Читать книгу Christine Bernard. Der Fall Siebenschön - Michael E. Vieten - Страница 6
ОглавлениеDie Verhaftung
Die Klinke wurde mehr heruntergeschlagen als gedrückt. Die Bürotür flog auf.
Erschrocken zuckte Christine Bernard zusammen.
„Guten Morgen. Kommen Sie mit.“
Das war keine Frage, das war ein Befehl. Noch bevor der wachsende Unmut darüber in ihr weiter aufsteigen konnte, beruhigte sich Kommissarin Bernard schon wieder. Der gute Ton macht die Musik und den hatte der Kollege Hauptkommissar getroffen. Lässig, gut gelaunt. Es war also kein Befehl, es war eine Einladung.
Torsten Kluge stand mit einer Hand an der Klinke vorgebeugt in der Tür, zog sich mit der anderen Hand am Türrahmen wieder zurück und war bereits verschwunden, bevor Christine Bernard etwas erwidern konnte.
Wehmütig ließ sie ihren halb geleerten Becher Kaffee stehen und folgte Hauptkommissar Kluge, der bereits zum wiederholten Mal nervös die Ruftaste des Aufzugs drückte und auf seine Armbanduhr schaute.
Kurz bevor Christine Bernard ihrem Kollegen den Vorschlag unterbreiten wollte, die Treppe zu nehmen, hatte die Aufzugkabine die Etage erreicht. Mit einem leisen Ping zogen sich die Türen auf und Jörg Rottmann trat heraus.
„Morgen. Kaffee fertig?“, flachste er und grinste seine junge Kollegin frech an. Dann klopfte er seinem Freund und Kollegen auf die Schulter und machte den Weg frei.
Christine Bernard und Torsten Kluge fuhren mit dem Aufzug hinunter und stiegen in ihren Dienstwagen. Er links, sie rechts. Noch bevor seine Kollegin sich fertig angeschnallt hatte, brauste Hauptkommissar Kluge vom Gelände und erzwang sich energisch seinen Platz im fließenden Verkehr. Wenige Minuten später trat der starke Motor im äußerlich unscheinbaren Dienst-Audi kräftig an und zog den schweren Wagen mit leicht überhöhter Geschwindigkeit über die Autobahn in Richtung Abfahrt Reinsfeld.
„Wohin fahren wir?“
Torsten Kluge räusperte sich.
„Drohnscheid. Vermisstenanzeige. Die Frau eines Landwirts wurde seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen.“
„Wegen einer durchgebrannten Ehefrau fahren wir da raus?“
„Nicht nur deswegen. Es werden auch die sechs Kinder vermisst. Außerdem habe ich ganz in der Nähe um zehn Uhr einen Termin im Amtsgericht Hermeskeil. Aussage im Fall Breuer. Das war vor Ihrer Zeit im K1. Körperverletzung mit Todesfolge. Die Kollegen von der Streife waren richtig froh, als ich ihnen anbot, in Drohnscheid vorbeizufahren. Die sind im Moment etwas dünn besetzt.“
‚Gar nicht dumm‘, dachte Kommissarin Bernard.
Sein Aufwand hielt sich in Grenzen, und auf diese Weise zahlte Hauptkommissar Kluge auf das Gefälligkeitskonto bei den Kollegen von der Streife ein und hatte Einen gut bei ihnen.
Das Gehöft oder das, was davon übrig war, lag etwas versteckt außerhalb des kleinen Hunsrück-Dorfs Drohnscheid. Kollege Kluge musste zweimal umkehren und im Ort Passanten nach dem Weg fragen.
Christine Bernard hätte an seiner Stelle das eingebaute Navigationsgerät bemüht, aber Männern beim Autofahren Ratschläge zu erteilen fruchtete selten. Also geduldete sie sich, bis Hauptkommissar Kluge den Audi endlich vor einem halb verfallenen Gebäude auf einem matschigen Hof abstellte.
Vorsichtig versuchten beide, ihre Schuhe auf dem Weg zum Hauseingang so sauber wie möglich zu halten. Aber schon nach wenigen Schritten war klar, es gelang nicht. An Christine Bernards hellen Sportschuhen haftete bereits dunkelbraune Matsche und ein kurzer Blick auf Torsten Kluges schwarze Halbschuhe bewies, dass er auch nicht besser auf diesen Ausflug aufs Land vorbereitet war als sie.
Leise fluchend stapften sie auf den Hauseingang zu, vor dem ein alter, blauer Ford Escort Kombi abgestellt war. Ein kurzer Blick auf das Kennzeichen genügte. Das Fahrzeug war noch zugelassen und die Hauptuntersuchung lag erst wenige Monate zurück.
Eine Klingel gab es nicht. Also klopfen. Keine Reaktion. Hauptkommissar Torsten Kluge klopfte noch einmal. Diesmal energischer.
„Herr Schröder, hier ist die Polizei. Machen Sie auf. Wir wissen, dass Sie da sind. Ihr Auto steht vor der Tür.“
Christine Bernard deutete soeben an, um das Haus herum auf die Rückseite des Gebäudes gehen zu wollen, da hörten sie schlurfende Schritte auf die Tür zukommen und wie jemand kräftig die Nase hochzog.
Hartmut Schröder riss die Tür auf und stand breitbeinig im Hauseingang.
„Was wollen Sie? Hat mich das Arschloch schon wieder angezeigt?“
Ein modriger Geruch vermischt mit dem Gestank nach Hundekot, Zigarettenrauch und einer feinen Note Cannabis schlug den Kommissaren Bernard und Kluge entgegen. Sie hielten Hartmut Schröder ihre Dienstausweise entgegen, doch der warf nicht einmal einen kurzen Blick darauf.
Christine Bernard konnte sich nicht erinnern, jemals eine so heruntergekommene Gestalt gesehen zu haben. Schlecht geschnittene, fettige schwarze Haare umwucherten ein ungepflegtes bärtiges Gesicht mit einem beinahe zahnlosen Mund. Dabei war der Mann gerade mal zwischen vierzig und fünfzig Jahren alt. Sein genaues Alter war in diesem verwahrlosten Zustand kaum zu schätzen. Kein Wunder, dass diesem Mann die Frau davongelaufen war.
Torsten Kluge gewann als Erster seine Fassung zurück.
