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Ich bin raus. Und ich bin froh, dass ich raus bin, war es vom ersten Tag an. Kann diese coolen Typen nicht mehr sehen, ob sie nun Kriminelle sind oder Polizisten. Sie halten sich für „cool“, was immer das heißen soll. Ich finde sie einfach nur ignorant.

Ich war neunzehn, als ich in den Polizeidienst eingetreten bin, vor neunundvierzig Jahren. Ich wollte die Täter nicht nur hinter Schloss und Riegel bringen, sondern mit ihnen reden, verstehen, warum sie es getan hatten. Ich gebe zu, das war naiv.

Na und? Lieber naiv als cool. Ich war nie cool, hab mir auch nie Gedanken darum gemacht. Ich wollte überhaupt nie irgendwas anderes oder irgendwer anderer sein als ich selbst. Das fand ich schon schwierig genug

Immerhin, manche von den Jungs haben mich tatsächlich verstanden. Die paar haben kapiert, dass ich sie als Menschen gesehen habe, nicht als Kriminelle. Es waren nicht viele, vielleicht sieben oder acht. In neunundvierzig Dienstjahren. Aber die sieben oder acht haben ihr Leben geändert und sind ausgestiegen. Das hat mir viel bedeutet. Denn auf einen, der es schafft, kommen fünfzig, die es versuchen. Und tausend, denen es scheißegal ist. Die nur lachen über einen naiven Bullen wie mich.

Wie gesagt – ich bin froh, dass ich raus bin.

Koller kenne ich, seit er in meinem Kommissariat angefangen hat, einige Jahre vor meiner Pensionierung. Er hört zu, nimmt sich Zeit. Man hat bei ihm den Eindruck, er will den Dingen auf den Grund gehen, denkt nach über Hintergründe und auch über sich selbst. Das fiel mir einfach auf. So jemand hat’s schwer. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.

Ich sage Ihnen, wir werden niemals behaupten können, dass wir über jemanden Bescheid wüssten, dass wir verstanden hätten, wie ein Mensch tickt. Es kommt immer einer, der denkt ganz anders, als wir uns vorstellen können. Einer, der unsere Welt auf den Kopf stellt, weil er seine ganz eigene Logik hat, seinen ganz eigenen Weg geht. Und irgendwie sogar recht hat, auf seine ganz eigene, unerwartete Weise. Bloß, seine Weise passt nicht in diese Welt, weil kein anderer sie versteht. So wie in diesem Fall.

Das ist ein Problem, für das es keine Lösung gibt. Ich jedenfalls kenne keine. Nicht in dieser Welt.

„Ja, wenn ich es doch sage: ein Schnitt! Komm her und sieh dir das selbst an. So was habe ich in all meinen Dienstjahren nicht gesehen.“

Koller blickte ungläubig auf sein Handy. Hatte er richtig gehört? Aber Kollege Berger war nicht für schrägen Humor bekannt.

Es war ein Samstagvormittag im Juli. Er stand hinter der Kasse im Supermarkt, steckte das Handy ein und machte sich auf den Heimweg. Zurück in der Wohnung packte er die Einkäufe in den Kühlschrank. Im Flur griff er nach der Baumwolljacke an der Garderobe und rief Jenna zu, dass er einen Einsatz hätte, doch es kam keine Antwort. Er zuckte die Schultern, schnappte sich den Helm und machte sich auf den Weg.

Der Tatort lag in der Nähe der Bonner Universität am Rathenau-Ufer, in Sichtweite der Kennedy-Brücke und des Rheinpavillons. Mit dem Roller brauchte er weniger als eine Viertelstunde. Es war ein schwimmender Anleger für Personenschiffe, wenige Schritte rheinaufwärts von der Fähre nach Bonn-Beuel.

An einem sonnigen Wochenende wie diesem waren jede Menge Leute unterwegs. Koller parkte die Vespa neben dem flatternden Band und bückte sich unter der Absperrung durch. Er betrat den Steg, der zu dem schwankenden Anleger hinabführte. Der Rhein führte wenig Wasser.

Die Anlegemole bestand aus einer sechseckigen Konstruktion aus Eisenplatten. Sie bildeten ein Ponton, das außer über den Steg über je zwei Stahlseile am vorderen und hinteren Ende mit dem Ufer verbunden und so in der Strömung verankert war. Das Ponton hatte die Größe eines kleinen Kellerraumes. Durch eiserne Falltüren gelangte man hinein.

Berger wartete neben der offenen Eisenklappe. Koller beugte sich über die quadratische Öffnung und sah den Arm einer Frau.

„Die Spusi war schon da, wir können rein“, sagte Berger.

Koller zwängte sich durch die Falltür und stieg die Eisenleiter hinab. Ein Kollege von der Spurensicherung hatte zwei starke Leuchten aufgestellt, die den schwarz gestrichenen Eisenraum in helles, doch zugleich seltsam graues Licht tauchten. Der Stahlboden wurde vom Fluss kühl gehalten, Wände und Decke dagegen waren heiß von der Sonne.

Die Frau lag auf dem Boden des Pontons. Die linke Ledersandale war von ihrem Fuß gerutscht. Fliegen kreisten um die Tote.

Ihr weißes Sommerkleid war mit großen, roten Blumen bedruckt. Eine Blüte auf ihrem Bauch war seltsam in die Breite gezogen. Es war Blut, das sich ausgebreitet hatte.

„Was weißt du?“ fragte er Berger, der jetzt neben ihm stand, ohne den Blick von der Frau zu wenden.

„Nicht viel“, erwiderte Berger. „Ein Penner, der hier unten übernachten wollte, hat sie gestern am späten Abend gefunden.“

„Warum erfahre ich erst jetzt davon?“ fragte Koller ohne Vorwurf.

Er öffnete einen Knopf an seinem Hemd. Er war gerade erst gekommen, und schon drang ihm der Schweiß aus allen Poren.

„Erst heute morgen wurden wir angerufen. Der Penner ist die ganze Nacht herumgelaufen, wohl aus Angst, man könnte ihn gesehen haben. Dann hat er irgendwem davon erzählt und wir wurden informiert. Anonym.“

„Na traumhaft. Der oder die Täter hatten also alle Zeit der Welt, sich davonzumachen.“

Die Männer hatten Schweißperlen auf der Stirn, schweigend betrachteten sie die Tote. Sie war Anfang dreißig, vielleicht einsfünfundsechzig groß, kräftiges Haar, blond gefärbt, am Scheitel dunkler Ansatz. Roter Lippenstift ließ ihr Gesicht noch blasser wirken. Markante Wangenknochen prägten das breite Gesicht. Die Haare am Hinterkopf waren blutverklebt.

„Was sagtest du von einem Schnitt?“ fragte Koller.

Berger gab ihm einen Wink, sie knieten sich neben die Tote.

„Dr. Schengen sagte was von ,Tod durch induzierten Herzstillstand‘“, sagte er.

Er wies auf einen etwa fünfzehn Zentimeter langen Schnitt links unter dem Brustkorb. Mit einem Kugelschreiber hob er das zerteilte Kleid vorsichtig an, so dass Koller die darunter liegende Haut sehen konnte. Sie klaffte ein wenig auseinander. Ein Schnitt war offenbar durch das Kleid hindurch ausgeführt worden, mit einer sehr scharfen Klinge. Sie hatte Haut und Fleisch unterhalb der Rippen glatt durchtrennt.

„Der Schnitt ist gerade so groß, dass —“

Bergers Stimme klang heiser, gepresst, brach dann ganz ab. Koller sah ihn erstaunt an, während Berger sich räusperte und mit rauer Stimme weitersprach.

„— dass eine Hand hindurch passt.“

Ein eiserner Riegel wurde zurückgeschoben. Knarzend öffnete sich die Tür, Sonnenlicht flutete in die Kammer und blendete die Frau. Erschrocken wandte sie den Kopf ab und legte einen Arm vor die Augen. Sie hockte auf dem Boden, nackt.

Schritte knirschten. Ein Mann legte ihr ein Hundehalsband um, hakte eine Lederleine ein und zog sie wortlos daran hoch. Dann zerrte er sie ins Freie.

Die Frau konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihre Schenkel waren von Exkrementen, Staub und Blut verdreckt, der Rücken von Wunden verkrustet, ebenso Arme und Hände. Ihr Alter war kaum zu erkennen, das Gesicht war zu sehr geschwollen, aber sie schien recht jung zu sein.

Mit einem scharfen Ruck brachte der Mann sie zum Stehen. Schwankend blickte sie sich um.

Sie war umringt von etwa dreißig Frauen, die sie nur schemenhaft sehen konnte. Aber sie wusste, wer da stand, wenn sie auch nicht die Namen kannte. Alle waren zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, drängten sich ängstlich aneinander. Keine sagte ein Wort.

„Seht genau hin!“ brüllte der Mann. „Das passiert, wenn ihr versucht zu fliehen!“

Er schlug sie mit der Hundeleine. Sie schrie auf. Die anderen Frauen rissen die Augen auf, hielten die Hand vor den Mund.

„Hinsehen sollt ihr!“

Wieder schlug er die Frau. Sie hielt die Hände über ihren Kopf, doch sie war völlig schutzlos. Er gab ihr einen Stoß, sie fiel hin. Dann öffnete er seine Hose und urinierte auf sie.

„Überlegt es euch gut. Ihr habt keine Chance.”

Er ließ die Leine fallen.

„Heute Abend will ich Halsband und Leine sauber wiederhaben. Und du —“ er stieß die Frau mit dem Fuß an, „— wasch dich, du Schlampe, du siehst zum Kotzen aus.“

Als er ging, war selbst der Sonne das Lachen vergangen.

„Lass uns von hier weggehen, Vera“, sagte der junge Mann.

Er hielt die Hand des Mädchens, das ihm in dem kleinen Café gegenüber saß.

„Hier in Moldawien ist es so schwer, Arbeit zu finden. Aber wenn wir erst im Westen sind –“

„Glaubst du wirklich?“

„Schau dich doch um! Es kann nur besser werden.“

„Aber meine armen Eltern, Alex!“

„In Österreich wirst du als Kellnerin mehr Geld verdienen, als du hier jemals könntest. Dann kannst du ihnen so viel schicken, dass sie gut versorgt sind.“

„Das stimmt.“

Sie war neunzehn und liebte ihren starken Alex. Seit drei Wochen waren sie zusammen. Auch ihre Eltern hatten ihn schon kennengelernt. Er hatte mit seinem Handy sogar Fotos von ihnen gemacht, weil er sie so gern mochte.

„Dann lass uns bald fahren. Hast du deinen Pass?“

„Ja, aber ich habe Angst, Alex. Was ist, wenn wir uns streiten oder nicht mehr vertragen? Wie soll ich dann nach Hause kommen?“

Er küsste ihre Hand.

„Vertrau mir, Vera. Du hast doch schon angefangen, Deutsch zu lernen.“

Sie lächelte. Im Westen würde alles besser werden, sie würde Geld verdienen und ihre Eltern unterstützen können, die von ihrer lächerlich niedrigen Rente nicht leben konnten. Und es war so schön, verliebt zu sein.

„Was hast du gesagt?“ fragte Koller ungläubig.

„Es ist mehr als nur eine Freundschaft, wir haben eine Beziehung“, sagte sie und sah ihm in die Augen. „Und ich bin sehr glücklich.“

Jenna sprach ganz ruhig. Falls sie nervös sein sollte, so war nicht viel davon zu bemerken.

Koller versuchte zu begreifen, was der Satz bedeuten würde, den er soeben gehört hatte. Vergeblich.

Jenna hielt genau wie er eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand, sie standen vor dem neuen Kaffeeautomaten in der Küche. Es war Samstagnachmittag, er war nach dem Besuch des Tatorts wieder zuhause.

„Wie lange geht das jetzt schon?“ fragte er heiser.

„Seit letzter Woche. Du weißt doch, ich hatte angerufen, dass ich in Köln bleiben und bei Rolf übernachten würde, weil es schon so spät war.“

„Ja, aber ich dachte nicht, dass du ... dass ihr ...“

„Ich wollte sicher sein, dass es nichts Zufälliges ist“, sagte sie. „Er sagt, er liebt mich, und ich liebe ihn.“

Sie sah ihn unentwegt an. Er liebte seine Frau, und doch war es seit Jahren nicht einfach gewesen. Seit einem Jahr hatten sie immer weniger miteinander gesprochen und zuletzt kaum noch miteinander geschlafen.

Verlegen standen sie sich gegenüber und schwiegen. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sagte, sie wolle erstmal duschen gehen.

Er blieb in der Küche, trank von dem heißen Kaffee und versuchte zu sortieren, was da in ihm vorging. Es wollte ihm nicht gelingen.

Er hörte das Wasser in der Dusche rauschen, zog sich an und irrte hinaus in den Sommertag, dessen Heiterkeit ihn frieren ließ.

Der kleine, stämmige Mann seufzte. Er schulterte seine Reisetasche und trat aus dem Gasthaus hinaus in das Licht der Maisonne. Am Rande der staubigen Straße blieb er neben seinem weißen Mercedes-Kleinbus stehen. Er legte die Hand an den Schirm seiner Kappe und schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Dunst, der die Straße am Horizont verschluckte.

Bald würde auch er mit seinem Bus in dieser Ferne verschwinden.

Er öffnete die Beifahrertür, warf seine Tasche hinein und ging ein letztes Mal um den Wagen herum. Sorgfältig kontrollierte er Reifen und Bremsen.

In Kirgisien fahren Hunderte dieser alten Kleinbusse, Marshrutki genannt. Lokman hatte die Marshrutka vor ein paar Jahren gekauft, um sein Geld damit zu verdienen. Eine Zeit lang war er von der Hauptstadt Bishkek aus Überlandstrecken gefahren, später auch nach Almaty und Taras in Kasachstan und nach Taschkent in Usbekistan. Das waren überschaubare Strecken von einigen Hundert Kilometern gewesen.

Seit er für die Organisation arbeitete, fuhr er von Zentralasien bis an den Rand Europas. Sie hatte ihm vor seiner ersten Fahrt das gesamte Auto überholen und sogar neue Reifen aufziehen lassen. Der Wagen war mehrere Tage in der Werkstatt gewesen, ohne dass er dafür bezahlen musste.

Er öffnete die rechte Hecktüre. Im Gepäckraum hinter der Sitzbank stand ein großer Wasserkanister mit Zapfhahn auf zwei Reserverädern, festgeschnallt mit Gurten. Daneben lagen Decken und ein Karton mit Zeitschriften gegen die Langeweile.

Er nahm seine Militärkappe ab und fuhr sich mit der Hand durch das kurze, schwarz glänzende Haar. Bald würde es losgehen.

„Lokman!“ Ein Mann stand in der Tür und winkte. „Noch einen Tee?“

Er machte eine Geste mit der Hand, dass er später kommen würde. Ihm blieb reichlich Zeit, bevor er los musste. Und selbst dann hatte er es nicht eilig. Wer würde schon pünktlich sein, hier in Kalinovka, Kirgisien. Dennoch schaute er auf seine goldene chinesische Armbanduhr. Einfach weil sie neu war und so schön in der Sonne funkelte. Sie zeigte sogar das Datum an. 20. Mai.

Er warf einen Blick in den dreißig Jahre alten Mercedes-Bus. Dieses Auto war sein ganzes Kapital.

Lokman seufzte wieder. Er war seit vierzehn Jahren Fahrer und hatte fast alles erlebt, was es gab. Er kannte alle Schleichwege von Ulan Bator bis Istanbul und Hunderte von Leuten, die ihm für kleines Geld eine große Hilfe waren. Seine Erfahrung und Kontakte zahlten sich aus. Aber etwas hatte sich verändert. Nein, er hatte sich verändert.

Das wird meine letzte Tour werden, dachte er. Es ist Zeit für etwas Neues.

Zwölf Passagiere hatte man ihm angekündigt für die Tour. Zwölf war eine gute Zahl, seine Lieblingszahl. Das würde Glück bringen. Und genug Bakschisch für alle, die unterwegs wegschauen sollten.

