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Playa de fufu

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Kapitel 2

Versuch 2

Huanita conquistador della playa de fufu ist eine annähernd zahnlose Frau. Als Mitglied eines kleinen autonom lebenden bolivianischen Urwaldvolkes ist sie lange nicht mehr mit der Außenwelt in Berührung gekommen. Ihre Zähne hat sie während einer ausgedehnten Reise verloren. Nicht etwa, weil sie ihr von der Fäulnis geraubt worden wären, nein, ganz im Gegenteil, gesund und kräftig waren sie dazumal, die Zähne von Huanita. Es war das Leben, das sie ihr genommen hat. Eine Verkettung von Ereignissen. Ereignisse, die sie auch tief in den Urwald führten.

Heute ist es ein ruhiges, beschauliches Leben. Ein Leben im Einklang mit der Natur, die, so muss man zugeben, einiges furchtbar Spannendes zu bieten hat. Besonders im Bereich der Katzenartigen. Zu erwähnen wäre hier zum Beispiel die Existenz der drittgrößten Raubkatze der Erde, des majestätischen Jaguar (panthera onca), dem man den Wunsch zu überleben schon lange von den Augen ablesen kann. Er ist Namensgeber eines noblen britischen Automobilherstellers und hat somit seinen Zweck erfüllt. Jetzt kann er nur noch darauf warten sich im Halblicht des Dschungels aufzulösen, wie der Nebel, der ihn auf seinen Streifzügen oft begleitet hat.

Aber zurück zu Huanita conquistador della playa de fufu. Es stellt sich die Frage, was die liebe Signorita Huanita etwa mit dem wilden Jaguar zu tun habe. Nun, es ist die Sehnsucht, die beide aneinander bindet. Die Sehnsucht nach Leben, die Huanita in den Dschungel und den Jaguar an den Rand des Aussterbens gedrängt hat. Eine Sehnsucht, die die Menschen dazu veranlasst, sich die Natur an die kahlen Wände ihrer Häuser zu nageln, um ihnen eine Kälte und Leere zu nehmen, die an den Tod erinnert. So wandern die Bewohner des Dschungels langsam in die Städte und Vororte, die immer mehr zum Dschungel werden und bald mehr gefährdete Arten beherbergen dürften, als der Dschungel selbst. Den Tapir (tapirus terrestris), den Riesenotter (pteronura brasiliensis) oder eben den Jaguar (panthera onca).

Unterbrechung Versuch 2


Irgendetwas scheint mir erheblich zuzusetzen. Blockiert meine Konzentration. Jetzt habe ich doch gerade erst beschlossen, massentauglicher zu schreiben und dann fange ich mit lateinischen Tiernamen an, die wahrscheinlich die drei bis vier Zoologen interessieren werden, die sich unter meiner Leserschaft befinden mögen, sonst aber niemanden. Es fällt mir schwer, die Konzentration zu halten. Mein Geist und mein Körper driften langsam, aber stetig auseinander. Immer mehr leerer Raum schiebt sich dazwischen und es ist zu befürchten, dass die Verbindung über kurz oder lang vollkommen abreißen wird. Ein Seil wäre von Nöten, um beide aneinanderzubinden. Gut, das kann jedem passieren. Ich mache trotzdem weiter. Vielleicht ist es schon morgen leichter. Vielleicht kommt es, das Licht. Es wird mir den Weg weisen und alles wendet sich zum Besseren. Nicht mehr heiß und schwer würde es sich dann anfühlen. Leicht wären die Tage, wie feiner Stoff, durch den man hindurchgreifen könnte, ohne Widerstand, ohne ihn zu zerstören. Ich würde bald die richtigen Entscheidungen treffen und ich würde vorankommen. Irgendwie müsste es schließlich weitergehen. Ob mit oder ohne mich. Das Leben würde weitermachen. Grausam womöglich und ungerecht, aber es würde voranschreiten und daran könnte selbst ich nichts ändern. Es ist der Lauf der Dinge. Egal, wie aussichtslos die Lage, wie verzweifelt die Protagonisten. Weitermachen. Immer weitermachen.

