Читать книгу Die Legende von Arc's Hill - Michael Dissieux - Страница 7

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Manche sagen, Arc´s Hill sei verflucht, eine Stadt, die den Pestatem des Bösen verbreitet.

Andere bezeichnen den Landstrich jenseits der Wälder von Durham als vom Teufel berührt.

Glaubte man den uralten Legenden, so erzählten sich die Männer, wenn sie am Abend in den Tavernen zusammen saßen, mit gewichtiger und gleichzeitig von Furcht gezeichneter Miene von den dunkelsten Nächten des Jahres. Jene Stunden, in denen man den Teufel mit seiner dämonischen Brut auf den weiten Ebenen des verfluchten Landes tanzen sehen konnte.

Und nur hinter vorgehaltener und zitternder Hand sprachen sie von den grauen Bergen, die das verfluchte Städtchen wie der feiste Schoß einer gewaltigen Bestie hüteten, und auch davon, wie das verzweifelte Wehklagen gepeinigter Kinder durch die kalte Nachtluft bis hinunter in die Gassen des Städtchens drang. Gerade so, als versuchten die kleinen, gemarterten Seelen vor jenen schrecklichen, unaussprechlichen Kreaturen zu entfliehen, welche seit Urgedenken auf den steinernen Felsen der Berge ihre Zuflucht besaßen.

Saßen die Männer am Abend im Kreise ihrer Familie in den Stuben beisammen und waren die Vorhänge zugezogen und Fenster und Türen fest verschlossen, dann erzählten die Ältesten von ihnen von den geflügelten Wesen, die man des Nachts schattengleich und schweigend durch das weite Land jenseits von Arc´s Hill streifen und den Himmel in totale Finsternis tauchen sehen konnte.

Oder aber sie sprachen mit von Furcht geweiteten Augen von den unheimlichen Stimmen, die durch die Dunkelheit drangen und direkt aus der harten und kalten Erde herzurühren schienen. Einige wenige glaubten zu wissen, dass diese fremdartigen Sprachen von Wesen aus den schwarzen Räumen zwischen den Sternen stammten. Grauenvolle Kreaturen, die aus dem Dunkel hinabgestiegen waren, um ihre unheilige Saat in den Schoß der neu erschaffenen und noch glühenden Welt zu legen.

Es gab andere, die diese archaischen Wesen als ›Die Großen Alten‹ betitelten, abscheuliche Dämonen, welche aus einem Universum weit jenseits des unseren stammten.

Doch wurde ihnen kein Glauben geschenkt und ihre Worte als Narretei und von Alkohol geschwängerte Geisterfurcht abgetan.

Dabei kamen diese Wenigen der abscheulichen Wahrheit viel näher, als jeder andere, der an den Tischen der nach Rauch und Schweiß stinkenden Tavernen oder aber im Kreise der Familie im Laufe der Jahrhunderte seine selbstersonnenen Geschichten zum Besten gegeben hatte. Auch wenn sich diese Wenigen der Bedeutung ihrer Worte kaum im Klaren waren.

Es waren eben nur Geschichten, die man sich über das verfluchte Städtchen Arc´s Hill erzählte. Worte von Narren, die im Schatten von Aberglauben und mit der Furcht ihrer Vorfahren herangewachsen waren …


1986 …

Wenn man alles verloren hat, was man im Leben als wichtig erachtete, ist es kein leichtes Unterfangen, wieder aus den düsteren Tiefen der Verzweiflung heraus zu gelangen. Noch aussichtsloser erscheint der mutlose Versuch, seinen Geist von der wunderlichen und verlockenden Sehnsucht nach dem Tode zu befreien oder gar zu beschützen.

In London, jener lauten und grellen Stadt, in der Wahnsinn und Hochgefühl an jeder Ecke Hand in Hand gingen, hatte Mike Osmond diesbezüglich keine Möglichkeit gesehen, den schreienden Schatten der Vergangenheit zu entfliehen und sich aus dem Sumpf von Niedergang und verzehrendem Selbstmitleid zu befreien.

Jede Straße und jeder Stein erinnerten ihn an seine Familie und zogen mit der unbarmherzigen Härte eines dunklen Dämons seinen Verstand in diese finstere Grube aus Schmerzen und Todessehnsucht hinab. Selbst das Sonnenlicht und das Flüstern des Abendwindes waren für Mike wie das Leuchten in Olivias Augen und der süße, neugierige Klang von Susans kindlicher Stimme.

Er wollte sich vor den Schrecken dieser neuen, leeren Welt – einer Welt ohne Olivia und Susan – in einer Dunkelheit verstecken, die er sich selbst erschuf, und in ihrem Schoß ganz und gar aufgehen.

Zu viel Alkohol floss seine Kehle hinab und versuchte, seine schreienden Sinne zu betäuben. Er saß in dunklen Zimmern und lag in kalten Betten, berauscht vom Gelächter von Whiskey und Bier in seinem Verstand, und lauschte einer fremdartigen, erdrückenden Stille, die ihn verspottete und zerriss.

Er war nicht mehr er selbst. Er war ein Fremder, der ihn verhöhnte und sich an seinem eigenen Leid labte.

Immer wieder tauchten ihre Gesichter vor seinen schmerzenden, schwarz geränderten Augen auf, wie Geister aus längst zerfallenden Zeiten.

Das wunderbare, weiche Antlitz von Olivia, das ihn seit der Schulzeit fast sein gesamtes Leben begleitet hatte, und dessen Lachen ihn selbst an einem stürmischen Regentag verzaubern konnte.

Wie hatte er es geliebt, dieses wie in kostbaren Marmor gearbeitete Gesicht zu berühren, zu liebkosen und zu streicheln, in ihren hellen und klaren Augen wie in einem beruhigenden Bergsee zu versinken und den weißen Grund ihrer Seele zu erforschen. Jedes Mal entdeckte er etwas Neues und Liebreizendes an ihr. Er genoss den Duft ihrer Haut und das Aroma ihrer Haare, und ließ sich von ihr zu Welten jenseits jeder Vorstellungskraft entführen.

Dann erschien Susan im trüben Nebel seiner Erinnerungen.

Seine kleine Tochter.

Ihre gemeinsame Tochter …

Das gleiche ebenmäßige Antlitz, das gleiche Lächeln, die gleichen hohen Wangenknochen und die gleichen blonden Locken wie Olivia.

Wenn Mike in der Tiefe seines finsteren Abgrunds ihr Lachen hörte, fern und vergänglich, mit dem Echo des Verlorenen behaftet, hatte er das Gefühl, einen kurzen Blick in den Himmel werfen zu dürfen.

Diese Schmerzen …

Diese Finsternis tief in seiner Seele, in der zeit seines Lebens Lichtschein vorgeherrscht hatte.

Seine Familie war der Mittelpunkt einer Welt gewesen, die weitaus imposanter und gigantischer war als alle strahlenden Welten jenseits der Sterne, und die ihn mit starken Armen und verführerischen Düften in einer Welt am Leben erhielt, die ihr Glück voller Neid und Missfallen betrachtete.

Die schreckliche Frage, welch grauenvolle und widerwärtige Kreatur das Schicksal sein mochte, konnte sich Mike in den Orgien seiner von Alkohol geschwängerten Nächte nicht zu genüge beantworten. Er kam zu dem niederschmetternden Entschluss, dass der menschliche Verstand in seiner Beschränkung nicht dazu geschaffen war, das verkommene Wesen dieser Bestie zu erfassen, die unser aller Leben in ihren schuppigen Klauen hielt und unbarmherzig mal an diesem, mal an jenem Faden zog. Und all dies nur, um sich selbst an der grauenvollen Abartigkeit seines Handelns zu laben und ein weiteres glückliches und erfülltes Leben mit einem simplen Wimpernschlag auszulöschen.

Doch der Dämon war nicht dazu in der Lage gewesen, Mikes Leben vollständig auszublenden.

Er hatte ihm Olivia und Susan genommen. In einer Nacht, die kalt und neblig war, und in der beide über eine einsame Straße liefen, die sich in jener Nacht als perverser Spielplatz des Dämons entpuppte.

Eine Zeit lang hing Mike willenlos und gebrochen an den Fäden seines absonderlichen Gegenspielers und wartete voller Sehnsucht darauf, dass sich endlich die richtige Schnur um seinen Hals legen und ihn mit Olivia und Susan wieder vereinen würde.

Doch dieser Wunsch war zu banal für den grinsenden Dämon, als welchen Mike das Schicksal seines Lebens mittlerweile betrachtete. Er beschloss, in einem eigensinnigen Aufbäumen seiner Selbstachtung, sich nicht auf das niedere Spiel jenes unsichtbaren und pervertierten Wesens einzulassen.

Mit Gedanken erfüllt, die nicht seinem eigenen Verstand zu entstammen schienen, beschloss Mike, all den Erinnerungen an seine lebendige Zeit den Rücken zu kehren. Denn so viel Alkohol er auch zu trinken vermochte um seine Sinne zu betäuben, so musste er sich eingestehen, dass die Geister seiner Frau und Tochter noch immer durch die Hektik einer grellen Stadt wandelten, die er einmal als Heimat bezeichnet hatte.

Alles, was er in seinem sterbenden Dasein noch tun konnte, war, diesem dunklen Sumpf, in dessen Tiefen sein Leben allmählich versank, den Rücken zu kehren.

Und er hoffte inständig, dass er die lieblichen Geisterwesen seiner Liebsten in den modernen Häuserschluchten Londons zurücklassen konnte.


So erreichte Mike Osmond am Nachmittag eines verregneten Tages einen kleinen Ort am Rande der Welt; abgeschnitten von jeglicher Zivilisation und scheinbar vergessen von der Zeit.

Bislang war Mike der naiven Auffassung gewesen, dass in der Hektik moderner Zeiten und karriereorientierter Menschen ein Städtchen wie Arc´s Hill unmöglich existieren konnte. Doch als er die schmale Straße durch den Wald westlich von Durham befuhr und die Schatten der Bäume nach einigen Meilen ungewöhnlicher Stille den Blick auf jenen fremdartigen und nicht vorstellbaren Ort freigaben, wurde Mikes taumelnder Verstand eines Besseren belehrt. Er schien die Zeit, wie er sie bisher gekannt und definiert hatte, hinter sich zurückgelassen zu haben.

Arc´s Hill lag etwa fünf Meilen westlich von Durham, einer kleinen, beschaulichen Stadt mit hellen Straßen und gepflegten Häusern. Als Mike Arc´s Hill an diesem Herbsttag erblickte, erschien es ihm, als habe er mit Durham die letzte Bastion von Zivilisation und Gesittung verlassen und sei in ein vergessenes Zeitalter eingetaucht.

Eingebettet in den gigantischen, dunklen Schoß schroffer Gebirgsfelsen, die sich steil und unwirtlich in einen beinahe schwarzen Himmel erstreckten, kauerte der Ort wie ein kränklicher Fötus in den Schatten des dunklen Gesteins. Eine Straße aus schmutzigem Kopfsteinpflaster schlängelte sich, leblosem Gewürm gleich, den Hügel hinab, hinein in die Schatten elender Häuserschluchten. Niedrige, windschiefe und dem Zerfall dargebotene Bauten schmiegten sich in letzter verzweifelter Zuneigung aneinander und harrten der Zeit des Vergessens. Über den mit Moos bewachsenen Schindeln der Dächer stach der schwarze Finger eines Kirchturms in den düsteren Leib tiefhängender Wolken, als versuchte Arc´s Hill sich mit Gottes Hilfe gegen den unwiderruflichen Niedergang aufzulehnen.

Das Städtchen glich dem bizarren Gemälde eines entarteten Künstlers. Als wäre der Teufel selbst aus der Hölle gestiegen, um die Erde mit Trostlosigkeit zu strafen.

Was Mike vom Rand des Waldes aus erblickte, wirkte leblos und verlassen.

Nichts rührte sich.

Ein erdrückendes Schweigen hing tief in den Gassen von Arc´s Hill. Mike hatte das Gefühl, sein Blick würde über ein steinernes, verrottetes Grab schweifen, das sich mit letzter Kraft dagegen wehrte, in die harte, ungeweihte Erde gezogen zu werden.

Der Anblick der tristen Häuser und schwarzen Bänder enger und verborgener Gassen ließ ihn erschaudern. Alles wirkte verlassen und tot, bar jeglichen Lebens. Selbst die Luft schien still und verkommen über den von Regen glänzenden Dächern zu verharren.

Doch genau das war es, was Mike zu finden erhofft hatte. Denn in einem Ort, von allen Zeiten vergessen, an dem die Erinnerung aller jenseits des Waldes lebenden verblasst, würden die scharfen, nadelfeinen Zähne des Schmerzes sich vielleicht nicht mehr so tief in seiner geschundenen Seele verbeißen. Am Ende der Welt hoffte er vergessen zu können, was ihm die alte Welt, die er einst liebte und pflegte, auf so niederträchtige Weise genommen hatte.

Der Mensch geht merkwürdige Wege, um zu vergessen, dachte Mike, während er diesen als wagemutig zu bezeichnenden Schritt heraus aus der zivilisierten, modernen und lärmenden Welt, hinein in den schweigsamen, fast reglos zu nennenden Landstrich unternahm. Dabei keimte ein Gefühl in ihm, das eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Furcht vor dem Namenlosen darbot. Welche Empfindung in ihm überwog, darüber wagte er in diesen ersten Minuten nicht nachzudenken.

Vielleicht wollte sich Mike an jenem kalten Herbsttag, als er Arc´s Hill erreichte, nicht eingestehen, dass etwas Bedrohliches von diesem Ort ausging. Er versuchte zu vermeiden, dass seine Illusion von Vergessen und Neubeginn durch infantile Gedankengänge zerstört wurde.

Doch ahnte er damals schon in den Tiefen seines Bewusstseins, weit unterhalb der Oberfläche seines Denkens, dass dort etwas war. Es lauerte über den flachen Häusern mit ihren dunklen Dächern und steinernen Kaminen, die düster in das schwindende Grau des Tages ragten. ein giftiger Dunst, der den Ort wie eine unsichtbare Beklemmung am Atmen hinderte.

Dank seiner beruflichen Position im Büro einer angesehenen Versicherung, die Mike in seinem alten Leben innehatte, war es ihm möglich gewesen, zumindest einen geringen Standard seines lieb gewonnenen Lebensstils beizubehalten.

So hatte er mit dem letzten Geld eines Daseins, das er zu vergessen suchte, ein altes, leerstehendes Haus erstanden, das etwas abseits der Wege an den felsigen Ausläufern der nahen Berge erbaut worden war; vom übrigen Ort getrennt durch einen schmalen, steinigen Fußpfad, der unter einem Spalier riesiger Trauerweiden mit vernarbten, knorrigen schwarzen Stämmen hindurchführte.

Das Haus, ein imposantes Gebäude aus dunkelroten Klinkersteinen und mit Holz verkleideten Anbauten, gefiel Mike beim ersten Anblick. Trotz der verfallenen und lange verlassenen Atmosphäre, die sich hinter den schwarzen Fenstern wie eine lauernde Bestie zu verstecken schien, hatte er das Gefühl, in dem alten Gemäuer ein neues Zuhause gefunden zu haben. Einige Holzlatten der Erker waren zerbrochen oder von grauem Moder befallen, und viele der dunklen Schindeln des hohen Daches fehlten oder lagen zersplittert im mit Unkraut und abgestorbenen Buschwerk überwucherten Garten.

Doch Mike schätzte die abgeschiedene Lage von den restlichen altertümlichen Häusern Arc´s Hills. Das Gefühl, durch den in tiefen Schatten liegenden Feldweg von der übrigen Welt und dem mit ihr verbundenen Schmerz getrennt zu sein, erzeugte in ihm eine Euphorie, die jene andere Empfindung, die ihn unbewusst vor dem stillen und einsamen Haus schaudern ließ, in der Tiefe seines Unterbewusstseins in dessen finstere Grube zurückdrängte.

Der Makler, der es ihm verkauft hatte und der nur widerwillig aus Durham in diesen seltsamen Ort gekommen war, erzählte Mike, dass das Gebäude in den letzten zwei Jahrzehnten leergestanden hatte. In der schäbigen Taverne des Ortes, so erwähnte der Mann nicht ohne einem nervösen Flackern in den Augen, erzählte man sich die skurrilsten Geschichten, die sich in ihrer Düsternis um das Verschwinden des letzten Besitzers des Anwesens rankten.

Jener Makler aus Durham, der Mike als Mr. Delwright im Gedächtnis haften geblieben war, fügte mit unsicherem Lächeln hinzu, dass man an jedem Ort der Welt, der Arc´s Hill auch nur im Entferntesten ähnelte, derartige schauerliche Mythen anzutreffen vermochte, und man den Worten jener einfältigen Menschen nicht allzu viel an Beachtung schenken durfte.

Mr. Delwright war Mike sehr angespannt vorgekommen, als er über die alten Geschichten plauderte, die man in der Taverne am späten Abend und nach einigen Bieren zu hören bekam. Unablässig hatte der Makler seinen Ehering am Finger gedreht und sich in dem herrschaftlichen Anwesen umgesehen, als rechnete er jederzeit damit, einen Geist zu erblicken.

Doch Mike schätzte den Mann für seine Ehrlichkeit, denn wer hielt sich schon an Anstandsregeln, wenn es galt, ein altes, dem Zerfall preisgegebenes und von düsteren Mären umgebenes Haus an den Mann zu bringen?

Jene von Delwright erwähnten makabren Ammenmärchen taten Mikes Eifer keinen Abbruch. Wer einmal in die Hölle geblickt hat, lässt sich von ländlichem Aberglauben nicht in die Flucht schlagen.

Und so begann er bereits an seinem ersten Tag in dem modrigen Anwesen die staubigen Zimmer zu lüften und den erstickenden Gestank von Jahrzehnten zu vertreiben.

Viele der antiquierten Möbel waren noch brauchbar und genügten seinen Zwecken. Jenes Mobiliar, das sich bereits im Zerfall befand oder von Menschenhand zertrümmert worden war – vieles davon im Zorn, wie Mike zu erkennen glaubte – ersetzte er durch einige wenige schlichte Möbelstücke, die er aus London nach Arc´s Hill bringen ließ.

Sein letztes Zugeständnis an sein altes Leben.

Die trüben Tage verbrachte er damit, die knarrenden Holzböden zu wischen und von einer harten, nach Fäulnis stinkenden Schicht aus Dreck und Staub zu befreien. Ebenso säuberte er die veralteten, jedoch noch gebrauchsfertigen sanitären Anlagen des Anwesens, die dem modernen Standard lange schon nicht mehr entsprachen. Unter einem uralten, schützenden Mantel aus Zerfall und vor Jahren verendetem mikroskopisch kleinem Getier blieben sie lange und hartnäckig Mikes Blicken verborgen.

Der Gestank, der sich in den hohen, kalten Räumen eingenistet hatte und von uralten, unaussprechlichen Zeiten zeugte, war überwältigend und erinnerte Mike an den süßen, aufdringlichen Geruch alter Gräber an heißen Sommertagen.

Er fragte sich, welch grauenvolle Geschichten sich stumm im abgestandenen Atem des Hauses hielten und darauf lauerten, den ersten, unbedarften Zuhörer mit ihren albtraumhaften Visionen um den Verstand zu bringen.

Was mochte sich in diesem uralten, dem Verfall dargebotenen Haus zugetragen haben, dass sich, wie Mike Delwrights Schilderungen entnommen hatte, kein Käufer in den letzten beiden Jahrzehnten gefunden hatte?

Eine stumme, düstere Bedrohung schien wie ein stinkendes Tuch die Wände und Decken des Anwesens zu verhüllen.

Muteten die Tage schon befremdlich und seltsam an – obgleich die letzten hellen Sonnenstrahlen durch die kleinen geöffneten Fenster fielen und ein leichenfahles Muster auf zerschlissene Teppiche und graue Holzböden warfen – so empfingen ihn die Nächte umso schrecklicher.

Zu diesen unwirtlichen Zeiten hielt sich Mike zumeist in den Kellerräumen des Hauses auf. Eine unnatürliche, schockierende Kälte staute sich in den niedrigen Verschlägen und Kammern, die sich labyrinthartig wie eine finstere Grube unter dem Anwesen ausbreiteten. Mike erklärte sich die eisige Luft damit, dass sich die Kellerräume, die er durch eine steile, hölzerne Stiege mit knarzenden Holztritten erreichte, tief unter der Erde befanden und die kleinen Räume die Kälte nicht mehr freigaben. Zudem kündigte sich in den Nächten der nahende Winter aus den Bergen an.