Am Sonntagvormittag fuhr Koller ins Büro. In seinem Bauch glühte eine Kugel, die sich entzündet hatte, kurz nachdem er die Augen geöffnet hatte. Jenna. Verdammt. Das konnte doch nicht wahr sein. Er hatte ungläubig auf die schlafende Frau gestarrt, die neben ihm im Bett lag. Seit Jahren wachte er neben ihr auf, kannte jedes Fältchen, jede Strähne an ihr, wusste ohne hinzuschauen, wie ihre Hand auf dem Kissen lag. Aber heute morgen war sie bei aller Vertrautheit wie eine Fremde gewesen.

Er hatte sich ohne Frühstück auf den Weg gemacht. Ihm war, als wäre seine Haut ein zu kleiner Anzug aus Gummi, der ihm den gesamten Körper zusammenzog. Er hatte eine Weile gebraucht, bevor er die Kraft fand, den Zündschlüssel zu drehen.

„Die vorläufige Gewebeuntersuchung lässt annehmen, dass die Frau gestern zwischen siebzehn und neunzehn Uhr gestorben ist. Sie muss noch gelebt haben, als der Schnitt durchgeführt wurde“, sagte eine weibliche Stimme.

Dr. Klara Schengen, die den Leichnam untersucht hatte, war durch die offene Tür hereingekommen. Sie warf ihren Bericht auf Bergers Schreibtisch.

„Ob sie bei Bewusstsein war, kann ich nicht sagen.“ Sie stand neben den Schreibtischen und blickte aus dem Fenster in den blauen Himmel. „Und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.”

Koller nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Pott.

„Wer lässt sich so was einfallen, der nicht völlig krank ist?“ fragte er. „Oder haben wir hier einen Ritualmord, vielleicht so eine Art Voodoo?“

„Bis auf den Schnitt, die Platzwunde am Hinterkopf und eine Prellung am linken Ellbogen waren keine Verletzungen zu finden.“

Trotz des nüchternen Tonfalls war Bewegung in Dr. Schengens Stimme.

„Die Kopfwunde kann von einem stumpfen Gegenstand stammen oder vom Aufprall auf den Stahlboden, da bin ich noch nicht sicher. Und ich nehme an, sie ist genau dort getötet worden, wo sie gefunden wurde.“

„Da war noch etwas“, sagte Dr. Schengen.

Die Männer blickten auf.

„Die Tote war schwanger, in der zehnten Woche.”

Keiner sagte ein Wort.

Berger stellte seine Tasse ab und blätterte durch den Bericht. Kurz darauf klappte er die Akte zu. Er stand auf und stellte sich neben Dr. Schengen vor das weit geöffnete Fenster. Er holte tief Luft.

„Manchmal denke ich, man kann den Wahnsinn nicht mehr steigern, den wir hier jeden Tag haben. Körperverletzung, Totschlag, Mord. Und dann passiert doch wieder was, das bekloppter ist als alles, was ich je erlebt habe.“

Dr. Schengen schloss die Augen.

„Das waren die ersten Ergebnisse“, sagte sie und wandte sich zum Gehen. „Morgen mehr.”

Koller nickte stumm zum Abschied, dann stellte er mit einem Knall seine Tasse ab.

„Also, was haben wir: eine Frau, die auf sehr ,eigenwillige‘ Weise umgebracht wurde, einen ungewöhnlichen Fundort der Leiche, den Tatzeitpunkt Nachmittag oder früher Abend am Freitag. Irgendwelche Ideen?“

Schweigen.

„Wir sollten morgen weitermachen“, sagte Berger schließlich, seine Stimme klang sehr müde. „Dann sind die anderen dabei. Lass uns diesen Sonntag nicht völlig ruinieren.“

Der weiße Kleinbus kam an einer Tankstelle zum Stehen. In der Tür zum Laden lehnte ein Mann, einen Kopf größer als Lokman und deutlich besser gekleidet. Er trug eine schwarze Lederjacke über dem weißen Hemd, das sich über seinen Bauch spannte.

„Heeey, Lokman, alter Uigure, siehst gut aus!“ log er mit breitem Grinsen. Er grüßte den Fahrer wie einen alten Freund. Es schien ihm nichts auszumachen, dass Lokman seine falsche Freundlichkeit nicht ebenso erwiderte. Er hatte keine Zeit, auf die vielen Empfindlichkeiten einzugehen, die die Angehörigen der Völker in dieser Region mit sich herum trugen.

„Jurij, wie geht’s dir?“ erwiderte Lokman. „Du siehst aus wie ein richtiger Geschäftsmann! Ich hoffe, du hast bei all der Arbeit noch ein bisschen Spaß am Leben.“

„Ein bisschen? Mann, es könnte kaum besser sein, so wie es zur Zeit läuft!“

Jurij grinste ein breites Goldzahnlächeln und legte die Hände auf seinen Prallbauch. Wer ihn sah, hatte keinen Zweifel, dass er sich großartig fühlte.

Lokman kannte Typen wie ihn nur zu gut. Der Spruch seines Vaters, dass man sich vor dicken Leuten in einem dünnen Land vorsehen sollte, stimmte immer noch. Heute warst du ihr Freund, morgen waren sie leider gezwungen, dir ein paar Knochen zu brechen, weil ihr Boss sauer auf dich war. Das waren die Tage, an denen man noch mal Glück hatte.

Sie gingen hinein, Jurij lotste ihn neben die Kasse.

„Hier sind die Medikamente für die Reise“, polterte er und holte eine Plastiktüte hinter dem Tresen hervor.

Lokman nahm sie mit einem Nicken entgegen.

„Die Mädels sind schon da, kannst sie gleich einladen.“

„Zwölf, hattest du gesagt?“

„Ja. Eine ist abgesprungen, aber dann hat eine andere gleich ihre Chance ergriffen.“

Er lachte.

„Hier ist dein Lohn, und das Geld für unterwegs. Ist alles abgezählt. Sollte was übrig bleiben, gibst du den Rest beim Empfänger ab.“

Er gab Lokman zwei Bündel mit Dollarnoten. Eines enthielt fünftausend Dollar, das andere zweitausend. Lokman zählte bedächtig die Scheine. Als er aufblickte, bemerkte er, dass Jurij ihn beobachtete. Lokman lächelte unsicher.

„Stimmt genau“, sagte er.

Jurij platzte vor Lachen heraus.

„Du bist einfach köstlich, Junge.“

Er stand kopfschüttelnd vor ihm und grinste.

„Es wäre wahrscheinlich das erste Mal, dass da auch nur ein Dollar übrig bleibt. Aber dir würde ich das glatt zutrauen.“

Lachend führte er ihn in den Nebenraum, wo die Frauen bei Neonlicht warteten. Jede durfte nur eine Tasche mitnehmen, doch die meisten hatten noch ein, zwei Plastiktüten mit Lebensmitteln dabei.

„Also dann: Go West, meine Damen“, dröhnte er. „Sie werden mit Lokman fahren, unserem besten Mann. Sollten Sie nicht vollzählig eintreffen, werde ich ihm persönlich ein Bein ausreißen. Aber ich bin sicher, das wird er schon selbst tun. Ist ein richtiger Gentleman, unser Lokman.“

Er lachte über seinen müden Witz, während er den Frauen die Türe offen hielt. Unsicher folgten sie ihrem Fahrer zum Bus. Jurij gab Lokman die Reisepässe.

Lokman öffnete die Beifahrertür und half den Frauen beim Einsteigen. Er zeigte ihnen, wo sie ihre Taschen verstauen sollten, und erklärte ihnen, dass sie jederzeit von dem Wasser im Kofferraum trinken konnten. Bis alle ihren Platz gefunden hatten, vergingen mehrere Minuten.

Er bat um Ruhe.

„Melden Sie sich bitte rechtzeitig, wenn ich halten soll, weil es nicht immer sofort möglich ist.“

Die Frauen nickten.

„Gut. Wir haben fünftausend Kilometer vor uns. Da brauchen wir zehn Tage, wenn alles gut geht. Am besten schlafen Sie einfach.“

Er machte einen freundlichen Eindruck. Es würde ihnen gut gehen mit ihm, da waren die Frauen sicher.

Koller kam ein paar Mal zu mir, um diesen Fall zu besprechen. Hat etwas gedauert, bevor wir kapierten, wie der Hase lief. Ist übrigens gar nicht so selten, dass nur ein Zufall zur Lösung eines Falles führt. Aber gibt es überhaupt Zufall?

Ich glaube auch nach all den verrückten Jahren als Polizeibeamter immer noch an einen Gott. Ich kann nicht anders. Ich verstehe immer weniger, was er von uns will, aber ich glaube an ihn. Daran ändern auch die Morde nichts, die täglich in der Welt geschehen, die Verbrechen mit all der Trauer und dem Elend, die sie auslösen.

Sie machen es nur schwieriger, an ihn zu glauben. Das schon.

Als Koller nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Küchentisch. „Bin in Köln.” Es war ihre Handschrift.

Seine Beine sackten weg, er fiel schwer in den Stuhl. Das war es also. Sie waren noch verheiratet, aber sie war nicht mehr seine Frau.

Zu lange, zu oft hatte er sie warten lassen, sitzen lassen, weil er weg musste. Es waren wohl doch zu viele nächtliche Einsätze gewesen, zu viele Abende und Wochenenden, die er für Ermittlungen oder Judo, Karate und Jogging geopfert hatte. Aber irgendwie musste er den Druck aus seinem Job doch verarbeiten.

Er stellte sich vor, wie sie mit dem andern Hand in Hand durch die Stadt schlenderte, wie sie gemeinsam Eis essen gingen, lachten. Er war für Jenna völlig unwichtig geworden. Überflüssig.

Er schleuderte die Notiz zu Boden und stürmte aus der Wohnung.

„Iwana, Anruf für dich!“

„Wer ist es, Mamutschka?“

Iwana schaute neugierig aus ihrem winzigen Zimmer. Sie war zweiundzwanzig, Studentin der Literaturwissenschaften in Odessa.

„Ich habe den Namen nicht verstanden. Beeil dich!“

Iwana lief den kurzen Flur entlang in die Wohnküche.

„Ja bitte? Wer spricht?“

Eine heisere Frauenstimme am anderen Ende.

„Ich bin’s, Eva.“

„Eva! Wie schön, deine Stimme zu hören. Meine Güte, ich habe so lange nichts von dir gehört!“ Iwanas freie Hand fuhr aufgeregt durch die Luft. „Wo bist du? Wie geht es dir?“

„Danke, es geht mir ganz ausgezeichnet, Iwana, hörst du? Ganz ausgezeichnet!“

Iwana erstarrte.

„Oh, ja, mein Gott. Ja, Eva ...“

„Ich muss Schluss machen, Iwana. Mach’s gut, ich melde mich wieder, sobald ich kann.”

Dann war die Leitung tot.

Iwana blickte ungläubig auf den schweren Hörer in ihrer Hand. Sie begann zu zittern.

Mit einem Knall fiel der Hörer auf den Boden.

„Mamutschkaaa!“

Sie wusste, Eva brauchte Hilfe. Dringend.

„Der Anleger beim Rheinpavillon gehört der Schifffahrtsgesellschaft und wird im Sommer ständig genutzt. Die Schiffe legen täglich dort an, um halb neun abends ist Feierabend. Allerdings liegt bis zu einer Stunde zwischen den Anlegemanövern, so dass genügend Zeit bleibt, auch mal rein zu klettern. Die Klappe ist nicht abgeschlossen.“

Aylín Karamanoglu, Kollers Assistentin, legte ihren Notizblock hin und wartete auf eine Reaktion der Kollegen.

Koller nickte, Berger machte sich Notizen. Eric Roleder, ihr junger Kollege, sah Aylín an.

„Am Freitag Nachmittag war gutes Wetter und jede Menge Volk unterwegs. Wer um die Zeit auf so einen Anleger geht, wird doch von all den Leuten am Ufer gesehen“, sagte er. „Nicht gerade schlau, wenn man einen Mord begehen will.“

„Wir wissen nicht, ob es sich um einen geplanten Mord oder um Totschlag handelt“, gab Berger zu bedenken.

„Glaubst du im Ernst, so was passiert im Affekt?“ fragte Roleder.

„Eher nicht“, erwiderte Berger, „ich will es nur nicht ausschließen.“

„Und die Leute gehen ja meistens vorbei“, sagte Aylín. „Selbst wenn die jemanden auf dem Schiffsanleger sehen sollten, fällt der nicht wirklich auf.“

„Und sollte das Paar in den Ponton abtauchen – wen kümmert’s?“ meinte Berger. „Wenn eine halbe Stunde später nur einer wieder rauskommt, ist niemand da, der Verdacht schöpfen könnte.“

„Außer“, sagte Koller, „dieser Niemand sitzt in der Nähe und hat alle Zeit der Welt.“

„Wie unser Penner“, sagte Berger und warf seinen Bleistift auf den Schreibtisch.

„Wie unser Penner“, sagte Koller mit einem Nicken. „Hat jemand seinen Namen ausfindig gemacht?“

„Noch nicht, aber ich kenne jemanden, der ihn vielleicht kennt“, sagte Roleder. „Der Schiffsanleger befindet sich in seinem Revier, ich kümmere mich darum.“

„Revier?“ fragte Berger und zog eine Augenbraue hoch.

„Naja, er ist auch obdachlos. Ich kenne ihn, weil ich als Kind in seiner Nähe gewohnt habe, als er noch im normalen Leben war.“

„Versuch ihn aufzutreiben und eine Beschreibung zu bekommen“, sagte Koller.

Er rieb sich die Augen. Hundemüde war er, hatte die halbe Nacht wach gelegen.

„Wenn wir Pech haben, war er gar nicht dabei“, sagte Berger.

Sie war auch nicht da, dachte Koller. Die ganze Nacht nicht.

„Abwarten“, sagte Roleder.

Was denn? dachte Koller. Ob sie wiederkommt?

„Sonst noch was?“ fragte er.

„Das Messer muss äußerst scharf gewesen sein, möglicherweise ein Skalpell. Sagt jedenfalls der Obduktionsbericht“, sagte Berger.

„Ein Skalpell kann ich mir in jeder besseren Apotheke besorgen“, stöhnte Roleder, „das hilft uns auch nicht weiter.“

„Hat jemand von euch schon mal von so was gehört?“ fragte Koller.

Alle hatten den Bericht gelesen.

„Irgendwie lässt das bei mir was klingeln, ganz weit im Hinterkopf“, sagte Aylín zögernd, „ich kann aber jetzt nicht mehr dazu sagen. Lass mir Zeit, ich werde dranbleiben.“

„Gib mir sofort Bescheid“, sagte Koller. „Wer so was macht, sollte keinen Tag länger da draußen herumlaufen.“

„Ganz ausgezeichnet!“ rief der Mann mit dem gefönten Haar. „Wie Sie das wieder hinbekommen haben!“

Er hielt ein dünnes Brett aus Zypressenholz in der Hand, etwa achtzehn mal vierundzwanzig Zentimeter groß. Von hinten war es nur ein altes Holzstück. Doch was er sah, ließ ihn vor Begeisterung strahlen.

„Es wird mir nicht leicht fallen, dieses Meisterstück abzugeben“, sagte er.

Dr. Horst Hagen war kaum größer als die Frau, die neben ihm stand. In diesem Moment war er von dem Kunstwerk in seinen manikürten Händen vollständig in Beschlag genommen.

Was er sah, war eine Abbildung von Maria mit dem Kinde, in blassen Farben vor goldenem Hintergrund. Das Blattgold war fast durchscheinend, doch eben dadurch von einer unbeschreiblichen Anmut, die den Ausdruck der Gesichter noch verstärkte.

„Ich danke Ihnen, Marja“, sagte er nach einer Weile mit bewegter Stimme. „Das ist mit Abstand die schönste Ikone, die ich je in Händen halten durfte.“

Er stellte sie andächtig auf ein Sims aus Naturstein, das in Augenhöhe an der Wand angebracht war. „Die Muttergottes von Tbilissi – unglaublich, dass sie nach vierhundert Jahren ihren Weg zu mir gefunden hat.“

Es war Marja anzusehen, dass sie stolz war. Auf das Lob, aber vor allem auf ihre Arbeit.

