Читать книгу Und der nächste Tag - Michael Fritsche - Страница 3
Innen
ОглавлениеMein Zimmer ist nicht eingerichtet. Noch nicht mal die Wände haben Farbe oder Belag. Aber die Aussicht ist grandios: unter mir ein Wolkenmeer, unter dem Wolkenmeer das Meer. Aber dieses sehe ich nicht. Meine Wohnung befindet sich in einer Stadt, wie eine überdimensionierte Bahnschwelle aus Beton hochkant gestellt und im Meer verankert. Eigentlich zwischen zwei Meeren verankert: dem gasförmigen Wasser oben und dem flüssigen unten.
Die Stadt ist fertiggestellt. Obwohl sie schon sehr lange fertiggestellt ist, riecht es noch nach nassem Beton. Ich bin der einzige der hier wohnt. Das war schon immer so, aber wie lange wohne ich hier schon? Nicht seit immer, das ist gewiss.
Was ist das für ein Heulen und das rote Blinklicht? Ist das der Feueralarm? Wie sollte Feuer ausbrechen, wenn hier schon lange mehr niemand baut und noch nie einer wohnte außer mir?
Die Stadt hat eine Aussichtsebene, von dort aus kann man rundherum gehen, einmal rund um die Stadt. Am Rand dieser Ebene befindet sich eine Vorrichtung, um im Brandfall die Stadt nach unten hin zu verlassen. Sollte es brennen, so muss man mit einem speziellen, für den Brandfall zugelassen Fahrstuhl in die Aussichtsebene ein paar Stockwerke nach unten fahren – es gibt nur einen Knopf in diesem Fahrstuhl, es kann also nichts schiefgehen, man kann sich nicht verirren. Diesen Fahrstuhl findet man auf Anhieb, so sagte man. In der Aussichtsebene angekommen steigt man dann in die Rettungsvorrichtung. Woraus besteht diese Vorrichtung? Ist das eine außenliegende Leiter? Das wäre zu kalt, so weit oben, und wer soll schon viele Kilometer eine Leiter nach unten –ins Meer– klettern? Ist es eine Feuerrutsche? Wo endet sie? Und vor allem: wo beginnt sie? Es wurde immer gesagt, dass man sie schon finden würde.
Ich habe keine Eile: Ein kleines Feuer in diesem Koloss aus noch nassem Beton, inmitten von zwei Meeren, ohne brennbare Inneneinrichtung. Das ist nichts, was eines besonderen Aufmerkens bedarf.
Ich finde den Fahrstuhl, den man im Brandfall nicht verwenden darf, der im Brandfall auch abgestellt ist. Ich habe keine Eile, also rufe ich den Fahrstuhl um zu prüfen, ob er wirklich abgestellt ist – er ist es. Der Notfallplan funktioniert. Beruhigend!
Ich finde ein Treppenhaus, aber im Ernst: Wie viele Kilometer müsste man nach unten steigen? Hat man diese Zeit? Ich suche besser gleich nach dem speziellen Fluchtfahrstuhl.
Ich finde jedoch nur Treppenhäuser, solange ich auch suche. Ich höre immer noch den Feueralarm – ich nehme eines der Treppenhäuser, besser als keinen Fluchtfahrstuhl zu finden! In den ersten Stockwerken nehme ich jede Stufe einzeln. Das dauert. Wie lange werde ich brauchen? Stunden? Ich nehme besser drei Stufen auf einmal. In den Kurven springe ich quer über das Geländer. Jede Landung auf dem staubigen, nie zuvor betretenen Beton lässt mich ausgleiten, das Geländer, das staubige und feuchte Geländer ist kaum eine Hilfe. Wieder eine Kurve, ich nehme sie quer, springe wieder über das Geländer – welch ein Schock! Da ist keine Stufe, auf der ich landen könnte! Unter mir gähnende Leere! Nur ein dunkler werdender, senkrechter Tunnel. Ich kann mich gerade so festhalten, verletzte mich an einem aus der letzten Stufe herausstehendem Armierungseisen.
