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›45‹

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Die Wohnungstür war mit Stahlblech verbarrikadiert, als wenn die Russen wieder vandalisierend zu erwarten wären, die Wirtschaft am Ende, die Rohstoffe zur Neige gehend und für den Durchschnittsbürger nicht mehr erschwingliche Konsumgüter, sofern überhaupt noch Lebensmittel oder Wasser erhältlich waren – aus dem Hahn an der Wand kommt nur noch braun-gelbe Brühe zum Vorschein – schaffte ein »Ambiente«, bei dem man sich selbst im trauten zu Hause nicht mehr richtig heimisch fühlen konnte. Wo war all der Luxus geblieben und wie trostlos würde die Zukunft denn noch aussehen?

Was Frauke Quandt aus dem Fenster ihrer im dritten Stock in der Greifswalder Straße gelegenen Wohneinheit in Berlin dieser Tage sieht, treibt ihr das Wasser in die Augen. Mit ihren jetzt 55 Jahren hatte sie schon eine Jahrhundertwende und den Zerfall eines Staates auf deutschem Boden miterlebt; aber dass die Geschichte sich derart (zumindest in ihrem Ergebnis für die Menschen in Deutschland) wiederholen würde, hätte sie nicht gedacht. Dabei war sie als Deutsch- und Geschichtslehrerin an einer der wenigen noch funktionstüchtigen staatlichen Schuleinrichtungen geradezu prädestiniert, derartige Entwicklungen zu analysieren. Wenn da nur die Sache mit der Theorie und Praxis nicht wäre, denkt sie und ertappte sich gleichzeitig, in die Falle der Illoyalität geraten zu sein. Dabei gab es ja seit einiger Zeit keinen wirklichen Beamtenstatus mehr – zu sehr war dieses Berufsbild systematisch in Verruf geraten, den Staat zerstört zu haben. Sie war sich jedoch keiner solchen Schuld bewusst, denn sie war das nur während einer relativ kurzen Zeit von 19–33, wobei sie erst spät auf diesen Zug aufgesprungen war, aber immerhin.

Die Zeit ist nicht einfach. Die Jugend orientierte sich neu, die Inflation kam dazu und der Respekt vor den Autoritäten nahm von Jahr zu Jahr rapide ab. Wer wollte schon noch regiert werden – und von wem? Selbst ihren beiden Kindern Milva und Merkan, die nun auch schon 32 beziehungsweise 35 Jahre alt sind, kann sie die Geschehnisse nicht wirklich erklären. Wann hat es eigentlich dieses Mal angefangen, sich so dramatisch zu entwickeln, dass erneut alles in Trümmern liegt? Schutt und Asche wären ja eher verständlich gewesen, nur das hier war so gut wie unerklärlich. Ein Stein steht noch auf dem anderen, die Fassaden sehen aus wie neu, aber dahinter: aus und vorbei – nur Ruinen, Hülsen, mentale Zerstörung. Kulissen wie in Hollywood. Bei dem Gedanken an die verlorene Stadt muss sie auflachen – wie lange war das her, dass man aus diesem Teil der Welt etwas gehört hat?

Sie erinnert sich gut an ihren Vater, der vor 33 Jahren gestorben war und stets gesagt hatte, dass »wir den Bach runtergehen« würden. Tatsächlich daran geglaubt hatte sie nie. Doch die Zeichen waren unverkennbar – nur wahr haben wollte sie niemand. Wieso auch? Das Moderne gefiel und die perfekte Technik schien greifbar nahe. Gestört hatten nur die ewigen Mahner! »Und ich muss die Scheiße ausbaden« entfährt es ihren Lippen lauter als gewollt. Jede Zeit hat eben ihren eigenen Albtraum, der vor – wer könnte das genau sagen – begann? Wie soll man es beschreiben, wenn die Welt anfängt unterzugehen? Klar sind die Resultate: kein funktionierender Markt, keine offene Kommunikationsmöglichkeit, vom Klima ganz zu schweigen – dieser Winter will wohl nie mehr aufhören!