„Sie wissen, dass ich Ihnen einen sehr guten Preis gemacht habe, nicht wahr?“

Hagen warf ihr einen dankbaren Blick zu, in dem allerdings auch Sorge über den weiteren Verlauf des Gesprächs lag. Wollte sie jetzt über Kosten reden? Doch Marja lächelte und sagte nichts. Hagen war beruhigt.

Noch vier Wochen, dann wollte er seinen besten Kunden etwas ganz Besonderes präsentieren. Hagen hatte ihnen in persönlichen Gesprächen angekündigt, in Kürze ganz exquisite Positionen anbieten zu können. Nun stand noch ein letztes Stück auf seiner Wunschliste, die Sensation, die ihn zum Triumph führen würde. Damit wäre er endlich einer der führenden Ikonengaleristen.

Er sah Marja eindringlich an.

„Glauben Sie, dass ich in den nächsten drei Wochen die Auferstehung noch erwerben kann?“

„Nun, darüber müssen Sie mit dem Papst verhandeln“, sagte Marja mit gespieltem Ernst. „Ich kann Ihnen nur Ikonen besorgen!“

Hagen war einen Moment lang irritiert, dann lachte er nervös.

„Machen Sie es mir nicht so schwer, meine Liebe.“

„Geduld, Horst. Solche Objekte brauchen Zeit.“

Hagen nickte.

Marja verabschiedete sich und ging hinaus.

Auf dem Bürgersteig vor der Galerie wandte sich Marja entschlossen nach rechts, Richtung Bonner Innenstadt. Mit dem Gewinn aus der Vermittlung der Ikone würde sie problemlos das nächste Jahr überstehen, ohne sich einschränken zu müssen. Ihre Entlohnung war nicht eben gering kalkuliert, schließlich war sie eine der Besten in diesem Geschäft. Bei einem Marktwert von 480 000 Euro für die Muttergottes von Tbilissi konnten sie beide zufrieden sein. Sehr zufrieden.

Sie beschloss, sich mit einem guten Essen zu belohnen. Danach würde sie sich um ihre Schwester kümmern. Sie hatte viel zu lange nichts von ihr gehört, und der Detektiv hatte noch keine Ergebnisse gemeldet. Marja machte sich Sorgen. Große Sorgen.

Die ersten Tage kamen sie schnell voran. Ihre Route führte sie durch die – für kirgisische Verhältnisse – dicht besiedelte Hochebene nach Taschkent in Usbekistan und von dort weiter über Turkmenistan nach Aserbaidschan.

Sie fuhren auf der alten Seidenstraße Richtung Westen. Die Städte lagen inmitten endlos scheinender Felder entlang der Überlandstraßen. Vom Treiben in den Ortschaften bekamen sie kaum etwas mit, sie fuhren nur hindurch oder streiften die Ausläufer der Vorstädte. Die waren am Reißbrett geplant, in rechtwinklig angeordneten Vierteln, die alle gleich langweilig aussahen.

In Turkmenbashi am Kaspischen Meer sollte ein Boot auf sie warten, um sie auf die aserbaidschanische Seite zu bringen. Das würde die lästigen Zollformalitäten umgehen und Zeit sparen. Von Aserbaidschan aus ging es über Georgien durch die Türkei nach Europa.

Lokmans Aufgabe bestand darin, die Frauen bis Istanbul zu bringen. Dort sollte er sie an andere Fahrer übergeben.

Es lief immer gleich ab. Die Männer, die sie dort in Empfang nahmen, waren stets zu zweit. Und nie dieselben. Lokman übergab ihnen die Pässe, sie zählten die Frauen und ließen sie in ihren Bus einsteigen. Dann erhielt er die andere Hälfte seines Lohns. Anschließend musste er den Bus in eine Werkstatt fahren und auf den Anruf warten. Danach konnte er ihn abholen und zurückfahren.

Für die Grenzübergänge brauchte Lokman Bakschisch. Das kürzte die Wartezeiten erheblich ab und ermöglichte ansonsten Unmögliches. Er wusste genau, wer wie viel verlangte. Und keiner würde leer ausgehen.

Dafür war das Geld der Organisation vorgesehen. Die Beträge waren fast gleichgültig. Jede Summe war besser als in einem dieser Gefängnisse zu landen, wo man nicht mehr derselbe war, wenn man wieder rauskam. Falls man wieder rauskam.

Die Notiz von Jenna steckte ihm den ganzen Tag über in den Knochen.

Wie dünn die Verbindung zwischen zwei Menschen werden konnte, bevor sie abriss. Sie waren sehr unterschiedlich, hatten sich oft aneinander gerieben, aber nicht so, dass es nicht mehr weitergehen konnte. Er jedenfalls sah kein Problem, das ihnen unüberwindbar im Weg gestanden hätte. Aber sie hatte das wohl ganz anders empfunden.

Zuhause griff er zum Telefon. Es dauerte fast eine Minute, ehe der Hörer abgenommen wurde.

„Hannes, ich bin’s. Koller. – Naja, deshalb rufe ich an. Hast du heute Abend Zeit? – Passt. Bis dann.“

Er hatte das Gefühl gehabt, dass es wieder besser werden würde, dass es nur eine Phase war, die man überstehen musste. Geduld, hatte er sich immer wieder gesagt, hab’ Geduld.

Aber es war nicht besser geworden. Sie hatten sich wohl nur an die Distanz gewöhnt.

Das Obdachlosenheim war in einem alten Haus mit mehreren Stockwerken untergebracht. Roleder ging über den gepflasterten Weg auf das Gebäude zu. Auf Bänken längs des Wegs saßen Männer mit ungepflegten Bärten und wirrem Haar, die meisten älter als vierzig, in abgewetzten Klamotten, viel zu warm für die Jahreszeit.

Roleder hielt Abstand, als er an ihnen vorbei ging.

„Ich suche Volker Eckmeier“, sagte er zu dem jungen Mann am Empfang.

Der Sozialarbeiter sah gelangweilt auf.

„Versuchen Sie’s hinten im Garten. Geradeaus durch.“

Der Geruch von altem Schweiß, Seife und Bieratem begleitete Roleder durch den hohen Korridor. Er beschleunigte seine Schritte und gelangte in einen großen Garten, der von alten Kastanien und hohen Mauern umgeben war. Im hinteren Teil erblickte er ein kleines Rondell mit einer Laube aus Holz, von wildem Wein überwachsen. Vor dem dunklen Grün leuchtete ein heller Trenchcoat im Licht der Nachmittagssonne.

„Grüß dich, Ecki. Hast du mal Zeit für mich?“ fragte er.

Der Alte richtete sich langsam auf und drehte seinen Kopf mitsamt den Schultern.

„Der kleine Eric!“ japste er heiser. „Das hätte ich ja im Traum nicht gedacht.“

Er lächelte dünn, ein gelber Zahn lugte zwischen den blassen Lippen hervor. Die papierdünne, dunkel gegerbte Haut rund um seine Augen legte sich in hundert Fältchen.

„Setz dich!“ Er klopfte neben sich auf die Steinbank. „Was führt dich in diesen Palast des Elends?“

Roleder ließ sich neben ihm nieder.

„Jemand hat eine tote Frau in einem Schiffsanleger gefunden. Ich muss mit dem Mann reden, der sie gefunden hat. Kannst du mir helfen?“

Der alte Mann nickte langsam.

„Unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Dass ich aus der Sache rausgehalten werde.“

„Versprochen.“

Eckmeier schien beruhigt.

„Der Mann, den du suchst, heißt Arnold Breckler. Er ist im Sommer in der Stadt unterwegs, kommt alle paar Wochen her, wäscht seine Klamotten und bleibt ein paar Tage.“

„Wie sieht er aus?“

„Anfang sechzig, breite Schultern, kleiner als du. Seine Hose ist dunkelblau. Manchmal trägt er eine Weste und einen Strohhut. Sein Zeug hat er in einem Einkaufswagen.“

„Hat er einen Hund?“

Der Alte schüttelte den Kopf

„Er ist immer allein. Ziemlich eigenartiger Kerl, ich komme nicht gut klar mit ihm.“

„Wieso, ist er aggressiv?“

„Er brabbelt pausenlos vor sich hin. Es macht einen ganz verrückt. Aber er kann auch schnell mal aufbrausen.“

„Ist er nicht ganz richtig im Kopf, oder was?“

„Ich würde sagen, ein bisschen verrückt, aber harmlos. Man weiß nie, wie er reagiert.“

„Wo kann ich ihn finden?“

„Am Rhein oder in der Innenstadt. Keine Ahnung, wo er schläft.“

„Danke, ich werde mein Glück versuchen.“

Eine leichte Brise bewegte die Blätter hinter ihnen. Eckmeier rieb sich die Nase.

„Da ist noch etwas, Eric.“

Er schaute Roleder mit einem verschmitzten Lächeln an.

„Ja?“

„Du musst mir versprechen, dass du bald mal wiederkommst und ein bisschen Zeit mitbringst.“

Roleder lächelte.

„Versprochen. Danke, Ecki.“

Er stand auf, klopfte dem alten Mann auf die Schulter und ging davon.

„Was willst du?“ fragte der Polizist und blickte den Eindringling über drei Stapel Akten und Papiere hinweg mürrisch an.

Iwana stand unbeholfen vor dem abgewetzten Schreibtisch in dem Polizeibüro in Odessa und hielt sich mit beiden Händen an ihrer kunstledernen Handtasche fest.

„Ich habe einen Anruf von meiner Freundin Eva erhalten“, sagte sie. „Sie ist vor sechs Wochen nach Europa gegangen, will als Verkäuferin in Deutschland arbeiten. Wir haben ein Signal vereinbart, falls sie in Not kommen sollte. Dann sollte sie mich anrufen und sagen, dass es ihr ganz ausgezeichnet ginge. Ansonsten würde sie eine andere Formulierung wählen.“

Der Beamte warf seinen Kugelschreiber auf die Tischplatte und lehnte sich seufzend zurück.

„Sie sagt also, es geht ihr ganz ausgezeichnet, aber du erzählst mir, dass es ihr nicht gut geht.“

Seine schlechte Laune wurde noch schlechter.

„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Einen Hubschrauber schicken?“

„Sie muss in Not sein, bitte glauben Sie mir. Sonst hätte sie es nicht gesagt. Und ihre Stimme klang sehr ängstlich.“

Iwana hielt ihre Handtasche mit beiden Händen vor der Brust und sah ihn mit großen Augen an. Der Polizist, ein breiter Mann Ende fünfzig, strich mit den Fingern durch seinen grauen Schnurrbart. Die junge Frau, die da schüchtern vor ihm stand, schien nicht dumm zu sein. Sie spielte sich nicht auf und ihre Sorge war echt. Ganz so selten kam es schließlich nicht vor, dass junge Frauen in Not gerieten. Oft sogar. Viel zu oft.

Vielleicht war er doch zu grob zu ihr gewesen.

„Wie sollte man sie denn erpressen können?“ fragte er, seine Stimme war jetzt deutlich weicher. „Hat sie Geld?“

„Nur für die Reise. Es könnte doch sein, dass jemand sie bedroht.“

„Hast du eine Ahnung, von wo sie angerufen hat?“

„Nein, sie konnte nicht lange sprechen. Die Verbindung war schlecht, bestimmt ein Ferngespräch.“

„Nicht gerade viel“, brummte der Beamte.

Ächzend stand er auf, ging zu einem alten Aktenschrank und öffnete die Glastür. Er zeigte auf die Stapel von Papier, mit denen die Regalbretter überladen waren.

„Schau mal her. Wir haben hier so viel Arbeit mit Kriminellen in unserer schönen Stadt, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und für deine Sache finde ich nicht das passende Formular, weil es kein passendes Formular gibt. Ich kann dir da überhaupt nichts versprechen, Kleine.“

Er zog die Schultern hoch und sah sie traurig an. Sein Blick sagte ihr, dass es ihm ehrlich leid tat.

Während er zu seinem Schreibtisch voller Papiere zurückkehrte, kam ein Kollege aus dem Nebenzimmer, Ende zwanzig, gut trainiert. Seine Schritte waren selbstsicher.

„He, Aleksej, was gibt’s denn?“ fragte er beiläufig. Er lehnte sich lässig an das Fenstersims und blickte Aleksej mit verschränkten Armen an. Iwana ignorierte er.

„Ach, die Kleine will, dass ich mich um ihre Freundin kümmere, die vor ein paar Wochen nach Europa abgehauen ist. Sie hat angerufen, angeblich geht es ihr nicht gut. Scheiße, Dmitrij, wir haben keine Zeit, keine Leute, keine Möglichkeit, irgendwas in die Wege zu leiten.“

Dmitrij schnellte mit einem kurzen Seitenblick zu Iwana von der Fensterbank hoch.

„Verschwenden wir nicht unsere Zeit damit, Dmitrij“, winkte der Ältere ab und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, um sich einem Aktenstapel zuzuwenden. Von dort warf er Iwana einen verdeckten Blick zu, der sie verwirrte. Der vorher so müde Mann schien plötzlich sehr wachsam. Seine Augen fixierten sie durchdringend.

Jetzt erst wandte sich der zweite Beamte Iwana zu und taxierte sie mit einem prüfenden Blick. Er ließ seine Augen ganz ungeniert über ihren Körper wandern, vom Gesicht über Brust und Bauch, die Beine hinab bis zu den Schuhen und wieder hinauf. Ohne jede Eile.

„Und wie heißt deine Freundin?“ fragte er schließlich.

Seine Stimme verriet keinerlei Interesse.

„Eva Aleksandrawna Konienka.“

„Wann hat sie angerufen?“

„Gestern Nachmittag, gegen halb fünf.“

„Weißt du, von wo sie angerufen hat?“

Er nahm sich wie beiläufig ein Blatt Papier und einen Stift. Er sah sie mit halb geschlossenen Augen an, während er sich Notizen machte.

„Nein, keine Ahnung.“ Iwana seufzte. „Es rauschte stark, wie ein Ferngespräch, aber ich konnte hören, dass sie Angst hatte.“

„Name, Adresse?“ fragte der Beamte kühl.

„Iwana Danilawna Sobolowa, 12532 Motorna 34b.“

Der Mann notierte sich alles. Auch der ältere Beamte, der hinter dem jungen Kollegen an seinem Schreibtisch saß, schrieb sich die Daten auf. Er sah Iwana an und machte eine Bewegung mit der linken Hand, die Iwana nicht verstand. Sie hatte keine Zeit, darauf einzugehen, der junge Polizist sprach sie bereits wieder an.

„Deine Telefonnummer“, fragte die Stimme kühl.

Iwana sagte sie ihm. Dann hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen.

„Werden Sie sich melden, wenn Sie etwas wissen?“

Der Mann warf ihr einen Blick zu, den Iwana nicht einschätzen konnte.

„Du wirst ganz bestimmt von uns hören”, sagte er.

Irgendetwas in seiner Stimme ließ Iwanas Bauch ganz hart werden.

Lokman hatte viel Zeit, über sein Leben nachzudenken, wenn er am Lenkrad seiner Marshrutka durch die Welt kurvte. Aber obwohl er schon so viel von ihr gesehen hatte, sogar Europa, wollte er nirgendwo anders als in seiner Heimat leben, drüben in China. Wenn sie ihn nur in Ruhe ließen.

Er hatte seinen Militärdienst absolviert, als er achtzehn war, und eine Zusatzausbildung für Nahkampf erhalten, Kung-Fu-Training, diverse Techniken. Die Spezialausbildung hatte ihn interessiert, weil er sportlich war und einer der Besten im Nahkampftraining. Aber er stellte bald fest, dass er kein Typ fürs Militär war. Wer wie er die Weiten der Steppe erlebt hatte, der konnte die Enge der Kasernen und die Willkür der Vorgesetzten nicht lange ertragen.

Lokmans Eltern waren einfache Hirten und Bauern gewesen, ohne jede Schulbildung, die alles dafür gaben, dass er auf eine Schule gehen konnte. Er machte nach seinem Abschluss eine Ausbildung als Schlosser, fand Arbeit in der Stadt und war dank seines Sprachtalents bald Vermittler zwischen Angehörigen verschiedener Herkunft. Er sprach Chinesisch, Russisch, Türkisch und Mongolisch.

