Читать книгу Christine Bernard. Die Legende vom bösen Wolf - Michael E. Vieten - Страница 8
Ein zweiter Fund
ОглавлениеHauptkommissar Rottmann war bei seinen Kollegen bekannt dafür, Dienstwagen zügig zu bewegen. Christine, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, fühlte sich trotzdem sicher. Auch wenn er für ihren Geschmack oft zu dicht auf das vorausfahrende Fahrzeug auffuhr. So war er eben, der Jörg.
„Weg da, jetzt komme ich“, schien er rufen zu wollen, wenn er dem Vordermann so nahe kam, dass man mühelos die TÜV-Plakette auf dem Kennzeichen lesen konnte.
‚Wie früher, beim Rodeln‘, erinnerte sich Christine und schmunzelte. ‚Bahn frei!‘, riefen alle Kinder dann warnend, bevor sie sich auf ihren Schlitten setzten, den sie kaum sicher zu lenken vermochten und damit den Hang hinunter sausten. Ihrer Mutter standen nur vom Zusehen schon die Haare zu Berge. Sie war im Süden Portugals aufgewachsen und solchen Winterspaß nicht gewohnt. Ihr stockte der Atem, wenn sie mit ansehen musste, wie sich ihre Christine todesmutig auf den Schlitten warf und liegend die vereiste Strecke hinunter raste. Papa hingegen blieb immer entspannt. Er hatte ihr den Schlitten gekauft.
„Was ist?“, hörte sie Jörg neben sich fragen.
„Ach, nichts. Nur eine schöne Erinnerung.“
Jörg Rottmann nickte, setzte den Blinker und trat aufs Gaspedal. Mühelos zog der starke Motor den schweren Wagen an dem vorausfahrenden Fahrzeug vorbei. Gerade noch rechtzeitig lenkte der Hauptkommissar den BMW wieder auf die rechte Fahrbahnseite zurück, bevor der Gegenverkehr auf gleicher Höhe war. Diese Manöver wiederholten sich noch einige Male auf ihrer Fahrt über die schmalen Landstraßen des Hunsrücks, bis sie die Autobahnauffahrt erreicht hatten und Jörg Rottmann endlich die für ihn angemessene Geschwindigkeit fahren konnte.
Trotzdem erreichten sie die Kriminaldirektion erst nach mehr als einer Stunde.
Die Einzige, die Christine in ihrem Büro begrüßte, war die Benjamini. Aufgeregt zitterte ihr Laub in der kalten Winterluft. Hauptkommissar Torsten Kluge hatte das Fenster geöffnet und nicht wieder geschlossen, bevor er den Raum verlassen hatte. Beleidigt warf die Birkenfeige ein paar Blätter ab. Christine schloss das Fenster.
Es war kalt im Büro. Unter der Fensterbank stieg warme Heizungsluft empor. Christine blieb einen Moment stehen, wärmte sich und schaute hinunter auf den Bahnhofsvorplatz.
Menschen auf ihrem Weg irgendwohin liefen zwischen an- und abfahrenden Bussen hindurch. Schüler versammelten sich johlend an den Haltestellen. In den Restaurants genossen Mitarbeiter aus den umliegenden Firmen und Behörden ihre Mittagspause. Ein Anblick wie an jedem Tag.
Das Telefon ihres Kollegen klingelte. Sie trat an seinen Schreibtisch und nahm ab.
„Weißt du, wo Torsten ist?“, schallte es aus dem Hörer. Mit schnellen Blicken überflog sie die Schreibtischoberfläche vor sich. Doch sie entdeckte keinen Zettel mit einer Nachricht oder einem Hinweis darauf, wo sich ihr Kollege aufhalten könnte.
„Nein, er ist nicht am Platz“, antwortete sie.
