Waffe auf mich gezielt. Im Krieg hatte ich im Lazarett gedient, so waren mir die einschneidenden Entscheidungen über Töten und getötet werden erspart geblieben.

Unterhalb meiner Gürtellinie zieht sich der Rest meines Körpers zu einem kleinen, kalten Eisklumpen zusammen.

»Ich wollte sehen, wie es dir geht«, schreie ich zurück. Meine Stimme erscheint mir etwas zu hoch. Fast so schrill wie die eines aufgeregten Mädchens.

Der Lauf der Waffe bleibt beharrlich auf mich gerichtet.

»Verflucht, nimm das Gewehr runter«, rufe ich. So sehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir nicht, meiner Stimme ihren gewohnt festen, leicht schleppenden Klang zu verleihen.

»Wer sagt mir, dass du das bist, Harv«, hallen Murphys Worte durch die Stille.

Ich kann mir ein bitteres Lachen nicht verkneifen.

»Was?«

»Woher soll ich wissen, dass du das bist, Harv Jennings?«

Mein Blick fällt erneut auf das graue Gemälde des Waldes hinter dem Haus. Irgendetwas zwischen den dunklen Stämmen zieht mich in seinen Bann.

»Ich stehe doch hier, du verdammter Ochse«, schreie ich und breite die Arme aus, wobei ich unbewusst mit dem Gewehr auf das Haus ziele.

»Nimm das Gewehr runter, Harv, oder ich puste dir die Eingeweide heraus.«

Ich verharre mitten in der Bewegung und starre ungläubig auf den dunklen Stahl von Murphys Waffe. Die Luft um mich herum scheint sich zusammenzuziehen und mir das Atmen zu erschweren. Die Hütte, der Parkplatz und Murphys alter Ford verschwimmen vor meinen Augen als flimmerte Asphalt unter der Sonne.

Es fällt mir schwer zu verstehen, was hier geschieht. Ich befinde mich inmitten eines abartigen Gemäldes, das der Teufel selbst mit dem Blut seiner Sünder gemalt hat.Es gibt nichts mehr, an das ich mich klammern kann. Nichts mehr, das mir vertraut vorkommt.

Selbst Murphys Stimme klingt wie die Verzweiflung eines alten Mannes. Mein Freund versteht ebenso wenig, was vor sich geht, wie ich. Oder aber er hat schlicht weg den Verstand verloren.

»Was denkst du denn, wer ich bin?«, frage ich, während ich den Lauf meiner Waffe zu Boden richte.

Lange Zeit erhalte ich keine Antwort. Lediglich der zitternde Lauf des Gewehrs beweist mir, dass mich Murphy nach wie vor durch den Spalt im Holzladen beobachtet.

»Vielleicht bist du einer von Ihnen«, sagt er schließlich mit einer Stimme, die einem resignierenden Seufzen gleicht.

»Ich bin nicht dumm, Harv. Ich habe Sie gesehen. In der Nacht. Sie sind bis auf die Veranda gekommen.«

»Wer sind Sie?«

Wieder keine Antwort.

Dann antwortet Murphy so leise, dass ich ihn kaum noch verstehen kann. Jetzt höre ich eindeutig eine tief sitzende Furcht in seinen Worten.

»Diese widerlichen Ungeheuer. Sie sind mit den Beben gekommen. Irgendetwas hat sie aus der Erde gespült.«

In meinem Kopf erscheint plötzlich das Bild des Shoggothen, den ich auf der Wiese hinter meinem Haus gesehen hatte.

»Es gibt keine Ungeheuer«, rufe ich und fühle im selben Augenblick eine tief empfundene Schuld in mir hochkommen.

Ein beißendes Gefühl, das mein ganzes Leben schon in mir aufgestiegen war, wenn ich zu einer Lüge greifen musste.

»Erzähl mir keinen Mist. Vielleicht bist du ja eines der Ungeheuer, das sich Harvs Körper übergeworfen hat.«

Murphys Stimme überschlägt sich, so dass ich Schwierigkeiten habe, die letzten Worte zu verstehen.

»Hast du den Verstand verloren?«, frage ich und bereue es im nächsten Augenblick auch schon.

Ich denke, Murphy in unserer Situation zu reizen wäre das Dümmste, das ich tun kann.

»Wie heißt deine Frau?«

Murphys Stimme klingt plötzlich ernst und konzentriert. Ich kann förmlich seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen sehen, mit denen er mich durch die Ritzen des Holzladens taxiert.

»Sarah«, brülle ich. Und in Gedanken `du verfluchter Hornochse´.

Unter dem Ford beginnt das trockene Laub zu rascheln, als ein Windstoß hindurchfährt.