Er war sich dessen bewusst, dass diese Gedanken nur einem Scheindenken entsprachen, um sich die neue Euphorie, die ihn in Arc´s Hill gepackt hatte und ihm ein neues Leben versprach, nicht nehmen zu lassen. Er wusste, der Grad zwischen Niedergang durch unsägliche, habgierige Trauer und dem schlichten Triumph, endlich den entscheidenden Schritt heraus aus der Depression getan zu haben, war ein schmaler.

So arbeitete er in den Nächten in den ausgekühlten, beengten Kellerräumen und Verschlägen, die durch simple Türen aus morschen Holzlatten miteinander verbunden waren. Er trug eine wollene Jacke und eine altmodische Mütze, die seine Ohren jedoch nur teilweise zu wärmen vermochte. In vielen der niedrigen Kammern konnte Mike nicht einmal aufrecht stehen. Die Decke bestand aus losem Gestein und vernarbtem Staub, übersät mit dickem, schwarzem Spinngewebe.

Keuchend und mit Schmerzen in Hüfte und Beinen mangels des aufrechten Ganges arbeitete er sich des Nachts von Raum zu Raum. Dabei stieß er auf Unmengen von alten, vermoderten Holzplanken, die unter seiner Berührung zu Staub zerfielen. Er fand altertümliches, mit Schimmel und Spinnweben überzogenes Mobiliar, das dem Griff seiner Hände nicht mehr standhielt.

Dazu zertrat er Hunderte von Käfern, Spinnen und anderem Gewürm, das ihm fremdartig anmutete und dessen schweigendes Dasein in absoluter Finsternis er nach Jahrzehnten aufgeschreckt hatte.

In einem der tiefliegenden Verschläge stieß Mike auf Berge alter, nach Fäulnis und Vergangenheit riechender Kleider, die nachlässig in verschimmelte Kisten gesteckt worden waren oder einfach auf dem harten Erdreich zu formlosen Haufen aufgetürmt lagen.

Sie schienen ein hohes Alter zu besitzen, denn die Schnitte der Hosen und Röcke, sowie die Tatsache, dass Mike unter den Haufen auch von Moder und Staub verhärtete Fräcke und Gehröcke mit dazugehörigen Zylindern vorfand, zeugten von einer Zeit, die längst schon vergessen und in der das Anwesen noch jung an Jahren gewesen war.

Mike versuchte sich die Menschen vorzustellen, die einst diese Kleider trugen. Doch die bloße Vorstellung, dass selbst die Nachkommen dieser Personen nicht mehr unter den Lebenden weilten, erinnerte ihn auf schreckliche Weise an Susan und Olivia. Er beschloss, bei nächster Gelegenheit die Kisten und Berge mit Kleidern im Garten hinter dem Anwesen den Flammen zu übergeben.

In einem weiteren Raum, dessen felsige Decke sich bedrohlich nach unten neigte und breite, von einer Wand zur nächsten reichende Risse aufwies, fand Mike verrostete, rußgeschwärzte Öfen und wurmstichige Schränke, die einmal einer Küche gedient haben mochten, und die das Alter jeglicher Farbe beraubt hatte.

Seit Jahrzehnten harrten diese Zeugen aus längst vergangenen Tagen unter einer dicken Schicht aus grauem Staub und von der Decke herabrieselnden Steinchen in ewiger Finsternis, denn der gesamte Keller besaß nicht ein Fenster. Das einzige Licht stammte von Öllaternen, die Mike in der Wohnung gefunden hatte, sowie zwei starken Taschenlampen. Eine widernatürliche, belastende Stille hing wie ein unsichtbarer Schleier in den niedrigen Räumen, die einem unheimlichen, lange verrotteten Grabgewölbe glichen. Das Zerbersten von morschem Holz und verhärteten Erdhaufen, das Knacken der flinken, aufgeschreckten Käfer unter Mikes Schuhen, sowie das angestrengte Keuchen seines Atems ob der unbequemen Haltung, in der er des Nachts diese Arbeiten verrichtete, waren die einzigen trostlosen Geräusche, welche das Haus erfüllten.

Inmitten dieser totenähnlichen Stille stieß Mike in der sechsten Nacht seiner Arbeit auf eine alte, eisenbeschlagene Truhe, die lediglich von einem simplen, verrosteten Schloss gesichert wurde. Doch löste sich das Metall schnell unter seinen Händen in einer Wolke aus Rost und Staub auf.

Was Mike im Innern dieser seltsamen Kiste vorfand, ließ ihn den Schrecken der Kälte und das unangetastete Schweigen in den Kellerräumen vergessen. Mit seinem Fund stieg er in dieser Nacht die steile Stiege in die gewärmte Wohnung empor, die ihm plötzlich von einer schweren Atmosphäre belastet erschien. Fast kam es ihm vor, als trüge er mit der Truhe und ihrem unheimlichen Inhalt auch die tiefe Stille und eine lange begrabene Vergangenheit hinauf in die Wohnstube.

In dieser Nacht, in der Mike die alte Truhe entdecke hatte, träumte er zum ersten Mal von der Stadt …


Ich wandelte durch düsteren, kargen Raum, ohne Richtung, ohne Ende, bewegte mich mechanisch in einem Körper, der nicht der meine sein konnte.

Albtraumgleiche Furcht leitete mich hämisch durch das unwirtliche Dunkel, durch eine gespenstische Leere, wie sie selbst den schrecklichsten, gegenstandslosesten Fantasien uneigen war. Der Körper, der mich trug, so ich in der Lage war, jenen fremden Leib in dieser schauerlichen Welt zu spüren, fühlte sich heiß und pochend an, als würde er von verzehrendem Fieber heimgesucht. Dann wiederum kalt und schweigend, wie der verrottete Leib eines Toten.

Mir kam der schreiende Gedanke, dass dies die untrüglichen Zeichen des Todes bedeuten konnte, der mich des Nachts im Schlaf ereilt hatte. Absolute, namenlose Einsamkeit über einem unendlichen Abgrund tiefster Schwärze. Hier konnte mein Geist auf nichts Lebendiges mehr stoßen. Hier, inmitten von Finsternis und richtungsloser Weite.

Hatte ich endlich Gnade vor dem Richter und Dämon gefunden, der über unser aller Leben urteilt, und befand mich auf dem stillen Weg zu Olivia und meiner kleinen Tochter? Hatte ich endlich genügend Leid in dieser schrecklichen, lauten und dekadenten Welt erfahren, um schließlich auf die lange ersehnte Reise geschickt zu werden?

Der Impuls, widerlich und verführerisch zugleich, erschreckte mich und ließ Raum und Zeit zu einem Nichts aus Sinnen, Gedanken und Ängsten verkommen. Fast schon war ich dazu bereit, mich der monströsen Dunkelheit des Todes hinzugeben und blind auf den Pfaden der Stille zu wandeln.

War es nicht das, was ich mir immer erhofft hatte? Jene Visionen, zu denen mich der Alkohol verleitet und die ich in jenen ruinösen Nächten als die einzige Wahrheit anerkannt hatte?

Schmerz und Leid waren fremd in diesem finsteren Schweben. Einzig der Gedanke an Erlösung und das totale Vergessen all jener Widerwärtigkeiten meines alten Lebens hielten meinen schweigsamen Verstand gefangen.

Wo ich mich befand, war unwichtig. Selbst was womöglich im Dunkeln lauerte, schreckte mich nicht. Nach einem Leben in Pein gab es nichts mehr, das man als entsetzlich erachten konnte.

Einzig der Weg zählte.

Jener stille, schwarze Pfad, auf dem ich wandelte, und der mich durch diese Ebene des Todes leitete.

Ich ließ mich treiben und labte mich am Vergessen.

Dann tauchte Lichtschein wie ein entferntes, schwaches Pulsieren inmitten der Einförmigkeit auf. Das Licht, von welchem die Worte der vom Tode Wiedergekehrten berichteten?

Das Licht der anderen Welt?

Das Funkeln wurde stärker. Ich bewegte mich schneller als erwartet darauf zu.

Die grabesähnliche, lauernde Nacht um mich herum wurde gebannt und in die Höhlen meiner ureigenen Ängste zurückgetrieben.

Und dann, mit Augen, die mir fremd erschienen, und einem Verstand, der mich schwindeln ließ, sah ich sie zum ersten Mal.

Die Stadt in der Dunkelheit.

Ich blickte auf ein glänzendes, reflektierendes Meer heller Dächer und blendender weißer Fassaden herab. Auf ein Flechtwerk imposanter, gerader und leuchtender Straßenzüge.

Alles schwamm in diesem unnatürlichen, verlockenden Schein goldenen Lichtes, der vom Mittelpunkt dieser Stadt auszugehen schien, einem monströsen Tempel, der auf der Spitze eines terrassengleichen Hügels thronte, umgeben von blühenden, farbenfrohen Blumenmeeren und unbekannten, uralten Bäumen, durchzogen von Straßen und Wegen, die sich bis hinunter zu den fürstlichen Bauten und glanzvollen Palästen wanden. Ich sah einen Fluss, der sich schimmernd wie Silber unter Brücken aus weißem Marmor schlängelte und von einem dampfenden Wasserfall über den Terrassen gespeist wurde.

War das der Ort meiner Bestimmung? Der Ort, wo sich die Toten sammeln, um ihrer Erklärung zu harren? Wurde hier über den Menschen gerichtet?

Doch wo waren sie, die Legionen der Geister und unglücklicher Seelen?

Die Stadt lag verlassen und still vor mir, ein Elysium bar jeglicher Präsenz. Ein schweigendes, in Licht ertränktes, einsames Grab inmitten schier endloser Wüsten purer Finsternis.

Nichts rührte sich … nichts regte sich …

Die Stadt hätte ein Traum sein können, die Fantasie verzweifelter Gedanken, die sich nach der endgültigen Erlösung sehnten.

Etwas zog an mir …

Ich wollte nicht fort. Mich verlangte nach dem Eintauchen in dieses unbeschreibliche, wundersame Meer fremder Existenz. Etwas drängte mich, die Straßen zu erkunden, die herrschaftlichen Häuser und den Weg zu ersteigen, hinauf zum majestätischen, gigantischen Tempel und die Kühle und Erhabenheit seiner hohen und verlassenen Hallen zu spüren.

Doch der Schein wurde schwächer. Die Nacht raste in atemberaubender Geschwindigkeit an mir vorbei. Willenlos wurde ich von ihr aufgesogen, eingehüllt und höhnisch lachend begrüßt.

Die kalten Klauen der Furcht und des Verlustes griffen nach mir und entrissen mir jegliche Erinnerung an jenen wundervollen Ausblick auf das Meer aus Licht und engelsgleichem Glanz.

Als Mike im Zwielicht eines heraufziehenden, düsteren Morgens erwachte, waren die Bilder jener geheimnisumwitterten Stadt verschwunden. Lediglich das euphorische Gefühl von Ewigkeit brachte ungreifbare Fetzen seines Traumes an den Rand seiner Wahrnehmungskraft zurück.

Doch die Stadt selbst … war verschwunden.


Am Mittag nach jener denkwürdigen Nacht streifte Mike ruhelos und von seltsamen Gedanken und Empfindungen geplagt durch die hohen Räume des Hauses. Er brachte kaum genügend Energie und Konzentration auf, um sich auf die nötigen Arbeiten in den oberen Zimmern des Anwesens zu kümmern, von denen einige seit ungezählten Jahren scheinbar von keinem menschlichen Wesen mehr betreten worden waren. Vielmehr wurde Mike von einem abstrusen Gefühl gefangengehalten, das seine Gedanken in eine völlig andere, ihm unbekannte Richtung zog.

Er sah verzerrte, nebulöse Bilder von grenzenloser Finsternis und hellem, gespenstischem Schein am Rande seiner Wahrnehmungskraft, ohne sie richtig greifen und verstehen zu können.

Die Empfindungen wirkten düster und abschreckend, aber auf groteske Weise auch verlockend, als versuchte ihn irgendetwas nicht Erkennbares zu verführen.

So setzte er sich am frühen Nachmittag dieses trüben und verregneten Tages in einen altertümlichen Sessel, den er in der ersten Nacht seiner Arbeiten in den Kellerverliesen gefunden und nach oben getragen hatte, und widmete sich dem alten, in schwarzes Leder gebundene Buch, sowie den Fotos, die er in der verstaubten Truhe im letzten Raum des Kellers gefunden hatte.

Vielleicht würde es ihm gelingen, sich mittels ihrer von den merkwürdigen Bildern in seinem Kopf abzulenken und seine überreizten Sinne zu beruhigen.

Er betrachtete die gelbstichigen, an den Rändern zerrissenen Aufnahmen mit der Faszination eines Altertumsforscher, der ein unschätzbares, antikes Gut in Händen hält.

Manche der Aufnahmen waren durch Kälte und Feuchtigkeit kaum noch zu erkennen. Andere wiederum erstaunlich gut erhalten, als seien sie mit besonderer Sorgfalt behandelt worden. Die Ränder waren vergilbt und die Farbe gebleicht, was darauf schließen ließ, dass sie schon mehrere Jahrzehnte alt sein mussten.

Auf den meisten der Fotografien waren zwei kleine Mädchen von etwa zehn Jahren zu erkennen. Sie blickten entweder scheu lächelnd in die Kamera oder aber sie lachten dem Fotografen ausgelassen entgegen, wobei ihre funkelnden, kindlichen Augen Mike schmerzlich an Susan erinnerten.

Auf wenigen der Fotos konnte er eine Frau und einen Mann sehen, wobei er die Frau von den blonden Haaren und dem offenen Lächeln her eindeutig als die Mutter der beiden Mädchen erkannte.

Der Mann, so dachte Mike, musste der Vater sein und derjenige, der die meisten Fotos gemacht hatte, denn ihn fand er lediglich auf zwei unscharfen und verwackelten Aufnahmen wieder.

Sie alle trugen altmodische, mit Rüschen besetzte Kleidung, ähnlich den Wäschebergen, die Mike in den Nächten zuvor in den Kellerräumen aufgefunden hatte.

Er suchte auf den fleckigen Rückseiten der Fotos nach Anhaltspunkten wie Namen oder Daten, doch er fand nur leere Flächen mit schmutzigen, vergessenen Fingerabdrücken.

Als er nach dem Buch griff und die Fotos auf einen kleinen, runden Tisch zu seiner rechten Seite ablegte, überkam ihn das bizarre Gefühl, dass seine unzusammenhängenden Visionen vom Tage mit dem Geschriebenen, das er vorzufinden erhoffte, in Verbindung stehen könnten.

Mit Fingern, von denen er sich nicht eingestehen wollte, dass sie unmerklich zitterten, öffnete Mike den ledernen Einband und strich mit dem Daumen über das trockene, pergamentartige Papier, das alle Zeitalter der Welt zu beinhalten schien. Der Geruch von Schimmel und Alter erfüllte den Raum.

Mike erkannte mit einer morbiden Faszination, dass es sich bei dem Buch um ein altes Tagebuch handelte.

Während der Regen vor den düsteren Fenstern einen leisen, einschläfernden Rhythmus gegen die Scheiben flüsterte, begann er die erste Seite des alten Buches zu lesen.


05. Februar 1966

Ich beginne dieses Buch zu schreiben, in der Hoffnung, all das Geschehene verstehen zu können. Ich hätte nie gedacht, dass ich soweit getrieben werde, war ich doch bislang ein rational denkender Mensch, der an die unumstößlichen Ergebnisse wissenschaftlicher Fakten geglaubt hatte. Doch all dies, was hier geschieht – was mit mir geschieht – kann mit keiner uns bekannten Wissenschaft erklärt werden.

Ich erhoffe mir durch den puren Akt des Niederschreibens meine Furcht im Zaum halten zu können. Wovor ich mich fürchte, weiß ich im Grunde nicht, denn am Tage sind die Erinnerungen an die Nächte kaum greifbar. Doch konnte ich so viel von den Träumen in meinem Unterbewusstsein festhalten, dass ich mir im Klaren darüber bin, dass es durchaus einen Grund gibt, sich zu fürchten. Einen wahrlich schrecklichen Grund.

Es hat vor einer Woche begonnen. Da träumte ich in einer regnerischen Nacht zum ersten Mal von dieser merkwürdigen Stadt.

Ich möchte hier nicht näher auf die Beschreibung derselben eingehen, da ich mir nicht mehr sicher bin, ob ihr Glanz und ihr überwältigender Schein nicht bloß Blendwerk sind, um von ihrer wahren Erscheinung abzulenken.

Hielt ich den Traum in der ersten Nacht noch für eine völlig normale, wenn auch sehr intensive Illusion, so wurde mir im Laufe der letzten Tage schnell klar, dass es sich hierbei unmöglich um einen schlichten Traum handeln konnte. Selbst ein Albtraum sucht sein Opfer in den meisten Fällen nur einmal heim.

Ich wandle jedoch in jeder Nacht durch die breiten und hellen Alleen dieser seltsamen Stadt und kann nicht verhindern, dass ich eine gewisse Bewunderung für die Architektur und das Wesen dieser Metropole empfinde. Indem ich dies hier niederschreibe, hoffe ich, den Bann zu brechen, den die Nächte mir auferlegt haben. Mit meiner Familie möchte ich nicht darüber sprechen. Sie würden mich für verrückt erklären. Und vielleicht hätten sie sogar Recht.

08. Februar 1966

Seit meinem letzten Eintrag war ich in jeder Nacht in dieser seltsamen und doch Ehrfurcht gebietenden Traumstadt. Und mit jedem meiner Besuche wurde das überwältigende Gefühl von Demut größer, angesichts des majestätischen Atems, den diese leblose Stadt erzeugt. Die imposanten Bauten und breiten, geraden, nahezu perfekten Straßen und Plätze ergeben ein erschreckend schönes Kunstwerk, das meine ungeteilte Verehrung, aber auch einen mir bis dahin unbekannten Neid zum Vorschein bringt. Sucht man derartige Formen makelloser Schönheit doch vergebens in unserer schlichten, hochmütigen Welt.

Meine anfängliche Furcht vor dieser namenlosen Stadt scheint mit jedem meiner nächtlichen Besuche und jedem einzelnen Schritt zu schwinden, den mein Fuß auf die weißen, gepflasterten Straßen setzen darf.

Dennoch will ich mir einen letzten Rest von Vernunft und Vorsicht bewahren, denn immer noch weiß ich nicht das Geringste über das Wesen dieser Stadt, ebenso wenig über ihre Schöpfer, sowie Sinn oder Ort ihrer Herkunft. Die Straßen empfangen mich zwar mit hellem, einladendem Glanz, doch sind sie mir immer noch so fremd wie in der ersten Nacht.

Ich scheine das einzige Wesen zu sein, welches das grabesähnliche Schweigen der Häuser und Gärten, Straßen und Plätze, und der Brunnen mit ihren aus Marmor geschliffenen Statuen brechen darf. In all den Stunden – oder waren es Tage, Wochen? – war mir kein einziges anderes Lebewesen begegnet. Selbst die Fenster der herrschaftlichen Häuser scheinen verlassen und blind, obgleich ich mich des erdrückenden Gefühls nicht erwehren kann, bei jedem meiner Schritte beobachtet zu werden. So verlassen und starr sich mir die namenlose Stadt auch präsentiert, so sehr spüre ich verborgenes, schlafendes Leben in ihr, das den Zeiten harrt, in denen es endlich wieder seine Augen öffnen und wandeln darf.

Der Gedanke erschreckt mich. Und doch erregt er meine schier zügellos zu nennende Neugierde, denn welche Wesen mochten sich in einer derart grandiosen Stadt aus reinstem Licht verbergen? Welches Geschöpf vermochte würdig zu sein, über diese Traumstraßen wandeln zu dürfen? Bin ich es überhaupt? Würdig? Oder bin ich ein Eindringling, in eine Welt, die mein Verstand nicht erfassen kann? Wer oder was hat mich hierher gelockt, um mir die seit Ewigkeiten verborgenen Geheimnisse der namenlosen Stadt zu offenbaren?


An dieser Stelle des mit zitternder Handschrift verfassten Textes beendete Mike das Lesen. Obwohl er das Haus bisher nur selten geheizt hatte, stand kalter Schweiß auf seiner Stirn. Eine merkwürdige Entkräftung hielt ihn mit eisigem Griff gefangen.