„Sag ihm, er soll mich bitte zurückrufen.“
„Okay.“
Sie legte auf, ging zu ihrem Schreibtisch und holte den Computer mit einem kurzen Schubs gegen die Maus aus dem Energiesparmodus. Dann ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und las ihre E-Mails. Die Liste der Angestellten des Tierparks war dabei. Sie druckte sie aus. Pfeifend sprang der Drucker an und legte ein Blatt Papier in den Ausgabeschacht. Sie stand auf und holte es.
Dann hörte sie draußen auf dem Gang Torsten Kluges Stimme. Er unterhielt sich mit jemandem und beantwortete eine gerufene Frage. Dann öffnete sich die Tür.
„Mahlzeit“, rief er fröhlich. „Hast du schon zu Mittag gegessen?“
„Nein.“
„Gummibrötchen und lauwarmen Kaffee?“
Torsten hielt ihr einen Becher entgegen und deutete mit dem Kinn auf einen der beiden Teller in seiner anderen Hand. Christine griff zu und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.
„Danke.“
Die in den Automaten in der Kantine bereitgehaltenen Speisen entsprachen dem üblichen Niveau solcher Angebote. Früh morgens waren die Speisen frisch, was sich im Laufe des Tages langsam änderte. Am schlechtesten traf es die Kollegen aus der Nachtschicht. Jörg hatte einmal den Vergleich mit einer Biotonne gezogen. Ein Teil der anwesenden Kollegen konnte darüber lachen. Die Betroffenen aus der aktuellen Nachtschicht nicht.
Christine wickelte das mit Salami belegte Brötchen aus der Cellophan-Folie, biss hinein und musste kräftig ziehen, damit sie ein Stück abtrennen konnte.
Angestrengt kauend griff sie nach dem Becher und trank einen Schluck.
„Du sollst Jörg anrufen.“
Torsten nickte. Auch er kaute angestrengt auf einem Stück seines Brötchens herum.
Das Telefongespräch war kurz. Außer einem gemurmelten „Hmm“ und einem kaum verständlichen „Okay“ zwischen zwei Bissen sagte Torsten Kluge nichts. Er hörte nur zu. Dann beendete er das Gespräch doch noch mit einem ganzen Satz.
„Ja, können wir machen.“
Er ignorierte den fragenden Blick seiner Kollegin und griff nach seinem Kaffeebecher. Mit einem kräftigen Schluck spülte er ein trockenes Stück Brötchen hinunter.
„Irgendwann erstickt noch einer daran“, fluchte er und befriedigte endlich Christines Neugier.
„Jörg hat nur eine einzige Vermisstenanzeige gefunden, die von der Zeit her zu dem Fund im Wildpark passen könnte. Wenn das kein Treffer ist, will er mit Tanja einen bundesweiten Vergleich der letzten Tage durchführen.“
Christine legte ihre Stirn in Falten.
„Bundesweit? Wir haben nicht mal einen einzigen Anhaltspunkt, zu wem die Reste der Leiche im Park gehören könnten. Wir wissen nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau ist.“
„Eben. Irgendwo müssen wir anfangen. Vielleicht haben Günther oder die Rechtsmedizin morgen für uns ja schon was.“
Wieder einmal war Christine Bernard beeindruckt von der Ruhe und der Bedächtigkeit, mit der ihr Kollege seine Arbeit verrichtete. Nie erschien er ihr ungeduldig oder handelte unüberlegt. Gelassen schien er die Dinge zu nehmen, wie sie nun mal waren, und verströmte dabei eine Unaufgeregtheit, die ansteckend war. Zumindest für den Augenblick.
„Wie ist denn der aktuelle Stand eurer Ermittlungen?“, fragte Torsten Kluge in den Raum hinein und zerknüllte ein Stück Cellophan, um es sogleich in seinen Papierkorb zu werfen.
Christine berichtete in knappen Sätzen, was sie und ihr Kollege bisher ermittelt hatten. Der Hauptkommissar brummte ein paar „Hmms“ und schaute dann aus dem Fenster.