„Herr Schröder, dürfen wir reinkommen? Wir würden gerne mit Ihrer Frau sprechen.“
„Die ist nicht da“, keifte Schröder zurück. „Deswegen hat dieses dumme Schwein mich ja angezeigt. Nicht wahr? Ist doch so. Weil er sie jetzt nicht jeden Tag beglotzen kann. Dem hau ich in die Fresse, wenn ich ihn erwische.“
Hauptkommissar Kluge trat einen Schritt vor, in den Hausflur hinein.
„Das ist sicher keine gute Idee, Herr Schröder.“
Hartmut Schröder wich zurück und protestierte. „He, was soll das? Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?“
Gelangweilt von immer dem gleichen Spruch, wenn jemand der Polizei keinen Zutritt gewähren wollte, antwortete Torsten Kluge: „Wir durchsuchen ja nicht, wir gucken nur.“
Verblüfft von Hauptkommissar Kluges Schlagfertigkeit gab Hartmut Schröder ihm den Weg frei.
Christine Bernard betrat ebenfalls das Haus und drückte die Tür hinter sich zu.
„Bitte, nach Ihnen.“
Keinesfalls wollte sie diesen Kerl hinter sich wissen.
Torsten Kluge betrat den ersten Raum, der links von dem im Halbdunkel liegenden Hausflur abging. Es war die Küche. Durch die völlig verdreckten Fenster konnte er den Dienstwagen auf dem Hof stehen sehen. Die hölzernen und ehemals weißen Fensterrahmen waren morsch und teilweise mit Moos besetzt. In der Küche bot sich ein Anblick der totalen Verwahrlosung.
Essensreste in diversen Gefäßen standen auf dem Tisch, auf der alten Anrichte und in der Spüle. Dort stapelten sich schmutziges Geschirr, Besteck, Töpfe und Pfannen. Von all dem stieg der Geruch von Schimmel, Ungeziefer und Verwesung auf. Der ursprüngliche Bodenbelag war nicht mehr zu erkennen. Er war stark verschlissen, teilweise nicht mehr vorhanden und auf den Resten haftete irgendeine undefinierbare braunschwarze, klebrige Masse. An den Wänden und an der Decke blühte schwarzer Schimmel. Torsten Kluge spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Wie konnten Menschen nur so leben?
„Was glotzen Sie so? Muss halt mal aufgeräumt werden. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich es fein gemacht“, spottete Hartmut Schröder gereizt.
„Deswegen sind wir nicht hier.“
Torsten Kluge wollte sich nur so kurz wie möglich in diesem Haus aufhalten und trieb zur Eile.
„Wo befinden sich Ihre Frau und Ihre Kinder?“
„Die sind im Urlaub.“
„Wo?“
„In Holland.“
„Wo genau dort?“
„Am Meer.“
„Herr Schröder, so kommen wir nicht weiter. Geben Sie mir die genaue Adresse.“
„Die weiß ich nicht. Meine Frau wollte sie mir mitteilen, wenn sie dort angekommen ist.“
„Dürfen wir uns im Haus einmal umsehen?“
An der augenblicklich veränderten Mimik seiner Kollegin las der erfahrene Hauptkommissar schmunzelnd ab, dass sie diese Frage von ihm bereits befürchtet hatte. Denn nun mussten sie sich den Rest dieses Elends auch noch ansehen.
„Wozu soll das gut sein. Ich sage Ihnen doch. Meine Frau ist mit den Kindern im Urlaub.“
Torsten Kluge verlor langsam die Geduld mit diesem sperrigen Kerl.
„Das reicht mir aber nicht. Entweder wir dürfen uns jetzt kurz umsehen oder ich rufe die Kollegen und wir stellen das ganze Haus auf den Kopf.“
Genau genommen war Hauptkommissar Kluges Drohung ein Bluff. Denn ohne verdachtserhärtende Gründe hätte ein Richter keine Durchsuchung im großen Stil angeordnet. Nur weil jemand den momentanen Aufenthaltsort seiner Familie nicht kannte, konnte man ihm nicht irgendein Verbrechen unterstellen. Aber das wusste Hartmut Schröder natürlich nicht. Also willigte er zähneknirschend ein. Zumindest deutete Hauptkommissar Kluge Hartmut Schröders Rückzug aus der Küche so. Beide gingen hintereinander den dunklen Flur entlang, weiter in das Haus hinein. Hartmut Schröder voran.
Vor einer geschlossenen Tür, gegenüber einer Treppe, die in das obere Stockwerk führte, bemerkte Torsten Kluge einen deutlichen Verwesungsgeruch und lockerte unauffällig seine Pistole im Schulterholster. Nun war er hoch konzentriert. Auch seine Stimme klang verändert. Sehr bestimmend, kalt.
„Stopp. Wohin geht es hier?“
Hartmut Schröder machte auf dem Absatz kehrt und versuchte, die Tür zu verstellen.
„Nur eine Kammer. Für Wäsche und so ’n Zeugs. Gehen wir besser nach oben. Dort sind die Zimmer der Mädchen.“
„Treten Sie beiseite. Ich will da hineinsehen.“
Torsten Kluge führte die rechte Hand unter der Jacke an seine Waffe und drückte mit der linken Hand die Türklinke nach unten. Dann gab er der Tür einen Schubs. Sie schwang knarrend auf und gab den Blick in das Halbdunkel eines kleinen Raumes frei. Fliegen flogen auf und surrten durch den Raum. Der Verwesungsgestank nahm dem Hauptkommissar den Atem. Ohne Hartmut Schröder aus den Augen zu lassen, tastete er nach einem Lichtschalter.
Eine mit Staub und Fliegendreck verschmutzte Glühbirne leuchtete den Raum mühsam aus. Doch was es dann zu sehen gab, löste einen Würgereiz bei Torsten Kluge aus. Angewidert wich er abrupt einen Schritt zurück und trat dabei seiner Kollegin auf die Füße, die dicht hinter ihm gestanden hatte.
Diesen Augenblick der Überraschung nutzte Hartmut Schröder und verschwand in einem Raum am Ende des Flurs. Mit einem lauten Knall schmiss er die Tür hinter sich ins Schloss und verriegelte sie von innen.
Christine Bernard und ihr Partner zogen ihre Dienstwaffen aus den Holstern und näherten sich der Tür.