Wann immer er Zeit hatte, kehrte er heim auf den kleinen Hof, half bei der Feldarbeit, beim Hüten des Viehs und auch beim Schlachten. Häufig feierten sie Feste, gemeinsam mit anderen Hirten und Bauern. Hier fühlte er sich wohler als in der Hektik des Stadtlebens, wenn er dort auch Dusche, Handy und Internet zu schätzen wusste. Doch liebte er die uralten Bräuche und Traditionen seines Volkes. Sie verbanden ihn mit seinen Vorfahren.

Seine Kontakte brachten ihn bis nach Ulan Bator, die Hauptstadt der Mongolei. Bald wurde er über einen Bekannten an die deutsche Botschaft vermittelt und begann Deutsch zu lernen. Dank des Goethe-Instituts verbrachte er mehr als ein halbes Jahr in Deutschland und lernte die Sprache schnell. Für Übersetzungen im täglichen Business war es genug. Zurück in China begleitete er Unternehmer aus China und Deutschland, kam viel herum und verdiente gutes Geld.

Dann kamen eines Tages russische Geschäftsleute, die mit Lokmans Hilfe Kontakte knüpften. Sie machten ihm ein Angebot, für sie zu arbeiten. Er würde gut verdienen können, sagten sie. Er lehnte ab, wollte lieber in der Heimat bleiben. Bei ihrem nächsten Besuch zeigten sie ihm Fotos von seinen Eltern bei der Feldarbeit. Es wäre doch schade, wenn der Esel krank würde. Oder seine Mutter.

So begann er im Auftrag der Russen zu schmuggeln, arbeitete ihnen zu, verdiente viel Geld. Und suchte ständig einen Weg aus dieser Abhängigkeit.

Jetzt waren die Eltern tot, das Vieh verkauft. Und was machte er? Er saß am Lenkrad und ging noch immer einem Job nach, den er nicht mehr wollte.

Er schüttelte den Kopf über seine Situation, während er in die Dunkelheit hineinfuhr.

Die Frauen, die er fuhr, erzählten manchmal von der Arbeit, die man ihnen zugesagt hatte, als Kellnerin, Krankenschwester, Putzfrau, Hotelangestellte, auch Prostituierte. Manche machten sich nichts daraus. Es war eine Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen. Was sie hier in einem Monat verdienten, das war in Europa in wenigen Tagen möglich.

Für die Frauen schien es eine Reise in den schnellen Reichtum zu sein. Sie konnten es kaum erwarten, und er, Lokman, war ihr Fahrer ins Reich ihrer Träume.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Lokman zuckte zusammen.

„Könntest du bitte anhalten? Wir müssen aufs Klo!“

Eine der Frauen stand neben ihm und lächelte ihn an.

Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor eins.

„Ein paar Minuten noch, dann kommen wir zu einem Teehaus.“

Er parkte den Bus zwischen Fernlastern neben dem Teehaus. Während die Frauen hinein gingen, kontrollierte er die Reifen. Dann folgte er ihnen.

Im Gastraum saßen Lastwagenfahrer und schaufelten ihr Mittagessen in sich hinein, manche tranken Bier dazu. Sie warfen den Frauen Blicke zu und machten Bemerkungen, die sie offenbar witzig fanden.

Lokman setzte sich an den Tisch, der den Männern am nächsten war.

„He, Mann, sind das alles deine Töchter?“ rief einer der Biertrinker hinter seinem Rücken, ein unrasierter Mann mit dicken Armen. Er trug eine Trainingshose und ausgelatschte Turnschuhe, ein schmieriges Unterhemd spannte sich über seinen Bauch.

„Die sind doch bestimmt noch nicht verheiratet. Oder verdienst du mit ihnen dein Geld?“

Die anderen Fahrer lachten.

Lokman bestellte sich ein Reisgericht und ignorierte das Gegröle vom Nebentisch.

„Wie wär’s mit einem Taschengeld in der Mittagspause?“

Der Mann schien unbedingt seinen Spaß auf Kosten der Frauen haben zu wollen. Er kam herüber und baute sich neben Lokman auf.

„Nun sag schon, was kostet eine Stunde?“ fragte er Lokman so laut, dass alle im Raum es hören konnten.

Lokman sah zu ihm auf.

„Lass uns einfach in Ruhe. Die Frauen sind nicht zu haben.“

„Du teilst wohl nicht gerne, was?“ grölte der Mann.

Sein Atem roch nach Bier.

Seine Kumpane lachten. Lokmans Mahlzeit wurde vor ihn hingestellt.

„Ich kann nur teilen, was mir gehört“, sagte Lokman. „Und jetzt lass uns in Frieden.“

Der Mann grinste zu seinen Kollegen hinüber.

„Wenn sie dir nicht gehören, geht’s dich auch nichts an“, sagte er und sah Lokman herausfordernd an.

Er wechselte die Bierflasche in die linke Hand und legte seine Rechte auf die Schulter der Frau, die Lokman gegenüber saß. Sie versuchte die Hand abzuschütteln, doch er hielt sie fest.

Lokman zuckte die Schultern, nahm seine Gabel in die Hand und begann zu essen. Der Mann grinste und ließ seine Hand über die Schulter der Frau wandern. Plötzlich sprang Lokman auf und rammte dem Kerl seine Gabel in die linke Achselhöhle. Dessen Hand gab die Bierflasche frei. Lokman packte sie und bevor der Mann wusste, wie ihm geschah, zersplitterte sie auf seinem Schädel.

Er schrie auf. Seine Rechte zog die Gabel heraus, doch schon drückten sich die Zacken der Glasflasche an seine Kehle. Bier lief ihm über das Gesicht und tropfte von seiner Nasenspitze.

Es war totenstill im Lokal.

„Fallen lassen“, sagte Lokman.

Die Gabel klirrte zu Boden.

„Und jetzt entschuldige dich bei der Dame.”

Der Mann brachte keinen Ton heraus.

Der Druck des Glases auf seinen Hals verstärkte sich.

„Tut mir leid“, krächzte er.

Die Frau nickte, ohne aufzublicken.

„Entweder du bist jetzt friedlich oder wir zwei gehen nach draußen“, sagte Lokman.

Der Mann schluckte.

Lokman verstärkte den Druck weiter. Blut sickerte in dünnen Spuren auf das Unterhemd.

„Schon gut, Mann, schon gut“, presste der Fahrer hervor.

Lokman nahm die Flaschenscherbe zurück und setzte sich.

„Kann ich eine neue Gabel haben?“ fragte er den kreidebleichen Wirt.

Der Fahrer wankte an seinen Tisch zurück und fiel auf seinen Stuhl. Er wischte sich mit einem Taschentuch das Blut vom Hals. Niemand im Raum sagte ein Wort. Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr und Töpfen, während Lokman seinen Teller leerte.

Kurz darauf zahlten sie und gingen hinaus.

Roleder saß im Biergarten des Rheinpavillons, die Uferpromenade im Blick. Vor ihm stand sein drittes Bier, und auch das wurde allmählich warm. Es war halb sieben abends.

Saufen gegen das Verbrechen, dachte er und grinste. Es gibt Schlimmeres.

Die Menschen genossen die laue Luft, Obdachlose kamen und gingen. Dann erschien einer, auf den Eckmeiers Beschreibung passte.

Der Mann schob einen Einkaufswagen vor sich her. Manchmal hielt er an und gestikulierte, schien mit sich selbst zu reden.

Roleder legte Geld auf seinen Deckel und stand auf. Es war nicht weit bis zu der Bank, auf die sich der Mann gesetzt hatte. Mit den Händen in den Taschen seiner Lederjacke schlenderte er hinüber, fühlte in der Rechten die Wermutflasche, die er gekauft hatte.

Roleder setzte sich auf das andere Ende der Bank. Der Mann sah kurz zu ihm hinüber. Sein Mantel war fadenscheinig, an den Ellbogen abgewetzt. Ein durchdringender Geruch nach lange nicht gewaschen garantierte ihm einen ungestörten Sitzplatz. Er grinste, sein Blick ging durch Roleder hindurch, als habe er ihn gar nicht wahrgenommen. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Laut war zu hören.

„Ganz schön heiß noch“, sagte Roleder.

Der Mann reagierte nicht.

Roleder hielt sich zurück. Er wollte ihn nicht verscheuchen.

Der Mann wühlte in seinem Einkaufswagen und zog ein seltsam geformtes Stück Treibholz hervor. Er hielt das Holzstück hoch. Seine trüben Augen lösten sich davon und hefteten sich auf Roleders Gesicht. Sie versuchten einen Moment lang zu fokussieren, dann gaben sie auf und blickten durch ihn hindurch in weite Ferne.

„Siehst du das?”

Roleder nickte.

„Siehst du das?“ fragte Breckler noch einmal, mit lauterer Stimme.

„Ja“, sagte Roleder; seine Stimme verriet, dass er irritiert war.

Breckler dagegen war völlig sicher.

„Zeig mir deine Hände!“

Widerstrebend zog Roleder seine Hände aus den Taschen.

„Die Linke kommt von Herzen, die Rechte macht oft Schmerzen“, sagte der Mann.

Sein Blick war auf einen Punkt weit hinter Roleders Augen gerichtet.

„Was meinst du damit?“ hakte Roleder ein.

„Aaah“, sagte der Mann mit hoher Stimme. Er zog ein wissendes Gesicht und hielt die Holzhand hoch. „Du kennst dich nicht aus. Bist noch zu jung.“

„Was hast du gesehen?“ fragte Roleder.

„Einer drin, zwei hinein, zwei heraus, so sieht das aus!“

Der Mann grinste, doch die Grimasse fiel ebenso schnell in sich zusammen, wie sie sich gebildet hatte.

Roleder hatte den Eindruck, dass er jetzt kein wildes Zeug faselte, sondern von dem Mord sprach.

„Wer war der eine?“ fragte er.

„Eine rechte Hand. Eine starke rechte Hand.“

„Eine Hand, die Schmerzen macht?“ fragte Roleder in der Hoffnung, den Faden aufgreifen zu können.

„Viele Schmerzen. Man ist am besten unsichtbar, dann sieht man klar!“ orakelte Breckler.

Er rutschte unruhig hin und her.

Roleder wusste nicht, was er sagen sollte. Er erinnerte sich an die Wermutflasche.

„Ich hoffe, das ist nach deinem Geschmack.“

„Bitter und süß“, sagte der Mann, „wie das Leben.“

Er griff zu und öffnete die Flasche. Er hob sie an die Lippen, doch bevor er trank, zögerte er und reichte sie Roleder hinüber.

Der winkte dankend ab. Breckler trank ein Drittel der Flasche, ohne abzusetzen.

„Gut“, sagte er.

Roleder sah ihn an. Breckler kam ihm nicht vor wie ein Dummkopf. Am besten würde Koller mit ihm reden. Er stand auf.

„Mach’s gut. Ich würde gerne noch mal mit dir reden.“

„Jaja“, sagte der Mann und blinzelte zu ihm auf. „Alle wollen immer reden.”

Er kicherte in sich hinein, dann setzte er die Flasche an.

Roleder ging schweigend davon.

Sie machten mehrmals täglich Rast. Die Frauen baten Lokman, mit ihnen zu essen, und er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft.

Am Abend des vierten Tages saßen sie in einem einfachen Restaurant am Straßenrand und bestellten.

„Armer Kerl“, sagte eine, die vielleicht achtzehn war. „Du musst wieder zurück, aber wir fahren nach Europa!“

„Ich würde gerne mitkommen, das könnt ihr mir glauben. Ich war nämlich schon in Deutschland.“

„Wirklich? Erzähl!“

Sie bestürmten ihn mit Fragen, und er gab bereitwillig Auskunft. Es war eine gute Zeit gewesen; der Luxus, in dem die Menschen in Deutschland lebten, war ihm unfassbar vorgekommen.

„Warum bist du nicht geblieben?“ fragte ihn eine.

„In meiner Heimat gefällt’s mir immer noch am besten“, sagte er.

„Aber verdienst du denn genug mit deiner Marshrutka?“

„Ich komme zurecht.“

„Wie oft bist du die Strecke schon gefahren?“ fragte die Frau, die ihn gebeten hatte anzuhalten. Sie war etwas älter als die anderen.

„Ich fahre seit fünf Jahren diese Tour“, antwortete Lokman, „mehrmals im Jahr.“

„Wieso bist du alleine?“

Die jungen Frauen kicherten und zupften sie am Ärmel.

„Nun sei doch nicht so neugierig, Zhanna! Du machst ihn ganz verlegen.“

Sie lachten. Lokman war erleichtert, als eines der Mädchen anfing, von seinen Heiratsträumen zu erzählen. Sie hoffte, einen Mann zu finden und in Europa bleiben zu können.

„Ich will nicht mehr zurück. Meine Mutter ist tot, bei meinem Vater kann ich nicht bleiben. Ich will Kinder haben, schöne Kleider, ein Haus, ein Auto.“

Er lachte mit ihnen und wünschte allen, dass sie erreichen würden, was sie sich vorstellten.

„Wartet, ich mache ein Foto von uns!“ rief eine der Frauen plötzlich, holte ihr Handy heraus und stellte sich neben den Tisch.

Sie machte mehrere Fotos von den lachenden Mädchen. Daraufhin wollten alle Fotos haben und es entstand ein wildes Durcheinander.

Auch Lokman holte sein Handy heraus. Es gelang ihm, mehrere Aufnahmen von Zhanna zu schießen, ohne dass sie es bemerkte. Zuletzt blickte sie mit einem Lachen zu ihm herüber, genau in dem Moment, als er sie aufnahm. Ihre Blicke trafen sich.

Schließlich stand er auf und ging hinüber zum Auto. Es war Zeit weiterzufahren.

Zhanna setzte sich zu ihm nach vorne. Sie fragte ihn, wie es in Europa mit ihnen weiterginge und was er als nächstes vorhabe. Er war froh, dass ihm jemand die Zeit am Lenkrad verkürzte. Sie redeten stundenlang miteinander.

„Du brauchst wirklich Urlaub, mein Junge“, meinte Hannes, Polizeipsychologe und Kollers bester Freund aus alten Tagen.

Sie standen an der Theke einer Eckkneipe in seinem Viertel, die Luft vibrierte von Rockmusik und den Stimmen der Gäste. Hier war Rauchen noch erlaubt. Entsprechend neblig war die Atmosphäre.

„Das bringt zwar mein Nervenkostüm wieder in Form“, erwiderte Koller, „aber mit Jenna ändert das nichts. Und darum geht es doch.“

Er leerte sein Glas und bestellte ein weiteres Kölsch bei Charlie, dem Mann hinter der Theke. Der nickte, ohne seine Bewegungen zu unterbrechen. Sekunden später stand es vor ihm.

„Nein. Das Wesentliche ist, dass es dir gut geht“, widersprach Hannes. „Ob Jenna dazu gehört oder nicht, ist etwas Anderes.“

Er fuhr sich mit der Hand über das spärliche Haar, das ihm bis in den Nacken hing. Was er an Glatze auf dem Kopf hatte, machte er ringsum wieder wett. Er war so groß wie Koller und wirkte in Jeans und gewölbtem T-Shirt wie ein 68er-Fossil.

Koller wurde ungehalten.

„Ich habe Jenna geheiratet, weil ich sie liebe, mein Leben mit ihr verbringen will.“

„Ja, und dann bist du dauernd weg, weil der Dienst wichtiger ist als deine Frau. Mach dir nichts vor, Mann!“

Hannes hatte sein nächstes Kölsch schon auf Kinnhöhe.

„Wir tun, was wir für richtig halten. Meistens jedenfalls. Aber die Konsequenzen hauen uns dann regelmäßig um. Warum eigentlich?“

Er trank in großen Zügen. Das leere Glas zeigte er Charlie.

„Bloß, wir akzeptieren nicht, dass unser Handeln ausdrückt, was wir eigentlich wollen. Dabei liegt genau da unsere Verantwortung für unser Leben. Warum hätten wir sonst so gehandelt?“

Koller verdrehte die Augen. So redete sein Kumpel nur noch, seit er geschieden war. Hannes hatte vier Jahre gebraucht, um darüber hinweg zu kommen, Psychologie hin oder her.