Wurde das nie zu Ende gebaut? Wurde es wieder abgerissen? Ist es zerfallen? Jetzt habe ich Eile! Ich muss wieder hoch, ich muss den Fluchtfahrstuhl finden.
Ich humple die Treppen hoch. Die Luft will nur widerwillig in der nötigen Geschwindigkeit in meine Lungen, ich komme nur mühsam und schon gar nicht in der nötigen Geschwindigkeit die Treppen hoch. Aber dann ist es geschafft: die nächste, die über mir liegende Ebene, ist erreicht. Jetzt aber schnell den Fluchtfahrstuhl finden.
Ich finde Schiebetüren, hinter denen Fahrstühle sind, diese reagieren aber nicht auf meinen Knopfdruck, natürlich, das habe ich ja vorhin schon ausprobiert. Ich versuche, die Türen mit der Hand zur Seite zu schieben – der feuchte Staub liegt auch hier, meine Hände rutschen immer wieder ab. Irgendwann geht es, die Türen lassen sich aufschieben. Was ist dahinter? Der Fahrstuhlschacht ist leer! Es gibt darin noch nicht einmal Seile. Wurden sie nie eingebaut? Wurden sie abmontiert? Rissen sie irgendwann ab?
So schnell ich kann, schiebe ich jeden der mehreren Fahrstuhlschächte auf – in jedem das gleiche: Leere, die erst in Dunkelheit, dann in Schwärze übergeht. Wie im Treppenhaus.
Da, versteckt hinter einer Kurve, finde ich eine Tür. Erstaunlich – es ist die erste richtige Tür die ich während der Flucht sehe. Ist es gar die erste richtige Tür, die ich in dieser Stadt sehe? Ich öffne diese Tür, und finde dahinter, im Dunklen, eine kleine, unscheinbare Schiebetür. Ich will diese öffnen wie die Schiebetüren der Fahrstuhlschächte vorher. Aber sie lässt sich nicht aufschieben. Es ist dunkel, ich sehe kaum etwas, ich suche hektisch nach dem Rufknopf. Da, endlich, da ist etwas. Es lässt sich niederdrücken, und ich höre wirklich ein Geräusch hinter der Schiebetür! Nach einer Weile öffnet sich diese, und ja! Das muss der Fluchtfahrstuhl sein! Ich drücke den einzigen Knopf, den es gibt, und der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Fährt er aufwärts oder abwärts? Er fährt, aber ich kann nicht spüren, wohin. Er fährt eine ganze Weile, bleibt dann stehen und die Schiebetür öffnet sich. Ich erwarte helles Licht, Tageslicht, vielleicht sogar einen kalten Luftzug, es ist schließlich sehr windig so weit oben, und die Rettungsebene ist nach außen hin offen, das weiß ich.
Jedoch: es ist muffig, feucht, staubig und dunkel. Nur die Notbeleuchtung spendet etwas Licht, das jedoch nichts mit Tageslicht zu tun hat. Ich dachte immer, die Notbeleuchtung wäre heller. Ich sehe keinerlei Tageslicht, keinen Ritz oder Spalt, durch den das erwartete Tageslicht schimmert.