„Herr Schröder, machen Sie keinen Unsinn. Öffnen Sie die Tür und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.“
Torsten Kluge wartete die Reaktion auf sein Kommando nicht ab. Er wusste, Hartmut Schröder würde eher irgendeinen Scheiß tun, anstatt ihm Folge zu leisten. Stattdessen flüsterte der Hauptkommissar seiner Kollegin zu: „Sie bleiben hier und sichern die Tür. Ich laufe um das Haus herum und verhindere, dass er abhaut.“
Ein kurzes Nicken der jungen Kommissarin reichte ihm und er lief an ihr vorbei aus dem Haus heraus.
Erst jetzt riskierte Christine Bernard einen Blick in den kleinen Raum hinter sich, aus dem der klebrige Gestank des Todes drang. Ihre Kleidung würde sie wegwerfen müssen. Dieser süßliche Geruch ließ sich nicht herauswaschen. Und selbst wenn doch, sie würde ihn trotzdem beim Anblick dieser Kleidungsstücke immer wieder wahrnehmen und sich an diesen grauenhaften Anblick erinnern. Voller Ekel unterdrückte sie ihre Übelkeit. Im fahlen Licht der Glühbirne lag ein großer toter Hund in einer eingetrockneten Blutlache auf dem Boden. Ein mit Blut verschmierter Spaten lag neben seinem Schädel und sein Fell bewegte sich leicht im Dämmerlicht. Würmer.
Da sie in diesem schrecklichen Haus keinesfalls etwas anfassen wollte, ließ Kommissarin Bernard das Licht an und die Tür geöffnet. Um sich diesem widerlichen Anblick zu entziehen, machte sie einige Schritte auf die verriegelte Tür zu und rief: „Herr Schröder. Was ist mit Ihrem Hund passiert? Kommen Sie da heraus und erzählen Sie es mir. Hören Sie mich? Herr Schröder?“
Aus dem Raum hinter der Tür erklang ein quietschendes Geräusch. Zunächst wusste Christine Bernard nicht, was es zu bedeuten hatte, aber dann war es ihr klar. Hartmut Schröder hatte einen der beiden alten Fensterflügel geöffnet. Er wollte fliehen.
Nach zwei kräftigen Tritten in Höhe des Schlosses sprang die Tür auf. Mit der Pistole im Anschlag sicherte die junge Kommissarin den Raum, bevor sie an das Fenster stürmte und ebenfalls aus dem Haus sprang.
Um das Haus herum wucherten Sträucher. Der flüchtende Hartmut Schröder war aus Christines Blickfeld verschwunden. Hastig setzte sie ihm nach. Äste schlugen ihr ins Gesicht und rissen an ihrer Kleidung. Beinahe wäre sie über Dornengestrüpp gestolpert, welches sich um ihre Füße schlang.
Dann trat sie aus dem Gebüsch hervor und sah ihren Kollegen mit der Waffe im Anschlag Hartmut Schröder gegenüberstehen. Schröder hatte etwas Langes, Hellbraunes in der Hand. Irgendein Werkzeug. Es sah aus wie eine Axt.
Langsam gingen die beiden aufeinander zu. Aufgebracht brüllte Hartmut Schröder dem Hauptkommissar irgendetwas Unverständliches entgegen. Torsten Kluge hingegen versuchte, Hartmut Schröder auf eine besänftigende Art zum Aufgeben zu bewegen.
„Herr Schröder, beruhigen Sie sich. Lassen Sie uns in Ruhe über alles reden.“
Hartmut Schröder ging weiter auf Kluge zu.
„Bleiben Sie jetzt stehen oder ich schieße.“
Der Hauptkommissar hob seine Waffe in die Luft und feuerte einen Warnschuss ab. Doch Hartmut Schröder war schon bei ihm, schlug mit seiner Axt zu und traf Torsten Kluge an der Stirn. Der Hauptkommissar sackte augenblicklich zusammen.
Nur noch ein paar schnelle Schritte, dann war Christine Bernard bei ihrem Kollegen und sah in sein blutüberströmtes Gesicht. Hartmut Schröder hatte die Axt fallen gelassen und war davongelaufen. Die junge Kommissarin hörte, wie er sich hinter ihr durchs Unterholz kämpfte.
Erst jetzt bemerkte sie, dass Hartmut Schröder nur den Schaft der Axt für seinen Hieb benutzt hatte. Der scharfe, stählerne Kopf zum Spalten von Holzscheiten fehlte.
Torsten Kluge stöhnte. Blut tropfte ihm aus den Haaren. Er hatte eine große Platzwunde über der Stirn.
„Rufen Sie Verstärkung. Der Typ ist gefährlich.“
Christine Bernard sprang auf, rannte zum Dienstwagen und forderte Rettungskräfte und Kollegen zur Unterstützung an. Dann band sie ihre langen schwarzen Haare mit einem Haargummi zu einem Zopf zusammen, rannte an Torsten Kluge vorbei, der sich soeben leise stöhnend aufrichtete, und nahm die Verfolgung von Hartmut Schröder auf.
„Lassen Sie das. Nicht verfolgen. Warten Sie auf die Kollegen. Machen Sie keinen Unsinn“, rief Hauptkommissar Kluge seiner Kollegin hinterher.
Sie hatte auch nicht vor, Unsinn zu machen. Aber wenn sie auf die Verstärkung warten würde, wäre Hartmut Schröder auf und davon. Schließlich kannte der sich hier aus. Aber er war unbewaffnet und stellte in ihren Augen keine große Bedrohung dar. Vorausgesetzt, sie machte nicht den gleichen Fehler wie Kluge und ließ diesen aggressiven Mann zu nahe an sich herankommen.
Lauschend schob sich Christine Bernard hinter Hartmut Schröder durch das Unterholz. Vor ihr knackten Äste. Er war also immer noch in Bewegung.
Jetzt zahlte es sich aus, dass sie wochenlang der Trauer um ihre Eltern und um Frank und all ihrer Wut und Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit davongelaufen war. Jeden Morgen und jeden Abend. Bis zur Erschöpfung. Sie war fit. Trainiert von unzähligen Kilometern Dauerlauf.
Hartmut Schröder hatte offenbar die Fluchtrichtung geändert. Das Knacken trockener Äste kam plötzlich aus einer anderen Richtung. Nun schien er in einem weiten Bogen zurück auf seinen Hof zu laufen. Das war aus seiner Sicht nicht dumm. Der Hof war von offenem Gelände umgeben. Wiesen, abgeerntete Getreidefelder und Äcker. Wo sollte er sich da verstecken? Aber die großen Gebäude und Schuppen auf seinem Hof boten tausend Winkel für einen Unterschlupf.