Fortsetzung Versuch 2

Nachdem wir uns einen Überblick der einmaligen Fauna des großen Regenwaldes verschafft haben, kehren wir zurück zu Signorita Huanita conquistador della playa de fufu. Eigentlich heißt sie ja Frederike Wörms. Aufgewachsen im Ruhrpott, absolviert Frederike eine Lehre zur Schweißerin und arbeitet für einige Jahre in einem von Ruß überzogenen, international erfolgreichen Industriebetrieb. Sie schafft es aufgrund ihrer äußerst präzise ausgeführten Schweißnähte zu regionaler Bekanntheit und wird mehrfach nominiert für den »Verschmelzer Impèrial«, den begehrten Oscar der Schweißer-Szene. Trotz ihres beruflichen Erfolges fühlt sich Frederike Wörms innerlich zunehmend leer und schrecklich antriebslos. Sie tritt einer kürzlich gegründeten Selbsthilfegruppe für Schweißerinnen bei und lernt dort Sandra Müller kennen. Nach unzähligen durchzechten Tagen und Nächten sowie einigen pseudopsychologischen Gesprächen über die Bedeutung von Currywurst im urbanen Gesellschaftsgefüge setzt sich langsam aber stetig ein Gedanke in Sandras und Frederikes Köpfen fest, der dem bodenständigen Steuerzahler gleichermaßen unsolidarisch wie bewundernswert erscheint. Die beiden beschließen nämlich, dem tristen und rußig schwarzen Berufsalltag im Pott ein für alle Mal zu entfliehen. Sie kaufen sich ein kleines Boot und an einem besonders düsteren Montagmorgenes muss einer jener Montage gewesen sein, an denen man einfach nur sterben möchtesteigen sie ein und fahren los. Ohne wenn und aber, ohne Reiseversicherung, ohne Ziel und ohne den freundlichen Nachbarn Steffen zu fragen, ob er sich nicht um Smörebröd, den uralten Kater von Frederike kümmern möge. Der wird es schon irgendwie schaffen, denkt sie sich. Ist immer ein harter Knochen gewesen und von allen Katzen in der näheren Umgebung ist er es, der ständig die dicksten Mäuse fängt. Nur beim Kauen hat er schon mit einigen gröberen Problemen zu kämpfen. Nach all den Jahren ist Smörebröd lediglich ein Zahn geblieben. Es ist ein Eckzahn, der ihm bei der Jagd zum Festhalten der Beute dienlich ist, beim Zerlegen derselben jedoch völlig versagt. So muss er, einer Schlange gleich, die Maus in einem Stück hinunterwürgen, was wahrlich keinen besonders schönen Anblick bietet. Bis zu zwei Stunden kann das Spektakel dauern, das aus der Nachbarschaft immer wieder zahlreiche Schaulustige anlockt. Smörebröd windet sich und schnauft, liegt mal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch, zuckt mit den Beinen, dann liegt er still, atmet kaum. Für fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn Minuten oder länger, die Maus immer noch gut sichtbar im Rachen steckend. Oft wurde er für tot erklärt und doch überraschte er die faszinierten Zuschauer stets mit seinem enormen Durchhaltevermögen. Schlussendlich verschwindet die Maus immer im Hals des rötlich getigerten Katers und wenn nur noch die nackte Schwanzspitze des Nagetiers zu sehen ist, wissen die Leute, der alte Halunke hat es wieder einmal geschafft. Sogar das Fernsehen war schon öfters da, um dem Ereignis beizuwohnen. »Der Schlangenkater aus dem Pott«, lautete der reißerische Aufmacher des regionalen Senders, der die Story gleich an drei aufeinanderfolgenden Tagen in den Abendnachrichten brachte. Auch ein Angebot aus Amerika gab es bereits. Ein Zirkus am Stadtrand von Las Vegas wollte Smörebröd in sein Programm aufnehmen. Die Amerikaner würden ihn lieben, schwärmte der Zirkusdirektor entzückt und bot keine schlechte Summe für den alten Haudegen. Frederike wusste allerdings, dass das aufregende und hektische Zirkusleben Smörebröd nicht allzu gut bekommen würde, ist er doch von Natur aus faul und liebt es, in Ruhe gelassen zu werden. Auf Reisen würde er diese Ruhe niemals finden und so ist es für den bequemen Kater vermutlich auch das Beste, zurückzubleiben, um weiterhin den Mäusen in der Nachbarschaft nachstellen zu können. Eines Tages wird er ersticken, das ist so sicher, wie das Amen im Gebet. Irgendwann wird jene Maus kommen, die ihm ebenbürtig ist. Sie wird ihm im Halse stecken bleiben und sein Schicksal wird besiegelt sein. Doch dieses Schicksal ist fern und ungewiss. So ungewiss wie das Abenteuer, das Sandra und Frederike in der Ferne erwartet.