Das seit der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts einsetzende gebetsmühlenartige Nachgequatsche über Nachhaltigkeit von diesem und jenem hatte nicht verhindern können, dass so um 2022/23 bis auf Bayern alle Länder der Bundesrepublik pleite waren. Kurzerhand entschloss man sich, eine radikale territoriale Neuordnung verfassungsgemäß zu etablieren: Ab 2026 gab nun es einen Nordstaat, einen Mittelstaat und einen Südstaat.

Im Volksmund wurden diese wegen der linearen Trennlinien in der Reihenfolge mit »Schwarz-Rot-Gold« übersetzt. Dass die Bayern dabei mitgemacht haben, erkaufte man sich mit dem Zugeständnis, München ab 2036 zu Hauptstadt und Regierungssitz zu machen. Der BND konnte wieder in seine ursprüngliche Heimat umziehen. Berlin gehörte jetzt zum Mittelstaat und kämpfte immer noch mit den finanziellen und ökologischen Folgen der 2025 beschlossenen Einstampfung von BER, der unsäglichen »Willy-Brandt-Schutz-Fluch-Hafen-Posse« in Schönefeld, der mittlerweile vom Stadtgebiet auch schon vereinnahmt war. Das über die Jahre arg strapazierte Terminal in Tegel war 2029 wegen Baufälligkeit eingestürzt. Egal, heute fliegen sowieso kaum noch Privatleute. Immerhin hatte Tempelhof klammheimlich wieder seine Ehre als Zentralflughafen mit einer modernisierten Landebahn zurückerhalten, von der aus allerdings nur Militär-, Polizei- und Regierungsflieger operierten.

Das Unheil nahm im Kosmos seinen Lauf, ohne dass die Bevölkerung es zunächst als solches einschätzen konnte, weil keiner es ihr vermittelte. Dabei war der Wissenschaft das Ausmaß der Wahrheit klar: Dass nämlich die riesigen Sonneneruptionen die Umlaufbahn der Erde in Bälde kreuzen und der blaue Planet die Urgewalten des Universums zu spüren bekommen würde. Schließlich musste jeder von den starken Auswirkungen auf die technisierte Zivilisation Kenntnis nehmen; ein geordnetes Leben gehörte nicht mehr zur Normalität des einst gewohnten Alltags. Das bedeutete, sich von lieb gewordenen Dingen und Gewohnheiten zu verabschieden. Dass gleichzeitig das schützende Magnetfeld der Erde langsam aber sicher in sich zusammenbrach, blieb vielen verborgen – nur merkwürdige Krankheiten häuften sich.

All diejenigen Menschen, die in jahrzehntelangem Glauben an die Heilsbringer von denselbigen durch ungesunde, genmanipulierte Lebensmittel, Umweltverseuchung, Havarien von Kernkraftwerken, erst krank, dann von deren Medizin abhängig gemacht wurden, hatten – wie zufällig – keine Chance diese Katastrophenzeiten zu überstehen. Das »Problem Überbevölkerung« war zumindest zu einem Großteil »gelöst«. Wie sich die »Welt« doch immer »selbst reguliert«? Damit hausgemachte Katastrophen überhaupt ihre wahrscheinlich maximalen Schadensausmaße erreichen konnten, gab es keine organisatorisch angemessene Antwort des Staates für den Schutz der Zivilbevölkerung. Im Großraum Berlin leben noch knapp eine Million Menschen, in ganz Deutschland sind es vielleicht geschätzt gerade mal 20-30 Millionen.