Christine Bernard wollte ihm zuvorkommen und lief zurück zum Haus. Sie sah Torsten Kluge auf der Beifahrerseite im Dienstwagen sitzen und sich ein Tuch an den Kopf halten. Er blickte nicht auf, als sie über das Grundstück sprintete, hin zu der Stelle, von der sie glaubte, dass Hartmut Schröder bald dort auftauchen würde.
Doch er war nicht dort. Auch aus dem Unterholz waren nun keine Geräusche mehr zu hören. War er etwa schneller gewesen, als sie dachte?
Plötzlich hörte sie hinter einem zusammengebrochenen Silobehälter ein dumpfes Geräusch. Sofort änderte sie die Richtung und schlich sich an den Haufen Gerümpel heran.
Dieser Hof hatte seine besten Tage schon lange hinter sich. Überall lag Unrat herum. Schrott, Gerätschaften, zerfallendes und umgestürztes Mauerwerk. Auf einer angrenzenden Wiese standen zwei verrostete Traktoren, ein Ladewagen, ein PKW und ein Heuwender im meterhohen Gras. Unkraut bahnte sich seinen Weg durch die Blechgerippe. Ein kleiner Baum wuchs durch das Dreschwerk eines Mähdreschers hindurch. Überall rostete und rottete es vor sich hin.
Aus dem Gebäude hinter dem zusammengebrochenen Silobehälter erklang ein schabendes Geräusch. Jemand zog etwas über den Boden.
Christine Bernard beeilte sich, so leise wie möglich die Stelle zu erreichen. Dabei musste sie höllisch aufpassen, wohin sie ihre Füße setzte. Überall lagen verfaulte Bretter mit hervorstehenden Nägeln herum. Verrostete, scharfkantige oder spitze Metallteile lugten aus dem Unkraut hervor. Brennnesseln, Gras und Jakobs-Kreuzkraut reichten ihr bis zur Hüfte. Holundersträucher und Riesenbärenklau überragten sie bis zu zwei Meter hoch. Ein Stück rostiger Draht hielt ihren Fuß zurück. Darüber wäre sie beinahe gestolpert. Mühsam und leise fluchend fand sie ihr Gleichgewicht wieder.
Eine Seitenwand des Gebäudes war zum Teil nach außen gestürzt und gab den Blick in das finstere Innere frei. Dort könnte einmal ein Kuhstall gewesen sein. So genau kannte sich Christine Bernard in landwirtschaftlichen Dingen nicht aus. Aber die großen Tränken und die Geländer mit ihren dicken Rohren, die ein Dutzend breite Boxen voneinander trennten, deuteten darauf hin. Allerdings machte der Stall auf Kommissarin Bernard nicht den Eindruck, als wäre er in näherer Vergangenheit noch benutzt worden.
Der Mist war am Boden festgetrocknet und stank nicht mehr. Das Stroh sammelte sich schmutzig und grau in den Ecken. Über dem Stall gab es ein weiteres Stockwerk, wo früher Getreide oder Heu und Stroh gelagert wurden.
Nachdem sich die Augen der jungen Kommissarin an das Halbdunkel in dem alten Gebäude gewöhnt hatten, wagte sie einen Schritt hinein. Mit der Dienstwaffe im Anschlag versuchte sie, möglichst lautlos den Raum zu durchqueren. Überall, besonders vor den verschmutzten Fenstern und von der Decke, hingen verstaubte Spinnweben mit Insektenkadavern herunter. Viele Möglichkeiten sich zu verstecken gab es hier nicht. In der Wand am Ende des Stalls befand sich eine aus Brettern zusammengenagelte Tür. Aber wenn Hartmut Schröder dort hindurchgegangen wäre, hätte sie ihn noch sehen müssen, als sie von außen einen Blick in das Gebäude geworfen hatte.
Sie war ihm dicht auf den Fersen. Hartmut Schröder hatte das Gebäude erst kurz vor ihr betreten. Also? Wo war er hin? Nach oben? Aber wie? Es gab zwar eine Luke in der Decke, aber sie sah keine Leiter, mit der man hätte hinaufsteigen können.
Christine erinnerte sich an das schabende Geräusch vor ein paar Sekunden und versuchte es zuzuordnen. Vielleicht hatte Hartmut Schröder eine bis dahin angelehnte Leiter nach oben gezogen, nachdem er damit auf den Dachboden geklettert war? Sie musste schnell einen anderen Weg nach oben finden.
Gedämpft hörte Kommissarin Bernard das Gedudel von Martinshörnern. Der Rettungswagen für den verletzten Kollegen Kluge und ihre Verstärkung waren vor Ort. Sie beschloss, zu warten und sich ruhig zu verhalten. Hartmut Schröder könnte versuchen, die noch verbleibende Zeit bis zum Eintreffen der Kollegen dazu zu nutzen, unbemerkt wieder vom Heuboden herunter zu klettern. Dann würde sie ihn hier unten empfangen.
Wenn es noch einen anderen Fluchtweg für Hartmut Schröder gab, als die Luke in der Decke, lief er womöglich den Beamten in die Arme, die jetzt hoffentlich gleich über das Grundstück ausschwärmten.
Christine Bernard verhielt sich weiterhin still und lauschte. Kein Laut war zu hören. Hartmut Schröder sollte denken, sie hätte das Gebäude wieder verlassen. Aber nichts geschah. Kein Hartmut Schröder fiel auf ihre Täuschung herein. Stattdessen arbeiteten sich zwei Beamte auf das Loch in der Mauer zu. Christine Bernard konnte ihre gedämpften Stimmen hören. Abgestorbene Pflanzenreste unter ihren Füßen knackten und knisterten. Dann sah sie das erste Gesicht. Eine junge Kollegin. Stumm gab die Kommissarin der Polizeimeisterin zu verstehen, dass sie diesen Raum sichern sollte, während Christine Bernard sich durch die Tür am Ende des Stalls weiter vorarbeitete. Vielleicht fand sie einen anderen Weg nach oben. Wenn Hartmut Schröder noch dort war, war ihm der Weg hinunter in den Stall durch die junge Kollegin nun versperrt.
Nach ein paar lautlosen Schritten stand Christine Bernard vor der Holztür und drückte vorsichtig die verrostete Klinke herunter. Diese gab ein leises Quietschen von sich, welches sich für die Kommissarin in der angespannten Stille wie ein lautes Kreischen anhörte.