Zunächst geht es eine Weile die Ruhr hinunter. Sie lassen sich einfach treiben und leben wie junge Vögel unbeschwert in den Tag hinein. Das Wetter ist schön, die Temperaturen meist angenehm. Es ist Mitte Mai. Binnen kurzer Zeit erreicht das Boot der Abenteurerinnen die Ruhrmündung und setzt seine Fahrt im wesentlich größeren Rhein fort. Beeindruckt vom mächtigen Strom werden die beiden Damen demütig, gleichzeitig jedoch auch ein klein wenig ehrgeizig und sie beschließen, dem Verlauf des Rheins bis zur Mündung in die Nordsee zu folgen und anschließend Kurs aufs offene Meer zu nehmen. Zu lange haben sie sich durch Regeln und Einschränkungen, nervige Arbeitszeiten, seelenlose Vorgesetze und das generelle Alkohol- und Rauchverbot während der laufenden Schweißarbeiten massiv unterdrücken lassen. Jetzt wollen sich Sandra und Frederike ihre Freiheit vehement zurückerkämpfen. Von nun an soll es keine Grenzen mehr geben. »Ich bin die Königin der Welt«, schreit Frederike, am Bug tanzend, aufs weite Wasser hinaus und träumt voll Hoffnung und Leidenschaft einem halluzinogenen Sonnenuntergang entgegen, der wie eine Droge ihre Emotionen manipuliert. »Und ich anscheinend der Idiot vom Dienst!«, kommt prompt die Antwort von Sandra, die sich genervt mit der Reinigung Frederikes dreckiger Wäsche herumplagt.

Es vergehen Tage voll Wonne und Müßiggang. Die beiden lassen sich treiben vom glitzernden Wasser, vom säuselnden Wind und von ihren Träumen, die in jenen Tagen von der Hoffnung auf ein anderes, ein erfüllteres Leben geprägt sind. Lediglich die Schmutzwäsche und die einseitige Ernährung, die hauptsächlich aus Dosenmais und Punschglasur besteht (eine abartige Vorliebe von Sandra, die für die Besorgung des Proviants zuständig war), sorgt langsam für erste Spannungen.

Um endlich mehr Abwechslung in den Speiseplan zu bekommen, beginnt Frederike schließlich selbst Fische zu fangen und trocknet diese nach einem alten Familienrezept ihrer Tante Hannelore, die sich in den letzten zwanzig Jahren nur noch von würzigem Trockenfisch ernährt hatte und unglaubliche Blutwerte aufwies. Ihr Hausarzt meinte unlängst, sie habe mehr Omega-3-Fettsäuren im Blut als ein Grizzly zur Lachszeit.

Am Schiff hängen die gefangenen Fische bald an allen Masten und Stangen, die der kleine Kutter zur Verfügung hat und die silbernen Schuppen der Fische glänzen dekorativ in der Sonne, wie abertausende kleine Spiegel, von denen jeder eine Geschichte erzählen könnte, vom Leben, wie es sich unter der Oberfläche zuträgt. Neben der optischen Aufwertung des Bootes machen sich bald die ersten negativen Auswirkungen der fischigen Dekoration bemerkbar. Riesige Schwärme von Möwen, diversen anderen Seevögeln und Fliegen schweben erwartungsvoll, einer dunklen Wolke gleich, über dem Schiff. Anfangs zeigt das Getier noch eine gewisse naturgegebene Scheu und hält Abstand. Es dauert jedoch nicht besonders lange und die ausgehungerte Meute stürzt wie ein schwarzer Felsbrocken auf das Schiff herab. Dunkelheit bricht herein. Schon nach wenigen Minuten verschwindet auch der letzte Fisch – es ist eine Makreleim Schnabel einer fettleibigen Möwe, die ein hämisches Grinsen im Gesicht zu tragen scheint. Einen Augenblick später wird sie von Frederike mit einem Ruder und den Worten »Drecksau, elendige« erschlagen. Das Grinsen, das die Möwe noch vor Kurzem im Gesicht getragen hat, scheint im Augenblick ihres Todes auf Frederike übergesprungen zu sein. Als wären sie über den Tod hinaus verbunden. Als würde sie in Frederike weiterleben. Als würde die Welt immer wieder aufs Neue in allem und jedem weiterleben. Sandra schlägt vor, die Möwe auf den Grill zu schmeißen und sie anschließend mit Punschglasur zu überziehen. Frederike sagt Ja zum Grill und Nein zur Punschglasur.