Koller ging das Gefasel auf die Nerven.

„Ich bin nie fremd gegangen“, warf er ein, „niemals, und da waren einige Angebote!“

Seine Aussprache war nicht mehr allzu präzise. Er machte Charlie ein Zeichen, er wollte zahlen.

„Prima, kannste stolz drauf sein. Und was hat es dir gebracht?” Hannes grinste, dann wurde er ernst. „Das zählt nur, wenn es auch ihr was bedeutet hat.“

Koller rechnete mühsam die Striche zusammen und versuchte mit einsdreißig zu multiplizieren. Nach wenigen Augenblicken gab er auf und warf einen Zwanziger und eine Handvoll Münzen auf die Theke. Das musste dem Ergebnis einigermaßen entsprechen.

„Schdimmso, hoffich“, sagte er zu Charlie.

Es hörte sich an, als hätte er den Mund voller Murmeln.

Charlie schaute auf den Deckel, zählte das Geld mit geübtem Auge und schob Koller drei Münzen zurück. Den Rest strich er ein und winkte ihm zum Abschied. Sein Gesicht drückte Anteilnahme aus. Dann musste er sich um den nächsten Gast kümmern.

Koller ließ das Geld unbeholfen in seine Tasche gleiten. Er leerte sein Glas und stellte es mit einem Knall auf den Tresen, wobei er seinen Deckel nur knapp verfehlte. Er klopfte Hannes auf die Schulter und wankte, um Haltung bemüht, hinaus. Die frische Luft tat gut nach dem Lärm und dem Rauch.

Hannes mochte recht haben mit seinen Äußerungen, aber er war im Unrecht, was seine Treue anging.

Während Koller nach Hause wankte und sich an Häuserwänden abstützte, erinnerte er sich, wie eine Kollegin auf einer Fortbildung beim Essen von ihrem letzten Urlaub erzählt hatte. Beim Dessert hatte sie ihm den Sonnenbrand auf ihrer linken Brust gezeigt, wo der Rand des Bikinis deutlich erkennbar war. Und der war verdammt knapp gewesen. Er hatte ihr wortlos seine Hand mit dem Ring vors Gesicht gehalten. Daraufhin hatte sie ihre Bluse wieder zugeknöpft und war vor lauter Anstand rot geworden.

Er öffnete die Haustür und stakste durch das Treppenhaus hinauf zu seiner Wohnung. Damals war ihm aufgefallen, wie viele Kolleginnen und Kollegen sich nach dem Essen zu zweit auf den Weg ins Hotelzimmer gemacht hatten, Single oder nicht. Eigentlich konnte es ihm ja egal sein.

Er schloss die Wohnungstür auf, streifte die Schuhe ab und drückte die Tür mit dem Hintern zu. Sollten die anderen machen, was sie wollten, das war ihre Sache.

Er tat zwei Schritte durch den schmalen Flur und schaffte es nach weniger als fünf Versuchen, seine Jacke auf einen der Haken zu hängen. Er drehte sich um und schaute in den Spiegel.

„Glückwunsch, altes Haus!“ sagte er zu dem müden Mann im Spiegel und versuchte ein Lächeln.

Er war damals vor allem sich selbst treu geblieben, und das zählte. Auch jetzt noch.

Aber der arme, treue Kerl ihm gegenüber lächelte nicht, sondern sah ihn nur traurig an. Er tat Koller unendlich leid, und dann schossen ihm plötzlich die Tränen aus den Augen. Koller und der arme, treue Kerl rutschten mit dem Rücken an der Wand hinab, bis sie auf dem Boden saßen. Sie bargen ihre Gesichter in den Händen und konnten es nicht länger zurückhalten.

Als Koller am nächsten Morgen aufwachte, saß er mit ausgestreckten Beinen im Flur, den Kopf in den Klamotten an der Garderobe. Im Traum hatte er sich in bestem Einvernehmen mit Jenna unterhalten. Es hatte sich so gut angefühlt. Aber jetzt war er wach. Naja, annähernd wach.

Er kämpfte sich schwer auf die Füße. Jemand hämmerte von innen an seine Schläfen, dumpf und pochend. In seinem Mund steckte etwas Schwammiges, das seltsam schmeckte und das er nicht los wurde. Er stakste ins Bad, um nachzusehen.

Es war genau dort, wo sonst seine Zunge war. Er machte zwei schnelle Schritte zur Toilette und schaffte es, sich zu übergeben, ohne dass etwas daneben ging. Das war für den Anfang doch was, worauf man stolz sein konnte.

Erst nachdem er lange geduscht und noch nackt einen doppelten Espresso getrunken hatte, fühlte er sich besser. Er zog sich frische Sachen an und verbrannte sich anschließend an einem weiteren Espresso die Zunge. Es störte ihn nicht. Heute war Samstag, und er würde auf keinen Fall ins Büro gehen.

Er ging ins Bad und fischte seinen Autoschlüssel aus der Hose. Er kehrte zu seinem Espresso zurück, leerte die Tasse und warf den Schlüsselbund hinter sich. Es schepperte kurz, dann war es still. Koller schaute nicht nach, wo die Schlüssel gelandet waren. Er wollte eben sein Handy auf stumm stellen, als es klingelte.

„Jaa?“ krächzte er.

„Wo bist du?“ fragte Roleder.

„Wieso?“

„Es ist Freitagmorgen, du hast keinen Urlaub eingetragen und bist nicht im Büro.”

Koller schnaufte. So viel zum Wochenende.

„Ich hab schon Samstag“, sagte er. „Sorry. Bin krank.“

„Schlaf dich aus, Mann“, sagte Roleder. „Und hör auf zu saufen. Davon wird’s nicht besser.“

Koller brummte irgendetwas Unverständliches und legte auf. Dann ging er zum Sofa und fiel mit einem Grunzen in die Polster.

Gar nicht so übel, allein zu sein, dachte er. Keiner sieht dich schief an oder stellt blöde Fragen. Andererseits …

Du denkst zu viel, dachte er.

Augenblicklich fiel er in einen traumlosen Schlaf.

In der Fußgängerzone fand Marja einen Bankautomaten, an dem sie mit ihrer Kreditkarte Geld abheben konnte. Sie ging zum Rathausplatz, setzte sich vor einem Café an einen Tisch in der Sonne und bestellte ein Mineralwasser. Endlich lief alles so, wie sie es sich erhofft hatte. Sie schloss die Augen und zog die warme Luft tief in ihre Lungen.

Sie hatte Hagens Ticket in die Oberliga bereits gekauft, zu einem Preis, den niemand jemals erfahren durfte. Und das Schönste war, dass es nicht einmal das Bild war, das er angefragt hatte. Marja hatte eine um Dimensionen größere Sensation parat.

Bei einer Auktion konnte sie erheblich mehr einstreichen, aber das würde ihr zu lange dauern. Ohne Echtheitszertifikate von anerkannten Sachverständigen würde es kein seriöses Auktionshaus riskieren, eine solche Ikone in seinen Katalog aufzunehmen.

Aber sie würde endlich über genug Geld verfügen, um ihren wichtigsten Plan in die Tat umzusetzen. Einen Plan, in dem gemalte Bilder keine Rolle spielten. Dafür ein Bild, das sie niemals vergessen konnte. Ein Bild, das sie quälen würde, so lange sie lebte.

Es hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, seit sie vor zwei Wochen die letzte Nachricht ihrer Schwester auf der Mailbox gehört hatte. Marja hörte den Anruf auch jetzt wieder ab.

„Wir sind vor kurzem in Istanbul losgefahren. Es geht mir gut, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Sie sammeln unsere Handys ein. Ich frage mich, was das soll. Bis bald!“

Täuschte sie sich, oder hörte sie Angst aus der Stimme heraus?

Sie wusste, ihrer Schwester war etwas geschehen. Sie wusste nur nicht, was. Und wie.

Mit düsterer Miene tauchte sie ein in den Schatten am Rande des Rathausplatzes.

Die Marshrutka stand am Hafen von Turkmenbashi am Kaspischen Meer. Es war später Vormittag, die Sonne ließ das Wasser glitzern. Möwen kreischten, Menschen warteten auf die Fähre nach Baku. Man wusste nie genau, wann sie kam und fuhr. Es war ein Frachter, der erst dann ablegte, wenn genügend Passagiere und Fahrzeuge an Bord waren.

Lokman zahlte seinen Kontaktmann, der sie ohne Kontrolle in den Hafen ließ, und rangierte den Bus über eine Rampe auf ein großes Boot. Während die Ladung abgedeckt wurde, begrüßte ihn der Kapitän. Kurz darauf legten sie ab.

Sie fuhren aus dem Hafenbereich und weitere 30 Seemeilen südlich aus der großen Bucht, bevor sie nach Westen abdrehten. Ihr Ziel, die Küste von Aserbaidschan, lag jenseits des blauen Horizonts. Etwa 430 Kilometer Seeweg bedeuteten, dass sie auf dem Boot übernachten würden.

Gegen Mittag des nächsten Tages brachte der Kapitän das Boot in einer Bucht weit südlich von Baku an Land, eine auf Ölfässern schwimmende Holzkonstruktion diente als Landebrücke. Für Lokman war dies einer der schwierigsten Momente der gesamten Fahrt. Mit äußerster Konzentration hielt er die Marshrutka auf dem schwankenden Steg, während er sie über die Balken lenkte. Die Frauen gingen zu Fuß an Land.

Danach waren einige hundert Meter lockerer Sand und Gebüsch zu bewältigen, bevor sie die Landstraße erreichten. Die Frauen stapften durch das Gelände, während der Bus vor ihnen her schaukelte. Sobald er festen Boden unter den Rädern hatte, stiegen alle ein und die Fahrt ging weiter nach Norden, Richtung Georgien.

Über Iran wäre die Route kürzer gewesen, doch die Grenzkontrollen dort waren sehr streng, Bestechungsversuche zu riskant. Und würde man Rauschgift im Auto finden, drohte die Todesstrafe. Ausländer, die Drogen schmuggelten, wurden im Iran oft ohne Gerichtsverhandlung gehängt. Lokman fuhr lieber durch Aserbaidschan und nahm den Umweg über Georgien in die Türkei in Kauf. So blieb man wenigstens am Leben.

„Und du bist nie weiter als Istanbul gefahren?“

Zhanna wollte wissen, welche Rolle Lokman bei dem Frauentransport spielte. Sie stellte manche Fragen mehrmals, um herauszufinden, ob seine Antworten sich widersprachen.

„Nie“, sagte Lokman. „In Istanbul ist meine Fahrt zu Ende.“

„Möchtest du nicht mal rüberfahren und dir Europa ansehen?“

Lokman warf ihr einen amüsierten Blick zu.

„Ich bin doch nicht zum Spaß unterwegs. Meistens hänge ich noch ein, zwei Tage in Istanbul dran, aber dann fahre ich wieder zurück.“

„Wartet gleich die nächste Tour auf dich?“

„Eigentlich will ich nicht länger diese großen Touren fahren. Ich möchte endlich an einem Ort bleiben können, nach so vielen Jahren auf der Straße. Vielleicht ein Gasthaus aufmachen, mal sehen. Ich rede nicht gerne darüber.“

Sie lächelte.

„Ich werde es für mich behalten.“

Sie schaute eine Weile nach vorne auf die Straße, die sich durch die weite Landschaft auf sie zu schlängelte und unter dem Auto verschwand. Dann sah sie zu Lokman hinüber, der sich an das wackelnde Lenkrad klammerte, um den Bus auf Kurs zu halten. Und vielleicht auch sich selbst.

„Kann ich verstehen, dass du sesshaft werden willst.“

Lokman lächelte. Es war schön, verstanden zu werden.

„Und du?“ fragte er spontan. „Warum willst du weg aus deiner Heimat?“

Sie zögerte, kramte in seiner Musiksammlung und hielt ihm eine CD hin.

„Lass uns Musik hören, ja?“

Er legte die CD ein und stellte die Lautsprecher an, so dass die anderen Frauen ihrer Unterhaltung nicht folgen konnten. Falls das bei dem Motorengebrumm überhaupt möglich war.

Neugierig blickte er zu ihr hinüber. Warum machte sie es so spannend?

„Hast du jemals davon gehört, dass Frauen aus unserer Region als Prostituierte verkauft werden?“

Er sah sie entgeistert an.

„Was hat das mit dir zu tun?“

„Mit mir nichts, hoffe ich. Aber –“ sie machte eine Pause, „– vielleicht mit dir."

„Mit – mir?"

Zhanna machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand.

„Ich habe von Frauen erfahren, dass sie über eine Agentur Arbeit in Europa suchten und dann mit Gewalt in ein Bordell gezwungen wurden.“

„Glaubst du im Ernst, dass ihr in einem Bordell landen werdet?”

Sie sah ihn an und schluckte.

„Kann ich dir vertrauen?“

Er hielt seinen Blick auf die Straße geheftet.

„Klar.”

„Ich weiß nicht, was an den Behauptungen dran ist. Ich hoffe nichts. Aber die Möglichkeit besteht. Und wenn es so sein sollte, will ich es rausfinden.“

Sie bereute sofort, dass sie es gesagt hatte. Sie brachte damit nicht nur sich selbst in Gefahr. Und sie wusste, wie brutal diese Männer vorgingen.

„Das – das glaube ich nicht. Das kann ich mir nicht vorstellen. Glaubst du etwa, ich würde bei einer solchen Schweinerei mitmachen?“

„Nein. Aber kannst du sicher sein, dass es nicht so ist? Du hast keine Ahnung, was in Europa passiert. Und du hast selbst gesagt, dass du keine der Frauen je wieder gesehen hast.“

Lokman wehrte sich, suchte Argumente und Hinweise, die sie entkräften sollten. Sie hielt dagegen. Er fand keine Beweise, die eindeutig waren. Schließlich musste er zugeben, dass zumindest die Möglichkeit bestand.

„Was weißt du?“, fragte er sie.

Sie erzählte, was sie von den Frauen erfahren hatte. Dass sie nie wieder dieselben waren, obwohl sie selbst keine Schuld traf.

Schweigend fuhren sie weiter.

Lokman fühlte sich elend. Er hatte nie gewusst, was seine Auftraggeber wirklich machten. Er wurde dafür bezahlt, die Augen zu schließen und zu tun, was man ihm sagte. Jeder schlug seinen Vorteil aus gewissen Dingen, musste irgendwie zurecht kommen. Das taten doch alle! Und was im einen Land bestraft wurde, war im anderen kein Problem. Alles eine Frage der Perspektive.

Aber Frauenhandel, das war keine Kleinigkeit.

Er ahnte, dass jetzt alles anders werden würde. Und diese Ahnung würde ihm den Schlaf rauben.

Als ich noch in Köln war, hatten wir einen Seelsorger, ein guter Mann. Er half uns, den Druck abzulassen, wenn wir nicht mehr konnten. In unserem Job kommt jeder an diesen Punkt, irgendwann. Dann brauchst du einen, der dir hilft, einen Sinn in der Scheiße zu finden, die jeden Tag passiert.

Unser Job ist es, im Dreck der Gesellschaft zu wühlen, um die Ratten aufzustöbern, die sich darin einnisten. Und wenn du keinen Sinn mehr in deinem Job siehst, dann haben sie gewonnen. Weil du dann keine Gefahr mehr darstellst für sie. Weil du fertig bist mit deinem Job, fertig mit der Welt und mit dir selbst.

Es wird immer Verbrechen geben, und immer mehr, als wir aufklären können. Und es wird immer einen Dreckskerl geben, der dich am Ende auslacht, weil er mit seiner Schweinerei davongekommen ist.

Ist das ein Grund, das Handtuch zu werfen? Ich finde, es ist ein Grund weiterzumachen.

Der Mann im Treppenhaus der alten Villa ließ sein Handy in die Tasche des Jacketts gleiten. Er tippte mit dem Zeigefinger der rechten Hand nachdenklich an seine Unterlippe, bevor er eine getäfelte Tür öffnete und das dahinter liegende Büro betrat.

Ein groß gewachsener Mann Ende fünfzig in maßgeschneidertem Anzug blickte von seinem Mahagonischreibtisch auf. Geschmeidig erhob er sich und kam seinem Besucher entgegen. Zwei Leoparden, die sich in der Steppe begegneten.