Er konnte nicht sagen, ob dies am trüben, trostlosen Tageslicht lag, das düster durch die schmalen Fenster fiel und den Raum nur spärlich zu erhellen vermochte, oder ihn der Traum der Nacht doch mehr erschöpft hatte, als er sich eingestehen wollte.

Vielleicht musste er diese fremdartige Mattigkeit, die ihm fast den klaren Verstand zu rauben drohte, auch jenen Zeilen in dem Tagebuch zuschreiben, so sehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte. Trotz jedweden Leugnens erkannte er mit einem eiskalten Schaudern, dass jener unbekannte Verfasser dieser mittlerweile zwanzig Jahre alten Zeilen sich untrüglich auf denselben Traum bezog, welcher Mike in der vergangenen Nacht heimgesucht hatte und an den er sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte.

Noch hegte er die scheinheilige Hoffnung, dass er lediglich der grausigen Täuschung eines intensiven Trugbildes erlegen war. Eine Manifestation, die ihn in ihren Bann geschlagen und offenkundig derart geschwächt hatte, dass sein Verstand tatsächlich versuchte, eine Verbindung zwischen dem alten Text in dem Buch und jenem merkwürdigen Traum zu weben. Doch der Inhalt des abgegriffenen Tagebuches schien dieses Hoffen bereits im Ansatz ersticken zu wollen.

Mike war in seinem bisherigen Leben – jenes, von dem er angenommen hatte, es in dieser Einöde mit Erfolg abgelegt zu haben – ein rational denkender Mensch gewesen.

Er glaubte an die Thesen der Wissenschaft und Ergebnisse, die man mit Zahlen belegen und erklären konnte. Spekulationen oder gar übersinnliche Phänomene waren für ihn stets reine Zeitverschwendung gewesen und gehörten in die Welten von Phantasten und Träumern. Doch irgendetwas in seinem Unterbewusstsein mahnte Mike, sich in dieser Angelegenheit nicht ausschließlich auf seinen Verstand zu verlassen. Eine kleine unangenehme Stimme, deren jämmerliches Aufbegehren er unmöglich ignorieren durfte.

Konnte es denn wirklich sein, dass dieser Mann – der bisher letzte Bewohner dieses abgelegenen Anwesens, sofern Mike den Worten Delwrights Glauben schenken durfte – tatsächlich denselben Traum gehabt hatte, wie er ihm selbst in der letzten Nacht beschert worden war?

Schenkte Mike, entgegen seiner Natur, jener qualvollen Stimme in den Tiefen seines Verstands Gehör, so hatten die Schritte des Mannes dieselben Straßen berührt, die er selbst in seinem Traum aus der Ferne als strahlende Bänder zwischen leuchtenden Häuserzeilen und herrschaftlichen Anwesen erblickt hatte. Die Arbeiten an dem großen Haus schienen Mike zu überanstrengen. Dazu die monotone Abgeschiedenheit des Anwesens von der Stadt. Er hatte in den letzten Tagen und Nächten viel getätigt, sowohl in den verstaubten und verwaisten Wohnräumen, als auch des Nachts in den Verliesen des Kellers. Hinzu fügte sich die psychische Belastung durch den Verlust seiner Familie, die scheinbar immer noch tiefer in ihm steckte und wütete, als er angenommen hatte. Zu dieser Bürde aus Einsamkeit und Schmerz gesellten sich nun noch jene befremdlichen Worte, die er in dem alten Tagebuch gefunden hatte.

Das alles, so befand Mike, war zuviel für seinen geschundenen Seelenfrieden. Was er brauchte war etwas, das seine düsteren, überreizten Gedanken in ihre finsteren Höhlen zurückdrängte und ihm ein anderes Antlitz seiner neuen Heimat preisgab.

So legte er das Buch und die Fotografien auf den kleinen Beistelltisch neben dem antiken Sessel und beschloss zum ersten Mal, seit er Arc´s Hill erreicht hatte, dem Ort einen Besuch abzustatten.

Als er aufbrach, regnete es noch immer. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen, und spannte den Regenschirm auf.

Sofort begann ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, das seine Schritte über den schmalen, vom Regen aufgeweichten Fußpfad unter den tropfenden Weiden hindurch bis hinunter in das verschlafene Städtchen lenkte.

Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, hatte er es bislang doch versäumt, den Ort genauer zu erkunden. Jedoch hatte er nicht vor, bei dem tristen, kalten Herbstregen länger als zwingend notwendig durch die engen und dunklen Gassen zu spazieren.

Er begegnete nur sehr wenigen Menschen, die trotz des Regens unterwegs waren. Er grüßte alle, doch erhielt er weder eine Antwort noch einen Blick, der ihn als Fremden zeichnete.

Vielmehr traf er auf mürrische, verschlossene Gesichter, die ihre Augen unter breitkrempigen, altmodischen Hüten oder tief gehaltenen Schirmen verbargen und eilends ihrer Wege gingen.

Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren hingegen, das in einen vom Regen glänzenden Mantel gehüllt war, blieb vor ihm stehen und sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.

Mike musterte das Kind, dessen Gesicht bleich und wächsern wirkte, und konnte sich eines eisigen Schauers nicht erwehren, der ihn augenblicklich gefangen hielt.

Das Mädchen neigte den Kopf zu Seite, als betrachtete es etwas, das es nicht verstand. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen zeugte von Gleichgültigkeit.

Mike suchte nach den richtigen Worten, um das Kind zu begrüßen, ohne es zu erschrecken. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, ging das Mädchen an ihm vorbei und verschwand mit langsamen Schritten im grauen Dunst des Regens.

Mike sah ihm nach, wie es sich schattengleich von ihm entfernte, fast so, als sei es lediglich ein Gespenst seiner überreizten Phantasie gewesen.

Mit Gedanken, die ihm nun noch verworrener anmuteten, schritt Mike weiter seines Weges durch enge Durchfahrten und finstere Gassen, in deren Pfützen sich der Regen silbern spiegelte. Die verfallenen Häuser zu beiden Seiten der steinernen Pfade erschienen ihm wie sterbende Riesen, die sich in ihrer Resignation gegeneinander lehnten und dem Ende harrten.

Der Gestank von abgestandenem Wasser und Fäulnis hing schwer zwischen alten Backsteinmauern und den hohen Giebeln der verrotteten Häuser.

Außer dem ständigen Prasseln des Regens lag eine fast greifbare Stille über dem Ort.

Er erreichte einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein Zierbrunnen aus kupfernen Pfannen und bleiernen Rohren stand.

Um den Brunnen herum waren verschlungene Wege angelegt worden, die von braunem Laub bedeckt und durch niedrig geschnittene Hecken von der Straße getrennt waren. Mike konnte die schwarzen Schatten einiger Bänke erkennen, auf denen sich ebenfalls abgestorbene Blätter und dunkle Zweige häuften.

Gegenüber des Brunnens erblickte er die matte Beleuchtung einer kleinen Taverne. Da der Regen seinen Mantel mittlerweile gut durchnässt hatte und ihm zunehmend kalt wurde, beschloss Mike, auf ein Glas in die Spelunke einzukehren.

Vielleicht schaffte er es dort, in der Gesellschaft anderer Männer, seine trüben und zunehmend furchtsamen Gedanken zu vertreiben. Und wenn nicht dies, so doch zumindest soweit zu bannen, dass ihn diese unerklärliche Müdigkeit wieder aus ihrem eisigen Griff entließ.

Doch als er an die Männer in der Taverne dachte, erschien das Mädchen wieder in seinen Gedanken. Der leere, unheimliche Ausdruck ihrer Augen ließ ihn erneut frösteln.

Mit dem Gefühl, endlich wieder seit Tagen in Gesellschaft anderer Menschen zu gelangen, betrat er das kleine Gasthaus, das sich ihm auf einem alten, an eisernen Ketten im Wind schwankenden Schild über dem Eingang als ›Knights Head‹ offenbarte.

Hegte er noch beim Anblick des windschiefen, alten Backsteinbaus Hoffnung auf menschliche Gesellschaft und vielleicht ein Gespräch, das seine wirren Gedanken zu verdrängen vermochte, so schlug diese Hoffnung beim Betreten des Gasthauses in pure Enttäuschung um. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und das helle Klingeln einer feinen Glocke über dem Türrahmen verstummt war, blickte er sich niedergeschlagen im dämmerigen Licht der Taverne um.

Die Tische, die er nur als schwarze Schatten im diffusen Schein des schwindenden Tages erkannte, waren verwaist. Eine alte Musicbox am anderen Ende des Raumes war stumm und ausgeschaltet. Der Geruch von Zigaretten, abgestandenem Bier und gebratenem Speck hing in der Luft.

Gerade als sich Mike nach seinem flüchtigen Blick durch den Schankraum wieder zum Gehen wenden wollte, hielt ihn die tiefe, müde Stimme eines Mannes zurück, der hinter der Theke aus dunklem Holz stand und lustlos in einer zerknitterten Zeitung las. Mike hatte den Mann bislang nicht bemerkt.

»Kommen Sie ruhig herein, Mister. Auch wenn es Ihnen nicht so erscheint, aber wir haben geöffnet.«

Mike zögerte, erinnerte ihn die Erscheinung des Mannes hinter der Theke doch augenblicklich an jenes seltsame Mädchen aus der Gasse, obwohl er sich den Grund für diesen Vergleich nicht erklären konnte.

Doch dann trat er näher, wohl auch, um nicht wieder in den Regen hinaus zu müssen. Er ließ sich schwer atmend auf einen abgenutzten Hocker an der Theke nieder und bestellte auf den fragenden Blick des Schankwartes hin ein Bier. Sein Mantel hinterließ einen Ring aus Wassertropfen rund um den Barhocker.

Das ›Knights Head‹ war ein düsterer, niedriger Raum mit dunkel gebeizten Dachbalken und unbehandelten Stützpfeilern, die ebenso finster erschienen wie der übrige Raum. Hinter den kleinen Fensterscheiben konnte Mike das verschwommene Muster des Regens erkennen, doch er bezweifelte, dass der Schankraum des Gasthauses selbst bei hellem Sonnenschein viel freundlicher gewirkt hätte. Dennoch waren ihm dieser Ort und die Gesellschaft des grobschlächtigen, schweigsamen Wirtes im Augenblick lieber, als die trübe Stille seines Hauses jenseits der Trauerweiden.

Der Mann hinter der Theke machte einen müden, abwesenden Eindruck. Er war ein kräftiger Bursche mit ernstem Blick und dichtem, schwarzen Haar, das sein herbes Antlitz, einer dunklen Wolke gleich, einrahmte und unter einem albernen, grauen Hut gebändigt wurde, wie man sie in den Städten trug. Eine ebenso verschrobene Feder steckte in einem dünnen Gummiband. Das Gesicht des Mannes wirkte älter als es wohl in Wirklichkeit war.

Als er Mikes indiskreten Blick bemerkte, legte er die Zeitung beiseite, wischte seine Hände an einer fleckigen Schürze ab, die er um die Taille gebunden trug, und baute sich vor seinem Gast auf. Seine beleibten Armen stützten sich dabei wie Holzpfosten auf der wurmstichigen Theke ab.

»Es kommt selten vor, dass sich Fremde nach Arc´s Hill verirren«, begann er ohne zu zaudern, wobei seine dunklen Augen Mike mit einer Mischung aus Neugierde und Argwohn betrachteten.

»Ich bin kein Fremder«, entgegnete Mike mit müder Stimme und erschrak über die tiefe Verwirrung, die seinen Worten inne lag.

Er griff nach seinem Glas und nahm einen langen kühlen Schluck, der seinen Körper augenblicklich zu erfrischen schien.

»Ich habe das alte Herrenhaus auf dem Hügel gekauft.«

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mike, einen tiefen Schrecken in den Augen seines Gegenübers zu erkennen. Tatsächlich schien das Gesicht des Mannes eine Spur blasser geworden zu sein, was aber infolge des trüben, schwindenden Tageslichtes auch eine Täuschung seiner Sinne gewesen sein konnte.

»Sie meinen das alte Grady-Anwesen?«

Der Mann griff nach einem Tuch und rieb gedankenverloren über die Theke. Dabei schien sein Blick ins Leere zu gehen. Der Hut warf einen finsteren Schatten über seine Augen.

»Ich kenne es.«

Er hielt in seiner Tätigkeit inne.

»Hat lange leer gestanden, das Haus.«

»Ich weiß. Ich kenne die Geschichte des Hauses und habe im Moment eine Menge Arbeit, es wieder so herzurichten, dass man guten Gewissens darin wohnen kann.«

Mike rollte das Glas zwischen seinen Händen und genoss die angenehme Kühle, die sich auf seinen Fingern ausbreitete. Dann stellte er das Bier auf der Theke ab und blickte dem Schankwirt geradewegs in die Augen.

»Grady … ist das der Name des letzten Besitzers?«

Seine Gedanken kehrten zu dem alten Tagebuch zurück, in welchem er am Mittag gelesen hatte. Waren es Gradys Worte, die in den vergilbten, pergamentartigen Seiten geschrieben standen?

Doch der hünenhafte Mann hinter der Theke enttäuschte ihn.

»Nein. Grady hieß der Mann, der das Haus vor fast einhundertfünfzig Jahren auf dem Hügel vor der Stadt erbauen ließ. Reginald Grady. Hier im Ort nennt man es nur das Grady-Anwesen.«

Der Mann sah Mike in die Augen, doch lag die Ahnung einer tiefen Furchtsamkeit im Blick des Schankwirtes. Als er weitersprach, schüttelte er den Kopf, als versuchte er sich selbst von erschreckenden Gedanken zu befreien. Die Feder an seinem Hut wippte leicht und drohte aus dem Gummiband zu fallen.

Plötzlich wirkte der Mann, der auf Mike den Eindruck eines gutmütigen und schwerfälligen Einsiedlers machte, nervös und aufgebracht.

»Ich will Sie nicht beunruhigen, Mister. Aber Sie haben das Haus eines Wahnsinnigen erstanden.« Er blickte sich hektisch in dem stillen Raum um. »Man erzählt, Grady habe sich mit den Mächten der Finsternis eingelassen und ihnen seine Seele verpfändet. Von seltsamen Dingen und Ritualen ist die Rede.«

Mike hatte gerade einen weiteren Schluck getrunken.

Jetzt aber stellte er sein Glas verwundert auf die Theke zurück.

Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Wollen Sie mir erzählen, dieser Grady sei ein Hexenmeister gewesen?«

Der Mann schüttelte den Kopf, wobei sein Blick den seines Gegenübers zu bannen versuchte.

»Schlimmer, Mister. Viel schlimmer. Man sagt, er habe seine gesamte Familie einem Dämon geopfert, den er in seinem Irrsinn anbetete. Seine Frau und fünf Kinder. Und zu guter Letzt verschwand Grady selbst. Spurlos, ohne dass ihn jemand dabei beobachtet hätte, wie er das Dorf verließ. Lediglich seine Familie fand man noch in dem alten Haus vor.«

Der Mann legte eine theatralische Pause ein.

»Abgeschlachtet in ihren Betten.«

Ein kalter Schauer schien Mikes Körper in Eis verwandeln zu wollen. Es gelang ihm nur schwerlich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen.

»Aber das Ganze ist fast einhunderfünfzig Jahre her. Das sind sicher nur Ammenmärchen, wie man sie sich wohl in jedem abgeschiedenen Landstrich auf der ganzen Welt erzählt.«

Der Wirt schüttelte bedächtig den Kopf. Sein Blick war noch ernster und finsterer geworden.

»Man erzählt sich die seltsame Geschichte des alten Grady seit Generationen. Die Alten erzählen sie ihren Kindern, wenn sie denken, dass diese alt genug für die schreckliche Sage ihrer Heimat seien. Und diese erzählen sie wiederum ihren Kindern. Nein, Mister …« Er trat einen Schritt zurück und musterte Mike kritisch. Fast empfand es dieser, als begutachtete der Schankwirt einen Aussätzigen. »Das, was dort oben in dem Haus geschah, ist kein Ammenmärchen. Es gab viele Familien, die nach dem Verschwinden von Reginald Grady in das Anwesen zogen. Viele verschwanden nach kurzer Zeit ebenso spurlos, wie der alte Mann damals. Und diejenigen, welche das Glück besaßen, nicht der Teufelei zum Opfer zu fallen, die zweifelsohne in den Zimmern dort oben umhergeht …« Der Mann schlug mit der freien Hand ein Kreuz vor seiner Brust. »… waren dem Wahnsinn verfallen und haben das Haus und Arc´s Hill bei Nacht und Nebel verlassen.«

»Aber in den letzten zwanzig Jahren hat das Haus leer gestanden.«

Mikes Stimme hatte sich in ein heiseres Flüstern verwandelt, was ihm, in Anbetracht der ungeheuerlichen Geschichte, die er gerade gehört hatte, als durchaus angemessen erschien.

»Der Letzte, der dort oben wohnte, war ein Mann namens Charles Ward, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern das Haus bezogen hatte.«

Der Wirt deutete mit einem Kopfnicken auf das Glas und füllte es dann nach, ohne eine Antwort seines Gastes abzuwarten.

»Und ist er ebenfalls … wahnsinnig geworden?«

Mike überkam das absurde Gefühl, sich in den Fängen eines skurrilen Traumes zu befinden. Die Frage hatte sarkastisch klingen sollen, doch die Stimme, die diese Worte sprach, schien nicht mehr seine eigene zu sein.

Der Schankwirt nickte. »Als man Charles Ward eines Nachts schreiend und mit fiebrigem Wahn in den Augen auf dem Marktplatz des Dorfes aufgegriffen hatte, war man zu der Überzeugung gelangt, dass es für alle das Beste sei, das unheimliche Haus zu meiden und dem Zerfall preiszugeben.«

»Aber was war mit der Familie von Ward? Seiner Frau und seinen beiden Töchtern?«

Der Mann schloss die Augen. Sein Antlitz, ungeschlacht und roh, verzerrte sich zu einer harten Maske, deren Lippen bebten, als er weitersprach.

»Ich war damals dabei, als einige Männer zum Haus hinaufgingen. Denn Ward hatte im Fieberwahn und mit einem hässlichen Lachen, das nie und nimmer aus einer menschlichen Kehle hatte stammen können, erzählt, dass er seine Familie in ihren Betten niedergemetzelt hätte. Wir waren zum Hügel hinaufgegangen, nachdem man Ward in Polizeigewahrsam genommen hatte. Und wir fanden tatsächlich die zerstückelten Körper von Wards Frau und seiner beiden Mädchen. Glauben Sie mir, es war ein schrecklicher Anblick. Besonders die Kinder.«

Der Mann stieß ein tiefes Stöhnen aus. Dann herrschte Schweigen zwischen den beiden. Kaum, dass die Worte des Wirtes verstummt waren, legte sich eine beängstigende und lähmende Stille über den Raum, als hätte sich etwas Finsteres von draußen ins Haus geschlichen. Mike wurde mehr denn je von dem Gefühl beherrscht, sich in einem düsteren Traum zu befinden, ähnlich jenem, der ihn in der Nacht heimgesucht hatte.

Wie konnte in einer Zeit wie dieser, die von Hektik und Karrieredenken geprägt war, eine derartige Geschichte tief in den Gedanken dieser Menschen verwurzelt sein?

Mike fiel es schwer, dem Gehörten Glauben zu schenken. Und doch spürte er, sehr zu seinem Entsetzen, eine plötzliche Furcht in sich aufsteigen, die sich kalt durch seinen Leib fraß und seine Gedanken lähmte.

Die Worte des Wirtes, von deren Wahrheit Mike dennoch nicht überzeugt war, tanzten wie grauenvolle Bilder vor seinen Augen und ließen ihn schaudern. Er fragte sich, wie tief altertümlicher Aberglaube in einem abgelegenen Städtchen wie Arc´s Hill in dessen Bewohnern schlummern mochte. Wie sehr durfte man solchen Worten Glauben schenken?

Ein Blick in die finsteren, nachdenklichen Augen seines Gegenübers, in Verbindung mit dem alten Tagebuch, das Mike im Keller gefunden hatte, versuchte ihn von der immer noch lebendigen Seele dieser seit Generationen überlieferten Sage zu überzeugen. Er spürte, wie sich ein uralter Glaube seinen Weg zur Oberfläche seines Verstandes zu bahnen versuchte.