Frauke Quandt muss sich zusammennehmen. Sie hat Hunger und nur noch wenig dieser Währung vorrätig, die für solche Zeiten immer wichtig waren: Kaffee und Tabak, (wobei Zigaretten seit vielen Jahren Mangelware sind). Nach der Häufung von nicht mehr zu deckelnden Internet- und Kreditkartenbetrügereien, war »anonymes Geld« zwar wieder in Mode gekommen, aber nicht für alles brauchbar. Gott sei Dank, war sie immer Raucherin gewesen und kannte die verbotenen Quellen in der Stadt. Nur wollten die einen lukrativen Gegenwert – und der war Papiergeld nun mal nicht mehr. Aufgrund ihres Berufes hatte sie aber, was diese Leute wollten: Adressen von lebenden Bürgerinnen und Bürgern, samt deren Kindern. Oh ja, das war einiges wert!

Was würden wohl gerade ihre Kinder machen? Als der ganze Mist begann, waren Milva 9 und Merkan 12. Wie so oft, hatte keiner die Warnungen ernst genommen. Jede Katastrophe wurde mit der anderen begründet. Und es gab nur einen Verlierer: die Bevölkerung. Zuerst hat die Regierung versucht, uns zu beruhigen, dann zum Durchhalten ermuntert. Und ja, der Drang zur Hilfsbereitschaft hat alles nur noch weiter hinausgezögert. Wir haben den letzten Notgroschen (was für ein anachronistisches Wort, denkt Frauke in dem Moment) gegeben, in der Hoffnung, wir retten den Staat, denn der lässt uns nicht hängen – denkste, haste jedacht: det is nu Berlin – alles im Arsch anno 45.

Nach dem Ende der EUROphorie, der »Globalen Geldvernichtung« in 29/30 und dem daraus resultierenden Zusammenbruch der kleineren Konzerne, folgte fast zwangsläufig die Auflösung der Nationalstaaten. Nur Deutschland wurde durch die Weltgemeinschaft in 38 ein temporärer Fortbestand mit der Republik-Mark (REMA) zugebilligt, um die aufgrund der im Jahr 18 von der Bundesregierung ausgesprochenen Gesamtentschuldigungsleistung noch aufbringen zu lassen. Immerhin konnte die Regierung den anderen sterbenden Staaten das Zugeständnis abringen, den 100. Jahrestag der Entstehung des Grundgesetzes noch feiern zu dürfen. Welch ein Gewinn! Und warum wiederholt Geschichte sich doch meistens irgendwie im Kern? Der Tag der Auflösung der Republik wurde auf die Silvesternacht vom 31.12.2049 zum 1.1.2050 festgesetzt. Was danach kommen wird, weiß bis heute niemand.

Irgendwann hieß es, dass die Erde einer Kollision mit einem Asteroiden gerade noch mal so entschlüpft war. Der Abstand soll nur wenige tausend Kilometer betragen haben. Jedenfalls soll die ISS mit abrasiert worden sein. Es kümmerte irgendwie keinen so richtig, da sowieso alles in Destruktion begriffen war, seit 39 der fatale Ausbruch der Caldera des Yellowstone National Parks weite Teile der westlichen USA in unbewohnbare Regionen verwandelt hatte. Selbst die US Strategen konnten die Ursache dafür nicht in ominösen kommunistischen Aktivitäten vermuten! Mit dem Niedergang der USA drei Jahre nach ihrem glamourösen »250th Anniversary« wollte Europa sich auch solidarisch erweisen und gab den Anspruch seiner politischen Weiterexistenz in die Hände einer Weltregierung, geführt unter asiatisch dominierter Vormachtstellung. Ausschlaggebend hierfür war der kontinentale Bevölkerungsproporz.