Eineinhalb Stunden später sitzen die beiden vollkommen entspannt vor dem unansehnlichen Gerippe des Seevogels, der wohl, wie so manch anderer, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war und der Sandras Einschätzung nach selbst ohne Punschglasur wahrlich exquisit gemundet habe, wenn er auch etwas voluminöser hätte sein können. Zufrieden und einigermaßen satt gehen die zwei Ex-Schweißerinnen zu Bett. Erneut war es ein Tag voller unvergesslicher Erlebnisse und in jeder Faser ihrer kantigen Schweißerinnenkörper fühlen Sandra und Frederike, dass die Entscheidung, aufs Boot zu gehen, richtig war.

Während der Nachtstunden, ganz still und leise, nahezu unspektakulär, verlässt das Schiff den Rhein und gleitet in die Nordsee. Als Sandra und Frederike am nächsten Morgen an Deck kommen, befinden sie sich bereits auf offener See und inhalieren wie Medizin den Duft des Meeres, den nur die Natur so fein abstimmen konnte in all seinen salzigen Nuancen. Sie sind fasziniert von der scheinbar endlosen Weite der Wasserlandschaft. Auf der Landkarte hat die Nordsee nicht besonders groß ausgesehen. Welchen Eindruck wird erst der gewaltige Ozean hinterlassen? Gar nicht auszumalen.

Irgendwann ist es dann soweit. Der Atlantik breitet sich vor ihnen aus. Ein endloses Blau, das so dunkel und kräftig ist wie nichts, was sie zuvor je gesehen haben. Nicht einmal die Rindssuppe von Frau Honsi, der ehemaligen Hauswirtschaftslehrerin von Sandra, war derart dunkel und Frau Honsi war vielerorts bekannt für ihre kräftige Rindssuppe. So dunkel war sie, dass man den Grund des Tellers nur erahnen konnte. Sobald man den Löffel eintauchte, war dieser auch schon verschwunden und man hatte das Gefühl, als wäre der Stiel des Löffels das einzige, was man in der Hand hielt. Es wird erzählt, drei Bauarbeiter, die den Schulhof neu asphaltieren sollten, waren einst zum Mittagessen in Frau Honsis Klasse zu Gast. Als sie die Suppe vorgesetzt bekamen, weigerten sie sich zunächst, diese zu essen, da sie der Meinung waren, ihr Vorarbeiter hätte sich einen Scherz erlaubt und Teer aus der Asphaltier-Maschine mitkochen lassen. So dunkel könne doch keine Suppe sein, hieß es einstimmig. Erst als die Kinder anfingen zu essen, taten dies auch die Bauarbeiter. Sie waren überwältigt vom vorzüglichen Geschmack. Noch nie hatten sie eine derart gute Suppe gegessen.

Auch Sandra und Frederike sind überwältigt. Mit starrem Blick versuchen sie, die Tiefe des Ozeans zu durchdringen, mit dem Ziel, eine Schwachstelle zu finden, die die eigene kümmerliche Existenz rechtfertigen würde, angesichts dieser Perfektion. Als ihre Augen gesättigt sind und stumpf und nichts mehr aufsaugen können, weder Weite, noch Tiefe, noch Blau, wollen die beiden Seefahrerinnen ihren aktuellen Standort bestimmen. Mit Kompass und Seekarte ermitteln sie ihre Position und beginnen, spontan in Richtung Portugal zu manövrieren. Ihr Ziel ist Lissabon. Dort wollen sie Proviant aufnehmen, um den Atlantik zu überqueren und, wie einst die Konquistadoren, im fernen Amerika eine neue Heimat zu finden.