„Da stehen sich also Wolfsromantiker und Investoren gegenüber. Zwei völlig gegensätzliche Gesinnungen. Geld und Profitgier gegen Ideologie und Emotionen. Keine gute Mischung. Dort solltet ihr ansetzen. Sprecht mit den Gruppen. Fragt euch durch. Sucht nach Konflikten. Dann finden sich Motive. Über das Motiv zum Täter. Wer hatte die Gelegenheit und die Fähigkeit, die Tat zu begehen? Sieht nach einer klassischen Ermittlungsarbeit aus.“
Christine seufzte. Torsten Kluges Anweisung hätte auch aus einem Lehrbuch stammen können. „Klassische Ermittlungsarbeit“, hatte er gesagt. Mühsam und langwierig. Danach sah dieser Fall aus.
Eine gewöhnliche Beziehungstat aus Eifersucht, bei der sich der Täter mit dem blutigen Messer in der Hand selbst stellt, wäre ihr lieber gewesen. Aber wann gingen Wünsche schon mal in Erfüllung?
Ein wenig niedergedrückt saß sie an ihrem Schreibtisch.
‚Hey, Chris‘, rief sie sich selbst zur Ordnung. ‚Du bist doch Profi. Reiß dich zusammen und mach deine Arbeit.‘
Torsten schmunzelte ganz sicher hinter seinem Bildschirm. Aber Christine sah nur dessen dunkelblonden Haarschopf und hörte das Klicken seiner Maustasten.
„So ist der Job“, versuchte er, seine Kollegin aufzumuntern. „Niemand hat dir versprochen, dass Polizeiarbeit immer rasant und aufregend sein wird. Und falls doch, dann hat Jörg gelogen.“
Jetzt war es Christine, die schmunzeln musste.
„Mir fehlt übrigens noch dein Bericht über euren Einsatz gestern Abend“.
„Häusliche Gewalt zum Nachteil von …“, setzte Torsten nach und suchte in Gedanken nach dem Namen.
„Sabrina Schöller“, ergänzte Christine. „Mache ich gleich fertig.“
Die folgende Stunde saß Kommissarin Bernard an ihrem Schreibtisch und tippte auf der Tastatur ihres Computers den Bericht ihres letzten Einsatzes.
Ein vierschrötiger Kerl im schmutzigen Unterhemd, groß und breit wie ein Schrank, hatte seine Freundin verdroschen, zog danach angetrunken und pöbelnd durch das Haus, in dem die beiden eine gemeinsame Wohnung hatten, und drohte seinen Nachbarn Schläge an. Einer rief die Polizei. Eine Streife fuhr hin und forderte Verstärkung an. Der Mann wurde verhaftet und war bis zum Morgen geständig.
So einfach konnte es also sein.
Viermal verließ Torsten Kluge innerhalb der einen Stunde den Raum und kehrte kurz darauf wieder zurück. Zweimal klingelte ihr Mobiltelefon.
Das erste Gespräch führte sie mit Melissa. Ihre Freundin wirkte aufgekratzt. Sie traf sich am Abend mit Jörg Rottmann und wollte wissen, welchen Wein er bevorzugt.
„Woher soll ich das wissen? Frag ihn doch einfach.“
„Dann weiß er ja, dass ich es nicht weiß.“
Selten hatte Christine Melissa etwas derart Logisches sagen hören.
„Als du ihn zum Essen eingeladen hast, hättest du ihn danach fragen sollen.“
„Habe ich ja. Aber ich habe es vergessen. Es war irgendwas mit Renault oder Pernod oder …“
„Merlot?“, schlug Christine vor.
„Ja, genau!“, rief Melissa aufgeregt. „Ist der rot oder weiß?“
„Rot.“
„Du bist ein Schatz“, klang es noch aus dem Lautsprecher, dann wurde das Gespräch einfach beendet.
Verwundert sah Christine ihr Telefon an.
„Schön, dass ich dir helfen konnte“, sagte sie und schüttelte ihren Kopf. Dann legte sie das Gerät beiseite und widmete sich wieder ihrer Arbeit.