Unwillkürlich zucke ich zusammen und mache einen Schritt zur Seite.

Braune und schwarze Blätter tanzen in kleinen Pirouetten über den brüchigen Asphalt und bleiben sterbend zu meinen Füßen liegen.

Ein Zweig fällt auf das Dach des Wagens, was in der erdrückenden Stille der Welt dem Donnern eines Hammers auf einem Amboss gleichkommt.

Als ich wieder zu Murphy blicke, stelle ich erleichtert fest, dass sich der Gewehrlauf gesenkt hat.

»Was willst du hier, Harv?«

Unter normalen Umständen hätte mich die Frage zum Lachen gebracht, denn immerhin betreibt mein Freund seit Jahrzehnten einen kleinen Lebensmittelladen inmitten der Hügel.

Die wenigen Menschen, die hier oben leben, sind seine besten Kunden. Doch den meisten Umsatz macht Murphy mit auf der Durchreise zwischen Devon und Kagan´s Creek befindlichen genervten Eltern und abenteuerlustigen Jugendlichen.

Während Erstere ihren Kindern die ermüdende Fahrt durch die Hügel mit allerlei Süßigkeiten und billigem Spielzeug zu versüßen suchen, sind die jungen Leute in ihrem Bestreben, trotz Minderjährigkeit an Alkohol zu kommen, fast unermüdlich.

Für Murphy sind beide Kategorien potentielle Einnahmequellen, auch wenn er sich dessen bewusst ist, dass er bei den Jugendlichen die Gesetze des Staates nicht selten bis zur Schmerzgrenze dehnt.

»Ich brauche Vorräte«, antworte ich und blicke sehnsüchtig zur mit Brettern vernagelten Tür des Ladens.

»Ich habe nichts mehr.«

Plötzlich ist der Lauf wieder auf mich gerichtet. Ich stehe da, befinde mich im dunkelsten Traum, den man sich vorstellen kann und spüre bei Murphys Worten das nagende Gefühl aufkommenden Hungers. Der Gedanke, meine eigene Waffe zu heben und den sturen Mistkerl hinter dem Laden mit einem gezielten Schuss zu erledigen, kommt mir so verlockend vor, das ich entsetzt vor mir selbst einen Schritt zurückweiche.

»Nun komm. Sarah und ich brauchen etwas zu essen. Mach deinen verdammten Laden auf«, sage ich stattdessen. Nur mit Mühe gelingt es mir, meine Beherrschung zu wahren.

»Der Laden ist geschlossen. Herrgott, Harv. Hast du nicht mitbekommen, was passiert ist?«

Murphy erinnert mich an einen Hassprediger, wie ich sie in diversen Weltuntergangsfilmen gesehen habe.

»Die ganze Welt ist vor die Hunde gegangen«, fährt er fort.

»Die Bomben haben irgendetwas freigesetzt. Bakterien oder Viren oder so etwas in der Art.«

Der Gewehrlauf beginnt zu zittern, und ich kann förmlich sehen, wie sich mein Freund schwer auf einen Stuhl fallen lässt.

»Es ist nichts mehr am Leben. Keiner ist übrig«, schluchzt die Stimme hinter dem Holzladen.

»Nur diese verdammten Viecher.«

Das Gewehr verschwindet. Der Lichtschein zwischen den Ritzen in den Läden flackert unruhig.

»Und wieso stehe ich dann hier?«, frage ich und breite erneut meine Arme aus, jedoch darauf bedacht, nicht noch einmal versehentlich auf die Hütte zu zielen. Mein Freund scheint mit den Nerven am Ende zu sein, und eine Provokation meinerseits, wenn auch unbedacht, konnte tödlich enden, ganz gleich, wie eng wir befreundet sich. Verdammt, ich selbst habe noch vor einer Minute darüber nachgedacht, Murphy einfach abzuknallen.

Auf meine Frage antwortet mir nur die kalte Stille des Morgens. Einige Blätter rascheln über den Parkplatz.

Ich spiele mit dem Gedanken, einfach zur Vorderseite des Ladens zu gehen, die Tür aufzubrechen und mich in `Murphys Feinkost und Delikatessengeschäft´ zu bedienen. Sarahs eingefallene Wangen erscheinen wie ein Mahnmal vor meinen Augen. Dazu, wie eine Überblende in einem schlecht gemachten Film, die Regale unserer kleinen Speisekammer hinter der Küche, deren Bretter nach und nach verwaisen.

Während ich versuche, die geisterhaften Bilder in meinem Kopf zu verbannen, erinnere ich mich an Murphys Worte, die er mir jedes Mal sagte, wenn ich mit Sarah den Laden betreten hatte.

`Bedient euch nur. Ihr wisst ja, wo alles steht. ´

Graues Land

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