Zwei Stunden später ist alles anders. Das Schiff gerät in einen heftigen Sturm, der scheinbar nicht mehr aufhören will. Ganze drei Wochen lang wird es hin und her geworfen. Mal schwimmt es verkehrt, mal scheint es halb gesunken, dann droht es zu zerbersten. Als der Sturm endlich vorübergezogen ist, hat er die Träume, die Sandra und Frederike beflügelt hatten, einfach mit sich fortgerissen. Ihre Körper fühlen sich kalt und leer an und lediglich der Rumpf ihres Bootes ist vom Unwetter einigermaßen verschont geblieben. Der Rest ist von der aufgepeitschten See weggespült worden. Mit ein paar losen Planken bauen sie sich in den nächsten Tagen einen Unterstand, um der gewebefressenden Sonne auf offener See zu entkommen. Die zahlreichen Maisdosen und den Wasservorrat haben sie zum Glück nicht ans Meer verloren und so ist das Überleben gesichert.

Nach weiteren drei Wochen fangen die Halluzinationen an. Ob es an der einseitigen Ernährung, am ständigen Wellengang oder der erbarmungslosen Strahlungsenergie jenes Himmelskörpers lag, den die beiden irgendwann nur noch als Reaktor bezeichnen, lässt sich im Nachhinein nicht mehr genau beurteilen. Vermutlich ist es von allem ein bisschen. Zunächst bildet sich Frederike ein, sie sei ihr Kater Smörebröd und fordert Sandra auf, ihr alle Zähne mit einer Kneifzange, die sie an Bord gefunden hat, zu ziehen. Nur einer ganz vorne sollte übrig bleiben, genau wie bei ihrem alten Kater. Sandra erscheint das alles recht vernünftig und nur zwei Stunden später hat sie sich aus Frederikes Zähnen und einem Faden ihres zerrissenen T-Shirts eine Halskette geknüpft, die an das Leben und den Tod gleichermaßen erinnert. In den folgenden Wochen verstümmeln sich die zwei Frauen gegenseitig, spielen erfolgreiche spanische Seifenopern nach und fragen sich, wo zum Teufel nur die große Hoffnung geblieben ist, die die Reise angeblich mit ihnen angetreten haben soll.

Dann geraten sie erneut in einen Sturm. Er ist noch heftiger als der letzte und treibt das Schiff vor sich her wie trockenes Laub, das jeglichen Halt in der Welt verloren hat. Auf und ab, drunter und drüber. Mitten in der tiefsten, finstersten Nachtsie ist annähernd so finster, wie die klare Suppe von Frau Honsipassiert es dann. Eine riesige Welle bringt das Boot unwiderruflich zum Kentern und Sandra und Frederike werden einfach davongespült. Hinaus in die Dunkelheit, hinaus in die Welt.

Frederike ist die erste, die am nächsten Morgen wieder langsam zu sich kommt. Die beiden Frauen liegen wie auf den Rücken gefallene Junikäfer am hellen Sandstrand einer kleinen, mit Muscheln und Einsamkeit übersäten Bucht. Bewegungsunfähig wie umgestoßene Statuen, wie Sandburgen, die der Witterung kaum etwas entgegenzusetzen hätten. Weiter hinten stehen vereinzelt Palmen, die sich langsam mit anderen Bäumen mischen und in einen dichten dschungelartigen Wald übergehen. Es ist warm. Dicker Nebel, der in seinem Erscheinungsbild an Rauchschwaden erinnert, zieht vom Wald her Richtung Strand. Vollkommen desorientiert und mit kaum zu ertragenden Schmerzen im Mundraum beginnt Frederike sich langsam aufzurichten. Sie wendet sich Sandra zu. Diese liegt regungslos im Sand. Muscheln haben sich bereits an ihre Extremitäten geheftet, in der Hoffnung, der Körper würde bald sein knöchernes Skelett freigeben und ein neues Riff formen, irgendwo am Meeresgrund. Sie stupst ihre Freundin mit einer Zehe an und flüstert : »Thandra, Thandra wach auf!« Frederike wundert sich, warum es ihr nicht mehr gelingen mag, ein simples S richtig auszusprechen und versucht es erneut : »Thandra, Thandra, Thandra!« Verdammt, denkt sie sich und tastet zunächst mit der Zunge und dann mit den Fingern ihren Mundraum ab. Es fühlt sich komisch an. Plötzlich beginnt Sandra zu zucken und zu wimmern. Frederike packt sie an den Schultern und dreht sie auf den Rücken. Auch Sandra sieht mitgenommen aus, ansonsten scheint sie aber nicht weiter verletzt zu sein. Schließlich fällt Frederikes Blick auf Sandras neue Halskette, die an eine Zahnprothese erinnert, und ihre schreckliche Vermutung wird zur grausamen Realität. Beinahe gelähmt vor Verzweiflung schafft sie es nicht, den Blick von den sauber aufgefädelten Zähnen abzuwenden. Unweigerlich muss sie an die harten Jugendjahre denken, in denen ihr eine riesige Apparatur, die einem Vogelkäfig ähnelte, den Kiefer spreizte und einen Schatten ins Gesicht und in die Seele warf. Die tröstenden Worte des Zahnarztes, der meinte, sie sollte doch froh sein, dass der Schatten ihr unsymmetrisches Gesicht verberge, ließen Frederike in eine noch tiefere Depression fallen.