Kurz darauf klingelte das Telefon ein zweites Mal. Sie blickte weiter auf ihren Bildschirm, positionierte den Mauszeiger in einem Eingabefeld, nahm gleichzeitig das Gespräch an und hielt sich das Gerät ans Ohr.
„Wenn du mich jetzt fragst, welchen Merlot du kaufen sollst, reiße ich dir den Kopf ab“, drohte sie.
„Ich bin der, der Bordeaux bevorzugt, nicht Merlot.“
„Oh, Torben. Entschuldige. Ich dachte, es wäre Melissa.“
Torben lachte.
„Was machst du heute Abend?“
„Ich treffe mich mit dir?“, orakelte sie.
„Bei dir oder bei mir?“
„Bei mir?“
„Pizza?“
„Thunfisch.“
„Primeur?“
„Gibt es den jetzt schon?“
„Ja, seit Ende letzter Woche.“
„Dann gerne.“
„Klingel einmal kurz durch, wenn du zu Hause bist. Dann bestelle ich die Pizza. Bis dann …“
Auch dieses Gespräch wurde unerwartet beendet. War das ein neuer Trend oder nahmen plötzlich alle Rücksicht auf sie und ihre Arbeitsbelastung?
Wie dem auch sei. Sie freute sich auf Torben, eine knusprige Pizza und ein Glas des jungen Beaujolais.
Auffordernd blinkte der Cursor auf dem Bildschirm und erinnerte sie an ihren immer noch unvollständigen Bericht. Seufzend nahm sie ihre Arbeit daran wieder auf.
Wieder klingelte ein Telefon. Diesmal der Apparat von Torsten Kluge. Er nahm das Gespräch an. Christine hörte ihn seine „Hmms“ brummen, während sie sich angestrengt daran zu erinnern versuchte, wie der Name des Kollegen von der Streife war, der am Abend zuvor Verstärkung angefordert hatte. Sie schaute aus dem Fenster, so, als könne sie den entfallenen Namen dort draußen irgendwo ablesen. Doch sie sah nur eine Stadt, die sich auf die Nacht vorzubereiten schien. Dabei war es gerade erst Nachmittag. Die Sonne war aber bereits am Horizont verschwunden und das Dezembergrau wurde schnell dunkler. Dämmerungssensoren ließen Leuchtreklamen aufflackern, Autos fuhren mit Licht, und in den Wohnungen wurden die ersten Lampen angeschaltet.
‚PM Schütt‘, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. ‚Genau. Polizeimeister Schütt.‘
Schnell tippte sie den Namen des Beamten und klickte endlich auf „Bericht speichern“.
„Ich stelle mal laut“, hörte sie Torsten sagen und schaute auf.
Schon hörte sie die Stimme von Doktor Vogler, dem Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts, aus dem Lautsprecher.
„Ich habe hier einen Torso auf dem Tisch aus einem Leichenfund mit Tierfraß von der Kriminalinspektion Wittlich. Ihr habt doch einen ähnlichen Fall, wenn ich Kollege Hagemanns Inhalt seiner Folienbeutel richtig deute.“
Hauptkommissar Kluge antwortete voller Erwartung mit einem langgezogenen und fragenden „Jaaa?“.
Christine stand auf und stellte sich neben den Schreibtisch ihres Kollegen.
„Haben Sie die Fundstücke aus dem Tierpark schon untersucht?“
„Nein. Günther hat sie eben erst bringen lassen.“
„Sie vermuten einen Zusammenhang?“
„Zumindest was den Tierfraß anbetrifft.“
„Wölfe?“
„Schon möglich. Ich bin noch nicht so weit. Ist ja in beiden Fällen nicht viel übrig.“
Torsten Kluge räusperte sich.