Sanft drückte sie gegen die Tür, doch sie bewegte sich nicht. Abgeschlossen? Verklemmt? Sie versuchte es noch einmal. Die Tür gab einen Zentimeter nach. Mehr nicht. Weiter ließ sie sich nicht öffnen.
Kommissarin Bernard entschied sich für die „Methode der rohen Gewalt“, trat einen Schritt zurück und verpasste der altersschwachen Tür einen kräftigen Tritt. Augenblicklich versank ihre Umgebung in einem lauten Getöse. Staub wirbelte auf. Morsches Holz zerbröselte, Stücke davon sprangen umher. In dem Raum hinter der Tür splitterte Glas, Metall quietschte, irgendetwas polterte über den Boden. Flüssigkeit lief aus. Es roch plötzlich süßlich, fruchtig. Zu sehen war nichts. Es war stockdunkel in dem Raum hinter der Tür und das schwache Tageslicht aus dem Stall reichte nicht einmal über die Türschwelle hinweg.
Christine Bernards Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie spürte ihren Puls im Hinterkopf. Die junge Kommissarin war bis aufs Äußerste angespannt und versuchte vergeblich, die Dunkelheit mit ihren Augen zu durchbohren, um irgendetwas zu erkennen. Aussichtslos. Sie musste sich überwinden und nach einem Lichtschalter tasten. Sie schwor sich, in Zukunft immer eine kleine Taschenlampe am Körper zu tragen. Dieser Trip hier reichte ihr jetzt schon.
Vorsichtig, mit der Dienstwaffe in der rechten Hand, tastete Christine Bernard mit ihrer anderen Hand die Wand neben der Tür ab. Sie spürte Mörtel unter ihren Fingern, Spinnweben, ein Kabel.
Lichtschalter befanden sich gewöhnlich in der Nähe einer Tür. Sie betete, dass sich die Handwerker beim Bau dieses Hauses daran gehalten hatten.
Hatten sie. Kommissarin Bernard tastete mit ihrer Hand an dem Kabel entlang und fand einen altertümlichen Drehschalter. Sie betätigte ihn. Auch in diesem Raum hatte es für mehr als eine vergammelte Glühbirne, die mühsam den Raum ausleuchtete, nicht gereicht. Und doch war Christine Bernard dankbar für diese einsam von der Decke baumelnde Beleuchtung, ohne die sie den Raum nicht hätte durchqueren können, um an eine weitere Tür an der gegenüberliegenden Wand zu gelangen.
Vor ihr lagen ein umgestürztes, verrostetes Metallregal, allerlei Hausrat, Werkzeuge, Schachteln mit Schrauben und Nägeln und geborstene Einmachgläser mit Früchten und Gemüsen, deren Inhalt sich auf dem Boden der Vorratskammer verteilt hatte. Ein paar Pfirsichhälften glänzten ihr orangegelb entgegen. Der Rest war undefinierbar. Sie glaubte, zerteilte Pflaumen und irgendwelche Pflanzenreste zu erkennen.
Christine Bernard atmete tief durch und schaute hinter sich in das bleiche Gesicht der jungen Polizeimeisterin. Die gab ihr mit Handzeichen zu verstehen, alles okay, nix passiert. Weiter geht’s.
Dieser Raum war offenbar eine Verbindung zum Haus. An den Wänden waren Bretter befestigt. Darauf standen Gläser, Kisten, Kartons und Schachteln mit ähnlichem Inhalt, wie er jetzt vor Christine Bernards Füßen lag. Mit dem umgestürzten Metallregal hatte Hartmut Schröder die Tür zum Stall verstellt. Wahrscheinlich war die Tür sogar verschlossen gewesen. Aber Kommissarin Bernards kräftigem Fußtritt hatte das verwitterte Holz des Türrahmens offenbar nicht standhalten können.
Ihrem Orientierungssinn nach müsste die nächste Tür in den dunklen Hausflur führen. Schräg gegenüber sollte dann die Wäschekammer mit dem toten Hund sein. Unmittelbar machte sich bei dem Gedanken an den Anblick des Kadavers Übelkeit in ihr breit. Christine Bernard schluckte einmal und atmete das Gemisch aus dem Gestank nach Moder und Einmachfrüchten tief ein. Andere Luft gab es nun mal gerade nicht.
Dann setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen und trat in die klebrige Flüssigkeit am Boden. Beinahe wäre sie ausgeglitten, als sie eine glitschige, graubraune Masse übersah und mit ihrem Schuh darauf trat. Der aufsteigende Geruch erinnerte sie entfernt an Zwetschgen.
Die nächste Tür war unverschlossen. Langsam drückte sie die Klinke nieder und zog an der Tür. Ein leises Knarren, dann wurde die Tür plötzlich kräftig aufgestoßen.
Überrascht und erschrocken trat Christine Bernard einen schnellen Schritt zurück. Trotzdem schlug das Türblatt heftig gegen ihre Stirn und sie blickte in die Mündung einer Dienstpistole. Dahinter das Gesicht eines nervösen Kollegen von der Schutzpolizei. Sofort hob sie ihren Zeigefinger an die Lippen und gab dem Polizeihauptmeister die Gelegenheit, die Situation zu begreifen und zu verstehen, dass er sich ruhig verhalten sollte. Er ließ die Waffe sinken und schien sichtlich erleichtert, als er seine Kollegin erkannte. Kommissarin Bernard massierte mit der freien Hand ihre Stirn. Der Polizeihauptmeister zuckte mit den Schultern und bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, mit dem er seine Kollegin um Verzeihung bat. Beide atmeten für ein paar Sekunden durch und entspannten sich. Aber der Verwesungsgestank des Hundekadavers zwang sie dazu, das Haus für einen Moment zu verlassen und sich flüsternd zu beraten.
„Polizeihauptmeister Schröder. Sorry, aber ich dachte, es wäre dieser Schröder.“
„Schon gut. Sind Sie mit dem hier verwandt?“
„Um Gottes willen, nein.“
Christine Bernard rieb sich noch einmal die kleine Beule an der Stirn. Sie tat schon nicht mehr weh. Offenbar sorgte das Adrenalin in ihrem Blut für ein abgesenktes Schmerzempfinden. Umso besser.