Doch Mike war aus London in diesen von Gott verlassenen Landstrich gekommen. Einer Stadt, die einmal seine Heimat war und sein ganzes Glück bedeutet hatte. Eine Stadt der Hektik, der grellen Lichter und mit Wissenschaft zu belegender Realität. Daher fiel es ihm trotz der kalten Furcht, die er verspürte, schwer, den Worten des Schankwirtes die gleiche Akzeptanz entgegenzubringen, wie es der Mann mit dem finsteren Blick hinter der Theke augenscheinlich tat.

»Wenn man das Haus der Zeit hatte überlassen wollen …«, sagte Mike schließlich in die Last des Schweigens hinein und drehte sein Glas erneut zwischen den Handflächen. » … warum hat man es dann wieder zum Kauf angeboten?«

Als sich die Blicke der beiden Männer trafen, glaubte Mike in den Augen des Schankwirtes einen Anflug von Hohn aufblitzen zu sehen. Sein Gesicht jedoch blieb ernst.

»Manche Häuser wollen nicht leer stehen«, antwortete der Mann mit unvernehmbarer Stimme.

Dann ließ er Mike alleine und ging zu seiner Zeitung am anderen Ende der Theke zurück. Die Feder wippte leicht, als versuchte sie, Mike zum Abschied zu winken.


Als er an diesem Abend zurück in das alte Haus kam, das er nun als das Grady-Anwesen kennengelernt hatte, drohte ihn die finstere Stille der hohen und kalten Räume wie ein Mantel zu ersticken. Er saß in dem alten Sessel, in dem er am Mittag das Tagebuch gelesen hatte, und hielt ein Glas mit Whiskey in der Hand, den er sich im ›Knights Head‹ gekauft hatte. Er war sich sicher, dass er den wärmenden Alkohol benötigen würde, nachdem ihn die Worte des Schankwirtes derart aufgewühlt hatten.

Auch wenn er immer noch nicht dazu bereit schien, sich zu seiner inneren Unruhe und den rasenden Gedanken zu bekennen, die ihn heimsuchten, seit er die Taverne verlassen hatte.

Der Whiskey tat seine Wirkung, auch wenn die behagliche Wärme in seinem Körper ihn schmerzlich an London und endlose exzessive Nächte der Trauer und Tränen erinnerte. Mike betrachtete die Flasche auf dem Beistelltisch neben dem Sessel und schätzte sich glücklich, in dieser einsamen und unheimlichen Gegend auf ein derartiges Relikt aus der modernen Welt gestoßen zu sein. Es würden keine Abende und Nächte folgen, wie sie in London fast alltäglich gewesen waren. Dessen war er sich sicher. Doch jetzt, da er alleine in dem großen Herrenhaus saß und sich so schutzlos wie noch nie zuvor fühlte, benötigte er den scheinbaren Freund aus der Flasche, an den er sich in den letzten Monaten so sehr geklammert hatte.

Während sich sein Körper von innen erwärmte und selbst die merkwürdigen Worte des ungeschlachten Mannes aus der Taverne ihren Schrecken einbüßten, ertappte sich Mike immer wieder dabei, wie sein Blick zu dem ledernen Buch wanderte, das im Schein einer alten Öllampe neben der Flasche auf dem Tisch lag.

Das Tagebuch des Charles Ward, wie er nun wusste.

Nach den Worten des Wirtes zu urteilen, war sich Mike sicher, dass es sich bei dem Buch um eben jene Zeilen handelte, die Ward vor zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte und die, sollte Mike je den Mut aufbringen, weiterzulesen, den beginnenden Wahnsinn des Mannes dokumentieren würden.

Doch Mike weigerte sich beharrlich, dem inneren Drang nachzugeben, das Buch zu nehmen und tiefer in Wards Abgründe einzutauchen. Stattdessen labte er sich mit geschlossenen Augen an dem scharfen Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge und genoss das barbarische Brennen in der Kehle, dem die verführerische Wohltat sinnlicher Vereinigung von Alkohol und Trauer in seinem Körper folgte.

Auf diese – zugegebenermaßen – kindliche Art und Weise versuchte er sich, dem seit Generationen gewachsenen Aberglauben des Ortes zu entziehen.

Auch wollte er den skurrilen Aussagen des Schankwirtes keinen Glauben schenken. Zu grotesk erschienen ihm im Dunstnebel des Alkohols die Worte und Gebärden des Mannes.

Man fand derartige altertümliche Sagen und Mythen in jeder kleineren, entlegenen Stadt auf der ganzen Welt vor, so sagte sich Mike und betrachtete das Glitzern des Whiskeys im Lampenschein. Ihn überkam das Gefühl, auf die stille Oberfläche eines funkelnden Sees in der Abenddämmerung zu blicken.

Redeten die einen von Spukhäusern und unsichtbaren Gespenstern, die an die Fundamente alter, geschichtsträchtiger Häuser gebunden waren und die neuen Besitzer der Häuser in den Wahnsinn zu treiben versuchten, so erzählten die anderen von Zaubergeistern und anderen Dämonen, die man des Nachts auf verwaisten Feldern und an einsamen Wegesrändern beobachten konnte.

Keine dieser fabelhaften Geschichten, welche die schlichten Gemüter der Bewohner derartiger Orte beherrschten, konnte bislang wissenschaftlich oder rational begründet werden.

Nicht einmal einigen, in Mikes Augen verwirrten Suchern nach dem Übersinnlichen, die ihr Leben opferten, um in alten Mären und purem Aberglauben den unauffindbaren Wahrheitskern hervorzubringen, war es bisher gelungen, feststehende Beweise vorzulegen.

Eine derartige Legende besaß ihre Wurzeln seit Generationen in der Erde von Arc´s Hill. Und ein jeder, der auf diesem verfluchten Boden wandelte und sich mit den Einwohnern dieses Landstrichs einließ, wurde zwangsläufig vom boshaften Geist der Vergangenheit infiziert, so wie es bei dem Schankwirt offenkundig geschehen war.

Was Mike akzeptierte und kannte, ohne seinen Verstand in Zweifel ziehen zu müssen, waren die Legenden der Großstadt.

Hektik, Lärm und gleißender, künstlicher Schein. Diese modernen und meist maskierten Schauermärchen hatten ihn in dem unerschütterlichen Glauben erzogen, dass sich alles auf der Welt materiell und methodisch erklären ließe, und dass keineswegs Dinge außerhalb jeglicher menschlichen Vorstellungskraft existierten, die man nur mit Dämonen oder Teufeln zu erklären vermochte.

Benommen von der Wirkung des Alkohols und ermutigt von seinen eigenen leugnenden Gedankengängen, ließ sich Mike vom Rhythmus des Regens an den Fenstern ermüden. Noch ehe er sich dem unausweichlichen Gedanken hingeben konnte, sich doch noch Wards Aufzeichnungen anzunehmen, war er auch schon in jenem alten und gewaltigen Sessel eingeschlafen, in dem vielleicht sogar jener dem Wahnsinn anheimgefallene Charles Ward selbst gesessen hatte.

Kaum dass er den Atem der Ruhe und Entspannung in seinem Innern spürte, als er auch schon zurück zu den Pfaden seines illusorischen Traumes wandelte …


Ich stand am Ende jenes endlosen, bizarren Korridors aus allumfassender Dunkelheit, der mich schon einmal gefangen und zu dieser strahlenden Stadt, diesem Elysium epochaler Baukunst, geleitet hatte. Diesmal erschien mir das Dunkel nicht fremd und beängstigend. Stattdessen war ich mir sogar sicher, dass mich Etwas in dieser grabähnlichen Nacht willkommen hieß.

Mein Blick glitt voller Ehrfurcht über das Flammen der blitzenden Dächer und Türme, den blendenden Schein heller, surrealer Bauten und ausladender, makelloser Straßenzüge. Meine Augen folgten dem tanzenden Glitzern klaren Wassers, das den sich schlängelnden Flusslauf unter Brücken und Stegen speiste.

Diesmal entließ mich das Dunkel meines Traumes, ohne mich abermals widerwillig in die schreckliche Realität zurückzuziehen, und ich setzte zum ersten Mal einen Fuß auf die weiße, marmorgleiche Straße, die sich demütig zwischen den ausdrucksvollen Gärten zweier prachtvoller Paläste hindurch wand.

Der pure Akt der Berührung erschien mir in diesem Augenblick als Frevel und unwürdig einer jeden menschlichen Seele, angesichts der majestätischen, fast kosmisch zu nennenden Eleganz dieser schweigenden Stadt.

Ich erblickte Blumen, deren Schönheit ich noch nie zuvor in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte; in Palastgärten, die eine eigene, wundersame Welt darstellten, einem gewaltigen, nahezu perfekten Gemälde gleich, in alle nur erdenkliche Farben getaucht. Die Paläste selbst waren monumentale Schlösser, wie sie sich der phantasievollste Geschichtenerzähler nicht ersinnen konnte, und von derart auserwähltem Reiz, dass mir die reine Anwesenheit meines unwürdigen Geistes im Schatten dieser Bauten als höchste Blasphemie erschien. Die Eingänge dieser Prachtbauten waren kolossale, kupferne Pforten, von reich verzierten weißen Säulen gestützt und mit handgeschnitzten Ornamenten verfeinert. Breite, ausladende, blendendweiße Treppengänge führten zu diesen Portalen. Mein unwürdiger, in seiner Fähigkeit begrenzter Verstand vermochte nur einen Hauch der Andeutung zu erahnen, welch prächtige Säle und Hallen sich jenseits der Einlässe verbargen. Scheinbar leer und schweigend, und doch angefüllt mit Leben, das lange Zeiten schon der Stunde des Erwachens harrte und so gegenwärtig erschien, wie die kühle Luft dieser seltsamen und fantastischen Stadt.

Doch waren diese Prachtburgen nicht das Ziel meiner nächtlichen Traumreise.

Ich schritt voran durch eine atemberaubende Stille, von einem Willen gelenkt, der nicht mein eigener schien. Vorbei an Herrenhäusern und prächtigen, uralten Fassaden mit schwerem Gebälk und blendenden Marmorsäulen, an blühenden, edengleichen Gärten, und dem glitzernden Fluss entlang, der sich verlockend und distanziert zugleich flüsternd durch dieses traumerdachte Paradies schlängelte.

Als ich den terrassenförmigen Berg erreichte, blickte ich empor zum gottesgleichen Tempel, der auf dem höchsten Balkon thronte, unnahbar und eigen, und eins erschien mit dem Weiß und Blau eines nahezu perfekten Himmels.

Wie unwürdig ich doch war …

Wie unbedeutend und klein …

Mit den Schritten eines Fremden begann ich den Aufstieg auf einem schmalen Pfad, der sich in Serpentinen um die Anhöhe wand und sich aus den Niederungen der Straßenzüge hinaufzog zum Thron der Stadt.

Dort musste ein Gott leben, dachte ich in demütiger Ehrerbietung. Nur ein Gott war würdig, einen derartigen Thron zu besteigen.

Mein Atem ging schwer, und mein Herz schlug hart in meiner Brust; das einzige Geräusch, das sich seinen Weg in meinen Traum suchte. Und doch verspürte ich nicht den Schmerz der Erschöpfung.

Dann endlich stand ich davor. Der Tempel war ein gewaltiger, von Schönheit und Wohlgestalt, von Licht erfüllter Quell all jener Freuden und Versuchungen, denen man sich nur in den geheimsten Winkeln des Bewusstseins hinzugeben vermochte.

Mächtige, mit seltsamen Hieroglyphen veredelte Säulen und Pfeiler erstreckten sich in schiere Unendlichkeit. Breite, weiße Stufen luden mich ein, sie zu ersteigen und zu einer hellen, eisenbeschlagenen und mit Gold und Kupfer veredelten Pforte zu gelangen, die einen Spalt offen stand und den Blick in ein Halbdunkel aus Unendlichkeit freigab. Demütig trat ich näher, verließ den blendenden Schein eines Tages, der mir so unwirklich erschien wie der Traum, der mich hierher geführt hatte. Ich schritt durch den Spalt der offenen Pforte, die mir so gewaltig wie das Zelt des Himmels anmutete … und fand mich in einer weiten, grenzenlos erscheinenden Halle wieder. Eine eigene, fantastische Welt, deren Beschreibung es dem menschlichen Verstand an Worten mangelte. Ich spürte, wie ich an die Grenzen meines Bewusstseins und Daseins stieß.

Inmitten dieser Halle, die der Himmel selbst hätte sein können, erblickte ich eine Gestalt.

Es war das erste Wesen, das erste Anzeichen von Leben, dem ich in dieser stillen und schlafenden Stadt begegnete. Es stand da, umgeben von gewaltigen Säulen und Fresken und Reliefs, die sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen und sich in Dunkelheit verloren.

Wir sahen uns an – Sekunden, Ewigkeiten – es existierte keine Zeitspanne in diesem Traum.

Ich spürte die kolossale Macht, die von dieser Gestalt ausging, ich konnte den Willen, den Geist der Kreatur, mit jeder Faser meines Körpers fühlen.

Ich wusste nicht zu sagen, was es war. Ob ein Mensch oder gar ein göttliches Wesen, das dem Sitz und der Umgebung angemessen erschien. Denn alles, was ich erblicken und an das ich mich außerhalb meines Traumgebildes erinnern konnte, war lediglich der Schattenriss des Wesens. Es erschien mir wie ein Geist; durchscheinend und ohne jegliche feste Kontur, und doch so präsent, dass ich mich in Anbetracht der gewaltigen Stärke, die dieses Wesen auf sich vereinte, nicht in der Lage sah, meinen Blick von der Gestalt abzuwenden.

Dort, wo ich das Antlitz des Geschöpfes vermutete, bildete ich mir ein, Augen zu erkennen. Blicke, die mich trafen und meine innersten und geheimsten Gedankengänge erforschten.

Ich spürte seine Gegenwart tief in meiner Seele, eine Berührung, kalt und heiß gleichermaßen. Und doch fiel ich einem Trugschluss anheim, denn da war nichts, das ich als greifbar hätte bezeichnen können. Mal glaubte ich die Umrisse eines Menschen zu erkennen, dann sahen meine Augen die Konturen einer hageren, hoch aufgerichteten Kreatur mit langen Fangarmen und einem widerlichen Schädel, dann wiederum die Gestalt eines Tieres, das sich auf die Hinterbeine aufgerichtet hatte.

Während all dem – all der Sekunden oder Stunden oder gar Jahre – sah ich mich außerstande, mich zu bewegen, meinen Standort zu wechseln oder gar das Geschöpf aus dem Auge zu entlassen.

Dann sprach das Wesen zu mir.

Deutlich hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Ein leises, herrliches Flüstern, ein Raunen, von einer Ebene, weit jenseits allen Denkens und höher, als es selbst der Himmel hätte sein können …

… doch ehe mich der Sinn jener gesungenen und geflüsterten Worte erreichte, wurde ich auch schon von einer schwarzen, harten Faust gepackt und in die Eiseskälte finsterster Nacht gezogen.

Fort vom hellen Glanz der riesigen Tempelhalle.

Fort vom verführerischen Schweigen jener traumerfundenen Stadt mit ihren Palästen und Gärten und Straßen und Brücken und dem glitzernden, silbernen Fluss …

… und fort von dem übersinnlichen Geschöpf, dessen Worte sich in der Leere der Dunkelheit verloren, ehe sie mich erreichten …

… zurück in die von Regen geschwängerte, kalte Nacht und dem, was ich Leben nannte.


Die Traumvisionen waren nur schwerlich zu halten und nichts, das man hätte greifen können. Keine Bilder, keine Stimmen. Nicht einmal die schlierigen Fetzen der Dunkelheit, die ihn zu der prachtvollen Stadt führten, besaßen Substanz.

Fast erschien es Mike, als bestünde eine stabile und doch unsichtbare Grenze zwischen jener Welt, die sein Geist des Nachts erschuf, und der Trostlosigkeit seiner altbekannten Realität, die ihm so viel weniger verlockend anmutete, als seine nebulöse, verschwommene Einbildung eines Traumes.

Alles, was sich in seinem Verstand manifestiert hatte, war lediglich dieses ferne, kaum wahrnehmbare und fremdartige Flüstern, das ihn aus der Ehrfurcht gebietenden Stadt entlassen hatte, bevor es seinen Geist erreichen konnte. Nicht mehr als der Hauch eines sanften Windes über frühmorgendlichen Wiesen, wenn die Halme raschelten und das Blattwerk der Wälder seinen monotonen Gesang anstimmte.

Es waren Worte gewesen. Eine Stimme, die jenes schattengleiche Wesen an Mike hatte richten wollen, bevor ihn die Dunkelheit jäh in die erbärmlichen Fänge leiderfüllter Realität zurückgezogen hatte.

Was war es gewesen, das ihm dieses Geschöpf hatte mitteilen wollen? Welche Worte … welche Botschaft? War Mike auserwählt worden, sie als das vielleicht erste menschliche Wesen vernehmen zu dürfen?

Während der graue Abend sich allmählich in tiefste Dunkelheit wandelte, verschwendete er keinen Gedanken daran, sich um die anfallenden Arbeiten zu kümmern, die seiner harrten in den verwaisten Räumen des alten Hauses. Stattdessen hatte er ein Feuer im Kamin entzündet und sich zurück in den antiquierten Sessel gesetzt. Fast glaubte er, den Geist des seltsamen Charles Ward in seiner Nähe zu spüren, als er seine Hände auf die zerschlissenen hölzernen Armlehnen legte.

Während die Wärme des flackernden Feuers ihn in einen wohligen Mantel hüllte, hielt Mike die Augen geschlossen und versuchte vergeblich, jener fremdartigen, geflüsterten Stimme in seinem Kopf zu lauschen. Sein Bewusstsein reichte nicht so weit, etwas ergreifen zu können, das er nur im Traum erlebt hatte. In der trüben Wirklichkeit dieses verregneten Abends besaß sein Verstand weit weniger Fähigkeiten, zu fühlen und zu begreifen, als er es im Glanz jener betäubenden Stadt tat. Und doch konnte sich Mike eines Gedankens nicht erwehren, der ihn, wenn auch unbewusst, beschäftigte, seit er jenes Paradies des Traumes verlassen hatte.

Es war mehr ein Gefühl, als ein greifbarer und realer Gedanke, doch glaubte Mike, sich zu erinnern, das Flüstern jenes mystischen Wesens auch noch nach seinem Erwachen vernommen zu haben. Nicht etwa als letzter Fetzen eines Traumes, der seinem Begreifen entglitt, sondern als eine reale Empfindung, die ihn seither an seinem Verstand zweifeln ließ.

Die Tatsache, dass sich in dieser schattengleichen Vorstellung das sirenengleiche Flüstern der Gestalt in ein tiefes, donnerndes Grollen verwandelt hatte, tat sein Übriges, Mike in einer Unruhe zurückzulassen, die ihn frösteln ließ. Er hatte das trügerische Gefühl, dass jenes profane Flüstern, das jetzt mehr dem Knurren eines Ungetüms glich, direkt aus der Erde gekommen war …

Nachdem sich Mike in der altmodischen Küche mit dem gusseisernen Ofen etwas zu Essen bereitet hatte, nahm er, entgegen seinem eigentlichen Willen, das alte Tagebuch zur Hand, von dem er nun wusste, dass es ein Mann namens Charles Ward vor rund zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte.

Er begann mit einer verstörenden Mischung aus kindlicher Neugierde und furchtsamen Grauen den nächsten Eintrag des letzten Bewohners des Grady-Anwesens zu studieren. Auf dem Tisch neben dem Sessel stand ein weiteres Glas Whiskey. Vor den Fenstern hatte mittlerweile die Nacht ihren Einzug gehalten. Vielleicht traf er in dem Buch auf etwas, das die Barriere zwischen der Traumwelt und seiner scheußlichen, grauen Realität zumindest in seinen Grundfesten zu erschüttern vermochte …


09. Februar 1966

In der letzten Nacht war ich zum Tempel hinaufgegangen. Der Aufstieg war lang und beschwerlich, da sich der kiesbestreute Weg serpentinenartig um den gigantischen Hügel schlängelte. Doch spürt man im Traum weder Schmerz noch Erschöpfung.

Der Anblick der heiligen Anlage auf dem Berg war beeindruckend und fürchterlich zugleich. Nie zuvor, weder im Traum noch im wachen Zustand, hatte ich ein Bauwerk von derart erhabener Gesinnung bestaunen dürfen. Und doch haftete den strahlenden Mauern etwas Bedrohliches an. Ich kann nicht beschreiben, was mich zu dieser Vermutung veranlasste, handelte es sich doch ausschließlich um einen Traum, wie ich mir immer noch einzureden versuche. Doch fühlte ich selbst in diesem schlafenden Zustand eine kalte Faust der Beklemmung, die mich eisern gepackt hielt, während ich den Koloss aus Stein, Kupfer und Gold betrachtete.