„Was ist mit der Todesursache?“
„Haha“, erklang es aus dem Lautsprecher. „Wenn ich hellsehen könnte, könntet ihr es nicht bezahlen. Bis morgen müsst ihr euch schon noch gedulden. Immerhin sind die Wittlicher einen Schritt weiter als ihr. Sie wissen wenigstens, wer ihre Leiche war. Ein Martin Ranz.“
„Woher wussten die Kollegen das so schnell?“
„In den Resten der Kleidung befand sich ein Ausweis.“
„Glück gehabt.“
„Nur kein Neid. Ich melde mich wieder.“
Doktor Vogler hatte aufgelegt. Torsten schaltete den Lautsprecher aus und Christine kehrte an ihren Schreibtisch zurück. „Dein Bericht ist fertig“, verkündete sie.
„Hmm“, brummte Torsten Kluge gedankenverloren und tippte eine kurze Nummer auf seinem Telefon. Dann wartete er, bis jemand abnahm.
„Sag mal, wie heißt der Vermisste, den du ermittelt hast?“
Christine vermutete, dass Torsten Jörg angerufen hatte.
„Der liegt beim Vogler auf dem Tisch“, hörte sie ihn nach einer kurzen Pause sagen. Dann hörte er weiter zu.
„Ja, immerhin“, bestätigt er knapp, bevor er auflegte und sich an seine Kollegin wandte. „Jörg kommt rüber.“
Blitzschnell hatte Torsten Kluge die Zusammenhänge erkannt, reagiert und seinen Kollegen unnötige Arbeit erspart. Langjährige Erfahrung und eine schnelle Auffassungsgabe zeichneten diesen ruhigen Hauptkommissar und leitenden Ermittler des K1 aus und machten ihn zu einem der erfolgreichsten Beamten im Haus.
Jörg Rottmann stürmte in das Büro.
„Ich habe noch etwas“, kündigte er an und setzte dabei offensichtlich voraus, dass Christine den Inhalt des soeben geführten Gesprächs kannte.
„Morgen Vormittag findet eine Demo gegen die Schließung des Tierparks statt. Wir fahren hin und schauen mal, wer da so alles mitläuft.“
Auffordernd schaute er Christine an.
„Tanja ist morgen früh beim Zahnarzt“, ergänzte er beinahe entschuldigend, so, als befürchtete er, Christine könnte etwas dagegen haben.
„Ja, ist okay.“
„Immerhin wissen wir jetzt schon mal, wer unsere Leiche nicht ist. Vielleicht gibt es sogar einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen.“
Jörg drehte sich um und ging zur Tür.
„Ich bin dann weg. Ich nehme heute Abend ein paar Überstunden.“
So schnell, wie er gekommen war, war Jörg Rottmann wieder verschwunden.
Christine schmunzelte und wusste, wofür der Hauptkommissar die Überstunden abbummelte.
Torsten Kluge zeigte sich überrascht. So kannte er seinen Freund und Kollegen gar nicht.
„Er trifft sich heute Abend mit Melissa“, erklärte Christine, erhob sich und schob ihren Bürostuhl an den Schreibtisch heran.
„Ich muss zum Schießtraining.“
„Okay. Bis morgen.“
Zu mehr als dieser mageren Reaktion war Torsten in diesem Moment offenbar nicht fähig. Er war bereits in den soeben fertiggestellten Einsatzbericht seiner Kollegin vertieft.
Eine gute halbe Stunde später parkte Kommissarin Bernard ihren weißen Renault auf dem Gelände des neuen Schieß- und Einsatzzentrums der Polizei in Wittlich. Eine der modernsten Anlagen ihrer Art in Deutschland, auf der beinahe jede erdenkliche Situation nachgestellt und trainiert werden konnte.
Christine war keine herausragende Schützin. Die Ergebnisse ihrer Übungen lagen nur knapp über dem Durchschnitt und sie musste sich neuerdings sogar anstrengen, dieses Niveau zu halten.