„Sie bleiben weiterhin hier unten und sichern diese Etage. Ich gehe rauf und suche ihn. Er war bisher unbewaffnet, aber trotzdem: Vorsicht. Vielleicht hat er eine Waffe im Haus versteckt.“
„Okay.“
„Wie viele Kollegen sind hier?“
„Wir sind zu viert. Zwei sichern das Gelände um das Haus.“
„Dann los.“
Kommissarin Bernard und Polizeihauptmeister Schröder betraten wieder das Gebäude. Umgehend schlug ihnen der schon bekannte Gestank entgegen.
In der Mitte des Flurs führte eine Treppe in das obere Stockwerk. Polizeihauptmeister Schröder blieb unten stehen. Christine Bernard stieg vorsichtig die Stufen hinauf. Ein leises Knarren bei jedem Schritt auf den ausgetretenen Holzstufen ließ sich nicht vermeiden. Wenn Hartmut Schröder sich mittlerweile im oberen Geschoss seines Hauses aufhielt, wusste er nun, dass jemand heraufkam. Mit der Pistole im Anschlag sichernd stieg Kommissarin Bernard Stufe für Stufe empor. Bereit, auf jede Änderung der Situation sofort und konsequent zu reagieren. Doch sie kam unbehelligt in einen Flur, der genau über dem unteren lag. Links und rechts führten offenstehende Türen in weitere Räume.
Polizeihauptmeister Schröder stieg nun ebenfalls mehrere Treppenstufen hinauf und sicherte Christine Bernards Rücken.
Wenn es eine Verbindung dieser Etage des Hauses mit dem Heuboden gab, konnte hinter jeder Ecke Hartmut Schröder auf sie warten. Doch das musste sie riskieren. Sie konnten nicht einfach warten, bis Hunger und Durst ihn heraustrieben.
Möglicherweise war er auch gar nicht mehr im Gebäude. Um das herauszufinden, gab es nur einen einzigen Weg. Diese Etage sichern. Das war jetzt ihre Aufgabe. Und das möglichst ohne Schaden dabei zu nehmen. Na dann, entschlossen voran.
Wie man es ihr beigebracht hatte, begann sie damit, einen Raum nach dem anderen zu durchsuchen, ohne sich überrumpeln zu lassen oder Hartmut Schröder die Gelegenheit zu geben, hinter ihrem Rücken über den Flur zu entwischen, während sie sich in einem der Zimmer befand.
Vorsichtig und leise, mit der Dienstpistole in beiden Händen ihrem Blick folgend, durchsuchte sie das erste Zimmer.
Die Tür war komplett geöffnet, niemand stand dahinter. Kommissarin Bernard sah ein Ehebett. Darauf ein Haufen zerwühlte Bettdecken. Zwei Nachttische. Ein halbhohes Bücherregal. Eine Truhe, zu klein für einen Menschen. Ein Kleiderschrank, eine Tür stand offen. Herzklopfen.
Vorsichtig öffnete sie mit einer Hand die zweite Tür. Die andere Hand hielt etwas zittrig vor Aufregung die Dienstwaffe. Christine Bernard begann an den Händen und unter den Achseln zu schwitzen.
Im Schrank war niemand. Nur Damenkleider auf Bügeln, zwei Jacketts und ein Mantel.
Ein kurzer Blick unter das Bett und aus dem verschlossenen Fenster. Im Hof parkten ihr Dienstwagen, ein Rettungswagen und die beiden Fahrzeuge der Kollegen. Christine Bernard lauschte. Kein Laut im Haus. Weiter.
Der Dielenboden vor dem zweiten Zimmer knarrte unter ihren Füßen. Erschrocken blieb sie einen kurzen Moment stehen und biss sich auf die Unterlippe.
Ein Kinderzimmer. Verstreutes Spielzeug. Offene Regale. Niemand hinter der Tür. Unter dem Bett lag ein Koffer. Fenster geschlossen. Sonst war nichts zu sehen. Und weiter.
So schnell wie möglich, so gründlich wie nötig. Die eigene Sicherheit steht immer im Vordergrund. So hatte man es ihr beigebracht.
Im nächsten Raum, ungefähr in der Mitte des Flurs, gab es eine drei Stufen hohe Treppe zu einer Tür in der Wand gegenüber der Zimmertür.
Da war er. Der Zugang zum Heuboden. Hartmut Schröder war entweder noch hinter dieser Tür oder bereits wieder im Haus bei Christine Bernard, in einem der von ihr noch nicht durchsuchten Räume.
Ihr Herz klopfte wieder heftig. Ihre Hände schwitzten stark. Die Dienstwaffe wurde an ihren ausgestreckten Armen immer schwerer.
‚Ganz ruhig, Chris‘, beruhigte sie sich selbst und gestattete sich für einen kurzen Augenblick, die Dienstwaffe in die linke Hand zu nehmen und die andere Handfläche an ihrer Jeans trocken zu wischen. Wie beim Turnen, früher in der Schule, zog sie ihre Arme kurz an den Körper heran und schüttelte sie abwechselnd aus.
‚Du kriegst das hier hin‘, beschwor sie sich selbst und ließ ihren Blick über die Gegenstände im Raum gleiten. Ein Bett, niemand darunter. Niemand hinter der Tür. Offene Regale. Bücher. Puppen. Schmuckdosen. Eine Kommode mit Schubladen. Ein Tisch vor dem geschlossenen Fenster. Daran stand ein einzelner Stuhl. Hier war niemand. Was nun? Rauf auf den Heuboden oder die Räume hier weiter durchsuchen?
„Wir bleiben hier“, flüsterte sie sich selbst lautlos zu und trat in den Flur hinaus. Plötzlich hörte sie ein metallisches Quietschen. Sprungfedern! Das große Schlafzimmer! Das Ehebett! Mit wenigen schnellen Schritten lief sie den Flur zurück vor das Schlafzimmer. Auf dem Bett lag der Haufen Bettdecken und er sah anders aus als vorher.
„Kommen Sie da raus! Mit erhobenen Händen! Herr Schröder! Raus aus dem Bett!“, schrie Kommissarin Bernard ihre Kommandos durch den Raum und zielte mit der Dienstwaffe auf die Bettdecken.
Polizeihauptmeister Schröder hatte die Aktion der jungen Kommissarin beobachtet und stand bereits hinter Christine Bernard im Flur. Er sicherte weiterhin das Haus in ihrem Rücken. So konnte sie sich ausschließlich auf das konzentrieren, was vor ihr geschah.