Ich betrete den Raum, dieser hat mehrere gleichförmige Durchgänge an der gegenüberliegenden Wand. Alles ist gleichmäßig schwach beleuchtet, ohne Schatten und auch ohne Stellen, die etwas heller wären. Ich wähle einfach irgend einen Gang aus, gehe den Gang entlang, er ist fensterlos, dunkel, ich gehe solange, bis ich an eine Wölbung komme die den Gang verschließt. Gerade so, als wäre der Gang gegraben worden und die Wölbung wäre der Endpunkt der Grabung. Hier geht es nicht weiter. Ich drehe um und kehre zurück in den Raum. Im Raum angekommen, erscheint mir alles etwas kleiner, gedrängter. Ist es auch so? Ist es wirklich enger als zuvor? Ich drehe mich um, um einen anderen Durchgang zu versuchen – sind es noch genauso viele wie vorher? Ich glaube, es sind weniger geworden, ich kann sie aber nicht zählen. Meine Augen springen beim Zählen der Durchgänge genauso wie beim Zählen feiner Fäden in einem dichten Gewebe. Ich muss immer wieder neu anfangen zu zählen – gebe dann auf und wähle zufällig einen anderen Gang aus. Doch halt! Welchen Gang nahm ich gerade? Sie sehen alle gleich aus und ich kann sie nicht zählen. Vielleicht, vielleicht kann ich am Staub auf dem Boden erkennen, welchen Gang ich zuvor nahm? Vielleicht ist das die Lösung! Jedoch, der Staub zeigt meine Spuren nur dort, wo ich gerade stehe. Es gibt keine Spuren, die in irgendeine andere Richtung zeigen, es gibt keine Spuren um mich herum. Die Luft wird stickig. Ich will raus. Ich wähle einfach einen der noch verbleibenden Gänge. Diesen Gang entlang gehend ergeht es mir wie in dem vorherigen Gang. Oder war es der selbe? Es gibt einen Unterschied: die Deckenhöhe erscheint mir niedriger, und die Wölbung am Ende, die Sackgasse, die erreiche ich früher.
Jetzt schnell zurück und weitere Durchgänge ausprobieren, einer muss doch nach außen führen! Mit Schrecken erkenne ich: es scheinen wieder weniger geworden zu sein! Und wieder sehe ich keine Spuren auf dem Boden, und wieder ist der Raum vor den Durchgängen kleiner geworden. Mir verbleiben nicht mehr viele Versuche: Es gibt nur noch wenige Durchgänge, es werden immer weniger Durchgänge, der Raum wird enger und die Luft schlechter. Liegt es an der verbrauchten Luft oder am aufgewirbelten Staub, dass das bisschen Licht ebenso dunkler wurde? Vielleicht erscheint es mir auch nur so? Egal, jetzt aber schnell in einen der verbliebenen Gänge – auch bei diesem wird das Ende früh erreicht – und auch bei diesem wird das Ende früher erreicht. Wie viel Versuche habe ich noch? Eben waren es noch ein paar, besser als nichts, ein klein wenig Hoffnung bleibt. Im Raum angekommen, nun außer Atem, drehe ich mich um, wie schon zuvor (wie oft war das nun? Wie oft bin ich in eine Sackgasse gelaufen? Ich weiß es nicht mehr), und stelle fest: es gibt keine Durchgänge. In der Hoffnung, nur die Orientierung verloren zu haben, drehe ich mich langsam im Kreis. Wenn ich die Schiebetür des Fluchtfahrstuhls finde, muss ich nur gegenüber schauen, und dort finde ich, so dunkel es auch sein mag, die Wand mit den noch verbleibenden Durchgängen. So wird es sein. So muss es sein. Ich drehe mich...und ich drehe mich...und ich erkenne keinen Fahrstuhl. Ich sehe keine Durchgänge. Jedes Stück der Wand um mich herum sieht gleich aus – genau so, wie die Endpunkte der Gänge. Was, wenn es nur zu dunkel geworden ist, als dass ich die Durchgänge sehen könnte? Ich krieche also zur Wand und beschließe, an der Wand entlang zu gehen – mehr ein Robben ist das, als ein Gehen, da die Decke niedrig ist. Ich robbe an der Wand entlang, ich fühle und taste mich die Wand entlang. Meine Finger fühlen Staub, sie fühlen feuchten Beton, glatten Beton. Glatten, leicht gewölbten Beton. Sie fühlen keine Ritze oder Unebenheiten, die auf einen verschlossenen, versteckten oder verschütteten Durchgang hinweisen. Ich robbe die Wand entlang, die Wand des Raumes, die sich genauso anfühlt wie jeder einzelne der Endpunkte vorher, wie jede dieser Sackgassen, und mir wird klar: meine Bewegung vollzieht mit jedem Umlauf eine Spirale.
Eine Spirale, die nach innen zeigt.