Ab Januar 45 war der Strom rationiert. Die starken Netzschwankungen hielten ohnehin nur die guten alten Glühbirnen aus, von denen Frauke ebenfalls einige auf Vorrat hatte, obwohl seit zehn Jahren sogar mit polizeilichen Wohnungsdurchsuchungen gerechnet werden musste, weil seit 32 jetzt selbst die Verwendung dieser Leuchtmittel aus dem vorherigen Jahrtausend verboten worden war. Deshalb versuchte die Strommafia das Leitungsnetz mit 280 Volt zu fahren, um die Glühbirnen zu killen. Dabei interessierte es die Leute schon lange nicht mehr, was für Gesetze gemacht wurden. Denn mit der Novelle von 2020, wonach die Parlamentssitze bloß noch in der Anzahl der Prozente der Wahlbeteiligung zur Verfügung standen und diese unter 20% lag, empfand die Mehrheit die Regierung als nicht legitimierte Minderheitsverwaltung und scherte sich überhaupt einen Dreck um das, was von außen kam, weil es an jeglicher Realität vorbeiging. Die Sache schlug Kapriolen wie das Furz-Verbotsgesetz (FzVerbG), die Verschmutzungssteuer und die gefährlichen Aschus: Abfallschnüffelhunde, die die Benutzung untersagter Stoffe aufspüren.

Sie greift zu einer Zigarette, ein Stoff, der ebenso auf dem Index stand. Das lässt sie in sich hineingrinsen. Sie hat auch noch eine alte Petroleumlampe von ihrem Großvater, die sie hin und wieder anzündete. Das war wegen der CO2-Emission natürlich völlig verboten. Aber sie liebte den Duft, die fast blakende Flamme mit dem warmen Lichtschein. Leider neigten sich die persönliche Petroleumreserven dem Ende zu – na, ja, ihr würde auch dazu was einfallen.

Diese ganzen scheiß Verbote. Wofür? Was haben sie geholfen? Was haben sie verhindert? Absolutely nothing – das war von wem, verdammt noch mal? War, hoo, what is it good for? Absolutely nothing. Genau: Edwin Star. Sie blickt wieder aus dem Fenster: Langsam gerät wohl alles aus den Fugen! Frauke steht immer noch am Fenster und schaut verstört auf die überschaubare Menschenmenge. Irgendetwas schmerzt wieder in ihrer Lunge. Wahrscheinlich diese verdammten Nanostäube, die seit vielen Jahren in sämtlichen Produkten ohne Sinn und Verstand verarbeitet werden. Wegen der schallgeschützten Fenster kann sie nicht hören, was sie draußen rufen, ahnt es aber.

»So ein Blödsinn«, stößt sie mit einem Anflug erstickender Stimme hervor und erschreckt bei den seit dem Selbstmord ihres Vaters in ihr aufkeimenden Gedanken. Er war im Jahr des Mauerbaus in Kreuzberg geboren und gehörte zu den wenigen, bedauernswert empfindsamen Menschen, die das unerklärliche Phänomen dieses tiefen, intervallmäßigen, Schlaf raubenden Brummtons bereits in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts permanent wahrnahmen. Wenn überhaupt ernsthaft, wurden die Betroffenen gegen Stress, Tinitus oder Burnout-Syndrom behandelt und im Grunde für Spinner oder Simulanten gehalten.

Das war jene Zeit, als das prophylaktische Reservieren von Buchstabenkombinationen für Autokennzeichen ostdeutscher Städte von »denen da drüben« als imperialistische Kriegstreiberei bezeichnet wurde und für die westliche Seite klar war, dass der dritte Weltkrieg an einem Freitag um 17 Uhr mitten in den feierabendlichen Berufsverkehr hereinbrechen – und darin stecken bleiben würde! Mit anderen Worten: Es war die Zeit, als man sich über nichts als das Waldsterben, die Ölkrise, das Ozonloch, den sauren Regen und die Endlagerung des Atommülls hatte Sorgen bereiten müssen.

Drei Jahrzehnte später wuchs die Zahl der in den Wahnsinn oder die Lethargie getriebenen Leidenden immer stärker an, weil die Frequenz des Tons anstieg und einem größeren Kreis »zugänglich« wurde. Niemand schien eine Erklärung dafür zu haben oder geben zu wollen. Staatliche Stellen schwiegen sich aus und ließen damit Raum für alle möglichen und unmöglichen Spekulationen. Den Betroffenen half das nichts, sie flüchteten sich in die Isolation. Ein gequältes Lachen durchzuckt Frauke – was rankten sich nicht alles für Theorien darum?