Mit ihrer neuen Dienstwaffe konnte sie an ihre Leistungen in der Vergangenheit bisher nicht anknüpfen. Sie mochte die alte Pistole Walther P5, an der sie ausgebildet wurde, lieber, als die neue Walther P99Q. Begründen konnte sie ihre Vorliebe für das alte Modell nicht. Es war ihr einfach sympathischer. Runder und weniger klobig. Dafür war ihre neue Dienstwaffe leichter und moderner, mit innenliegendem Schlagstück. Doch an diesen kleinen roten Signalstift anstelle eines gespannten Hahns konnte sie sich lange Zeit nicht gewöhnen. Sie musste schon genau hinsehen, um den Spannzustand erkennen zu können.
An all das versuchte sie nicht zu denken. Sie setze ihre Schutzbrille auf, legte den Gehörschutz an und folgte den Anweisungen des Schießleiters.
Nachdem das erste Magazin leer geschossen war, wechselte sie es, lud ihre Waffe durch und gab dem Schießleiter zu verstehen, dass sie wieder bereit war.
Auch an diesem Tag waren ihre Ergebnisse kaum besser, als in der Vergangenheit. Sie und die neue Waffe würden wohl noch eine Zeit lang brauchen, bis sie Freunde wurden. Der Schießleiter empfahl ihr, das Griffstück gegen ein anderes auswechseln zu lassen und es noch einmal zu probieren.
Christine schaute kurz auf ihr Handy, las die Uhrzeit ab und erinnerte sich an ihre Verabredung mit Torben.
„Beim nächsten Mal“, widersprach sie und beendete das Training.
Die Anforderungen ihres Dienstherrn an seine Polizeibeamten hatte sie an diesem Abend erfüllt. Aber es ärgerte sie, dass sie keine Fortschritte machte.
Ihr weißer Renault Mégane stand mit beschlagenen Scheiben im fahlen Licht einer Laterne. Leichter Nebel hatte sich gebildet und begonnen, an den Scheiben festzufrieren. Doch sie konnte auf ihren Eiskratzer verzichten. Ein Sprühstoß aus ihrer mit einem Frostschutzmittel befüllten Wischwasseranlage reichte, und die Wischblätter schoben die milchige Masse beiseite.
Wenige Minuten später fuhr sie auf die Autobahn und gab Gas.
Kurz vor Trier war die Fahrbahn gesperrt. Offenbar hatte es einen Unfall gegeben. Alle Fahrzeuge wurden über die Abfahrt davor von der Autobahn heruntergeleitet. Die meisten Fahrzeuge folgten der eingerichteten Umleitung. Sie aber wählte eine wenig befahrene Strecke, die ihr kürzer erschien.
Die schmale, kurvenreiche Straße führte durch dichten Wald hinunter in ein tief eingeschnittenes Tal mit Weinbergen an den Hängen links und rechts.
Der Nebel wurde dichter. Sie fuhr etwas langsamer. Plötzlich tauchten im Lichtkegel ein großer hellgrauer Schatten und zwei glühende Augen am Straßenrand auf. Christine Bernard erschrak. Ihrem Reflex folgend trat sie auf das Bremspedal. Das Antiblockiersystem knirschte. Doch schon schoss ihr Wagen an dem Tier vorbei. Schnell schaute sie in den Rückspiegel und versuchte durch das Heckfenster etwas zu erkennen. Dann warf sie zwei schnelle Blicke in die beiden Außenspiegel. Doch die Straße und der Waldrand lagen verlassen im roten Licht ihrer Bremsleuchten.
‚Ein Wolf!‘, war ihr erster Gedanke. Und sogleich zweifelte sie wieder daran. Hatte ihre Wahrnehmung sie getäuscht? Ging ihre Fantasie mit ihr durch? War das überhaupt möglich? Sie hatte von frei lebenden Wölfen gelesen, aber die wurden im Westerwald gesichtet. Fast 200 Kilometer von Trier entfernt. Auch in Frankreich und in den belgischen Ardennen sollten welche leben.
Gelb leuchtend tauchte ein Ortsschild im Scheinwerferlicht vor ihr auf. Wenn es tatsächlich ein Wolf gewesen sein sollte, was sie da am Waldrand gesehen hatte, dann war er sehr dicht an einer menschlichen Siedlung.