Das Innere des Tempels, jene erste Halle, die ich betrat, als ich durch das gigantische Portal ging, glich einer Symphonie aus Weite, Größe und schier unendlicher Glorie, die ich hier mit meinen simplen Worten kaum zu erfassen vermag. Ich hatte das atemberaubende Gefühl, das Tor zu einer anderen, fremdartigen Dimension durchbrochen zu haben. Vielleicht trat ich aber auch einfach nur von einem Traum in den nächsten. Die Halle – falls man sie überhaupt als solche bezeichnen durfte – schien keine physischen Grenzen zu besitzen. Weder in der Länge, noch in der Höhe. Es war eine kunstvolle Ansammlung von Säulen und Torbögen, allesamt verziert mit unbekannten Hieroglyphen und fremdartiger Fresken. Sie muteten als die überwältigenden Arbeiten fremder Kunstschöpfer an, die man sich nur schwer vorzustellen vermag.

Und inmitten dieser hohen, kalten ersten Halle des Tempels bin ich auf dieses Wesen gestoßen. Seltsamerweise erschrak ich nicht, fand ich die Stadt doch bislang verlassen und schweigend vor. Ich kann hier nicht niederschreiben, um welche Art von Wesen es sich handelte. Nicht einmal weiß ich, ob es irdischen Ursprungs war, denn ich kann es nur als schwarzen Schatten inmitten des hellen Scheins der Tempelanlage beschreiben.

Es stand einfach da, eine nebulöse Silhouette, deren Konturen immer wieder zu verschwimmen schienen. Ich hatte das unheimliche Gefühl, als würde ich durch den Schatten hindurch in eine alte, lange vergessene Zeit blicken können.

Das mag an dieser Stelle nun merkwürdig und ohne Sinn anmuten und davon zeugen, dass ich im Begriff bin, den Verstand zu verlieren. Doch war dies genau die Empfindung, die ich in meinem Traum verspürt hatte. Ebenso wurde ich von dem naiv zu nennenden Bewusstsein überwältigt, dass ich einer der wenigen Menschen war, denen die Ehre zuteilgeworden war, einen Blick – wenn auch nur im Traume – auf dieses von Licht durchflutete, herrliche Geschöpf werfen zu dürfen.

Als ich mein Wort an jenes gesichtslose Wesen richten wollte, endete mein Traum abrupt und ich wachte in kalten Schweiß gebadet in meinem eigenen Zimmer auf. So ungern ich es auch zugeben mag, so hoffe ich doch, in der nächsten Nacht erneut zu der fremden Stadt reisen zu können und dem sonderbaren Wesen zu begegnen.


Mike lehnte sich im Sessel zurück und ließ das Buch in den Schoß sinken. Er versuchte die Worte von Charles Ward auf sich wirken zu lassen. Doch ihre Bedeutung fand nur schwerlich Zugang zu seinem ausgemergelten Verstand.

Konnte es denn tatsächlich möglich sein, dass ein Mann zwanzig Jahre bevor Mike von jener seltsamen Stadt geträumt hatte, von demselben Traum heimgesucht worden war?

Mit welchen wissenschaftlichen Maßstäben konnte ein derartiger Zufall begründet werden?

Mike starrte zur Decke und lauschte dem flüsternden Knacken des Kaminfeuers. So sehr er sich auch zu konzentrieren versuchte und bereit war, seinen Verstand für eine Welt zu öffnen, die mit rationalen Worten kaum zu erklären war, es wollte ihm einfach nicht gelingen, eine Verbindung zwischen Wards Aufzeichnungen und seinen eigenen Erlebnissen zu knüpfen.

Dieses Haus, selbst der ganze düstere Landstrich, schienen eine eigene verworrene und in den Grundfesten der Realität erschütterte Welt zu beherbergen, deren Erfassung für einen schlichten menschlichen Verstand nicht geeignet schien.

Mike war versucht, diese unwirkliche Gegend als das anzuerkennen, wie man sie in den seit Generationen gewobenen Geschichten und uralten Legenden darstellte. Doch war da immer noch ein letzter Funke seines sachlich arbeitenden Verstandes, der sich weigerte, das gelesene Wort des alten Buches, ebenso die absonderlichen Worte des Schankwirtes, in den Reigen „fantastisch zu erklärender Dinge“ einzuordnen.

Vielmehr befriedigte sich Mike damit, seine derzeitige Verfassung mit der fast unmenschlich zu nennenden Überbeanspruchung seines Denkens seit dem Tode von Olivia und Susan zu beschreiben.

Männer, die stärker waren als er, hätten in seiner Situation längst den Verstand verloren und sich den süßen Verführungen des Todes ergeben, so mutmaßte er. Warum also sollte es ein schändliches Verhalten sein, sich von den düsteren Mythen dieser Gegend in die Knie zwingen zu lassen, sofern die Seele ohnehin einen unheilbaren Bruch erlitten hatte?

Er nahm das Buch wieder zur Hand und ließ seinen Blick sehnsüchtig zum im Feuerschein glitzernden Whiskey wandern, als ihn eine Bewegung im Augenwinkel aufschrecken ließ.

In Anbetracht der Tatsache, dass er sich als das einzige menschliche Wesen in dem großen Anwesen wähnte und die schaurige Geschichte, auf die er in den wenigen Tagen gestoßen war, einen nachhaltigen Eindruck in seinen Gedanken hinterlassen hatte, erschreckte ihn diese schlichte Bewegung mehr, als er sich eingestehen wollte.

Mike drehte sich zu einem der Fenster um, hinter dem er den Hauch einer Erschütterung zu sehen geglaubt hatte. Er schalt sich einen Narren, dass er es dem Alkohol erneut erlaubt hatte, seine Sinne in jene tiefen Tümpel der Täuschung zu tauchen, wie es ihm in seiner kleinen Wohnung in London nur zu oft widerfahren war. Doch im nächsten Augenblick verflog die einschläfernde Wirkung des Whiskeys und seine Gedanken tauchten aus einem See eiskalten Wassers auf, geschärft und wachsam.

Die Bewegung war keineswegs auf pure Einbildung zurückzuführen gewesen. Im dunklen Rechteck des Fensters und jenseits seines eigenen, fahlen Spiegelbildes erkannte Mike das Abbild eines kleinen Mädchens.

Er stand auf, schloss das Buch und legte es auf den kleinen Tisch neben dem Sessel. Er rechnete damit, dass das Kind, nachdem es entdeckt worden war, verschwinden und zurück in den Ort laufen würde, wo es zweifelsohne herstammte. Vielleicht war er nur Opfer einer makabren Mutprobe unter den Kindern des Ortes geworden. Aber das Mädchen stand unbeweglich in der Nacht vor dem Haus und starrte zu ihm ins Zimmer.

Mike versuchte in stiller Verzweiflung erneut dem Alkohol die Schuld an seinen Trugschlüssen zu geben. Doch ebenso schnell wurde ihm bewusst, dass er sich im Moment mit einer merkwürdigen und unheimlichen Realität konfrontiert sah. Er ging langsam auf das Mädchen zu, wobei er sich bemühte, seine Nervosität nicht zu zeigen.

Als er sich ihm näherte und sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe nach und nach verblasste, erkannte Mike mit leichtem Schaudern jenes Mädchen, das ihm in den Gassen von Arc´s Hill schon einmal begegnet war. Sie trug denselben dunklen Regenmantel, der vom Wasser glänzte. Die langen Haare waren nass, und ihr bleiches Gesicht wirkte ebenso wächsern und ausdruckslos wie bei ihrer ersten Begegnung.

Er zögerte. Dann öffnete er das Fenster und erschrak ob der Kälte, die ins Haus strömte. Das Mädchen wich keinen Schritt zurück. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen beobachteten Mike.

»Was tust du bei diesem Wetter hier draußen?«, fragte Mike und versuchte seiner Stimme einen versöhnlichen, jedoch strengen Klang zu verleihen. Stattdessen erschienen ihm seine eigenen Worte eher einem heiseren Flüstern gleich, das seinen Schrecken nicht verbergen konnte.

Das Mädchen legte den Kopf zur Seite und entließ ihn nicht aus seinem Blick. Fast erschien es Mike, als versuchte das Kind das Wesen seines Gegenübers zu ergründen.

»Wir haben uns schon einmal gesehen«, fuhr Mike fort. »Erinnerst du dich? Es war im Dorf, heute Nachmittag.«

Mike versuchte ein Lächeln, das jedoch nicht erwidert wurde. Er wusste nicht, was er mit dem Kind anfangen sollte. Irgendjemand im Ort würde sich bereits Sorgen machen, immerhin war es fast Nacht und ein eisiger Wind wehte um das alte Haus.

»Du solltest nach Hause gehen«, setzte Mike an. »Das ist kein Ort für ein kleines Mädchen wie dich. Außerdem solltest du schon lange in deinem Bett liegen und schlafen.«

Profane Worte, doch Mike fühlte sich plötzlich wie ein Gefangener. Er hatte in London nie lernen müssen, mit einer derartigen Situation umzugehen. Der Blick des Mädchens wanderte an ihm vorbei ins Innere des Hauses, als suchte es nach etwas Bestimmten. Das Gesicht jedoch blieb ausdruckslos. Als sich die dunklen Augen wieder auf ihn richteten, verzogen sich die schmalen Lippen zu einer traurigen Grimasse.

»Sie sollten auch nicht hier sein«, sagte das Mädchen mit monotoner Stimme. »In dem Haus werden böse Träume geboren.«

Mike betrachtete das Kind, das ihn unverwandt anstarrte. Er suchte in dem kleinen, hübschen Gesicht nach einer kindlichen List oder dem Vergnügen eines unausgereiften Verstandes, ihn durch Worte zu erschrecken. Doch immer noch wirkte das Antlitz wie eine bleiche Maske, ohne jegliche Regung, sah man einmal von der tiefen Trauer ab, die sich in das unschuldige Gesicht gegraben hatte.

»Was redest du da?«, fragte Mike und suchte die nähere Umgebung nach anderen Kindern ab, die sich einen Spaß daraus machten, dem Fremden in ihrem Dorf einen Streich zu spielen.

Doch das Mädchen schien alleine. Es stand inmitten eines verwilderten Blumenbeetes, das vor dem Fenster lag, trug seinen dunklen Regenmantel und ebenso dunkle Schuhe, die im aufgeweichten Erdboden versanken und schmutzig waren.

Ihr Haar hing in nassen Strähnen ins Gesicht.

»Sie dürfen nicht träumen«, fuhr das Kind fort, ohne Mike aus ihrem Blick zu entlassen. »Er versucht Sie zu täuschen. So, wie Er es bei meinem Vater getan hat.«

Mike spürte trotz seines Unbehagens, wie das Kind seine Geduld überstrapazierte. Er wusste nicht, was er tun sollte, kannte er doch außer dem Schankwirt niemanden im Ort.

»Was ist mit deinem Vater?«, griff er die Worte des Mädchens auf. »Er wird sich Sorgen machen und bereits auf der Suche nach dir sein. Geh nach Hause.«

Zum ersten Mal kam etwas Regung in das Kind. Langsam schüttelte es den Kopf.

»Mein Vater hat mich zu Ihnen geschickt. Ich soll Sie warnen.«

»Wovor?«

Das wächserne Gesicht blickte starr und ernst.

»Vor den Träumen. Vor den Verführungen. Vor … Ihm.«

Mike setzte ein gequältes Lächeln auf und legte seine Hände auf die Fensterflügel, als beabsichtigte er, jene zu schließen. Ein kalter Schauer fuhr durch seinen Körper, der jedoch nicht von der Nacht herrührte.

»Geh nach Hause, Kleines …«, begann er, doch das Mädchen schnitt ihm das Wort ab.

»Er versucht, Sie zu verführen und lässt Sie sehen, was Er will, dass Sie es sehen. Aber die Wahrheit ist eine andere. Sie sehen nur Seine Maske.«

»Von wem redest du? Wer bist du?«

»Er ist ein Dämon. Der Wächter. Er bewacht die Pforte zur Gruft.«

Mike fuhr sich mit Händen, die von der Nachtluft kalt geworden waren, über die Augen. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich hinter seinen Lidern eingenistet, doch sein Herz schlug hart in der Brust.

»Hör zu«, setzte er an, doch da trat das Mädchen langsam vom Fenster zurück.

»Lassen Sie nicht zu, dass Er sie täuscht. Er will die Pforte öffnen und IHN erwecken, dass er aus der Erde steigen kann.«

»Was redest du da?«

Das Mädchen zog sich in die Dunkelheit zurück.

Ihr Mantel war kaum noch zu erkennen.

Nur ihr kleines Gesicht glich einem verblassenden, aschfahlen Mond.

»Warte.«

»Träumen Sie nicht. Denn Sie sehen nicht Seine wahre Gestalt.«

Das Mädchen verschwand. Ihr Gesicht nur noch ein bleiches Oval in der Finsternis.

»Wer bist du?«

Mike starrte in die Nacht hinaus, lehnte sich weit aus dem Fenster. Die Kälte ergriff ihn mit erbarmungslosen Fingern, seine Augen begannen zu tränen.

Das Mädchen war verschwunden.

Doch dann glaubte er im kalten Flüstern des Nachtwindes ganz leise ihre Stimme zu vernehmen.

»… Emma …«


Er stand noch lange am Fenster und starrte in die schwarze Wand der Nacht hinaus.

Die grauen Schatten der Bäume und Sträucher waren kaum zu erkennen. Die Kälte der nahen Berge fuhr ihm unter die Kleidung und ließ ihn frösteln. Sein Körper zitterte, aber Mike blieb am Fenster stehen und versuchte der feinen Stimme des Kindes zu lauschen.

Doch alles blieb still.

Schließlich schloss er das Fenster und betrachtete nachdenklich sein groteskes Spiegelbild. Hinter sich konnte er das behagliche Knistern des Feuers im Kamin hören. Sein Gesicht wirkte blass und angespannt, seine Augen müde und mit einer unbekannten Furcht erfüllt.

Was war nur aus seinem Leben geworden? Was hatte der Teufel ihm noch genommen, außer seiner Frau und kleinen Tochter? Nahm er ihm nun den Verstand?

Mit bebendem Körper – ob vor der Kälte der Nacht oder Furcht vermochte er nicht zu sagen – ging Mike zum Sessel zurück und leerte das Glas Whiskey in einem Schluck. Das Feuer, das sich augenblicklich durch seine Eingeweide fraß, beruhigte ihn, so wie es das immer getan hatte, in jenen langen, schmerzerfüllten Nächten in London.

Er starrte ins Feuer, und dachte dabei an die Abdrücke kleiner Kinderschuhe im Matsch vor dem Fenster. Ein untrüglicher Beweis, dass er sich die Erscheinung nicht eingebildet hatte.

Emma … war das ihr Name? Nach einer Weile ergriff er das brüchige Leder des Buches, schlug es auf und las weiter in den Aufzeichnungen des Charles Ward.


10. Februar 1966

Der Aufstieg zum Tempel war auch in dieser Nacht nicht erschöpfend. Wie ich mir erhofft hatte, fand ich den Weg mit erschreckender Leichtigkeit zurück in diese fremdartige, verlassene Stadt. Fast schon ergriffen die Zweifel die Oberhand, dass dieser Ort nur ein Traumgespinst zu sein vermag. Doch möchte ich meine Mutmaßungen nicht hier und jetzt zu Papier bringen; zu fantastisch erscheinen mir diese Gedanken. Als ich das Portal der Tempelanlage durchschritt, erwartete mich mein merkwürdiger Gastgeber bereits. Wie in der Nacht zuvor, war er nichts weiter als eine schattengleiche Gestalt, die inmitten der gigantischen Tempelhalle stand.

Ich wagte kaum, mich ihm zu nähern, zu groß war mein Respekt, aber gleichzeitig auch meine Furcht vor diesem von Licht beschienenen, konturenlosen Wesen, welches das einzige in dieser Stadt war, das mich an einen Traum denken ließ. Zu surreal mutete diese Kreatur an – sei es ein Mensch oder eine andere, schwer vorstellbare Wesensart.

Ich wollte das Wort an das Geschöpf richten, so wie in der Nacht zuvor. Trotz aller Furchtsamkeit hatte ich innerlich beschlossen, dessen absonderlichen Geheimnis auf den Grund zu gehen. Doch noch bevor ich meinen Mund öffnen und gedankenlose und an diesem Ort unangebrachte Worte aussprechen konnte, vernahm ich plötzlich eine hohe, Echo begleitete Stimme in meinem Kopf.

Ich wusste sofort, dass diese Stimme, die mich an den fernen Singsang eines Männerchores erinnerte, ihren Ursprung in diesem hellen Lichtwesen besaß, das nach wie vor bewegungslos in der Mitte der Halle harrte.

Die Gestalt redete in einer fremden Sprache zu mir, die ich, ohne dass ich einen Gedanken daran verschwendete, verstehen konnte. Sie erzählte mir von der Stadt und davon, wie sie einst voller Leben war. In einer Zeitepoche, die lange vergessen und im nebligen Morast der Vergangenheit versunken war, hatten die Stadt und ihre Gebieter über eine Welt geherrscht, die lange vor der unseren untergegangen war.

Der Name der Stadt lautete Re´grith Dath – die Traumstadt, die man nur des Nachts erblicken konnte. Nur wenige waren dazu auserkoren, jemals einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Und es waren noch weniger, die sich in der Morgendämmerung ihrer erinnerten. Ich sei einer dieser wenigen Auserwählten, so erzählte mir das Wesen. Dabei erfüllte seine melodische Stimme meinen Kopf wie die Verführung der Sirenen. Er erzählte mir, Re´grith Dath sei untergegangen. In einem gewaltigen Krieg, mit einer Macht außerhalb unserer Welt, sei die Stadt mit all ihren Bewohnern und Palästen und blühenden Gärten in einem schrecklichen und stinkenden Aschenregen versunken und im Laufe der Zeitalter in Vergessenheit geraten.

Selbst der Name der Stadt war den Ruinen in die dunkle Vergangenheit gefolgt. Nur wenige wussten der Legenden der versunkenen Stadt Re´grith Dath, und diejenigen, die davon sprachen, wurden eingesperrt oder lebten abgeschieden und dem Wahnsinn verfallen in tiefen Höhlen, in die nie das Licht des Tages drang. Bald schon würde es nicht einmal den Hauch einer Erinnerung an diese Stadt geben, und auch der letzte Geist die Mauern des Hohetempels verlassen haben.

Und dann erzählte mir die Gestalt in ihrer lichtgetränkten Herrlichkeit von einem Ort in dieser Welt, die wir die unsere nennen. Sie erzählte mir von Arc´s Hill.

Der Ort sei seit Anbeginn aller Zeiten ein mystischer Platz im Kosmos gewesen, denn er beherbergte die verschlossene Pforte, einen alten, toten Baumkreis in den Bergen. Ein Ort, an dem in frühen Zeitaltern Dämonen und Teufel tanzten und mit den Herrschern anderer Welten palaverten und tranken und aßen. Dort, an jenem versteinerten, vorzeitlichen Ort, fand man die Pforte und den langen Gang, der hinunter nach Re´grith Dath führte.

Denn was nicht vergessen, war nicht tot, und was nicht tot, würde wieder auferstehen.

Der Geist aus Licht und Schatten, der letzte Hohepriester von Re´grith Dath, erzählte mir mehr. Mit Worten, die feiner als die leiseste Musik waren. Ich verfiel diesen Worten.

Er, der Nad´naruhl mit Namen hieß und einst über die prächtigen Bauten und breiten Straßen und blühenden Schlossgärten herrschte, erzählte mir, was zu tun sei, um nach Re´grith Dath zu gelangen. Er brachte mir die Worte bei, die nötig waren, um die versiegelte Pforte zu öffnen …

… und die dunkle Stadt aus ihrem stillen, verborgenen Grab zurück ans Licht zu bringen, wo sie einst über ungezähmte Welten herrschte.

Doch erst galt es, den toten Baumkreis zu finden …

An dieser Stelle waren einige Seiten aus dem Tagebuch gerissen. Mikes Finger glitten über die gezackten Überreste, dort, wo die Seiten offenbar in Eile entfernt worden waren. Er zählte vier und fragte sich, was Charles Ward der Nachwelt verschweigen wollte.