Angefangen von der »Operation Teddybär«, einem Waffenexperiment gegen die Westberliner Bevölkerung, über Vermutungen von einer riesigen unterirdischen Ringantennen-Sendeanlage auf dem Flughafen Tempelhof zur Langwellenkommunikation mit getauchten amerikanischen Atom-U-Booten, bis hin zu Signalen fremder Wesen vom Mars. Tatsächlich war es offensichtlich so, dass die Gesamtheit der irdisch erzeugten Funksignalenergie die Atmosphäre in eine gigantische Mikrowelle verwandelte und diesen Ton verursachte. Als nach den Katastrophenjahren sämtliche Funkübertragungsnetze zusammengebrochen waren, verschwand auch das Brummton-Phänomen. Dadurch wurde einigen klar, dass vermutlich nicht – wie beschwörend behauptet und das Auto verteufelnd – das CO2 die treibende Kraft der Erderwärmung gewesen war. Erneut ein fataler Irrtum der Wissenschaft mit profitabler Begleiterscheinung? Wenn ja, dann nicht für mich und auch keinen, den ich kenne, denkt Frauke mit aufkeimender Verbitterung.

Denn am 21.12.2012, im Alter von gerade einmal 51 Jahren, stürzte ihr Vater sich aus dem Fenster des Sanatoriums, wohin man ihn – kurzerhand amtlich entmündigt – verfrachtet hatte. Sie hatte ihn dort nie besucht; schließlich hatte er auch ihre Mutter, die er auf einer Stippvisite an die Ostsee geschwängert hatte, im Stich gelassen. Sie war das Produkt dieser liebsamen Urlaubsaffäre.

Kennen gelernt hatten er, der spätere Neuköllner und sie sich kurz nach dem Mauerfall, als ihn ein spontaner Einfall eines schönen Tages im Dezember 1989 in die HO-Gaststätte Glanzeck am Baumschulenweg in Treptow führte, wo ihre Mutter, eine gebürtige Lichtenbergerin, damals als Aushilfsbedienung arbeitete. Sie kam mit ihm über drei Typen, die bis dahin einzigen Gäste im Lokal, die sehr angeregt angeblich eine Wette über die Grenzöffnung begossen, näher in ein Gespräch, bei dem es nicht blieb. Mit ihren heute 80 Jahren ist sie immer noch rüstig und sie beide treffen sich in Abständen, obwohl die Fahrt von Rügen ihr doch zunehmend schwerer fällt.

»Nun denn«, fordert sie sich selbst auf, das Fenster zu öffnen. Obwohl es schon länger keinen normalen, privaten Autoverkehr mehr gab, war die Luft verquast und alles andere als frisch. Jetzt vernimmt sie deutlich, was die Menge wiederholend unter tosendem Beifall skandiert: »Rette die Republik«. Und es gilt ihr: Frauke Magdalena Quandt, geboren am 3.10.1990 in Berlin-Pankow. So war es seit rund fünf Jahren Brauch, wenn jemand als Ritter der Republik neu in die Organisation aufgenommen worden war, wozu sie sich vor einiger Zeit entschieden hatte. Die einzigen Bedingungen für eine Mitgliedschaft waren, dass die Person auf natürliche Weise gezeugt worden war und sich getreu dem Motto »Suche die Wahrheit. Trotze der Willkür.« zu verhalten hätte. Damit hatte sie keine Schwierigkeiten. Sie gönnt sich einen mehr als Daumen dicken Schluck Armagnac – immer noch aus dem Vermächtnis ihres Vaters. Ja, jetzt ging es ihr schon besser; der Mut kehrte in sie zurück. Ein Gefühl, dass sie sichtlich genoss.