Christine bremste und fuhr noch gänzlich unter dem Eindruck ihrer Begegnung in den Ort hinein. Ein Schild am Straßenrand mahnte Autofahrer, ihre Geschwindigkeit zu drosseln. Kinder querten morgens und nachmittags die Straße auf ihrem Weg in die Schule.
‚Und auf eines davon wartet dann der Wolf‘, dachte sie plötzlich und rief sich sofort zur Ordnung. ‚Quatsch‘, korrigierte sie sich. ‚Jetzt denkst du schon genauso einen Unsinn wie diese Wolfsgegner. In der Nähe des Ortes könnte der „Wolf“ ebenso gut ein streunender Hund gewesen sein.‘
Menschenleer und spärlich beleuchtet führte die Straße zwischen den Häusern hindurch. Wieder schweiften ihre Gedanken ab und Christine stellte sich vor, wie hungrige Wölfe in der Nacht über die Anwesen streunten auf ihrer Suche nach Beute. Ein Klischee. Natürlich. Bedient von der Urangst aus dunklen Zeiten, in denen die Menschen vielen Gefahren ausgesetzt waren. Krieg, Hunger, Krankheit und wilden Tieren, die in mageren Jahren in der Nähe der Menschen nach Futter suchten.
Christine verscheuchte ihre trüben Hirngespinste, steuerte ihren Wagen aus dem Ort hinaus hinunter an die Mosel und folgte der Uferstraße in Richtung Trier.
Aller Vernunft zum Trotz freute sie sich dort über den Straßenverkehr und empfand ein seltsam beruhigendes Gefühl, als sie in ihre Straße einbog und die Gehwege dort nicht verlassen vorfand, sondern Fußgänger darauf sah. Erleichtert parkte sie ihren Wagen vor dem Haus, in dem sich ihre Wohnung befand, und betrat kurz darauf das Gebäude.
Kommissarin Bernard war kein ängstlicher Mensch. Sonst hätte sie ihren Beruf verfehlt. Aber es gab offenbar Befürchtungen, die aus einer Tiefe des menschlichen Wesens emporsteigen konnten, in die man als rational denkender Mensch üblicherweise nicht hinabsteigt. Natürlich verweigerte man sich diesen diffusen Ängsten und drängte die damit verbundenen Befürchtungen zurück, aber sie waren trotzdem da. Bereit, aus einer längst vergangenen Zeit plötzlich zurückzukehren und einen völlig grundlos in Panik zu versetzen. Die über Jahrmillionen angesammelten Erfahrungen unserer Vorfahren waren ein Erbe, mit dem man in der modernen Welt nicht mehr viel anfangen konnte.
Christine betrat ihre Wohnung, griff nach ihrem Mobiltelefon und rief Torben an. Nach dem zweiten Freizeichen legte sie wie vereinbart auf. Dann zog sie sich aus und stieg unter die Dusche. Länger als notwendig blieb sie unter dem Brausestrahl stehen, genoss das warme Wasser und vergaß die Zeit. Plötzlich erschien ein Schatten hinter dem beschlagenen Glas der Duschkabine. Christine erschrak.
„Ich bin’s nur“, rief Torben und schob die Kabinentür ein Stück auf.
Schamlos ließ er seinen Blick über Christines nackten Körper gleiten.
„Macht es dir etwas aus, wenn wir die Pizza kalt essen?“, fragte er zweideutig.
„Handtuch!“, kommandierte Christine barsch und drehte das Wasser ab.
Torben lachte, griff nach einem Badetuch und reichte es ihr.
Obwohl sie sich nur schnell in ihren Bademantel gewickelt hatte, war die Pizza bereits nur noch lauwarm. Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken, sie im Ofen aufzuwärmen. Doch sie scheute den Aufwand und griff stattdessen nach ihrem Glas Rotwein.
„Der Primeur schmeckt nicht schlecht“, bemerkte sie zufrieden und stellte das Glas zurück auf den Tisch.