Mit einem Lächeln bat der Ältere seinen Gast, in einem der Ledersessel Platz zu nehmen, die um einen Glastisch standen.

„Was gibt es Neues, Sergeij?“ fragte er. „Aber entschuldige, zuerst sollte ich fragen, ob du etwas trinken möchtest.“

„Danke, Wladimir, jetzt nicht.“

Sergeij Abramow betrachtete sein Gegenüber. Wladimir Strashin war sein Chef, dem er seit drei Jahren zuarbeitete. Er behandelte Sergeij wie seinen eigenen Sohn. Diese Ehre war noch niemandem in der Firma zuteil geworden. Sergeij Abramow wusste um die Verantwortung, die damit einher ging. Sie bedeutete auch, dass er nicht versagen durfte.

„Wladimir, es gibt eine Störung.“

Strashin nahm die Meldung scheinbar entspannt auf. Dennoch wäre einem aufmerksamen Beobachter nicht entgangen, dass Sergeij seine ungeteilte Konzentration hatte.

„Was ist es?“

„Ich habe gestern einen Anruf aus Odessa erhalten. Eines der Mädchen aus dem Lager im Gimaj-Gebiet hat eine Freundin angerufen. Die Wachen haben sie telefonieren lassen, weil sie sagte, sie hätte versprochen, sich zu melden, und man würde zur Polizei gehen, wenn man nichts von ihr hörte.“

„Und das Problem?“

„Sie muss einen Code vereinbart haben, mit dem sie signalisieren konnte, dass sie Probleme hat. Ihre Freundin ist gleich am nächsten Tag zur Polizei gegangen. Glücklicherweise hatte einer unserer Leute Dienst und konnte die Sache melden.“

Strashin blickte ihn an, ohne eine Frage zu stellen.

„Noch hat die Polizei nichts unternommen, aber unser Kontaktmann sagt, sein Kollege hat die Daten ebenfalls notiert. Es könnte sein, dass er eine Meldung an Interpol rausgibt.“

Strashin nickte. Der kurze Anruf stellte ein Risiko dar, wenn auch ein unbedeutendes. Viel entscheidender war, dass das Beispiel mit dem Code sich herumsprechen konnte. Man musste ein Exempel statuieren, um weitere Aktionen dieser Art zu unterbinden. Ein Exempel mit entsprechender Wirkung.

„Es gibt nur eine Lösung“, sagte er ruhig. „Die anderen sollen dabei zusehen, das wird sie abschrecken. Und keine Anrufe mehr.“

Sergeij nickte.

„So gut wie erledigt, Wladimir. Soll ich es selbst übernehmen?“

„Nicht nötig“, sagte Strashin, „die Männer vor Ort können das regeln. Wenn nicht, werden wir sie austauschen müssen. Gegen qualifiziertere.“

Strashin hob die Hände vor den Mund und legte die Fingerspitzen seiner gepflegten Hände aneinander.

„Ich habe den Eindruck, dass sie etwas nachlässig geworden sind. Sag ihnen das.“

Sergeij lächelte dünn.

„Das war’s. Gib mir Bescheid, wenn es erledigt ist.“

Sergeij nickte, stand auf und ging zum Ausgang. Er hielt an und wandte sich um.

„Noch etwas“, sagte er und legte wieder seinen Zeigefinger an die Unterlippe.

Es schien eine für ihn typische Geste zu sein.

„Was ist mit dieser Freundin in Odessa? Sollen wir uns um die auch … kümmern?”

Strashin überlegte nur kurz, dann schüttelte er den Kopf.

„Mach ihr klar, dass sie für ihre Freundin nichts mehr tun kann.“

Sergeij nickte und ging hinaus.

Ein Lächeln spielte um Strashins Mundwinkel. Es war gut zu wissen, dass das Ergebnis seiner jahrelangen Arbeit in den Händen guter Leute lag. Und Sergeij war der zuverlässigste von allen.

Er stand auf und ging zurück an den Schreibtisch. Sie waren auf einem guten Weg. Und es gab so viel zu tun.

„Blues a healer“ sang Johnny Lee Hooker, und Santanas Gitarrenläufe krachten aus den Lautsprechern. Eine Flasche Kentucky Straight stand auf dem Wohnzimmertisch, das Handy lag in einer Whiskeypfütze. Koller tanzte quer durch den Raum, eine qualmende Cruzero im Mund, in der Hand ein Glas mit der blassgoldenen Flüssigkeit.

„Blues a healer“, röhrte Hooker. „It healed me, it heals you.“

Den Inhalt ihres Kleiderschranks hatte er nach dem dritten Whiskey in einen Koffer gepackt, das würde weitere Entscheidungen deutlich beschleunigen. Sollte sie doch gehen, wenn sie unbedingt wollte.

Sorry, dass die Bügelfalten gelitten haben, Schatz, du weißt ja, wie ungeschickt ich bin. Nein, ich bin nicht sauer. Ich bin besoffen. Was denn? Ja, ich bin sauer. Ach, wie mies von mir. So ein blöder Bulle ohne Manieren, du hast wirklich was Besseres verdient. Schön, dass du jetzt glücklich bist. Was das jetzt soll? Gar nichts! Doch, das ist nötig, absolut nötig. Lass mich, ich will nur ein bisschen tanzen. Ja, du auch. Tschau. Und lass den Schlüssel hier.

Die Vorstellung, wie sie reagieren würde, wenn sie jetzt zur Tür hereinkäme und den Koffer sähe, brachte ihn zum Lachen. Es klang nicht allzu fröhlich.

My woman left me. Ihm wurde schwindlig. Left me one morning. The Blues healed me. Er sank auf das Sofa. I was down, I was down. Er schüttelte den Kopf. It healed me.

Schön für dich.

Der schwere Rauch konnte die Leere in Kollers Brust nicht füllen. Und diese Leere breitete sich aus, brannte sich ihren Weg durch seine Eingeweide. Es fühlte sich an, als würden sie von Säure zerfressen.

Blues is a healer. It can heal you.

Er würde noch einigen Blues brauchen, bevor der helfen würde. All over the world. Er ließ sich zur Seite sinken und schloss die Augen.

Fuck you.

Er wusste nicht, ob er Jenna meinte oder sich selbst oder John Lee Hooker. Dann versank er in der Schwärze der Polster.

Der Anruf kam kurz nach halb neun. Koller wunderte sich, wie schnell er das Telefon in seiner Hand hielt.

„Es ist Ihr Vater. Er hatte einen Schlaganfall, aber es geht ihm relativ gut. Wir konnten das Schlimmste verhindern.“

Koller setzte sich auf, schüttelte vorsichtig den Kopf und erhob sich langsam vom Sofa. Der Schreck, den die Nachricht ausgelöst hatte, verringerte schlagartig seinen Kater. Aber ein Puma statt eines Tigers war immer noch genug, um die Welt durch einen dichten Vorhang aus Watte wahrzunehmen.

Er setzte einen dreifachen Espresso auf, stampfte ins Bad, machte sich frisch, so weit das möglich war, und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Als er wieder hinaus ging, blieb er stehen. Er drehte sich um.

Ihr Koffer war weg.

Als Koller in das Krankenzimmer kam, erschrak er. Sein Vater kam ihm plötzlich so klein und alt vor. Schläuche ragten unter der Bettdecke hervor, seine Augen waren geschlossen. Seine knochigen Hände, die so viele schwere Lasten bewegt hatten, lagen kraftlos auf dem Laken, die dünne Haut ließ Adern und Sehnen deutlich hervortreten. Zwischen seinem Scheitel und dem Bettrand war viel Platz, und auch seine Füße waren vom unteren Ende zwei Handbreit entfernt. Er wirkte verloren in dem riesigen Bett.

Eine Krankenschwester kontrollierte Tropf und Katheter, beobachtete die Anzeigen auf den Geräten neben dem Bett. Sie begrüßte Koller mit einem Nicken.

„Er hat einen Hirnschlag erlitten, als er am späten Abend den Müll hinaus brachte“, sagte sie leise. „Ein Nachbar hat gesehen, wie er hinfiel, und sofort den Notarzt gerufen. Wir glauben, der Schaden ist nicht gravierend, aber Genaueres wissen wir erst nach der Auswertung des CTs.“

„Hat er eine Lähmung?“

„Wir müssen warten, bis er aufwacht.“

Koller dankte ihr, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Er nahm die Hand seines Vaters und hielt sie in der seinen. Die Krankenschwester ging hinaus. Koller saß am Bett und ließ seine Gedanken mit den Sekunden dahin gehen. Es gab nichts zu tun. Ihm wurde bewusst, wie alleine er sein würde, sollte sein Vater sterben.

Er verdrängte den Gedanken und schloss die Augen, ließ sich auf dem trägen Strom der Zeit dahintreiben, lauschte auf die Schritte im Gang, den Atem des alten Mannes, das Rauschen des Blutes in seinen Adern. In diesem Zimmer auf der Station fand jetzt, in diesem Moment, sein Leben statt. Und das seines Vaters.

Zwei kleine Leben, jedes am Rande des eigenen Todes.

Koller wachte auf mit schmerzendem Nacken. Er hielt noch immer die Hand seines Vaters. Sein Handy klingelte, es war Aylín. Er ließ die alte Hand auf das Betttuch gleiten und ging hinaus auf den Flur.

„Wo bist du?“, fragte sie.

„Im Krankenhaus, mein Vater hatte eine Schlaganfall.“

„Tut mir leid. Schlimm?“

„Weiß noch nicht. Wie spät ist es? Was gibt’s denn?“

„Gleich halb eins. Ich habe herausgefunden, wo es diese Art von Tötung gibt, mit Aufschneiden und Herz anhalten!“

„Du bist ein Genie, Aylín!“

„Darf ich darauf zurückkommen, wenn es um meine Beförderung geht?“

„Kein Problem. Sag mir nur, wohin ich dich befördern soll.“

„Zu freundlich.“

Er streckte sich.

„Meinst du, wir haben es mit einer Art Ritualmord zu tun?“

„Nicht ganz. In der Mongolei werden Schafe auf diese Weise getötet, um ihr Blut nicht zu vergießen. Einige traditionelle Stämme machen das auch heute noch so, vor allem bei rituellen Festen. Ich habe sogar einen Amateurfilm im Netz darüber gefunden.“

„Dann war es ein Mongole, der diese Frau getötet hat?“

„Nicht unbedingt. Ich bin ja nicht die Einzige, die dieses Video gesehen hat, und möglicherweise macht man das auch woanders. Es sieht gar nicht spektakulär aus. Das Schaf liegt auf dem Rücken, ein Mann hält es an den Hinterläufen fest, der andere legt sein Bein quer über das Tier und schneidet an einer Stelle die Haut auf. Das Schaf scheint fast nichts zu spüren. Erst als die Hand den Puls anhält.“

„Meinst du, dass eine zweite Person anwesend war?“

„Vermutlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau zuschaut, wie jemand ein Messer zieht und sie anschneidet.“

„Die Kopfwunde. Vielleicht von einem Totschläger.“

„Ich habe Dr. Schengen dazu befragt und ihr das Video gezeigt. Sie ist überzeugt, dass die Frau betäubt wurde. Ob von dem Mörder oder einem Helfer, können wir im Moment nicht sagen.“

„Das könnte zu der mongolischen Tötungsweise passen. Gute Arbeit, Aylín.“

„Danke. Da ist noch was: Dr. Schengen hat Haare gefunden, die nicht von der Toten stammen. Eines —“

„Hat doch sicher Zeit bis zur nächsten Besprechung, oder?“

„Klar“, sagte Aylín.

„Alles Weitere Montag früh. Ich komme heute nicht ins Büro.“

„Heute nicht?“

„Ja, wieso?“

„Es ist Samstag.“

Er schnaufte.

„Stimmt ja, ich dachte —“

„Bisschen viel alles, wie?“

Koller rieb sich die Augen und nickte nur.

„Du hast nur einen Vater“, sagte sie, „nimm dir Zeit. Auch für dich.“

Am Nachmittag wachte sein Vater auf. Koller bemerkte mit Erleichterung, dass sein Gesicht nicht verzerrt oder gelähmt war.

„Hast verdammt Glück gehabt“, sagte Koller und drückte seine Hand.

Dann klingelte er nach der Schwester. Als sie mit dem Stationsarzt ins Zimmer eilte, küsste er seinen Vater sanft auf die Stirn.

„Mach’s gut, Papa, ich komme heute Abend wieder. Entspann dich.“

„Ich bin immer froh, wenn du mir sagst, was ich zu tun habe“, erwiderte der alte Mann. „Würde sonst sicher alles falsch machen.“

Koller grinste und ging hinaus. Zum ersten Mal seit Tagen verspürte er Hunger. Es fühlte sich großartig an.

Nach zehn Tagen erreichten sie Istanbul, spät am Abend. Sie übernachteten in einem kleinen Hotel am Rande des Zentrums, das immer die letzte Station war. Die Frauen gingen gleich auf ihre Zimmer.

Lokman lag schwitzend auf seinem Bett. Er musste an Zhanna denken, die so oft neben ihm gesessen hatte, und daran, was sie erzählt hatte. Er konnte sie nicht einfach abgeben und nach Hause fahren.

Nachdem er sich zwei Stunden lang hin und her gewälzt hatte, zog er sich wieder an und ging hinunter. Er nickte dem Nachtportier zu. Ein grauhaariger Mann wischte den Eingang, als Lokman die Treppe herabkam.

„Wie läuft’s, Tayyip, alles im Griff?“

Der Mann hielt inne und schniefte.

„Alles in Ordnung, Lokman. Hast du wieder schöne Frauen mitgebracht?”

Lokman grinste nur.

„Eine für mich hast du nicht zufällig dabei?“ fragte Tayyip.

„Warum willst du dir auf deine alten Tage noch Ärger einhandeln? Genieß dein Leben, Mann!“

Sie lachten leise.

„Sag mal, Tayyip, du kennst doch hier im Viertel bestimmt jedes Gesicht.”

Der Mann stützte sich auf seinen Wischmop.

„Ich wohne hier seit 63 Jahren. Bis auf meinen Urlaub, du weißt schon.“

Er hatte drei harte Jahre im Gefängnis verbracht, weil er unbeabsichtigt in eine Demonstration geraten war.

„Sag, wo kann ich um diese Zeit noch einen Autohändler finden? Einen, der mehr als Autos hat.“

„Mehr als Autos?“

Lokman bemerkte, wie der Nachtportier große Ohren bekam. Er zog Tayyip in die Stille des Frühstücksraumes. Er hatte oft mit ihm zusammengehockt und wusste, was der Graukopf im Knast erlebt hatte. Allein die Leistung, da wieder rauszukommen, ohne gebrochen zu sein, hatte ihm allseits Anerkennung eingebracht. Er war ein respektierter Mann, trotz seiner Armut. Lokman mochte ihn, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

„Ich habe was vor und brauche ein Auto. Und eine Waffe. Wer kann das auf die Schnelle besorgen?“

Tayyip zuckte nicht mal.

„Wenn dir einer helfen kann, dann Kemal.”

Er blickte auf die Wanduhr, es war kurz vor eins.

„Schätze, der wird bald zumachen, also beeil dich.“

Er beschrieb ihm den Weg zum Autohandel. Lokman dankte ihm und sprang auf.

Der Mann saß am Schreibtisch seines kleinen Büros. Lokman ging hinein und sprach ihn an.

„Ein Bus? Was soll ich mit einem Bus?“

Der Autohändler starrte Lokman aus müden Augen an. Er hatte öliges Haar, aus seinem Schnurrbart ragte eine Knollennase hervor. Sein Bauch wirkte, als hätte er einen Fußball unter dem Hemd versteckt.

„Das ist nicht nur ein Bus, Mann, es ist ein Mercedes! Damit kann man Geld verdienen, richtig gutes Geld! Und er ist in perfektem Zustand, tiptop gewartet.“

In den Augen des Händlers blitzte Interesse auf. Mercedes war immer gut. Und Lokman hatte gesehen, dass zwischen den Pkw auch zwei Lieferwagen auf dem Hof standen.

Kemal seufzte.