Auch Sandra kommt langsam zu sich. Sie hat schreckliche Kopfschmerzen und mit den Gefühlsregungen von Frederike weiß sie momentan überhaupt nichts anzufangen. »Frederike, beruhige dich, um Himmels willen! Sag mir lieber, was wir jetzt machen sollen!« Frederike, die, aufgrund ihrer Sprachprobleme, nur noch das Nötigste sagt und jedes S zu vermeiden sucht, meint : »Feuer, mich friert!«

Sie machen sich auf, um Feuerholz zu sammeln und begeben sich zum nahen Waldrand, wo Bäume und Meer seit Langem ineinander wachsen. Dort fällt ihnen bald auf, dass zahlreiche Meerschweinchen die Bucht bevölkern. Sie sind überall. Auf den Palmen, in den Kokosnüssen und sogar im Meer. Sind ja auch Meerschweinchen, denken sich die beiden und beschließen, einige besonders dicke und altersschwache Exemplare, denen der Tod ohnehin schon aus den Poren kriecht, zu erwürgen, um sich endlich eine Mahlzeit zuzubereiten. Frederike, die seit dem Zahnverlust gezwungen ist, die Nahrung im Ganzen zu schlucken, erinnert sich an die unmanierliche Technik ihres alten Katers Smörebröd und windet sich während des Schluckvorganges wie eine Schlange im weichen Sand. Oft genug hat sie Smörebröd dabei beobachtet und irgendwie scheint es auch bei ihr gut zu funktionieren. Erschöpft und satt schlafen beide ein.

Am nächsten Morgen wachen sie früh auf. Sie sind neugierig und wollen den Regenwald erkunden. Planlos irren sie herum. Stundenlang – vielleicht sind es auch Tageversuchen sie, den Ausgang zu finden, doch einen Ausgang scheint es nicht zu geben. Überall nur Wald, Insekten und das Gefühl, von allen Seiten permanent unter Beobachtung zu stehen. »Der Wald ist die Heimat der Fliegen und Vagabunden«, hat Frederikes Tante Gundula immer gesagt. Ihr Mann war Förster und eines Tages nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt. Sie vergoss keine Träne, da sie längst wusste, er würde irgendwann dort bleiben. Sprach man sie darauf an, meinte Gundula beiläufig: »Das Leben gibt, das Leben nimmt!« Wie recht sie doch hatte, stellt Frederike fest und lässt in Gedanken die schönen Augenblicke Revue passieren, die sie auf ihrer Reise bisher erlebt haben. Es wäre nur fair, würde sie der Wald jetzt auch holen, wie er vormals ihren Onkel geholt hatte. Das Abenteuer war erlebt, eine Steigerung kaum noch möglich. Das Leben gibt, das Leben nimmt.

Eines Morgens, Resignation steckt den beiden tief in den Knochen, werden sie von vertrauten Geräuschen aus dem Schlaf gerissen. Es scheinen Trommelschläge zu sein, die aus der Ferne durch den Dschungel hallen. Neugierig machen sich Sandra und Frederike auf den Weg, um den Ursprung der rhythmischen Trommelei zu ergründen, die ihnen, inmitten des wirren Gesanges der Urwaldvögel, wie das Schlagen eines menschlichen Herzens erscheint. Vom vertrauten Leben angezogen, kämpfen sie sich tapfer durch dichtesten Urwald, überqueren kleinere und größere Bäche, die warm sind wie Blut und wie Lebensadern den Wald und seine Bewohner versorgen. Sie wandern auf einen Berg, der am höchsten Punkt unbewaldet ist und den Blick über eine grüne Welt preisgibt. Wald. Soweit das Auge reicht, nichts als Bäume. Wenn es einen Platz gibt auf der Welt, an dem man sich jeden Tag aufs Neue verlieren kann, dann haben sie ihn hier gefunden. Alle paar Meter ritzen sie Markierungen in die Stämme, um im Notfall den Weg zurückzufinden.