Die fünfte Seite war nur zur Hälfte herausgerissen … die Schrift kaum zu entziffern.

13. Februar 1966

Ich hatte den Baumkreis gefunden, auf einem Felsplateau, das schwer zugänglich ist. Es war eine kalte Nacht mit tief hängenden, schwarzen Wolkengebilden, doch glaubte ich weniger, dass mein Frösteln vom scharfen Nordwind herrührte. Ich begann die Worte zu sprechen, die mich Nad´naruhl gelehrt hatte. Nur wenige kennen diese Worte, und ich bin einer dieser wenigen Auserwählten.

Ein seltsames Gefühl hielt mich gefangen. Auf der einen Seite eine schier ungebändigte Furcht vor dem, was da kommen möge. Doch wurde dieses Entsetzen fast vollständig von einer nahezu unmenschlichen Neugierde verdrängt, wie ich sie nicht einmal als Kind empfunden hatte. Wusste ich doch, dass mein Handeln inmitten des steinernen Baumkreises die Grenzen des Universums zu zerrütten vermag und die Geburt eines neuen, ewigwährenden Zeitalters einläuten konnte. Ich bin Teil von etwas Großem, Unfassbarem. Ich bin der Auserwählte.

Während ich den Gesang der versunkenen Stadt anstimmte, spürte ich, wie die Erde unter meinen Füßen erzitterte. Ich weiß nicht, ob ich mir dies nur einbildete, denn meine Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Aber eines war ganz sicher kein Trugschluss … je öfter ich die alten Worte Nad´naruhls wiederholte und mich dabei unweigerlich in einen tranceähnlichen Zustand versetzte, desto deutlicher erschien mir das Flüstern, das an meine Ohren drang. Erst dachte ich an den kalten Wind, der aus den Bergschluchten zu mir herüberwehte und mir eine letzte Warnung zuzurufen schien. Doch mittlerweile bin ich mir sicher, dass das Flüstern eine Stimme war. Worte, die tief aus der Erde auf meinen monotonen Gesang zu antworten schienen …

Eine Stimme aus der Erde.

Mike spürte eine Kälte, die nicht einmal das prasselnde Kaminfeuer zu bändigen vermochte.

Der Rest der Seite fehlte, und auch die nächsten Seiten hatte eine unwirsche Hand aus dem Tagebuch gerissen. Dann stieß Mike auf einen einzigen Satz, den Ward scheinbar in seinen furchtsamen Aktionen zu entfernen übersehen hatte.

Ich habe die Stadt gesehen; Re´grith Dath … die schwarze Stadt, tief in der Erde …

Und dann, etwas später, mit fahriger, fast kindlich wirkender Schrift …

… Pesthauch aus der Urzeit …

Die restlichen Seiten des alten Buches fehlten … bis auf die Letzte. Sie war zerknittert und eingerissen, und Mike hatte Mühe, die zittrige Handschrift zu entziffern. Es waren nur ein paar Sätze, die sich scheinbar ziellos über die Seite erstreckten. Es waren die Worte eines Mannes, den Furcht lenkte und dessen Gedanken nicht mehr die seinen schienen. Ich kann nicht zulassen, dass Nad´naruhl sich der Träume meiner geliebten Frau und Töchter bemächtigt. Niemand soll jemals wieder einen Fuß in diese schreckliche Stadt setzen. Die Pforte muss auf ewig verschlossen bleiben, die Legende vergessen werden.

Es darf keine Träume mehr geben, denn wenn Re´grith Dath aus der Asche geboren wird, werden die Welten sterben. Meine Familie darf nicht träumen … ich darf nicht träumen … niemand darf träumen …

Hier endete das Tagebuch des Charles Ward.


Mike blätterte das alte Buch noch einmal mit fahrigen Bewegungen durch, suchte nach Einträgen, die seinem fast schon berauscht zu nennenden Verstand entgangen sein mochten. Doch er fand keine weiteren Erläuterungen oder Hinweise auf die merkwürdigen Träume Wards – oder gar auf seine eigenen – oder auf den mystischen Baumkreis und seine unheilschwangere Bedeutung.

Sofern Ward tatsächlich in seinen Aufzeichnungen näher auf diesen fremdartigen Ort eingegangen war, so musste er dies auf jenen Seiten getan haben, die er in seinem offensichtlichen Wahn aus dem Buch herausgerissen hatte.

Frustriert und zutiefst verstört warf Mike das Tagebuch auf den Tisch, wo es über die glatte Oberfläche rutschte und mit einem dumpfen Knall zu Boden fiel. Fast augenblicklich spürte er einen stechenden Schmerz hinter seiner Stirn und zwischen den Schläfen. Eine Nachwirkung des seltsamen Traumes, dessen Opfer er geworden war? Oder hatte sich sein Verstand derart auf Wards Geschriebenes konzentriert, dass es ihm plötzlich an klarem Denken mangelte?

Vor seinen übermüdeten Augen tauchten immer wieder die letzten Worte des Buches auf. Insbesondere die Fragmente, die von zitternder Hand niedergeschrieben waren. Sie übten eine unheimliche, fast grotesk zu nennende Anziehungskraft auf Mike aus. Doch Ward hatte – offensichtlich aus gutem Grund – alles Erdenkliche dafür getan, um dem eventuellen Leser seiner unheiligen Hinterlassenschaft nicht den vollen Schrecken seiner Erlebnisse zukommen zu lassen. Wen hatte er mit seinen Handlungen, jene Seiten aus dem Buch zu entfernen, schützen wollen? Wirklich denjenigen, den irgendwann einmal das Unglück ereilen sollte, das Buch in Händen zu halten? Oder versuchte er seinen eigenen Verstand zu schützen, indem er die Tatsachen seiner Erlebnisse kurzerhand vernichtete?

Es verlangte Mike danach, die fieberhaft niedergeschriebenen Worte erneut zu lesen. Vielleicht etwas Neues zu entdecken, so einfältig dieser Wunsch auch klingen mochte. Er wollte Wards Worte noch einmal fühlen, ertasten, riechen. Wollte ihnen das ungesagte Geheimnis entlocken, das Charles Ward in seinem Irrsinn vor zwanzig Jahren mit in sein tiefes Grab genommen hatte.

Er erinnerte sich der Worte des Schankwirtes, der, war man wirklich so töricht und schenkte dem seltsamen Mann Glauben, dabei gewesen war, als man Ward in jener schicksalsschwangeren Nacht auf dem Marktplatz von Arc´s Hill aufgefunden hatte.

Seine Augen hätten in irrem Fieber gebrannt, so lauteten die Worte des Schankwirtes. Und er hatte den Männern, die damals zugegen gewesen waren, in wirren Ausführungen anvertraut, was er seiner Familie angetan hatte.

Was war es gewesen, das einen ehrbaren Menschen dazu verleiten konnte, seine geliebte Frau und kleinen Töchter in ihren Betten zu meucheln? Aus welcher Veranlassung heraus hatte Ward offensichtlich den Verstand verloren und war, beseelt von fiebrigem Wahn, zum Marktplatz des Ortes gelaufen, seine unfassbare Tat zu beichten? Fort vom alten Grady-Anwesen …

Die Antwort musste auf den herausgerissenen Seiten seines Tagebuch zu finden sein. Doch rechnete Mike trotz seines Begehrens nicht damit, jene mysteriösen Seiten jemals irgendwo in den dunklen Eingeweiden des alten Hauses vorzufinden. Viel wahrscheinlicher mutete an, dass Ward mit dem letzten Funken Verstand, der ihn noch aufrecht gehalten hatte, diese Seiten vollends vernichtete, ehe er dazu überging, seine Familie aus dem Leben auszulöschen.

Mike musste mehr über jene Geschichte erfahren. Und noch ehe er sich zur Nachtruhe begeben und im Traum abermals in die seltsame Stadt reisen würde, gedachte er noch einmal das ›Knights Head‹ aufzusuchen. Zwar war der Schankwirt ein mürrischer und wortkarger Zeitgenosse, doch er war der einzige Mensch, den er bisher in Arc´s Hill kennengelernt hatte. Zudem war er einer jener Männer gewesen, die anwesend waren, als man Ward wahnsinnig auffand. So machte sich Mike an diesem späten Abend noch einmal auf den Weg in den Ort, in der Hoffnung, die kleine Taverne offen vorzufinden.


Er hatte keine Mühe, den kleinen Platz mit seinem Zierbrunnen in dem Labyrinth aus engen Straßen und finsteren Gassen wiederzufinden. Jetzt, in Anbetracht der befremdlichen Geschichte, die ihm Wards Tagebuch anvertraut hatte, erschien ihm die unheimliche Stille des Ortes noch erdrückender und die Nachtluft wie der Atem einer kalten Hölle. Lediglich das leise Flüstern des Regens auf Asphalt und Kieswegen begleitete ihn. Büsche und Bäume schienen Mike verzweifelte Worte zuzuwispern, wenn der Regen sich seinen Weg durch Geäst und Blattwerk suchte.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde war die Beleuchtung des ›Knights Head‹ eingeschaltet. Ein mattes Licht erhellte den Gehweg vor der Taverne und ließ den Regen in den Pfützen funkeln. Neben der Tür, in einem der kleinen Fenster, hing ein von Hand geschriebenes Schild, das Mike verriet, dass das Gasthaus noch geöffnet war. Als er den niedrigen, vom gelben Schein einiger altertümlicher Lampen erhellten Schankraum des Hauses betrat, stand der Wirt hinter der Theke, die Arme weit ausgebreitet auf der wurmstichigen Holzplatte abgestützt, gerade so, als hätte der Mann Mikes Ankunft in dieser Nacht erwartet. Er trug seinen albernen, grauen Hut, wie am Tage, an dem Mike die Bekanntschaft des Mannes gemacht hatte. Er grüßte den massigen Mann, und als dieser ihm knapp zunickte, setzte sich Mike ihm gegenüber auf denselben Hocker, auf dem er bei seinem letzten Besuch gesessen hatte. Wie zuvor waren sie alleine in der Taverne, was ihm sein Vorhaben erleichterte.

»Wie kommen Sie voran?«, fragte der Wirt mit teilnahmsloser Stimme und maß Mike mit prüfendem, fast abschätzendem Blick. Mike konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Mann den ganzen Abend auf ihn gewartet hatte.

»Ist sicher ein hartes Stück Arbeit, das alte Haus wieder herzurichten.«

Mike nickte wortlos und bestellte dann etwas zu trinken. Er fühlte eine innere Niedergeschlagenheit ob der Tatsache, dass er es nicht schaffte, seine verworrenen Gedanken in Worte zu fassen, ohne die Hitze des Alkohols in seinem Leib zu spüren. Hatte London ihn wirklich derart tief in den Strudel der Abhängigkeit gezogen? Während der Schankwirt ihm den Rücken zuwandte, um eine Flasche aus dem mit einem trüben Spiegel verzierten Regal zu holen, beschloss Mike, direkt und ohne Umschweife auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu einer derart späten Stunde zu sprechen zu kommen. Er verspürte nicht die geringste Lust, mit dem Mann über banale Dinge zu reden, während in seinem Kopf Wards letzte niedergeschriebene Worte wie ein entferntes Donnergrollen nachhallten. Zudem glaubte er im argwöhnischen Blick des Mannes etwas gelesen zu haben – ein leichtes, nervöses Aufblitzen – das ihn geradezu dazu aufforderte, das Gespräch auf seine Erlebnisse hinzuführen.

Als ihm sein Gastgeber ein Glas mit verlockend goldenem Whiskey vorgesetzt hatte, blieb er abwartend vor Mike stehen, als wollte er durch seine Geste dessen düstere Gedankengänge unterstreichen. Mike nahm einen gierigen Schluck und spürte augenblicklich die beißende, wohlvertraute Hitze in seiner Kehle, die ihn jedoch entgegen aller Erwartung diesmal nicht zu beruhigen vermochte.

»Wussten Sie, dass Charles Ward ein Tagebuch geführt hatte?«

Der Wirt bedachte ihn mit einem Blick, der keinerlei Überraschung ausdrückte, schwieg jedoch.

»Er schreibt darin von Träumen, die ihn in den Nächten heimgesucht hätten.«

Mike erwartete eine Reaktion. Doch der Blick seines Gegenübers blieb weiterhin gelassen, auch wenn Mike glaubte, eine tiefe, versteckte Unruhe in den Augen des Mannes erkennen zu können. Offensichtlich erzählte er dem Schankwirt nichts, was dieser nicht bereits wusste. Er beschloss, nicht mehr länger mit seinen Erlebnissen hinter dem Berg zu halten.

»Ward erwähnte in seinen Aufzeichnungen einen Ort in den Bergen, an dem es einen altertümlichen Baumkreis geben soll. Haben Sie davon schon einmal etwas gehört?«

Er vermied es, die archaische Bedeutung des Kreises zu erwähnen.

Plötzlich kam Regung in das Gesicht des grobschlächtigen Mannes. Seine Augen weiteten sich und ein Anflug von Entsetzen stahl sich in seinen Blick. Seine Hände, mit denen er sich immer noch auf der alten Theke abstützte, verkrampften sich zu Fäusten, deren Knöchel weiß hervortraten.

Dies alles offenbarte sich Mike binnen einer einzigen Sekunde. Dann gewann der Mann seine vorherige Beherrschung zurück. Er betrachtete Mike lange Zeit schweigend und mit einem Ausdruck in den Augen, den dieser unmöglich zu deuten wusste.

»Der Steinerne Baumkreis«, flüsterte der Wirt schließlich zu sich selbst, wobei er auf das wurmstrichige Holz der Theke starrte, als hätte er dort ein lästiges Insekt erblickt. Ein unmerkliches Zittern hatte sich des massigen Leibes des Mannes bemächtigt.

»Man sollte diesen Ort besser vergessen.«

»Was ist damit?«, setzte Mike nach und griff das Glas, um seine aufsteigende Nervosität zu verbergen. Das Gefühl, sich in einer fremden, kaum vorstellbaren Welt zu befinden, überkam ihn stärker als je zuvor, seit er diesen merkwürdigen Ort betreten hatte.

Der Wirt schüttelte den Kopf und starrte gedankenverloren auf einen Punkt der Theke. Es mochte an der diffusen Beleuchtung der Taverne liegen, doch glaubte Mike zu erkennen, wie das feiste Gesicht des Mannes jeglicher Farbe beraubt wurde.

Der lächerliche Hut warf tiefe Schatten bis zur schiefen, von roten Äderchen verunstalteten Nase.

»Ich hätte nie gedacht, dass Ward den Baumkreis gefunden hat.« Er hob seinen Blick und betrachtete Mike mit einem gehetzten und furchtsamen Ausdruck in den Augen. »Er hat diesen schrecklichen Ort tatsächlich in seinem Tagebuch erwähnt?«

Mike nickte, beschloss jedoch, seinem Gegenüber nichts davon zu offenbaren, auf welche Art und Weise Charles Ward von diesem Ort erfahren hatte.

»Sie sollten das, was Sie gelesen haben, ganz schnell wieder vergessen, Mister«, fuhr der Mann schließlich mit flüsternder Stimme fort, als befürchtete er, jemand könnte ungewollt dieser unheiligen Unterhaltung beiwohnen. »Der Ort ist nicht gut.«

Mike deutete mit einem Nicken auf sein Glas, und der Wirt füllte es augenblicklich nach, wobei die Hand, welche die Flasche hielt, merklich zitterte. Er verschüttete einige Tropfen Whiskey auf der Theke, doch schien er dies nicht zu bemerken.

»Was wissen Sie darüber«, fragte Mike und legte einige Geldscheine auf die Holzplatte. In der heutigen Zeit, so dachte er sich, immer noch die beste Art, jemanden zum Reden zu bewegen, der sich dagegen zu wehren versucht.

Der Schankwirt betrachtete das Geld, ohne es anzufassen. Dann bohrte sich sein Blick in Mikes Augen, dass dieser das unbehagliche Gefühl bekam, der Mann versuchte geradewegs den Grund seiner verzweifelten Seele zu erforschen.

»Der Steinerne Baumkreis liegt auf einem hoch gelegenen Felsplateau in den Bergen«, begann er schließlich mit heiserer Stimme zu erzählen. Dabei schob er mit einer unbedachten Bewegung die Geldscheine zu Mike zurück. Dieser beachtete das Geld ebenso wenig wie es der Schankwirt zuvor getan hatte.

»Ich war noch nie dort oben gewesen. Niemand aus dem Ort war das.«

Er griff nach einem Glas und schenkte sich nun seinerseits einen Whiskey ein. Mike konnte die innere Zerrissenheit des Mannes förmlich mit Händen greifen.

»Man erzählt sich, dieser unheilige Ort sei älter als alles Lebendige auf diesem Planeten. Manche der Legenden im Ort erwähnen Hexen, die sich in dunklen Gewitternächten im Kreis uralter, versteinerter Bäume treffen, um über ihre abscheulichen Taten in der Menschenwelt zu palavern und zu lachen. Andere wiederum erzählen sich, dass der Teufel selbst in den steinernen Eingeweiden des Kreises seine Heimstatt besitzt.«

Er schüttelte den Kopf, als versuchte er dadurch das Gesagte zu widerlegen, und leerte sein Glas mit einem kräftigen Schluck. Ein bitteres Stöhnen brach zwischen seinen Lippen hervor. Der Geruch von Whiskey, Speck und Knoblauch wehte Mike entgegen.

»Ich weiß nicht, welchen Geschichten man Glauben schenken darf. Mit Sicherheit sind all diese Legenden nichts weiter als Ausgeburten purer Ammenmärchen, mit denen man in früheren Jahren die Kinder zu erschrecken versuchte.«

Ein nervöses Lachen entrann der Kehle des Mannes. Seine Augen jedoch blickten nach wie vor voller Furcht und Kleinmut, was den Sinn seiner eigenen Beschwichtigungsversuche widerlegte.

»Man erzählt sich, dass in den alten Zeiten, als die ersten Menschen in dieses Tal kamen und ihre Hütten errichteten, einige hinauf zum Baumkreis gestiegen seien, um die Götter anzurufen und um deren Beistand zu beten. Sie baten um Schutz und gute Ernten, denn die Erde war zu dieser Zeit hart und unwirtlich gewesen. Scheinbar hielten diese einfältigen Menschen den Baumkreis für einen heiligen Ort. Aber nur wenige von ihnen waren aus den Bergen zurückgekehrt. Und diejenigen, die den beschwerlichen Weg zurück in die Siedlung gefunden hatten, waren dem Wahnsinn verfallen und weggesperrt worden, glaubt man den alten Überlieferungen.«

Wieder schüttelte der Mann energisch den Kopf und starrte auf sein leeres Glas. Sein Atem ging schwer, und Mike sah ihm an, dass er sich nach einem weiteren Schluck Whiskey sehnte.

»Doch dies ist alles lange her. Aufgrund dieser Begebenheit taufte man die erste Siedlung auf den Namen Hill´s Grave. Niemand hatte sich fortan mehr dem verfluchten Ort in den Bergen genähert. Man lernte die Berge zu meiden und begann, finstere Geschichten um die Felsen und jenes, was sie beherbergten, zu spinnen.« Wieder schüttelte der Schankwirt den Kopf, als fiele es ihm schwer, seinen eigenen Worten zu glauben. »Wissen Sie, Mister …« Er beugte sich nach vorn und bannte Mike mit seinem Blick. »Auch wenn dies alles nur Legenden und Märchen von bescheiden denkenden und abergläubischen Bauern sind, so glaubt man an Orten wie Arc´s Hill dennoch an diese Geschichten. Und man befolgt ihre Botschaft, sich von der Brutstätte des Teufels fernzuhalten.«

Es gelang Mike nur schwerlich, sich von den Augen des Mannes abzuwenden.

»Was ist mit Ihnen«, fragte er mit brüchiger Stimme und leerte nun seinerseits sein Glas.

Der Wirt setzte ein verbittertes, fast resignierend zu nennendes Lächeln auf.

Sein Anblick ließ Mike frösteln. »Ich war nie dort oben, falls Sie das meinen«, antwortete er nach einer ganzen Weile. »Aber ich habe Ward in jener Nacht gesehen. Und das, was er getan hat. Ich glaube, dass dieser Ort in den Bergen, der Steinerne Baumkreis, ein gotteslästerlicher Ort ist, der den Mann verdorben und ihn zu seinen abscheulichen Taten verführt hat.« Sein Blick wurde finster. Sein teigiges Gesicht näherte sich dem seines Gastes. Plötzlich schien sich eine tiefe, lauernde Stille über das Haus gesenkt zu haben, die sie beide belauschte.