„Ich kann mir die Mühle ja mal ansehen.“

„Du wirst es nicht bereuen“ sagte Lokman und klopfte mit der Hand auf den Tisch. „Warte auf mich!“

Zurück beim Hotel sprang Lokman in die Marshrutka und startete den Motor. Seine Idee entwickelte sich von einer Minute zur anderen zu einem vollständigen Plan. Einem Plan, der ihn mit Begeisterung erfüllte.

Voller Eifer kurvte er zu dem Autohändler. Er sprang aus dem Führerhaus und zerrte den Mann aus seinem überhitzten Büro.

„Na, habe ich dir zu viel versprochen? Ist das ein Prachtstück oder ist das ein Prachtstück? Komm schon, setz dich ans Lenkrad und dreh eine Runde.“

Er schob den widerstrebenden Mann auf den Fahrersitz und rannte um den Wagen, um sich neben ihn zu setzen.

„Nun fahr schon, Mann! Wirst sehen, der Brummer ist bestens in Schuss!“

Der Autohändler startete den alten Diesel, der willig ansprang. Er lauschte auf den Klang des Motors und jedes Geräusch, während er den Gang einlegte und vom Hof fuhr. Lokman wusste, dass er gewonnen hatte. Der Bus war alt, aber in hervorragendem Zustand.

Sie drehten eine Runde durch das Viertel, bremsten, hielten, fuhren wieder an und kamen schließlich zurück.

„Und? Was sagst du?“

„Ganz schön alt, die Karre. Wer soll denn so was kaufen? Wenn ich auf den Tacho schaue, wird mir schwindelig. 470 000 Kilometer!“

„Ja“, sagte Lokman und strahlte ihn an. „Gerade frisch eingefahren!“

Er wusste, der Motor würde locker das Dreifache schaffen.

Sie einigten sich rasch auf den Preis, Lokman hatte keine Lust auf lange Verhandlungen.

„So, und jetzt zeig mir mal deine Autos.“

Der Händler stutzte, dann rieb er seinen Schnurrbart und ging mit seinem seltsamen Kunden durch die nächtliche Ausstellung.

Ein dunkelgrüner 5er BMW gefiel Lokman am besten. Er hatte einige Beulen, aber kaum Rost und erst 160 000 Kilometer hinter sich. Lokman prüfte den Motorraum, die Reifen, den Auspuff. Eine kurze, heftige Probefahrt bestätigte den guten Eindruck. Als sie wenig später wieder auf dem Hof hielten, tickte der Motor vor Hitze.

„Die Reifen machst du mir neu.“

„Aber nicht umsonst.“

Sie vereinbarten, die Kaufsumme mit dem Bus zu verrechnen, und Lokman zahlte die Differenz sofort. Dann zählte er dreihundert Dollar ab und legte sie auf die Motorhaube.

„Mach mir das Auto fertig, mit Anmeldung, Reifen, Versicherung und allem. Ich will einen vollen Tank. Und eine von diesen Fünfliter-Wasserflaschen aus Plastik. Leer.“

Der Türke zuckte die Schultern.

„Klar, leer. Kein Problem.“

„Ich komme morgen Vormittag zwischen zehn und elf wieder. Dann will ich sofort los.”

Der Händler riss die Arme hoch.

„Völlig unmöglich! So schnell kann ich keine Zulassung besorgen. Gegen Mittag, frühestens.“

Lokman hielt ihm zweihundert Dollar hin.

„Du bist ein Erfolgsmensch, das sehe ich.”

Der Verkäufer grinste. Lokman holte tief Luft.

„Das hätten wir also geklärt. Jetzt habe ich noch eine spezielle Bitte.“

Der Mann sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an.

„Ich bin Spezialist für spezielle Fälle. Das müsstest du doch langsam kapiert haben.”

Lokman zog ihn in den hintersten Winkel des Hofes.

„Ich brauche eine Pistole und Munition“, flüsterte er. „Nicht zu groß. Kannst du mir helfen?“

Der Verkäufer schien nicht sonderlich überrascht. Er hatte verstanden, dass diese verrückte Kuh gemolken werden wollte, die ihm da mitten in der Nacht auf den Hof gestolpert war. Und er würde jede Hilfestellung geben, solange man ihn bezahlte.

„Wenn es bis morgen sein soll, kann ich was besorgen.“

„Hört sich gut an. Pack ein paar Schachteln Munition dazu.“

„Kostet sechshundert Dollar.”

Lokman gab sie ihm. Das Geld verschwand ungezählt.

„Eine letzte Frage: Wie komme ich von hier am schnellsten über den Bosporus?”

Der Mann erklärte es ihm.

„Aber du brauchst eine Mautkarte für die Brücke.“

„Besorg mir eine. Ich habe keine Zeit, das zu erklären.”

Lokman drückte ihm weitere fünfzig Dollar an die Brust.

„Das hier“, sagte der Verkäufer und zog mit einem Grinsen die Scheine glatt, „erklärt alles zu meiner vollsten Zufriedenheit.“

Er steckte das Geld ein und blickte Lokman erwartungsvoll an. Der war zu sehr in Fahrt, um seine Bemerkung lustig zu finden.

„Morgen Vormittag bin ich wieder hier. Verarsch mich nicht, das wäre ein Fehler.“

Der Verkäufer hob die Hände hoch und zog ein Gesicht, das wohl entrüstet wirken sollte. Lokman entspannte sich.

„Ich heiße Lokman“, sagte er und reichte ihm die Hand. „Danke für deine Hilfe.“

„Kemal,“ sagte der Autohändler und schlug ein.

Er tippte Lokman auf die Brust.

„Ich hoffe, du machst keine Dummheiten.“

„Zu spät. Da läuft eine Sache, die mir nicht gefällt. Und dagegen muss ich etwas unternehmen.“

Kemal sah ihn mit einem schiefen Blick an.

„Was bist du für ein komischer Vogel?“ fragte er und fingerte wieder an seinem Schnurrbart herum.

Er holte eine Visitenkarte aus der Jackentasche und hielt sie Lokman hin.

„Falls du mal in der Klemme steckst.”

Lokman nahm die Karte entgegen und betrachtete sie. Es gefiel ihm, dass Kemal half, ohne dumme Fragen zu stellen.

„Wie wär’s mit einem Tee?“ fragte Kemal.

Lokman überlegte, doch ihm fiel nichts ein, das er noch klären musste.

Seine goldene Uhr zeigte halb drei, aber er konnte jetzt unmöglich schlafen.

„Gerne“, sagte er.

Kemal verriegelte sein Büro und schlug Lokman auf den Rücken.

„Hier lang“, sagte er und wies mit dem Kopf die Richtung.

Dann holte er sein Handy heraus.

Ein Fernseher blökte die albernen Dialoge einer TV-Serie in den Raum, es war warm und stickig. Durch den Eingang und ein offenes Fenster irgendwo im Hintergrund zog ein Windhauch, der Kühlung brachte. Ein Vorhang aus Holzperlen raschelte im Wind.

Mit einem tiefen Seufzer nahm Kemal Platz und steckte sein Handy ein. Er nickte Lokman zu, während er die Krawatte lockerte.

„Erzähl“, sagte er. „Wie tief steckst du in der Scheiße?“

Lokman schwieg. Er sah Kemal in die Augen. Der hielt seinen Blick fest. Schließlich nickte er und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.

„Ziemlich tief.“

Sie bestellten Tee, dann begann Lokman zu erzählen. Kemal blieb stumm, nachdem Lokman fertig war. Er blickte in sein Teeglas.

„Ich kenne jeden in diesem Viertel, auch die Werkstatt, in der du den Wagen abgibst.“

Er dämpfte seine Stimme.

„Sie arbeitet für Banden, die auf den Schmuggel von Heroin spezialisiert sind. Dein Auto hat garantiert einen doppelten Boden. Und der ist voll mit Stoff, wenn du hier einläufst.“

Lokman schlug die flache Hand auf die Tischplatte.

„Tejen! Da war ich in der Werkstatt. Die müssen den Wagen beladen haben.“

„Hattest du eine Panne?“

„Nein, ich fahre da jedes Mal die Werkstatt an.”

Kemal nickte.

„Tejen ist nahe an der Grenze zu Afghanistan. Idealer Umschlagplatz.“

„Aber der Wagen fuhr sich genauso wie vorher. Ich habe keinen Unterschied bemerkt!“

„Wahrscheinlich haben sie Ballast herausgenommen, den du sonst im Auto hast, so dass es nicht auffällt.“

„Möglich“, sagte Lokman nachdenklich und starrte auf seine Hände. „Mir scheint, es gibt eine ganze Menge, wovon ich keine Ahnung habe.“

Kemal drehte sein Glas zwischen den Fingern.

„Und jetzt hast du beschlossen, das zu ändern. Warum?“

Lokman sah auf. Ihre Blicke begegneten sich. Genau das war die Frage. Und erst jetzt, in diesem Moment, wusste er die Antwort.

„Weil ich neu anfangen will. Weil Zhanna dabei ist. Weil ich eine solche Schweinerei nicht mitmachen kann.“

„Du weißt, was du riskierst?”

Lokman nickte.

„Alles.“

Kemal beugte sich vor. Er drückte Lokmans Arm.

„Möge Allahs Segen dich leiten und dir Kraft und Weisheit verleihen.“

Als sie einander die Hände schüttelten wie alte Freunde, erhellte das Morgenrot den Himmel.

Lokman fuhr zum Hotel zurück. Er wusste jetzt, was zu tun war. Und es fühlte sich gut an, obwohl es ihn noch viel Geld kosten würde. Aber das war gleichgültig. Es gab kein Zurück. Was er soeben organisiert hatte, bedeutete ein völlig neues Leben. Ein unvorhersehbares, gefährliches Leben. Und es hatte schon begonnen.

Als er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf stapfte, hielt er inne. Er ging zurück an den Empfang. Dort stand ein Computer mit Internetanschluss. Er nannte dem Nachportier seine Zimmernummer, dann surfte er einige Minuten. Er prägte sich die Namen der Städte ein, die er in Google Maps aufrief. Es war ein reines Glücksspiel. Wie sein gesamtes neues Leben.

Ein zweites Mal ging er die Treppe hinauf, und dieses Mal lächelte er. Er hatte gleich geahnt, dass dies keine Fahrt wie all die anderen werden würde. Jetzt ging es darum, nicht länger nur etwas zu ahnen. Es war an der Zeit zu wissen.

Es war kurz nach Sonnenaufgang, als Koller die Bettdecke zurückschlug und sich wie betäubt aus den durchgeschwitzten Laken schälte. Wie jeden Morgen jetzt dauerte es einige Augenblicke, bevor der Fahrstuhl in seinem Magen sich in Gang setzte. Und der kannte nur eine Richtung – abwärts.

Am liebsten hätte er sich verkrochen, aber das war unmöglich. Jede Verzögerung auf dem Weg zum Präsidium war ihm willkommen, bevor er den Wagen im Parkhaus abstellte. Widerwillig stapfte er zu seinem Büro. Wenigstens musste er den Tag nicht allein verbringen.

Berger würde gegen acht kommen. Er betrachtete dessen stets aufgeräumten Schreibtisch. Und doch war Berger kein Pedant. Wie der Mann diesen Spagat schaffte, konnte Koller nicht nachvollziehen, aber er respektierte ihn dafür umso mehr.

Eric Roleder und Aylín Karamanoglu waren erst Mitte zwanzig, passten aber gut ins Team. Er brachte seine unbeschwerte, manchmal etwas lässige Art ein und seine quer gedachten Ideen, sie ihre Intelligenz und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hinein zu versetzen.

Die Aufklärungsquote der Bonner Kripo bei Gewaltverbrechen lag seit Jahren um hundert Prozent. Er sah keinen Grund, warum sie den guten Schnitt nicht halten sollten.

Unter all den E-mails mit Anfragen von Kollegen nach Informationen zu Tatverdächtigen waren zwei, die er erwartet hatte und gleich bearbeiten musste. Der Polizeipräsident erkundigte sich nach dem Stand der Dinge, wollte wissen, in welche Richtungen ermittelt wurde.

Auch der Staatsanwalt erkundigte sich nach dem Stand der Dinge, bat ihn um halb fünf zur Besprechung und wollte wissen …

Und dann kam eine dritte, von der Spurensicherung. Es hatte vermutlich keinen Kampf gegeben, die Frau war höchstwahrscheinlich durch einen Schlag betäubt worden, auf der eisernen Leiter waren verwertbare Fingerabdrücke von mehreren Personen gefunden worden: zum einen von der Toten, aber auch von mindestens drei weiteren. Keiner davon stimmte mit Abdrücken in irgendeiner Datenbank überein.

Nach und nach trafen Berger, Aylín und Roleder ein, holten sich einen Kaffee, machten Bemerkungen darüber, dass er ziemlich stark wäre, und gingen ihre E-mails durch. Um halb neun setzten sie sich zusammen, um die Lage zu besprechen. Die Fotos der Spurensicherung lagen auf dem Tisch, dazu der Ausdruck der E-mail mit dem Bericht. Sie ließen die Fotos von der Toten und dem Tatort von Hand zu Hand gehen.

„Heute Nachmittag muss ich dem Staatsanwalt Bericht erstatten“, sagte Koller. „Also, wie sieht’s aus? Wer hat was?“

„Ich habe den Penner ausfindig gemacht, der den Mord gemeldet hat.“ Roleder hing in seinem Stuhl wie ein Teenager. Er klang trotz dieses Erfolgs wenig begeistert. „Der Typ ist irgendwie durchgeknallt, aber er scheint mehr zu wissen, als er sagt.“

„Was meinst du mit durchgeknallt?“

„Naja, er redet wirr. Manchmal in Reimen, manchmal ganz unzusammenhängend.“

„Vielleicht hast du nur nicht genügend Infos, um die Zusammenhänge zu erkennen“, sagte Aylín.

Roleder verzog das Gesicht.

„Ich glaube, wir sollten ihn hier vernehmen. Vielleicht macht ihn das gesprächiger.“

Koller wiegte den Kopf.

„Wenn er Angst hat, macht er vielleicht ganz dicht. Was hat er gesagt?“

Roleder setzte sich auf.

„Dass drei in das Ponton gegangen sind, aber nicht gleichzeitig, und nur zwei wieder rausgekommen sind. Dass man am besten unsichtbar ist und dass da eine harte Hand war. So komisches Zeug halt.“

„Immerhin hat er die Personen beim Betreten und beim Verlassen der Anlegemole gesehen“, sagte Berger.

„Vor Gericht gibt der keinen brauchbaren Zeugen ab.“

„Hat er sie beschreiben können?”

„Keine Chance. Versuch du es mal, Koller. Ich spüre ihn wieder auf, dann redest du mit ihm.“

Koller nickte.

„Versuch es morgen Vormittag“, sagte er. „Aylín?“

„Die DNA-Analyse hat Folgendes ergeben: Die Tote stammt aus einer der zentralasiatischen Republiken, möglicherweise aus Kasachstan oder einem der angrenzenden Länder, also Usbekistan, Kirgisien oder Tadschikistan. Dr. Schengen hat drei Haare bei der Toten gefunden, die von verschiedenen Personen stammen. Ein sehr kurzes, das hinten am Kleid hängen geblieben war, dunkelbraun, von einem Mann aus Osteuropa oder dem westlichen Russland, ein schwarzes, ebenfalls am Rücken, und ein etwas längeres, schwarz, beide von Männern aus Zentralasien. Das längere Haar befand sich unter einem Ring, den sie an der rechten Hand trug.“

„Welche Länder oder Gebiete sind mit Zentralasien gemeint?“

„Das ist nicht eindeutig. In der Regel sind es die eben genannten Länder, manche Quellen geben auch Mongolei, Turkmenistan, Afghanistan, nördliches Pakistan an.“

„Wir haben also drei Personen aus diesem Gebiet: die Tote und zwei Männer. Ein weiterer Mann aus Osteuropa hatte ebenfalls Kontakt mit ihr. Sonst noch was?“

„Dr. Schengen hat herausgefunden, dass die Frau mit mehreren Männern Geschlechtsverkehr hatte, zuletzt etwa zwei bis drei Tage vor ihrem Tod. Von einem dieser Männer stammt das schwarze Haar auf ihrem Kleid. Und sie war schwanger.“

„Eine Prostituierte?“

„Anzunehmen. Sie ist am Freitag Abend gestorben, hat wahrscheinlich Dienstag oder Mittwoch zuletzt gearbeitet.“

„Irgendjemand muss sie doch vermissen“, sagte Berger.