Nach einer gefühlten Unendlichkeit wird der Wald lichter und die beiden rasten schließlich am Rand einer ausgedehnten Lichtung. Im Zentrum erspähen sie eine kleine Ansammlung von Hütten. Schnell sind sich beide einig, Kontakt mit den Bewohnern aufnehmen zu wollen. Sie verlassen den Schutz der Bäume, schälen sich mühsam heraus aus Blättern, Ranken und Zweigen und spazieren langsam auf das Zentrum der Lichtung zu.

Bald erreichen sie die ersten Hütten und marschieren unbeirrt weiter in Richtung Dorfplatz, wo sich das gesamte Leben abzuspielen scheint. Eine Gruppe älterer Frauen ist mit feinen Stickarbeiten beschäftigt, während ein paar Männer gerade dabei sind, an der Feuerstelle Meerschweinchen zu erschlagen und für die nächste Mahlzeit vorzubereiten. Das Meerschweinchen scheint einen sehr hohen Stellenwert im Dorfleben zu genießen. Die meisten Männer und Frauen tragen überdimensionale Gesichter, die an Meerschweinchen erinnern und aus denen Geräusche dringen von Nagetieren und von Idiotie. Es sind Gesichter, die der Mensch seit jeher trägt. Gesichter, die die moderne Zivilisation so erfolgreich zu verbergen weiß, dass ihre Existenz nur noch aus Erzählungen abgeleitet werden kann. Gesichter, die eine Verbindung darstellen, zwischen Mensch und Natur. Eine Verbindung, die bei den Menschen im Dschungel noch stark ist und unverbraucht. Sandra und Frederike können diese Verbindung spüren, als sie zwischen den Hütten hervortreten und auf den Dorfplatz spazieren. Unter der Dorfbevölkerung bricht Panik aus. Die Frauen und auch manche Männer laufen wild schreiend durch die Gegend. Ihre Angst überträgt sich auf die Schweißerinnen, die wie versteinert stehenbleiben. Eine Gruppe mutiger Dorfkrieger greift indes zu den Waffen und stellt sich Sandra und Frederike entschlossen entgegen. Es ist ein Aufeinandertreffen von Menschen, die sich in ferner Vergangenheit getrennt und in unterschiedlichen Welten entwickelt haben. Mehrfach waren sie sich im Laufe der Geschichte begegnet und selten war es gut ausgegangen. Diesmal ist es anders. Wenn Sandra und Frederike von etwas eine Ahnung haben, dann sei hier wohl das Schweißen angeführt. Auch Menschen könnten geschweißt werden. Das Prinzip bliebe dasselbe. Es müssten lediglich Verbindungspunkte geschaffen werden, die beide Seiten aneinanderheften. Selbstverständlich stellte dies, wie jede Schweißarbeit, kein leichtes Unterfangen dar. Zunächst müssten sämtliche Eitelkeiten fallengelassen werden und Eitelkeiten gibt es zuhauf dieser Tage. Manche Eitelkeit ist dermaßen groß, dass der Mensch, der sich dahinter verbirgt, gar nicht mehr als solcher zu erkennen ist. Dies mag jetzt unglaublich klingen, aber in manchen Straßenzügen sind längst keine Menschen mehr zu finden. Wo früher die Bewohner der Stadt wandelten, schieben sich heute Eitelkeiten dünnhäutig aneinander vorüber. Wehe da, die eine Eitelkeit stößt an die andere. Es könnte kaum etwas Schlimmeres passieren. Schrill und splitternd schreien sie dann, die Eitelkeiten. Wie im Kirchenchor, nur tausendmal so falsch. Auch Sandra und Frederike schreien sich gemeinsam mit ihren indigenen Bekannten die Eitelkeiten aus dem Leib, bis nur noch der pure Mensch übrig bleibt. Und der pure Mensch, der versteht sich. Der pure Mensch kennt keine Sprachbarriere, der kennt keine kulturelle Divergenz. Mit einem Mal ist kein verbaler Austausch mehr von Nöten, um die Gedanken seines Gegenübers auszulesen. Zahlreichen Schrecken der Weltgeschichte liegen unglaubliche Missverständnisse zugrunde, die vermeidbar gewesen wären, hätten sich die Menschen rechtzeitig ihrer ausufernden Eitelkeiten entledigt. Es ist immer dasselbe. Die ganze Welt eine einzige Eitelkeit, die ganze Welt ein einziges Missverständnis.