»Wenn Sie mich fragen, ich glaube, dass dort oben der Teufel tanzt.«

Als Mike das ›Knights Head‹ weit nach Mitternacht verließ, drehte er sich an der Türe noch einmal zu dem Schankwirt der Taverne um. Dieser wirkte im Schein der altertümlichen Lampen über der Theke seltsam bleich und von einer tiefen Furcht berührt.

»Gibt es im Ort ein kleines Mädchen namens Emma?«

Die Gestalt des Wirtes straffte sich augenblicklich. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und starrte Mike mit großen Augen an. Seine Lippen formten Worte, doch es dauerte eine Weile, bis er diese aussprechen konnte. Dabei klang seine Stimme leise und schien aus weiter Entfernung zu kommen.

»Es gibt nur sehr wenige Kinder in Arc´s Hill. Aber keines davon heißt Emma.«

Der Mann blickte sich um, als lauschte er auf ein plötzliches Geräusch. Dann flüsterte er, während er sich im matten Schein der Lampen zu ducken schien: »Charles Wards Töchter hingegen hießen Carla … und Emma.«


In dieser Nacht saß Mike noch lange in seiner Schlafkammer, die er sich im oberen Bereich des Hauses eingerichtet hatte, in einem alten, ledernen Lehnsessel und blickte auf das starre Gemälde der Nacht hinaus.

Dort, wo die Sonne schon vor langem hinter düsteren Wolken untergegangen war, glühte der Himmel noch immer in einer dünnen Linie aus verwaschenem Rot über den Felsen. Fast erschien es Mike, als würden die Berge selbst von einer pulsierenden Glut tief in ihrem steinernen Schoß in diesen widernatürlichen Schein getaucht. Die Kämme des Gebirges glichen den grotesken Schatten versteinerter Ungeheuer, die sich allmählich aus der Glut einer lodernden Hölle herausschälten.

Nichts bewegte sich. Kein Wind zerstörte die erstarrte Nacht. Eine bleierne Stille hatte sich über den Ort und das alte Haus gesenkt und verbarg den vergessenen Landstrich in einem schweigenden Mantel.

Mikes Verstand war erfüllt von den widersprüchlichsten Gedanken. Hätte er sein Denken einer Menschenseele fern von Arc´s Hill anvertraut, hätte dieser Umstand genügt, um ihn vor seinen Mitmenschen auf ewig als vom Irrsinn gezeichnet wegzusperren. Da waren Charles Wards letzte Worte in diesem skurrilen Tagebuch, das immer noch auf dem Boden in der Wohnstube lag. Mike hatte bisher dem schreienden Drang widerstehen können, es aufzuheben und noch einmal nach entgangenen Textpassagen durchzusehen. Und es gab die düsteren Worte des Schankwirtes, die sich wie die sengenden Peitschenhiebe des Jüngsten Gerichts in seine Gedanken eingebrannt hatten. Welchen Glauben konnte er diesem seltsamen Mann schenken, der sich zeit seines Lebens den dunklen Legenden dieses Landstriches ausgesetzt sah und mit den Ammenmärchen seiner Vorfahren großgezogen worden war? Und wie sehr waren die düsteren Erzählungen des Wirtes, die alten Legenden dieses Ortes betreffend, mit der Wahrheit in Verbindung zu bringen? Mike dachte an das kleine Mädchen, das er am späten Abend am Fenster gesehen hatte.

Emma schien ihr Name, spielten ihm seine Sinne nicht einen schrecklichen Streich.

Emma … so lautete auch der Name einer der Töchter von Charles Ward.

Mike spürte mit jeder Sekunde, in der er in der schweigenden Dunkelheit verharrte, dass sich sein Verstand einer tiefen Kluft näherte, deren Ende er nicht abschätzen konnte und die ihn unweigerlich mit ihren Verhöhnungen und Verlockungen aus der Tiefe nach endgültiger Stille anzuziehen schien. Er betrachtete mit lethargischer Gleichgültigkeit die bizarren Formen der Nacht, die sich ihm zwischen den hohen Weiden am Rande des Pfades zu seinem Haus darboten.

Irgendwo da draußen, in dieser schrecklichen Dunkelheit, verbarg sich jener unheimliche und legendenträchtige Ort, von dem Ward geschrieben und der das blanke Entsetzen in die Augen des Wirtes getrieben hatte.

Ward hatte davon berichtet, wie er die beschwörenden Worte jenes geisterhaften Wesens aus der Traumstadt innerhalb dieses Steinernen Baumkreises gesprochen hatte. Und auch davon, wie seinen Worten aus der Tiefe des Erdreiches geantwortet wurde.

Der Schankwirt des ›Knights Head‹ glaubte, dass dort oben in den dunklen Bergen der Leibhaftige seine Brutstätte besaß. Mike konnte nicht verhehlen, dass es ihn danach verlangte, sich im Schlaf erneut auf den Weg zu jener mystischen, abnormen Stadt zu begeben.

Doch befürchtete er, dass er nach all den Aufregungen des Tages nicht dazu in der Lage war, den ersehnten Schlaf zu finden. Ebenso wenig verlangte es ihn danach, den Rest der Nacht in dem ledernen Sessel zu verbringen und in die versteinerte Dunkelheit zu starren.

So ging er zu Bett, als ihm die Uhr die dritte Stunde des neuen Tages verkündete. Sagte man nicht, dass dies die Stunde der Dämonen sei?

Noch ehe sich Mike dem quälenden Gedanken hingeben konnte, auf welche Weise er sein Herz zu beruhigen und den erhofften Schlaf zu finden vermochte, als der Alkohol des Tages seinen Tribut forderte und er sich auch schon auf dem Weg durch endloses Dunkel in die in seinem tiefsten Unterbewusstsein verborgene Stadt befand.

Jene Stadt, die er – dank Charles Ward – als Re´grith Dath kannte …


In dieser Nacht blieb mir der Aufstieg zur Tempelanlage erspart. Als ich die Augen öffnete und mich die träge Dunkelheit meines Schlafes entließ, stand ich vor dem offenen Portal des Tempels, aus dessen Halle ein kalter Wind zu mir wehte. Ich spürte den eisigen Hauch schlanker, verlangender Finger auf meiner Haut, bezweifelte jedoch, dass dieses Gefühl der Beklemmung, das mich augenblicklich fest umschlungen hielt, von der Kälte herrührte, die auf dem obersten Felsplateau herrschte.

Zögernd betrat ich den ausladenden Saal, der sich mir zunächst in bleierner Nacht präsentierte, bis sich meine Augen an den Übergang vom Glanz der Stadt zum düsteren Innern des Tempels gewöhnt hatten. Nach und nach schälten sich die mächtigen Säulen und Fresken aus dem Dämmerlicht, dann die gigantischen Torbögen und Pilaster, die sie trugen. Und inmitten all jener Herrlichkeit stand die in einen Kranz aus gleißendem Licht gebettete, konturenlose Gestalt, die mich bereits in der Nacht zuvor erwartet hatte.

Ehrfurchtsvoll verharrte ich in meinem Schritt. Eine beklemmende Stille breitete sich trotz der Weite der Tempelhalle aus.

Ich spürte, wie sich jede Faser meines Körpers anspannte, und fragte mich zum wiederholten Male, ob es überhaupt möglich war, derartigen Realismus innerhalb eines Traumes zu empfinden. Mein Denken blendete alles aus, was um mich herum geschah. Der monströse Eingang des Tempels, die kunstvoll verzierten Arabesken der Säulen, die unheimliche Kälte der Halle … das alles verschwand in einem stillen Nebel. Es gab nur noch mich, meinen Atem, meinen Herzschlag und das schemenhafte Wesen, das reglos in der Mitte all dieser Nebelspiralen und Traumgebilde verharrte und mich anstarrte.

Ich dachte daran, mein Wort an die Gestalt zu richten, so wie es Ward versucht hatte, ehe er aus seinem Traum gerissen wurde. Doch war ich unfähig, Worte zu bilden, die mir in der Situation als angemessen erschienen. Ich hatte das absurde Gefühl, als hätte sich etwas Fremdes meiner Gedanken bemächtigt, um mich zu kontrollieren. Das Gefühl war abstoßend und erschreckend, aber auch berauschend, auf eine primitive und widerstandslose Weise.

Und dann – ich wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit ich den Tempel zum zweiten Male betreten hatte – hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die voller und eindringlicher war als alles, was ich bisher in meinem Leben empfunden hatte. Ich erkannte die unvorstellbare, uralte Macht, die dieser Stimme innewohnte. Eine Stimme, die es gewohnt war, zu herrschen. Die führte, und der man nachgiebig folgte.

Doch spürte ich auch die verheerende Verführung, mit der die melodische Stimme meinen Verstand packte und ihn zu seinen Gunsten formte.

Willenlos ließ ich es geschehen und lauschte den Worten wie der großartigsten Melodie, die jemals in meiner Welt von Menschenhand geschrieben worden war. Losgelöst vom eigenen Willen vernahm ich die Worte, die zu hören bereits Charles Ward die Ehre hatte.

»Du bist auserwählt«, dröhnte die Stimme wie ein ganzer Chor in meinen Gedanken. Es schienen Tausende zu sein. »Nur wenigen wird jemals diese Ehre zuteil. Nur besondere Geister besitzen die Gabe, den Worten unserer Welt Gehör zu schenken.«

Die Gestalt schien näher zu kommen, an Größe zu gewinnen. Und doch verringerte sich ihr Abstand nicht. Ich spürte, wie mir die Sinne schwanden, doch etwas – oder jemand – hielt meinen Verstand mit eisernem Griff aufrecht.

»Du hast den Weg in meine Stadt gefunden. Du hast die Straßen berührt und die verborgenen Gärten in ihrer blühenden Pracht betreten. Und du hast den Weg zum Tempel meines Herrn gefunden und zu mir, Nad´naruhl, der da einst Wächter über diese Stadt gewesen, die dich in ihrer Schönheit und Eleganz berührt hat.«

Ein schwaches Echo folgte jedem Wort, das die Gestalt sagte. Es war ein monotones Auf- und Abschwellen, eine Symphonie purer Verlockung und tiefster Versprechen.

»Die Stadt, die du nur des Nachts finden kannst, nennt sich Re´grith Dath. Es ist die Heimstätte der Ältesten, die lange vor euch Menschen und allem Lebendigem auf Erden wandelten. Re´grith Dath ist älter als alles, was du dir in deinem begrenzten menschlichen Verstand vorzustellen vermagst. Einst, in Zeiten, die selbst in den ältesten Legenden in die Nebel der Vergessenheit geraten sind, waren die hellen Straßen erfüllt mit Leben und Lachen. In den Gärten der Paläste hatten die Jüngsten gespielt, und der Duft von Blumen und grünen Bäumen hatte wie ein süßer Hauch über den Dächern der prunkvollen Häuser gehangen und die Lüfte erblühen lassen. Ein jeder hatte in Frieden mit seinem nächsten gelebt, es gab keinen Neid und keine Missgunst, und jedes Paar Augen, in das man blickte, waren die Augen eines Vertrauten. In einer Schrift, die man in deiner schlichten Welt anbetet, wird von einem Ort namens Eden erzählt. Doch dieser Ort, den es nur in eurer schlichten Fantasie gibt – denn zu mehr gereicht die Fähigkeit Eures Geschlechtes nicht – reicht an Würde und Herrlichkeit nicht heran an Re´grith Dath. Hier gab es keinen Hass, keinen Krieg und keinen Tod.

Doch gebietet alles Gute dem Bösen aufzuerstehen. Und so kamen Herrscher von weit jenseits der Dunkelheit und brachen über die Stadt herein. Sie verfinsterten das Leuchten des Himmels und brachten das Lachen in den Gärten zum schweigen und ließen den Glanz in den Augen der Bewohner erlöschen. Schreckliche Untaten zogen wie heißer Sturm durch die Straßen. Unser Volk war zu schwach, sich dem Bösen und der Arglist jener fremdartigen Bedrohung zu stellen.

Re´grith Dath ging unter, in einem gewaltigen Sturm aus Asche, Staub, Schreien und dem triumphalen Geheul der neuen Herrscher. Bis es nur noch totes Schweigen und kalte Stille in den Straßen und Gärten der Stadt gab. Alles Leben wurde ausgelöscht, und nach dem Sturm versank Re´grith Dath in der Schwärze des Vergessens.«

In meinen Gedanken entstanden Bilder schrecklichster Gräueltaten. Ich hörte erbärmliche Schreie von Wesen, die Kinder sein mochten, und das Wehklagen weiblicher Stimmen. Dazu das aufgebrachte, jedoch aussichtslose Gebrüll männlicher Kehlen. Ich sah Rauch über der Stadt, die jeglichen Glanz und die Pracht ihrer Bauten verloren hatte und nur noch einer schwarzen, sterbenden Silhouette vor einem rotglühenden, brennenden Himmel glich.

Ich konnte die Verheerung riechen, die sich stinkend durch die Straßen und Gassen wälzte und nichts verschonte und lebendig zurückließ.

Was war Traum? Konnte man im Traum den Tod riechen? Erlebte man im Traum den Niedergang mit der namenlosen Furcht der Opfer?

Eine eisige Kälte hielt mich gefangen und verwandelte meine Gedanken in düstere, triste Szenarien grausamster Härte. Ich wollte meinen Blick abwenden, fort von dem scheußlichen Schrecken der Vernichtung, die wie ein gewaltiger, schwarzer und tosender Sturm über die Dächer der Stadt hinwegbrauste.

Doch war mein Wille längst nicht mehr der meine. Ich spürte das schattengleiche Wesen stärker als je zuvor in mir; in meinen Gedanken, meinem Körper, selbst in dem kalten Entsetzen, das mich gepackt hatte. Er wollte, dass ich diese Bilder sah. Er wollte mir den grausigen Untergang seines Reiches darbieten und mir all die unsägliche Scheußlichkeit nahebringen, die lange vor dem Beginn der Zeiten seinem Volk zugefügt worden war. Ich sollte teilhaben am Sterben eines lange vergessenen Zeitalters.

Mir schwanden die Sinne, und ich sehnte mich nach dem Erwachen und der Erlösung aus diesem gottlosen Traum. Doch das Wesen hielt mein Denken mit eiserner Kälte in seinem Bann und mich aufrecht, angesichts all jener abstoßenden Bilder, die es mir vorführte.

Dann plötzlich, mit einem letzten Schlag, verhallten das Sterben und die Schreie in meinem Kopf, und die Bilder aus Feuer und Asche verblassten.

Zurück blieben farblose Schemen der schrecklichen Geschehnisse und ein fernes Echo des Gebrülls, bis auch diese verschwanden und eine fast unerträgliche Stille einkehrte, die mein Denken zu zerschneiden drohte. Noch immer hielt mich die Kreatur in ihrem Bann. Eine feine, ferne Melodie erklang, ähnlich dem leisen Flüstern eines Chores. Nur mit Mühe erkannte ich darin die Stimme meines Gegenübers, dessen Worte meinen Verstand wie das stete Rauschen von Meereswellen erfüllten.

»Es gibt einen Weg, das einst stolze und blühende Re´grith Dath ans Licht zu heben. Nur wenigen ist es gegeben, diesen Weg zu bestreiten, und nur die reinsten Geister sind auserwählt, den Weg hinab in das dunkle Grab der Stadt anzutreten. Du hast die Macht, neues Leben nach Re´grith Dath zu bringen und die ewige Finsternis, die unsere Gruft ist, mit Licht zu zerschneiden.«

Plötzlich spürte ich, wie mich die eisige Umklammerung des Schattenwesens losließ. Augenblicklich taumelte ich und stürzte auf den harten Steinboden. Mit verschwommenem Blick sah ich zu dem Wesen auf und bemerkte mit Ehrfurcht und Entsetzen, dass sich das Geschöpf genähert hatte und nun gebieterisch über mir aufragte. Noch immer war es mir unmöglich zu erkennen, ob es sich bei der Gestalt um einen Menschen handelte.

Dann versank mein Verstand wieder im rauschenden Meer der Worte, die das Wesen an mich richtete.

»Du musst die Pforte finden.«

Ich glaubte, eine Erregung innerhalb des Schattenwesens erkennen zu können, ein feines Vibrieren des amorphen Leibes.

»Der Ort in deiner Welt, den du deine Heimstatt nennst, ist ein kosmischer Ort. Jene Herrscher aus fernen Welten und Zeiten, die uns einst besiegten und dem düsteren Schicksal übergaben, begruben unsere Geister sowie die allumfassende Herrlichkeit unseres Gottes tief in der kalten, harten Erde jenes mystischen Ortes und belegten die Pforte mit einem Bannspruch, den nur eine lebendige Stimme brechen kann.« Plötzlich ebbte die Melodie der Gestalt zu einem traurigen Klagelied ab. »Lange blieben die Zeiten still und deine Welt leer. Erstes Leben, das die giftige Luft atmete, blieb stumm und konnte unseren Zwecken nicht dienen. Und so verharrten unsere Geister innerhalb der schweigenden Mauern dieser Stadt und verloren jegliche Hoffnung, dass da einmal der Tag kommen möge, wo lebendige Stimmen deine Welt bevölkerten. Viele von uns verendeten und gaben sich dem Nichts der ewigen Reise durch den Kosmos hin.«

Wieder begann die Gestalt zu erzittern, als versetze sie die pure Erinnerung in zornige Ekstase.

»Doch dann begann deine Gattung, das Menschentum, diesen Planeten zu besiedeln, gesandt von weit jenseits der Grenzen vorstellbarer Orte. Und mit dem Erklingen eurer Stimmen erwachte in den verbliebenen wenigen Geistern der Altzeit die Hoffnung auf Erlösung. Doch war es den ersten aufrechtgehenden Kreaturen deiner Welt nicht vergönnt, die Sprache so zu benutzen, dass man sie als verständlich hätte erklären können. Und wieder befiel unser Volk tiefste Resignation. Viele Zeitalter vergingen und wurden wie ihre Namen vergessen, bis endlich Wesen zu diesem Ort kamen und ihn besiedelten. Doch selbst diesen Lebewesen war es nicht möglich, ihre tierische Sprache zu unseren Gunsten einzusetzen. Erst als sich die Zeiten weiterdrehten und aus den primitiven Tieren die Menschen emporwuchsen, war es uns möglich, in Kontakt mit einigen Auserwählten deiner Spezies zu treten.«

Immer noch lag ich auf der Erde, mir der Demut unbewusst, die ich diesem formlosen Geschöpf entgegenbrachte.

»Gehe und finde die Pforte. Finde den alten Ort, der den Eingang nach Re´grith Dath bildet und den nur die Formel des Rulth´matheth, des obersten Gottes unserer Welt, zu öffnen vermag. Gehe und finde den versteinerten Kreis der alten Bäume, die einst in vergessenen Zeitaltern die Wächter der Pforte waren. Und sprich die Worte des Rulth´matheth, um den Bann der Zerstörer zu brechen und Licht und Leben in die Häuser und Straßen von Re´grith Dath zu bringen.«

Ein tiefes Schaudern ergriff das gestaltlose Wesen, seiner Kehle entrann ein gutturales Stöhnen, das mich an Wollüstigkeit denken ließ.

»Sprich die Worte des Rulth´matheth, die ältesten, sakralen Worte, die einst die obersten Herrscher verwendeten, breche das Siegel jener schauerlichen Horden, die aus fernen Welten einfielen, und öffne die Pforte nach Re´grith Dath.« Plötzlich spürte ich, wie mein Körper von einer ungestalteten Macht ergriffen und aufgerichtet wurde.

Ich ließ es geschehen, als sei es nicht mein eigener Leib, der willenlos gehalten wurde und die Kälte tiefster Furcht und höchster Erregung gleichermaßen spürte.

Und dann, als das Wesen direkt vor mir stand und meine Augen schmerzten ob des gleißenden Scheines, hörte ich endlich und zum ersten Mal jene Worte, von denen Charles Ward in seinem Tagebuch berichtet hatte.

Jene Worte, aus einer Zeit, bevor die Zeiten geboren waren und unsere Welt aus Feuer und Asche bestand.

Jene Worte, von einem Ort weit jenseits jeglicher menschlicher Vorstellungskraft.