„Ziehen Sie die Bettdecke von sich herunter! Ich will Sie sehen! Sofort!“
Kommissarin Bernards Stimme peitschte derart durch den Raum, dass sie selbst davon beeindruckt war. Quälend langsam bewegte sich Hartmut Schröder unter den beiden Bettdecken. Mühsam, mit vor Schmerz verzogenem Gesicht zog er sie beiseite und blickte Christine Bernard an.
„Sie sehen aus wie meine Frau.“
„Kommen Sie da runter und legen Sie sich auf den Boden. Hände auf den Rücken. Los, machen Sie schon.“
Ächzend wälzte sich Hartmut Schröder aus dem Bett. Sein stark blutender Fuß kam zum Vorschein.
Während Kommissarin Bernard weiter ihre Dienstwaffe auf Hartmut Schröder richtete, beobachtete sie konzentriert jede seiner Bewegungen. Keinesfalls sollte ihr das Gleiche passieren wie ihrem Kollegen Kluge, ermahnte sie sich immer wieder selbst.
Hartmut Schröder legte sich stöhnend vor ihr auf den Boden. Polizeihauptmeister Schröder trat hinter seiner Kollegin hervor, drehte ihm die Arme auf den Rücken und ließ die Handschellen einrasten. Kommissarin Bernard steckte die Dienstwaffe zurück in ihr Gürtelholster und setzte sich auf die Bettkante. Erst jetzt bemerkte sie, wie erschöpft sie war. Langsam fiel die Anspannung von ihr ab.
„Herr Schröder, ich verhafte Sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und weil Sie meinen Kollegen angegriffen haben. Sie können sich einen Anwalt nehmen. Wir nehmen Sie jetzt mit. Sie dürfen die Aussage verweigern, wenn Sie sich damit selbst belasten. Haben Sie das verstanden?“
Hartmut Schröder stöhnte, nickte bestätigend und blieb mit den Händen auf dem Rücken gefesselt am Boden liegen.
„Was ist mir Ihrem Fuß?“
„Ich bin in ein Stück Metall getreten.“
„Ich sage den Sanitätern Bescheid. Der Kollege bleibt bei Ihnen.“
Hartmut Schröder hatte sich offenbar auf seiner Flucht verletzt. Kein Wunder, bei dem Gerümpel, das hier überall herumlag. Die stark blutende Wunde musste höllisch schmerzen. Das hatte ihn also daran gehindert, sich vom Haus zu entfernen.
„Gut für uns, schlecht für ihn“, murmelte Christine Bernard, während sie die Treppenstufen hinabstieg.
Draußen vor dem Haus gab sie den wartenden Sanitätern und dem Notarzt ein Zeichen, dass oben im Haus Arbeit auf sie wartete. Dann hielt sie Ausschau nach Torsten Kluge. Doch sie konnte ihn nirgendwo sehen.
‚Mist‘, dachte sie. ‚Hoffentlich hat er den Autoschlüssel nicht mitgenommen.‘
Sie ging zu ihrem Dienstwagen und schaute hinein. Der Zündschlüssel für den dunklen Audi lag auf dem Fahrersitz.
Die Beamten von der Schutzpolizei hatten sich bis auf den Kollegen Schröder um ihre Fahrzeuge versammelt. Polizeihauptmeister Schröder verließ soeben hinter den Sanitätern das Haus. Hartmut Schröder verschwand auf einer Trage liegend im Rettungswagen.
Kommissarin Bernard bedankte sich bei ihren Kollegen. Anschließend stieg Polizeihauptmeister Schröder zu Hartmut Schröder in den Rettungswagen, die junge Polizeimeisterin fuhr den Streifenwagen hinterher.
Nachdem auch die beiden anderen Beamten mit ihrem Wagen den Hof verlassen hatten, war Christine Bernard auf dem Anwesen allein. Sie wollte noch einen Blick in die von ihr noch nicht durchsuchten Räume werfen.
In der unteren Etage führte am Ende des Flurs eine Tür nach links in ein verdrecktes Büro. Gegenüber lag das Wohnzimmer. Der Raum, in den Hartmut Schröder am Morgen entwischt und anschließend durch das Fenster geflüchtet war. Darin standen ein Holzofen und die üblichen Möbelstücke: Sofa, Sessel, Couchtisch, eine Schrankwand. Alles alt und stark abgenutzt. Auch in diesem Raum setzte sich der verwahrloste Zustand des Hauses fort. Erst jetzt bemerkte Kommissarin Bernard, dass sie im ganzen Haus keine Heizkörper gesehen hatte. Der alte Ofen in diesem Raum und der ebenfalls mit Holz zu befeuernde Herd in der Küche waren offenbar die einzigen Heizmöglichkeiten. Solche Lebensbedingungen waren ihr völlig unbekannt und sie zweifelte sehr daran, dass in diesen Mauern irgendjemand ein glückliches Leben geführt hatte.
Mit angehaltenem Atem ging Christine Bernard an dem Abstellraum mit den Resten des Hundes vorbei und stieg die Stufen in die obere Etage hinauf.
Obwohl jeder Gegenstand in diesen Räumen ebenfalls auf ein Leben in einfachsten Verhältnissen hinwies, erschienen ihr diese Zimmer freundlicher, heller.
Erst jetzt bemerkte sie vereinzelt Hartmut Schröders Blutspuren auf den verschmutzten Teppichen. Während ihrer Suche nach ihm hatte sie diese in ihrer Anspannung übersehen.
Neben dem Schlafzimmer der Eltern gab es dort oben vier weitere Räume, die sich offenbar die sechs Kinder geteilt hatten. Die einzige Waschmöglichkeit in diesem Haus war also das kleine, schmutzige Bad unten, gegenüber der Küche.
An der Wand im Schlafzimmer von Hartmut Schröder und seiner Frau hing ein Familienfoto. Er selbst, seine sechs Töchter und seine Frau waren darauf abgebildet. Es musste ein Bild aus besseren Tagen sein. Alle wirkten zufrieden und sahen beinahe fröhlich aus.