Seit wann fuhren eigentlich keine Autos mehr? Seit wann war das »Volksvermögen« perdu? Seit wann ging es nur noch bergab? Wann war sie auf die »Ritter« gestoßen? Was hatte sie daran so fasziniert? Wollte sie das wirklich tun? »Verdammt noch mal ja, ja, ja!« Sie fällt fast aus dem Fenster, als sie der kleinen jubelnden Schar zuwinkt. Wie muss es sich wohl für Despoten vor tausenden Leuten angefühlt haben, schießt es ihr durch den Kopf? Wie konnte ein solch perfider Gedanke an Tyrannei gerade in dem Moment höchster Freude und Anspannung ihr in den Sinn kommen? Das Gehirn ist eben eine unnachgiebig quälende und Gedanken fordernde Masse, ob du nun willst oder nicht – verflucht! Es erzeugt stets ein Gegengewicht zu deinen Gefühlen.

Bis Hartz IV war noch alles im Lot. Als die Regierung aber Hartz VII und VIII in Kraft setzen wollte, brach sich der über Jahre aufgestaute Unmut Bahn. Der Zorn von Jung und Alt entlud sich und schwemmte die etablierte Form der Parteiendemokratie quasi über Nacht einfach hinweg. Merkwürdig war der geringe Widerstand der Sicherheitsdienste. Selbst die Polizei schien vom Geist der Zeit beseelt und erfasst worden zu sein. Niemand stützte mit Macht das Establishment. »Und das ist auch gut so.« Ein ziemlich alter Ausspruch, der mal für Aufsehen gesorgt haben soll, glaubt Frauke sich vage zu erinnern.

Fast zeitgleich tauchte ein neues Problem auf, seit zufällig entdeckt wurde, dass Träume von Leuten, die nach den Katastrophen aus Angstzuständen entstanden, offenbar derart starke Energien entwickelten, sich unkontrolliert über Telepathie an andere Menschen übertrugen. Nun wollte aber niemand seinem unbekannten oder gar identifizierten »Traumpartner« tatsächlich begegnen; fortan mied man die Öffentlichkeit, soweit wie irgend möglich. Andere wieder waren ganz verrückt danach, es mental noch gezielter zu beeinflussen, mit wem oder über wen man träumen wollte; das nannte sich auf neudeutsch »Dreamdating« und entwickelte Suchtcharakter. Einige glaubten, es ließen sich sogar Morde damit begehen – das wäre dann wohl die finale Form des perfekten Verbrechens.

Wenngleich staatliche Expertisen Befürchtungen zu zerstreuen versuchten, die die implantierten IMP-Chips (Incooperated Mankind Programming) damit in Verbindung brachten, blieb die Annahme als hinreichend begründet im Raum. Diese IMPs waren in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit, Risiken und Nebenwirkungen nie völlig offenbart worden, werden aber bei jeder Retortengeburt automatisch implantiert. Dies kann auf behördliche Anordnung auch bei anderen später vollzogen werden. Beispielsweise konnte jemand mittels teurer Sprachspritzen jede Fremdsprache verfügbar machen und – je nach Preis – über einen entsprechenden Zeitraum aktiv verwenden. Damit entfiel das konventionelle, kognitive Erlernen. Dass dabei etwas mit dem Gehirn passierte, dürfte selbst dem größten Deppen klar sein.

Die EU war 2041 bis an den Rand des Ural-Gebirges vorgestoßen, weil Russland sich vor den wieder vereinigten islamistischen Nachfahren der einstigen Goldenen Horde des Dschingis Khans unter den Schutzmantel der NATO flüchten musste und nach dem »Ausfall« der USA zumindest nunmehr deren militärische Hauptmacht stellte. Weißrussland wurde einfach ungefragt »mitgenommen«. Damit wuchs natürlich auch der politische Einfluss Russlands in Europa, was vieler Orts in Ermangelung von Alternativen zähneknirschend zu akzeptieren war. Mit diesem Schritt hatte sich auch die Bevölkerungsstruktur von ihrer Masse her schlagartig deutlich in Richtung des alten Ostblocks verschoben. War das ein verspäteter Sieg der UdSSR ohne Krieg zur EUdSSR?