Torben nickte und nahm ebenfalls einen Schluck.
„Ich spiele nächste Woche in der Philharmonie Luxembourg vor.“
Torben bemühte sich, seiner Ankündigung keine große Bedeutung zu verleihen. Aber Christine spürte sofort, dass ihm dieser Termin sehr wichtig war. Doch sie sagte nichts, weil sie glaubte, dass Torben noch etwas hinzufügen würde.
„Wenn du willst, kannst du mitkommen?“
„Möchtest du das denn?“
„Das wäre sehr schön.“
„Ist dir dieser Termin wichtig?“
„Ja, sehr.“
„Warum?“
Torben tat Christine schon beinahe leid. Sie wollte etwas Bestimmtes hören, aber das konnte er natürlich nicht wissen.
„Wenn ich in Luxembourg arbeite, kann ich öfter bei dir sein.“
Genau das war es, was sie hören wollte. Schon lange hatte sie darüber nachgedacht, wie es mit ihr und Torben weitergehen sollte. Sie, die Kommissarin, und er, der Berufsmusiker. Konnte das auf Dauer gut gehen? Sie waren ein Paar, aber irgendwie auch wieder nicht. Jeder hatte sein Leben, seine Wohnung, seine Arbeit. Sie verbrachten einen Teil ihrer freien Zeit miteinander und sie hatten Sex. Sie fand, es war an der Zeit, über den nächsten Schritt nachzudenken.
Offenbar dachte Torben das auch, und das bescherte ihr in diesem Moment ein warmes Gefühl.
„Ich begleite dich gern. Natürlich. Was denkst du denn?“
Sie hatte ein wenig Mühe damit, ihr einsetzendes Hochgefühl zu verbergen, und Torben sah ihr an, wie sehr sie sich darüber freute.
„Aber irgendwas macht dir Sorgen“, forschte sie und suchte in seinem Gesicht nach einer Antwort.
„Naja, die Philharmonie Luxembourg ist kein Kneipenorchester.“
„Und du bist kein Kneipenmusiker“, stellte Christine selbstbewusst fest.
Torben lächelte mild.
„Danke für deine Zuversicht.“
„Was wirst du spielen? Kannst du es dir aussuchen?“
„Ja, ich dachte an das ‚Prélude‘ aus Bachs Cellosuite Nummer 1.“
„Hmm“, brummte Christine. „Ich habe ein Video gesehen von Yo-Yo Ma. Die Latte liegt hoch. Was ist mit Gustav Mahlers Adagio aus seiner 5. Sinfonie oder etwas aus Anton Bruckners 1.?“
Torben schmunzelte.
„Wunderbar, wie du dich auskennst. Aber ich kann denen keine ganze Sinfonie vorspielen. Ich habe nur fünf bis zehn Minuten.“
Christine nickte und verstand.
Torbens Gesichtszüge verdunkelten sich.
„Glaubst du, ich vergeige die Cellosuite?“
Christine musste über Torbens unbeabsichtigtes Wortspiel unweigerlich lachen.
„Nein. Du bist besser als Yo-Yo Ma“, behauptete sie und sah ihn an.
Torbens Gesicht bekam plötzlich Farbe.
„Nein. Ganz sicher nicht“, widersprach er verlegen.
Ob es der Wein war, Torbens Bescheidenheit oder seine anzüglichen Blicke in der Dusche. Sie wusste nicht, woher ihr Verlangen kam, aber es forderte Befriedigung.
„Du siehst müde aus“, log sie und stand auf. „Lass uns ins Bett gehen.“
„Jetzt schon? Aber meine Pizza …“, stammelte Torben und schaute leicht leidend auf die restlichen Stücke auf seinem Teller.
„Du stehst doch auf kalte Pizza, dann iss sie halt später“, schob Christine seinen Einwand frech beiseite, griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her ins Schlafzimmer.
„Das Licht in der Küche …“, stammelte Torben wieder.
„Kannst’e ja nachher ausmachen …“