„Wo seid ihr?“, sprach Kommissarin Bernard wieder mit sich selbst. „Seid ihr hier irgendwo, ganz in der Nähe? Oder bei Verwandten oder wirklich im Urlaub? Wo immer ihr seid, ich finde euch.“
Es bestand tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Kommissarin Bernard und Hartmut Schröders Frau. Obwohl Frau Schröder deutlich älter sein musste. Auf dem Foto trug sie ihre langen, dunklen Haare ebenfalls mit einem Gummiband zu einem Zopf zusammengebunden. Das hatte Hartmut Schröder wohl bemerkt, als er sagte, sie sähe aus wie seine Frau.
Christine Bernard hing das Bild ab, entfernte das Foto aus dem Rahmen und nahm es an sich. Dann verließ sie das traurige Haus und fuhr zurück in die Polizeidirektion nach Trier.
Den Rest des Vormittags beschäftigte sich Kommissarin Bernard mit dem Ausfüllen von Formularen und dem Tippen von Berichten. Entgegen der weitverbreiteten Meinung in der Bevölkerung war der Tagesablauf einer Kommissarin in der Regel nicht so aufregend wie an diesem Morgen.
Ihre Mittagspause verbrachte Christine Bernard mit einem belegten Brötchen und einem Becher Kaffee in einem Steh-Café am Bahnhofsvorplatz. Teilnahmslos beobachtete sie die vorbeieilenden Menschen auf dem Gehsteig vor den großen Glastüren. Kurz dachte sie an Frank. Dann zogen ihre Gedanken bereits weiter.
Am Nachmittag warteten zwei Zeugenbefragungen zu dem Tod einer jungen Frau auf die Kommissarin. Eine weitere Befragung übernahm sie von Hauptkommissar Kluge, der sich den Rest des Tages freigenommen hatte.
Eine Stunde vor Feierabend, nach einer kurzfristig anberaumten Dienstbesprechung, bat Staatsanwalt Walter Lorscheider Christine Bernard in sein Büro und ließ sich von ihr noch einmal mündlich den Einsatz auf dem Anwesen Schröder schildern. Zufrieden stellte er fest, dass alle Beteiligten Beamten vorschriftsmäßig gehandelt hatten.
Erschöpft fuhr Christine Bernard nach Hause.
Nachdem sie ihre hoffnungslos verschmutzten Schuhe und ihre Kleidung, an der immer noch der bestialische Gestank aus Hartmut Schröders Haus haftete, im Hausmüll entsorgt hatte, stieg sie unter die Dusche. Minutenlang ließ sie das warme Wasser gegen ihre Stirn prasseln. Dann hörte sie das lang gezogene Ding-Dong ihrer Türglocke.
Ausgerechnet jetzt. Sie bemühte sich, das Läuten zu ignorieren. Doch der Besucher gab nicht auf und trieb sie im Bademantel und mit nassen Füßen zur Tür. Melissa.
Christine Bernard umarmte ihre Freundin und zog sie kurz an sich. Melissa trat ein und drückte die Wohnungstür ins Schloss. Dann bemerkte sie die dunklen Fußabdrücke auf dem Teppich. Schuldbewusst zögerte sie und blieb an der Tür stehen.
„Stör’ ich?“
„Ja.“ Gespielt ungehalten blinzelte Kommissarin Bernard ihre Freundin an.
„Dann geh ich wieder.“
Christine lächelte versöhnend.
„Quatsch, bleib ruhig. Geh schon mal in die Küche und mach uns einen Kaffee. Ich bin gleich bei dir.“
Sie trocknete ihre Haare und setzte sich zu Melissa in die Küche.
„Hast du schon gehört? Frank und Ruth haben sich getrennt.“
„Das ist mir so was von egal“, brummte Christine und versuchte angestrengt einen Schluck Kaffee zu trinken, ohne sich die Lippen zu verbrennen.
„Wirklich?“, zweifelte Melissa.
Christine Bernard schloss ihre Augen kurz und nickte bekräftigend.
„Na, dann bist du ja darüber hinweg. Da könnte ich doch eigentlich …“
Warnend blitzten Christine Bernards Augen ihre Freundin an. Melissa lachte laut.
„Das war ein Scherz. Ich und Frank, das geht gar nicht. Aber so langsam komme ich mir blöd vor, so lange allein.“
„Das wird schon.“
„Wenn ich so aussehen würde wie du, sicher. Ich beneide dich.“
„Nur weil du ein paar Kilo mehr hast? Es gibt viele Männer, die genau das lieben.“
„Mag ja sein. Aber wenn wir zusammen unterwegs sind, verdrehen sie sich nach dir die Hälse, nicht nach mir.“
„Stimmt ja gar nicht. Das bildest du dir ein.“
„Ich hatte seit Monaten keinen richtigen Sex“, maulte Melissa.
„Ich auch nicht, aber Sex ist nicht alles.“
„Ohne Sex ist alles aber auch nichts“, konterte Melissa störrisch.
Christine war nicht in der Stimmung ihre deprimierte Freundin wieder aufzubauen. Aber den passenden Zeitpunkt für solche Gespräche konnte man sich eben nicht immer aussuchen.
Melissa hatte sich wieder einmal in einen Mann verguckt, der so gar kein Interesse an ihr zeigte. Das drückte ihre Laune mächtig in den seelischen Keller. Die Kerle sahen einfach nicht genau hin. Zugegeben, Melissa hatte ordentliche Rundungen, aber dadurch wirkte sie weicher als Christine. Außerdem war Melissa eine unglaublich liebenswerte Person. Und ein großes Herz braucht eben auch ein geräumiges Zuhause. Im Gegensatz zu Melissa wirkte Christine auf Männer „irgendwie kühl und reserviert“. So jedenfalls hatte Frank sie einmal beschrieben.
Drei Tassen Kaffee später konnte Christine Bernard Melissa etwas besser gelaunt wieder in die Welt entlassen.
Nachdenklich räumte sie die Kaffeebecher in die Spülmaschine. Bei nächster Gelegenheit sollte sie mit Melissa mal wieder ausgehen. „Fett aufbrezeln, ab auf die Piste und den Kerlen mal wieder ordentlich die Köpfe verdrehen“, wie Melissa sich gerne ausdrückte. Diesen Gefallen war Christine ihrer Freundin schuldig. Melissa war ihre einzige Stütze gewesen damals, nach dem Tod der Eltern und dem Desaster mit Frank.
Lustlos öffnete Christine Bernard den Tiefkühlschrank und stöberte in den Schubladen. Den Rest des Abends verbrachte sie mit einer aufgebackenen Tiefkühlpizza vor dem Fernseher und ging früh zu Bett.