»The world is turning – fehlt ja bloß noch der Polsprung, dann wäre das Desaster komplett«, entspringt es flüsternd Fraukes Gedanken. In Südamerika tobt seit 10 Jahren der mörderische Kampf um die Vorherrschaft zwischen den mächtigsten Drogenkartellen. Die Staatengrenzen waren faktisch aufgelöst und existierten nur noch auf Landkarten. Der ganze Teilkontinent war fast waldlos gerodet und erodierte fruchtlos und mit der Bevölkerung furchtbar leidend vor sich hin. Die Mexikaner hatten eine neue »chinesische« Mauer errichtet und schützten ihr Aztekenreich mit gnadenloser Entschlossenheit gegen jeden Eindringling von Süden. Die ehemaligen Gringos, die in Scharen zu ihnen strömten, machten ihnen offenbar weniger Angst – oder weil sie gleich mit Panzern kamen? General Scott war 1847 ja schon mal so weit runter »zu Besuch« gekommen; jetzt waren es seine »Verwandten«. Man konnte sich eben nicht gegen alle Seiten wehren und brauchte im Zweifel neue strategische Verbündete.

Australien war ein Opfer ständiger Feuersbrünste geworden, sodass »Down Under« für Mensch und Tier praktisch als unbewohnbar zu bezeichnen war. Untergegangen waren auch Indonesien und der indische Subkontinent, die permanent vollständig überschwemmt werden. Weil die Chinesen ihr Territorium mit Mann und Maus verteidigten, überflutete die Flüchtlingswelle das ohnehin arme und zu einem Drittel aus Wüstenlandschaften bestehende Afrika mit erbärmlichen Folgen. Nato-Streitkräfte schossen konsequent auf alles, was Afrika über das Mittelmeer gen Norden überqueren wollte. Die Araber wussten nicht, auf welcher Seite sie stehen wollten und waren schließlich umzingelt. So können sie sich in Ruhe selbst von ihrem einstigen Reichtum verabschieden, denn Öl war aus. Von Japan, Südost-Asien und dem pazifischen Inselraum hatte man nichts mehr gehört. Jedenfalls waren schon länger keine Suschi-Touristen mit Kameras in anderen Teilen der Erde gesichtet worden. Die Weltbevölkerung soll nun angeblich 4 Milliarden Menschen betragen, rund ein Viertel davon »Schlitzaugen«. So sieht das also aus – im Großen und Ganzen nicht gerade himmlisch.

Apropos himmlisch: Die einzigen paradiesischen Zustände schienen sich heute in den polnahen Regionen im Norden sowie im Süden zu befinden. Wenig Eis und moderate Temperaturen ließen dort Gefühle an ehemalige Winterurlaube entstehen. Allerdings war die Gruppe derer, die über die logistischen Möglichkeiten und benötigten Finanzmittel verfügten, an zehn Fingern abzählen. Nichts für Otto Normalbürger, da half auch der Ritterstatus nichts, obschon er ein paar Vorteile brachte. Privilegien wollte sie es nicht nennen, doch anfangs hatte sie etwas Skrupel, sich mit dieser Aura wirklich umgeben zu wollen. Aber was soll’s, irgendwie klarkommen war schließlich nichts Ehrenrühriges, um diese Kleinigkeiten kategorisch abzulehnen. Und letzte Woche kam das letztlich ersehnte Daten-Modul per Bote extra zu ihr nach Hause, ausgewiesen für

PIDN 3.782.614-509 Ritter Magdalena, beinhaltet Anspruch auf:

VerZ/K Verpflegungskomfortzuweisung
RSK/2 Rettungsschutzkarte Stufe II (Gold) mit individueller Notrufnummer
ARL/1 Jährliches Sonderziehungsrecht für die Altersrentenlotterie
WGW Wohnrechtschutzgarantie mit beliebiger Wohnsitzwahl

Frauke hält das kleine, unscheinbare technische Micro-IMP-Wunderwerk zwischen Daumen und Zeigefinger und glaubt, ob der damit verbundenen Möglichkeiten, zu träumen. Sie ist froh, sich so entschieden zu haben. Mit einem Schluck gehüteten sauberen Wassers spült sie die IMP in sich hinein, sie würde die korrekte Stelle in ihrem Körper von selbst finden und sich dort einnisten. Ab Morgen 0 Uhr UTC würde sie aktiv verwendbar sein. Wie viele Ritter es gibt, ließ sich aus der Identifikationsseriennummer jedoch nicht ableiten.