Als pure Menschen voll Weltweisheit stehen sich Sandra, Frederike und die Dorfbevölkerung nun gegenüber. Ohne Dekoration, ohne Missverständnisse, ohne Eitelkeit, ohne Angst. Ganz deutlich offenbart sich ihnen das Leben des jeweils anderen. Sandra und Frederike erkennen die schicksalhafte Verbindung, die die Dorfbewohner mit den Meerschweinchen eingegangen sind. Das Meerschweinchen ist ihre Religion, ihre Identität, ihre Lebensgrundlage. Die beiden erkennen auch, dass diese Lebensgrundlage bedroht ist. Dass seit Langem schon schwarzer Ruß, wie Sandra und Frederike ihn aus ihrer Fabrik kennen, auf den Pflanzen des Waldes zu finden ist und die Meerschweinchen daran zugrunde gehen. »El morte negro« wird er von den Dorfbewohnern genannt. Einen paradiesischen Ort solle es geben, der vom Ruß verschont geblieben sei. Eine Bucht, in der die Schweinchen vom Meer heraussteigen würden, wie es immer schon geschehen ist. Unter den harten Schalen der Kokosnüsse, so erzählt man sich im Dorf, wachse kein Fruchtfleisch, sondern ein Meerschweinchen heran. Die Nüsse würden platzen, seien die Schweinchen reif. Niemandem aus dem Dorf sei es bislang gelungen, zum Meerschweinchenstrand, zur »Playa de fufu« durchzudringen.

So wie Sandra und Frederike im Leben der Dorfbewohner lesen, eröffnet sich auch der Dorfbevölkerung der Weg der beiden Schweißerinnen über den Atlantik. Es entschleiert sich deren Flucht vor dem Alltäglichen, es zeigt sich die Hoffnung, die auf dieser Flucht verloren ging und es offenbart sich die »Playa de fufu«, die direkt vor den Schweißerinnen aus dem Nebel aufgetaucht war. Beide Seiten wissen sofort, dass sie sich gegenseitig helfen können. Dass eine kleine Geste der Freundschaft ausreichen würde, um dem Schicksal aller eine positive Wendung zu verleihen. Und so führen die beiden ehemaligen Schweißerinnen ihre indigenen Begleiter an jenen Strand, an dem Schweine noch aus dem Meer steigen oder aus Kokosnüssen in die Welt schlüpfen. Im Gegenzug werden Sandra und Frederike in den darauffolgenden Wochen ins Dorfleben integriert. Sie bekommen vom Dorfältesten neue Namen verliehen. Sandra heißt jetzt Raquel conquistador della playa de fufu und Frederike hört von nun an auf den Namen Huanita conquistador della playa de fufu, in Anlehnung an ihre große Mithilfe bei der Entdeckung des Meerschweinchenstrandes, der dubiosen »Playa de fufu«.

Tragisch ist, dass die Weltweisheit, von der Dorfbewohner und Schweißerinnen gleichermaßen kosten durften und welche es ihnen erlaubte, ohne Worte zu kommunizieren, selten für immer währt. Sieht man sich nicht vor, läuft man schnell Gefahr, von neuen Eitelkeiten ummantelt zu werden, die jegliche Weltweisheit ersticken. Auch Sandra und Frederike sind bald gezwungen, den speziellen spanischen Dialekt des Dorfes zu erlernen, da die Eitelkeit zurückkehrt und mit ihrer Rückkehr die Fähigkeit verschwindet, in den Gedanken der Mitmenschen zu lesen. Frederike ist jetzt froh, nur noch einen Zahn zu besitzen, da ihr Lispelproblem im Spanischen einen großen Vorteil im Hinblick auf die korrekte Artikulation mit sich bringt. Nach nur einem Jahr beherrscht sie den Indio-Dialekt akzentfrei, während Sandras Aussprache noch einen starken Einschlag aus dem Ruhrgebiet aufweist.

Die beiden Schweißerinnen haben eine lange Reise hinter sich. Ein Reise, die an einem Montagmorgen ihren Anfang nahm. Es war einer jener Montage, an denen man einfach nur sterben möchte. Ende.

Hüttenkoller

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