Ich schloss die Augen und lauschte der verlockenden Melodie jener uralten, vergessenen Beschwörung, welche den Bann zu brechen vermochte und die Pforte nach Re´grith Dath, der Traumstadt der Ältesten, öffnen würde …


Mike fand den Aufstieg in die dunklen Berge in der darauffolgenden Abenddämmerung ohne Probleme.

Am frühen Mittag hatte er das ›Knights Head‹ aufgesucht, getrieben von einem fast zügellos zu nennenden Begehren und immer noch berauscht von der melodischen, sirenengleichen Stimme Nad´naruhls. Das furchtbare Gefühl, nicht Herr seiner Sinne und seines Leibes zu sein, ließ Mike schwindeln und verlieh ihm doch eine tiefe, unbekannte Haltung, derer er sich als unwürdig erachtete.

Der Schankwirt der Taverne, der sich ihm endlich als Daniel Paxton vorgestellt hatte, war bleich geworden und in seiner massigen Erscheinung zusammengesunken, als Mike ohne weitere Umschweife auf den Grund seines frühen Besuches in der Schankstube zu sprechen kam. In den Augen des Mannes hatte sich ein furchtsames Flackern widergespiegelt, und seine Stimme hatte merklich an Stärke verloren, als er Mike widerstrebend den Weg zu jenem mystischen Ort erklärte, ohne dabei dessen Absichten zu erfragen oder sich nach dem furchtbaren und übermüdeten Erscheinungsbild seines Gastes zu erkunden. Mike war sich nicht sicher gewesen, ob Paxton in diesen Augenblicken ihrer kleinen Unterredung nicht selbst unter dem Einfluss jener seltsamen Gestalt aus dem nächtlichen Traum gestanden hatte. Denn für einen Menschen, der nach eigenen Aussagen noch nie an jenem geheimnisumwitterten Ort in den Bergen verweilt hatte, wusste Paxton erstaunlich genau über den hinter Buschwerk und tiefhängendem Geflecht verborgenen Pfad Bescheid, der hinauf in die Berge und zum Felsplateau führte.

Und so hatte sich Mike mit seinem neu erworbenen Wissen und einer seltsamen inneren Ruhe, die ihn bei Anbruch der Dämmerung befallen hatte, auf den Weg zum Rande des kleinen Städtchens gemacht. Im Schutze der nahenden Dunkelheit, aber auch verborgen im Mantel von Stille und Einsamkeit, war er über eine weite, brachliegende Ebene zu den ersten Ausläufern der Berge gelaufen, wo er auch, wie ihm Paxton prophezeit hatte, des mysteriösen Pfades fündig wurde, den ein unwissendes Auge zwischen zwei nahe beieinanderstehenden Büschen nie entdeckt hätte.

Der Aufstieg gestaltete sich schwieriger als vermutet. Nicht zuletzt der Tatsache wegen, dass immer wieder herabgestürzte Felsbrocken und dichte Dornenranken den schmalen Weg versperrten.

Mike hatte eine große Taschenlampe mit leistungsstarken Batterien eingesteckt und folgte dem bleichen Lichtkegel auf dem Boden, der ihn immer wieder vor losem Geröll und uralten, versteinerten Wurzeln warnte. Einmal offenbarte ihm der Lichtpunkt seiner Lampe gar eine tiefe Grube inmitten des Pfades, die allerdings, folgte er den harten, verkrusteten Rändern des Grabens, bereits vor ungezählten Jahren ausgehoben worden war.

Mike suchte den Grund der Grube, der sich gute fünf Meter unter ihm befand, mit der Taschenlampe ab, konnte allerdings lediglich die verendeten Kadaver etlichen Kleingetiers erkennen, die den Boden mit ihren bleichen Knochenresten bedeckten. Im Stillen dankte er Gott dafür, dass der Schimmer nicht auf die verrotteten Formen menschlicher Überreste gestoßen war.

Es bereitete ihm einige Schwierigkeiten, die Falle – sofern es denn eine solche darstellen sollte – am Rande zu passieren, ohne selbst in das harte Grab hinabzustürzen. Doch als er es endlich nach äußersten Anstrengungen geschafft hatte, verschwendete er keinen weiteren Gedanken mehr an das dunkle Grab und seine Bedeutung. Er hatte immer mehr das Gefühl, von einer Macht getrieben zu werden, die seinem Verstand bei Weitem überlegen war.

Mittlerweile hatten auch die Ränder des Himmels ihre Farbe verloren, und Mike stolperte durch eine einheitliche, schwarze Masse aus Kälte und Stille, die von keinem Mondstrahl oder Sternenlicht erhellt wurde. Lediglich seine Taschenlampe zeigte ihm den Weg direkt vor seinen Füßen und streifte trockenes, vernarbtes Astwerk und verkrüppelte Büsche, sowie bedrohlich erscheinende, schwarze Baumstämme, bar jeglichen Lebens, die ihn stumm zu beobachten schienen und seinen Pfad flankierten.

Das Gefühl, dass seine Schritte in dieser finsteren, schweigenden Umgebung nicht ungesehen blieben, erdrückte Mike. Hinter jedem im Schein seiner Taschenlampe aufflackernden Buschwerk vermutete er die höhnisch grinsende Fratze eines Wesens, wie es nur eine derartige Nacht und ein ebenso düsterer Ort gebären konnten.

Ein kalter, schneidender Wind war aufgekommen und zerrte an seiner Kleidung, die er, wie er sich törichterweise eingestehen musste, zu schlicht und unangemessen gewählt hatte. Er musste die Augen zu schmalen Schlitzen verengen. Dennoch trieb ihn der eisige Hauch, der zwischen den Felsen auf ihn einstach, Tränen über die Wangen, die salzig schmeckten, wenn sie seine Lippen berührten.

Wenn er nach oben in die Dunkelheit blickte, hatte er das beklemmende Gefühl, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um die tief hängende, rauchgleiche Wolkendecke berühren zu können. Er glaubte, groteske Gestalten in diesen Wolkengebilden zu sehen. Schreckliche Dämonen und kreischende Bestien, die einander über den farblosen Himmel jagten.

Mike wusste, dass sein Verstand bis aufs Äußerste angespannt war und er allmählich Opfer von Trugbildern wurde. War es Charles Ward einst ähnlich ergangen?

Diese Erlebnisse erzeugten in seinem Kopf eine lähmende Furcht, die seine anfängliche Ruhe, mit der er den Aufstieg begonnen hatte, als heuchlerisch enttarnte und schnell schwinden ließ. Der Weg wurde steiler und steiniger, das Buschwerk und die kahlen, größtenteils abgestorbenen und gar verbrannten Bäume zu beider Seiten des Pfades spärlicher.

Schließlich schlängelte sich der schwarze Weg durch eine raue, finstere und zerklüftete Felsenlandschaft, die ihm wie stumme, jedoch stets wachsame Wächter erschien.

Die Luft wurde eisiger und erschwerte Mike das Atmen in erheblichem Maße. Immer wieder musste er anhalten und sich auf seinen zitternden Knien abstützen, um wieder zu Luft zu gelangen. Dabei spürte er seine Lungen in kaltem Feuer brennen und sein Herz so laut in seinem Leib schlagen, dass er befürchtete, es versuche sich in Panik einen Weg aus seinem frierenden und niedergekämpften Körper zu graben.

Die bange Frage drängte sich in all ihrer Scheußlichkeit auf, ob er sich, im Angesicht dieser düsteren und bizarren Landschaft, überhaupt dazu in der Lage sah, sich an die archaischen Worte des Nad´naruhl zu erinnern, wenn der Zeitpunkt gekommen war, sie laut auszusprechen. Doch noch schrecklicher plagte ihn die Ungewissheit, was diese uralte Beschwörung bewirken würde. Ward hatte in seiner mit bebender Hand verfassten Niederschrift nicht viel hinterlassen, was Mike als Anhaltspunkt dessen dienen konnte, was ihn erwartete.

Doch den letzten, angsterfüllten Sätzen des Buches zufolge, schienen die Worte des alten Herrschers etwas heraufzubeschwören, das nur schwerlich mit dem menschlichen Verstand vereinbart werden konnte.

Der Gedanke an das, was ihn in dieser apokalyptischen Nacht noch erwarten mochte, ließ seinen Schritt langsamer und seinen Atem quälender werden. Zu guter Letzt stolperte Mike immer öfter über loses Geröll oder spitze, aus dem Fels hervorragende Steine, und robbte nicht selten auf Händen und Füßen über harte Erde und scharfes Gestein, bis seine Finger bluteten und sich der Herzschlag pochend in seine Hände verlagert zu haben schien.

Und dann, als ihn der letzte Rest menschlichen Verstandes bereits zur Umkehr bewog, stolperte er um einen letzten, hoch aufragenden Felsen herum, der wie die Klinge eines gigantischen Messers aus der harten Erde aufragte und majestätisch in die finstere Nacht stach.

Im nächsten Augenblick stand er unvermittelt am Rande des Felsplateaus.

Es kam ganz plötzlich, ohne das Erschallen himmlischer – oder gar höllischer – Hörner, und ohne, dass ihn ein furchtsamer Schrecken packte.

Mit wild schlagendem Herzen und eisigen Tränen in den Augen, starrte er gebannt auf die düsteren Schatten einer riesigen, freien Fläche, die von steinernen, stumm in die Nacht ragenden Kolossen umringt wurde.

Augenblicklich schien das Heulen des Windes in einem fernen Echo zu ersterben.

Zurück blieb das verzweifelte Schlagen von Mikes Herz und das brausende Schreien seines Blutes in seinen eisigen Adern. Die Felsen um ihn herum verschwammen in einem grauen, alles erstickenden Nebel.

Der steinige Boden, die tief hängenden, monströs anheimelnden Wolkenschwaden … alles löste sich in einem Strudel aus Bedeutungslosigkeit auf. Zurück blieb ein frierender und furchtgepeinigter Mann, der unmöglich er selbst sein konnte, so dachte Mike in einem letzten Aufflammen seines Verstandes. Er fand den Gedanken in sich, wie viele Menschen vor ihm diesen mystischen Ort wohl jemals betreten hatten. Doch schwand dieser letzte Fetzen seines Bewusstseins und vereinte sich mit all den Nichtigkeiten dieser Nacht, die der Nebel schluckte. Nichts war mehr von höherer Bedeutung in seinem armseligen Leben.

Olivia, die ihm in dieser Alten Welt genommen wurde und seine kleine, süße Tochter Susan mit sich in die Finsternis ihrer Gräber geführt hatte.

Die grellen und lauten Lichter der Stadt, die einst seine Droge gewesen waren.

Arc´s Hill und das merkwürdige Haus des Reginald Grady, in dem er in Melancholie und Erinnerungen seine letzten und einsamen Tage zu verbringen gedacht hatte.

Charles Ward und sein verfluchtes Tagebuch.

Das ›Knights Head‹ und der wortkarge, massige Schankwirt, den er seit diesem Tag als Daniel Paxton kannte.

All dies existierte in dieser Nacht und an diesem Ort nicht mehr. Er war ein anderer geworden.

Mike befand sich in einer fremdartigen, fernen Welt; einer unbekannten Zeit, die stillzustehen schien, als er auf seinen Beinen, ohne jegliche Empfindungen und ohne das Zutun seines eigenen Willens, in das Zentrum des Steinernen Baumkreises ging.

Langsam …

Schritt für Schritt …

Ohne das geringste Geräusch …

Die Welt war still geworden.

Sie lauerte …

Die Nacht hatte ihr unheimliches Flüstern verloren.

In Zeiten, die sich der menschliche Verstand nicht mehr vorzustellen vermochte, waren diese gigantischen, starren Schatten, die vor Mike in eine unsichtbare Höhe emporragten, einmal junge, blühende Schösslinge gewesen, die zu kräftigen und robusten Bäumen herangewachsen waren, lange bevor erster Atem über die Welt strich.

Doch jetzt, in dieser Nacht, die ewig und Mike als die letzte seiner Existenz erschien, waren sie düstere und stumme Wächter eines Ortes, an dem die Geschicke des Kosmos einst zusammentrafen, und in dessen harter und versteinerter Erde die Geister der gefallenen Herrscher begraben lagen.

Hier, im Zentrum des zeitlosen Zirkels, befand sich die versiegelte Pforte nach Re´grith Dath.

Mike schwanden die Sinne, als er in die Mitte des riesigen Kreises trat. Ihm schien, als versuchte eine unbekannte Macht seinen Leib und seine Seele auszusaugen.

Er stolperte, fiel auf die Knie und spürte kalte, harte Erde unter seinen Händen. Und ein verlangendes, ungeduldiges Beben, das sich kaum merklich durch das Erdreich pflügte.

Waren dies die Sendboten des Wahnsinns?

Hatten sie auch Ward zu sich gerufen?

Als er sich wieder aufrichtete und ein eisiger, lautloser Wind sein Gesicht wie feinste Nadelstiche traf, schloss er die Augen und warf den Kopf in den Nacken, so dass sein Antlitz den über ihm dahinrasenden Wolkenungetümen zugewandt war. Tiefe, gutturale Laute verließen seine Kehle, Speichel tropfte aus seinem Mund. Er schmeckte das bittere Kupfer von Blut auf der Zunge.

Und dann, mit einer rauen Stimme, die nicht seine eigene war, begann Mike die archaischen Worte des Großen Rulth´matheth zu sprechen, die ihn das lichtbeschienene Wesen auf dem Tempelberg gelehrt hatte. Jene uralte Sprache aus den dunklen Gräbern der Welten.

Seine Lippen formten die ältesten Laute des Kosmos. Seiner Kehle entrannen animalische Laute, dem Zischen von Schlangen und dem Knurren wilder Hunde gleich. Auf seiner Stirn bildete sich kalter Schweiß.

Die Laute entstammten nicht seinem Verstand. Sie stiegen aus dem tiefsten Innern seines Daseins empor. Tiefer noch als jedes Denken.

Tiefer als der Grund seiner Seele …

Etwas war in ihm …

Etwas sprach die unheiligen Worte des Rulth´matheth …

Etwas benutzte die Vergänglichkeit seines irdenen Leibes …

Sein Körper bäumte sich in grotesken Bewegungen auf. Seine Gliedmaßen begannen unkontrolliert und tranceartig zu erzittern.

Der Wind flaute auf und fuhr fordernd unter seine Kleidung. Er spürte eiskalte Hände, die nach ihm griffen. Finger, die seinen Leib wie eine Geliebte ertasteten. Tränen und Schweiß liefen gleichermaßen über sein Gesicht. Sein Haar peitschte ihm im Wind ins Antlitz, als hätte es eigenes Leben entdeckt.

Die Augen hielt er geschlossen, doch konnte er spüren, wie etwas geschah. Unentwegt spie er die urzeitlichen Laute in die dunkle Nacht, wieder und wieder. Ihn befiel das Gefühl, sich in bodenloser Leere zu befinden. Es gab keine Zeiten mehr. Keinen Wind. Keine Schmerzen. Kein Oben und kein Unten. Kein Denken …

Etwas zog an ihm.

Etwas bewegte sich.

Er strauchelte, doch seine Augen blieben geschlossen.

Etwas hielt seine Lider geschlossen.

Es war nicht sein eigener Wille. Ebenso wenig, wie es seine eigene Stimme war, die urzeitliche Laute aus seiner Kehle stieß und eine Sprache in die Nacht spie, der nichts Menschliches anhaftete.

Dem wütenden Keifen einer Monstrosität gleich.

Das Gefühl, dass sich der Boden unter seinen Füßen bewegte, ergriff Mike mit schockierender Heftigkeit. Mal wurde sein Fuß nach oben gedrückt, als versuchte sich etwas Gigantisches aus dem Erdreich zu heben. Dann wiederum versank er in einer tiefen Mulde, um gleich darauf wieder in die Höhe gestemmt zu werden.

Er stolperte. Seine Stimme schrie in den Lauten seiner Erinnerungen …

… und endlich öffnete Mike die Augen.

Was er sah, ließ seinen Verstand jene Grenzen erreichen, die blindem, bedingungslosem Wahnsinn gleichkamen.

Immer noch formten seine bebenden, tauben Lippen die archaischen Worte der Ältesten. Ein unentwegter Gesang …

Seine Augen starren derweil voller Entsetzen auf das infernalische Szenario, das sich um ihn herum im Steinernen Baumkreis der ältesten Wächter des Kosmos abspielte.

Die harte, steinige Erde warf sich wie die Wellen eines Meeres in die Höhe, um gleich darauf wieder in dunklen Gräben zu verschwinden. Tiefe, grobe Risse zerpflügten den Boden, aus dem trübe Dampfschwaden in die Nachtluft aufstiegen und sich zu grotesken Formen vereinten.

Tief in den Gruben, die sich sternförmig vom Zentrum des Steinkreises bis hin zu den monumentalen, schwarzen Wächtern zogen, pulsierte ein schwaches, gelbstichiges Glühen, das den Rauchschwaden die kranke Farbe brackigen Sumpfes verlieh.

Mikes Augen, längst jeglichen Verstandes beraubt, betrachteten das schreckliche Schauspiel mit einer morbiden Mischung aus Grauen und perverser Faszination, während seine Ohren der nächsten Sinnestäuschung zu unterliegen schienen. Tief aus der Erde, von jenem Ort, der das abträgliche Leuchten gebar, glaubte Mike das erregte Flüstern von Wesen fern jeglicher Vorstellungskraft zu vernehmen.

Leise und fern. Nicht mehr, als das flaue Wehklagen des Windes.

Und doch verstand er Worte, deren Sinn er nicht kannte und die ihm plötzlich so vertraut erschienen. Die Worte seines Traumes …

Ein Chor triumphaler Seufzer erfüllte die vom aufsteigenden Dampf gelb gefärbte Nacht und sein Denken mit resignierendem Wahn. Ohne Unterlass schrie er weiterhin die unheiligen Worte des Rulth´matheth in die brüllende Nacht hinaus …

Die Erde begann aufzubrechen. Hartes Gestein und stinkender Schlamm wurden in die kalte Finsternis gespien. Etwas versuchte sich aus Jahrtausende altem Fels zu befreien.

Grässliches Krachen und Bersten erfüllte die Luft, vermodertes Erdreich und glühender Stein quollen mit grauenerregender Urgewalt aus dem Boden hervor. Tiefstes, urzeitliches Donnergrollen drang in infernalen Schreien aus dem Schoß der Erde an die Oberfläche empor und ließ die nach Schwefel und Asche stinkende Nacht erzittern. Blitze zuckten, Feuerlanzen gleich, aus dem Innern des Berges. Etwas drückte und schlug in seinem Grab gegen den Erdboden …

Etwas kam …

Und noch immer spie Mikes vom Wahn zerfetzter Leib die antiken Worte der Großen Alten in die teilnahmslose Kälte der Berge hinaus.


Ein Traum ?

Ein immer wiederkehrender, verzehrender, blendender, verderbter Traum?

Oder grauenvolle Realität?

Ich gehe langsam durch die Straßen der Stadt, die ich als Re´grith Dath kennengelernt habe.

Meine Schritte sind schwer, mein Leib ist abgezehrt. Mein Verstand leer und erloschen.

Der Glanz der alten Stadt jenseits der Nacht ist verblasst. Die hohen Averse mit ihren Säulen und Fresken liegen in profaner Dunkelheit verborgen und, die einst blühenden Gärten in tiefster Schwärze begraben.

Die hellen, breiten Chausseen und Alleen gleichen verrotteten, schlammgetauchten Gassen.

Der Himmel weist die schrecklich schwarze Farbe geronnenen Blutes auf.

Der Tempel des Nad´naruhl, hoch oben auf dem Berg, wacht finster und gewaltig über die stille Stadt. Seit ich hier bin, habe ich es nicht gewagt, hinaufzusteigen zu den endlosen Hallen des unheimlichen Wächters.

Ich fürchte das gleißende Licht.

Die beseligende Stimme.

Die verheißungsvollen Worte der ältesten Rasse.

Ich fürchte meine Träume …

Müde gehe ich durch das ewige Schweigen meines Grabes.

Kein Gedanke lenkt mich mehr, kein Schmerz peinigt mich.

Die Nacht meines sterbenden Traumes hält mich gefangen.

Ich weiß jetzt, was Re´grith Dath bedeutet.

Ich kenne die Sprache der ältesten Wesen.

Die Sprache des Großen Alten, des gefangenen Teufels …

Re´gridh Dath … es bedeutet ›Stadt der Toten‹ …

Die Legende von Arc's Hill

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