Nachdem es sukzessive seit Anfang der 30er Jahre schon kaum noch eine Marine oder Luftwaffe in Deutschland gab, wurden die bis dato noch verbliebenen Teile der Bundeswehr zu Ende 2039 völlig als Armee beerdigt. Um die aufgelösten Bereiche nicht auch faktisch in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, wurde eine künstliche Sonderpolizeitruppe, der BESD geschaffen, die als Verstärkung der innerstaatlichen Sicherheits- und Katastrophenschutzbehörden dienen sollte, ohne dass diese ihrem »neuen Partner« allzu viel Vertrauen schenkten und das auch öffentlich Kund taten.

Meistens wurde der BESD benötigt, um Auswirkungen regionaler Katastrophen in Grenzen zu halten. In den steppenähnlich verödeten Gebieten Zentraldeutschlands tobten oft Sandstürme, die monatelang versiegten Flussläufe gerieten während extremen Starkregens oder aufgrund der Schneeschmelze nach den langen Wintermonaten regelmäßig außer Kontrolle und rissen jeglichen spärlichen Pflanzenwuchs mit sich. In den Alpengebieten waren die gravierenden Wetterumschwünge zur physischen Unerträglichkeit erwachsen. Alles flüchtete im Land vor irgendwelchen Gefahren hin und her, bloß um an anderer Stelle neue unschöne Erfahrungen damit zu sammeln. Die »Regierung« konnte ohnehin nur tatenlos zusehen und ihren anachronistisch anmutenden Selbstschutzslogan »Bleib zu Hause« daherbeten. Viele wussten gar nicht mehr, wo das überhaupt sein sollte.

Es war allein schon ein täglicher Albtraum zur Arbeit zu kommen, so man eine hatte. Die Reise über ländliche Gebiete geriet zum Abenteuer. Fuhr die Bahn? Waren die Straßen befahrbar? Bekam man Sprit und Ersatzteile für sein Auto? Waren marodierende Banden unterwegs? Rosig war nur der morgendlich im Dunst des Staubes zu beobachtende Sonnenaufgang, der im Sommer eine brütende Hitze von mindestens 45°C versprach. Das irdische Leben verbrannte regelrecht in sengender Mittagsglut. Und nichts, aber auch gar nichts war mehr zur Kühlung funktionsfähig. Klimaanlagen ohne Strom, Freibäder ohne Wasser, Gletscher ohne Eis, Flüsse ausgetrocknet, Seen kochend heiß, keine Bäume, kein Schatten, Wohnungen glichen Brutkästen, Gott sei Dank, wer einen Keller mit Tiefbrunnen hatte. Er sollte besser niemandem davon erzählen, denn das ist unbestritten das Gold dieser Tage!

Sie hat das alles nicht. Weder Brunnen noch Keller – wenigstens Arbeit und jede Menge Wissen von ihrem Vater über das Verhalten in Notfällen. Auch wenn der Kalte Krieg kaum etwas mit der Situation der heißen Zeiten von heute gemeinsam hat, das Überleben reduziert sich auf kleine Aspekte mit großen Effekten im Kampf mit den Elementen und der Kenntnis über die Funktionsweise des Organismus Mensch in solchen Lagen. »Und davon habe ich mehr Ahnung als die meisten Artgenossen«, konstatiert Frauke selbstbewusst. Leid tun ihr ihre Kinder. Herrje, was machen sie bloß und wo sind sie? Die letzte Verbindung zu ihnen ist jetzt wie lange her? Sie ist irritiert.

Unverzehrtes Leben

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