„Ich werde Kampmann von der Sitte fragen“, sagte Koller.

„Was gibt’s bei dir Neues, Berger?“

„Ich habe Fotos und Fingerabdrücke der Frau in den Datenbanken abgefragt, aber weder unsere INPOL noch I-24/7 von Interpol kennen sie.“

„Wenn ein Haar unter dem Ring hängen bleibt, hat sie möglicherweise mit dem Asiaten gekämpft, hat sich gewehrt“, sagte Roleder.

„Gut möglich. Obwohl nichts auf einen Kampf hindeutet. Sie hat nur die Platzwunde am Hinterkopf, wahrscheinlich von einem Schlag mit einem harten Gegenstand, der sie betäubt hat, und eine Prellung am linken Ellbogen, die vom Aufprall auf den Fußboden stammen könnte.“

„Vielleicht stammt das Haar von einem ihrer Freier“, sagte Berger.

„Kann sein“, sagte Koller. „Aber sie hat garantiert geduscht. Und sie kommt aus der gleichen Region wie der Unbekannte. Möglich, dass sie ihn kannte.“

„Lasst uns den Ablauf doch mal durchspielen“, sagte Berger. Er stand auf, zog das Flipchart herbei und nahm einen dicken Stift in die Hand. „Ihr drei könnt das nachstellen.“

Sie schauten sich an und zuckten die Schultern.

„Ok“, sagte Koller und stand auf. „Ich bin der Osteuropäer. Ich stehe im Ponton und warte, dass ihr kommt.“

Er schob seinen Stuhl unter den Tisch und stellte sich ein wenig abseits.

„Wir kommen jetzt die Leiter herunter“, sagte Roleder und schob Aylín vor sich her, bis sie zwei Schritte von Koller entfernt stand.

„Ich drehe mich zu dir um“, sagte Aylín und wandte Koller den Rücken zu.

„Ich habe eine Waffe in der Hand, mache zwei Schritte“, Koller tat, was er beschrieb, „und schlage zu.“

„Du fällst zu Boden“, sagte Roleder, während Aylín zusammensackte.

Koller fing sie auf und legte sie auf dem Fußboden ab. Sie nahm die Haltung an, in der die Tote gelegen hatte.

Berger hatte Daumen und Zeigefinger um sein Kinn gelegt und beobachtete die Szene aufmerksam.

„Frage: Warum kann sie nicht sehen, dass da unten jemand auf sie wartet?“ fragte er.

„Draußen scheint die Sonne, hier unten ist es dunkel. Ihre Augen können sich nicht so schnell darauf einstellen“, sagte Koller. „Aber ich bin schon länger hier und kann alles sehen.“

„Ok, stopp. Ich will das mal festhalten. Ein Mann und die Frau gehen auf die Mole, die Klappe nach unten ist nicht verschlossen, er öffnet sie, bittet die Frau, die Eisenleiter hinabzusteigen, klettert hinterher. Vielleicht steigt er auch zuerst hinein. Unten —“

„Wieso geht eine Frau freiwillig in dieses Eisending?” Koller stellte die Frage an alle.

„Ich würde das nur tun, wenn ich dem Mann vertraue“, sagte Aylín vom Boden herauf.

„Oder wenn du Angst vor ihm hast und gezwungen wirst“, sagte Roleder.

Berger machte Notizen auf dem Flipchart.

„Warum schneidet er durch das Kleid? Das ist doch ungenau.“

Roleder nahm den Kugelschreiber vom Tisch und führte einen imaginären Schnitt an Aylíns Rippen durch. Sie blickte ihn säuerlich an.

„Wenn er das Kleid erst hochgeschoben hätte, wäre es noch umständlicher gewesen“, sagte Berger. „Die Frau liegt schon auf dem Boden.“

„Vielleicht will er keine Zeit verlieren“, sagte Koller.

„Oder er geniert sich“, sagte Roleder.

„Du meinst, es ist ihm peinlich, ihren Körper zu sehen, aber sie zu töten ist für ihn kein Problem?“

Koller sah ihn zweifelnd an.

„Da ist noch der andere Mann. Was, wenn das ein völlig Fremder ist? Wenn du selbst aber die Frau kennst?“

Aylín schaute Roleder an.

„Wenn ich dich gut kenne?”

Roleder stieg auf ihre Idee ein.

„Wenn du mich liebst?“ fragte er.

„Oder dich hasse“, sagte Aylín.

Einen Moment lang war es totenstill im Raum. Dann wandte Aylín ihren Blick von Roleder ab. Sie stand abrupt auf und klopfte sich Jeans und Bluse sauber, ohne jemanden anzusehen. Koller schaute zu Berger, der nur mit den Schultern zuckte.

„Jetzt spinnt ihr ganz schön rum“, brummte Berger.

„Wer sagt, dass Polizeiarbeit nicht auch Spaß machen darf“, sagte Koller.

„Ich bring mal kurz den Kaffee weg“, sagte Aylín und verschwand.

Koller fühlte mit einem Mal seine Müdigkeit. Es konnte durchaus sein, dass sie einen realistischen Ablauf dargestellt hatten. Was natürlich nur für ihr Gefühl galt. Dem Staatsanwalt brauchte er davon nichts zu erzählen. Aber für das Team war es immerhin so etwas wie ein Anfang in diesem Mosaik, zu dem ihnen praktisch alle Steine fehlten. Ein kleiner Halt im weiten Raum der Möglichkeiten.

Der Morgen war gleißend hell. Lokman sprang voller Energie aus dem Bett, trotz der wenigen Stunden Schlaf. Er duschte und grinste sich im Spiegel an, während er sich rasierte und die Zähne putzte. Auf dem Weg zum Frühstück nahm er zwei Stufen auf einmal.

Zhanna saß alleine mit einer Tasse Tee. Sie nickte ihm zu. Er ging zu ihr hinüber, nahm ihr Gesicht in seine rauen Hände und küsste sie auf die Stirn, bevor sie etwas sagen konnte. Sie sah ihn mit offenem Mund an.

„Was ist denn mit dir los? So kenne ich dich ja gar nicht!“

„Zhanna, würdest du mir deine Handynummer geben?“

Er spürte eine unbändige Kraft in sich. Nichts und niemand würde ihn aufhalten.

Sie notierte ihre Nummer auf dem Blatt eines kleinen Notizblocks. Sie zögerte kurz, bevor sie eine weitere Nummer aufschrieb, und sah ihn eindringlich an, als sie ihm das Blatt reichte.

„Ich habe ein zweites Handy dabei, Lokman, für den Notfall.“

„Kluges Mädchen.“

Er nahm ihren Stift und markierte die zweite Zahlenreihe mit einem Ausrufezeichen. Er lächelte ihr zu, dann verstaute er die Notiz in seiner Geldbörse und schrieb ihr seine Nummer auf. Mit großen Schritten ging er zum Samowar, der auf dem Buffett dampfte, und eröffnete sein ausgiebiges Frühstück.

Die Frauen kamen eine nach der anderen herein und wünschten einen guten Morgen. Stimmengewirr erfüllte den Raum.

Lokman saß abseits. Er hatte beschlossen, niemandem von seinem Plan zu erzählen. Nicht einmal Zhanna.

Er fühlte sich stark wie ein Grizzly. Und mindestens ebenso hungrig.

Der alte Bauernhof war wieder bewohnbar gemacht worden, aber man hatte nicht mehr als nötig repariert. In dem früheren Wohnhaus wohnten die Männer, meist waren es fünf oder sechs, manchmal auch mehr. In einem alten Stallgebäude lagen Matratzen für die Frauen, die ehemalige Milchküche war ihr Waschraum. Ein rostiger Wasserhahn krallte sich an der Wand fest, darunter ein altes Becken, dessen Emaillierung fast vollständig abgesprungen war. Ein Kippfenster ließ graues Licht herein, die Scheiben waren blind von Staub und Spinnweben.

Ein verriegelter Schuppen und eine hohe Mauer umgrenzten den Hof, so dass es keinen anderen Weg hinaus oder hinein gab als das große Holztor. Es war immer verschlossen.

Man konnte auch durch das Haus nach draußen gelangen. Doch da waren die Männer.

In der Mitte des Hofes stand eine Holzbank ohne Lehne, aus groben Balken gezimmert.

Es gab keine Nachbarn, der Hof lag mehrere Kilometer außerhalb des nächsten Dorfes, abseits auf einem hohen Berg.

Und dennoch hatte wieder eine der Frauen versucht zu fliehen, war durch das Haus geschlichen, an den Männern vorbei. Die Hunde hatten in dieser Nacht nicht wie sonst im Hof gelegen, sondern in der Küche. Sie hatten erst gebellt, als die Frau die Haustür von außen geschlossen hatte.

Klack. Ein Laut zu viel.

Drei der Männer brachten sie zurück und warfen sie in den kleinen Holzverschlag. Allerdings nicht, ohne ihr vorher die Kleider vom Leib zu reißen. Der fensterlose Verschlag war aus rohen Brettern zusammengenagelt, etwa einen Meter im Quadrat und zwei Meter hoch. Er befand sich an der Nordseite des Innenhofes, so dass die Sonne den ganzen Tag darauf brannte.

Wenn einer der Männer daran vorbeiging, trat oder schlug er dagegen, um die Frau zu erschrecken.

Sie hockte in der Dunkelheit, die Arme um ihre Beine geschlungen. Wenn sie sich ausstrecken wollte, musste sie aufstehen. Sie erhielt keine Mahlzeit, nur einen kleinen Eimer Wasser. Bereits am nächsten Tag war der Gestank aus dem Verschlag unerträglich.

Im dämmrigen Flur des Hauses klingelte das verdreckte Telefon. Schritte ertönten, ein grimmiges Gesicht löste sich aus der Dunkelheit. Eine Hand griff nach dem Hörer.

Der Mann lauschte den Worten im Telefon mit gesenktem Kopf. Zweimal sagte er „Ja“. Gegen Ende des Gesprächs wollte er etwas erwidern, doch der Anrufer hatte schon aufgelegt.

Er ließ den Hörer sinken. Der Ausdruck seiner Augen war nicht länger grimmig. Er war gnadenlos brutal.

Die Frauen waren im Stallraum, als die Türe aufgerissen wurde. Einer der Männer brüllte, sie sollten sofort nach draußen gehen. Ängstlich drängten sie hinaus in die gleißende Helle, bemüht, dem Mann nicht zu nahe zu kommen.

Eine raue Hand packte Eva und zog sie aus dem Pulk der Frauen heraus. Sie wurde zu der Bank gezerrt, ein harter Hieb ins Gesicht schleuderte sie auf die Balken. Ein Mann kam herbei und zeigte mit dem Finger auf sie.

„Beweg dich und ich schlage dich tot“, sagte er, ohne die Stimme zu heben.

Sie wagte nicht, sich zu rühren.

Sechs Männer standen im Hof, zwei hatten Dobermänner an der Leine. Die Tiere hechelten laut, ihre rosafarbenen Zungen hingen weit aus den offenen Mäulern. Sie schienen zu lachen, als wüssten sie, was gleich geschehen würde.

Der Mann, offenbar der Anführer, wandte sich an die Frauen, die sich eng zusammendrängten.

„Ich habe Eva erlaubt, nach Hause zu telefonieren. Aber sie hat meine Großzügigkeit ausgenutzt. Sie hat versucht, eine Freundin zu warnen.“

Er öffnete seine Gürtelschnalle und zog das Leder langsam durch die Schlaufen seiner Jeans.

„Jetzt zeige ich euch, was passiert, wenn man uns reinlegt.“

Er schlug mehrmals auf Eva ein. Dann ließ er seine Hose zu Boden gleiten und schritt lässig darüber hinweg. Er legte sich die wimmernde Frau zurecht, riss ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigte sie. Dabei schlug er sie mehrmals ins Gesicht. Die übrigen Männer stießen sich in die Rippen und grinsten.

Eva presste sich die Faust auf den Mund. Sie hatte gelernt, dass sie nicht schreien durfte. Erst als der Mann fertig war, ließ sie den Arm sinken. Sie wollte sich auf die Seite drehen, doch eine harte Hand packte sie und riss sie herum. Schon machte sich der nächste Kerl über sie her. Und danach vier weitere.

Der Anführer, der seine Jeans wieder gegürtet hatte, wartete, bis seine Männer wieder beisammen standen. Er packte Eva am Handgelenk, zog sie von der Bank und ließ sie vor ihm niederknien. Nur mühsam fand sie die Kraft, sich aus dem Staub zu erheben. Der Mann schritt langsam um sie herum, bis er hinter ihr stand. Dann zog er einen Revolver und schoss sie in den Hinterkopf. Eva sackte ohne einen Laut in sich zusammen.

„Ich denke, ihr habt verstanden“, sagte er, ohne die Stimme zu heben, und nahm sich viel Zeit, jede der Frauen anzusehen.

Niemand sagte ein Wort. Nur die Hunde lachten lautlos.

Nach dem Frühstück fuhren sie zum vereinbarten Treffpunkt, einem Parkplatz an der Küçüksu Kavşağı, einer Ausfallstraße am nördlichen Rande der Innenstadt. Von dort war es weniger als ein Kilometer zur Autobahn, die auf die Brücke über den Bosporus führte.

Ein heißer Wind ließ die Temperaturen gegen Mittag auf über dreißig Grad im Schatten steigen. Lokman stellte den Bus in einer Parkbucht ab und wartete. Die abgewetzte Armeekappe thronte auf seinem Schädel, eine Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Er wischte zum wiederholten Male die Hände am T-Shirt ab. Es lag nicht allein an der drückenden Hitze, dass er schwitzte.

Einige Minuten später fuhr ein blauer Ford Transit mit dunklen Scheiben heran und blieb nur wenige Meter voraus mit laufendem Motor stehen. Der Wagen hatte, wie Lokmans Bus auch, ein erhöhtes Dach, so dass man darin stehen konnte. Er sah fast neu aus.

Zwei Männer stiegen aus, einer groß, der andere breitschultrig, beide mit Sonnenbrillen und dunkel gekleidet.

Wieder zwei von der Sorte, mit denen er nichts zu tun haben wollte, das sah er gleich. Lokman merkte sich das Kennzeichen. Der Wagen war in Rumänien zugelassen.

Er hielt seinen linken Arm aus dem Fenster heraus und winkte kurz. Der Große antwortete mit einer lässigen Bewegung der Hand und kam langsam herüber.

Lokman stieg aus.

„Alles ok?“ fragte der Mann auf Russisch, mit einem harten Akzent.

Er war zwei Köpfe größer als Lokman und tat, als wäre er ihm sehr überlegen.

Seine mächtigen Oberarme hatten im Laufe der Jahre sicher einige hundert Tonnen an Gewichten gestemmt, aber das hatte offenbar nichts an seiner Unsicherheit ändern können. Oder an seiner Dummheit.

„Keine Probleme, alles gut gelaufen.“

Der Mann nickte bedächtig, unternahm aber keinerlei Anstalten, die Frauen in seinen Bus zu bringen. Er schaute Lokman nicht an, sondern blickte sich um, als sei er mit Wichtigerem beschäftigt.

„Zwölf, richtig?“ fragte er schließlich.

„Richtig.“

Lokman hoffte, dass man ihm nicht ansah, wie wenig er von dem Typen hielt. Der zweite Mann stellte sich mit einem kurzen Nicken zu ihnen. Auch er gab ihm nicht die Hand. Die Kerle taten, als hätten sie nichts mit ihm zu tun. Zwei Gründe mehr, den Job endlich hinter sich zu bringen.

„Guten Tag, die Herren. Sie werden uns weiterfahren?“

Zhanna stand plötzlich neben Lokman und sprach die schweigsamen Gestalten einfach an.

„Ja.“

„Das ist gut. Im Bus ist es so heiß, dass man es nicht aushält. Sollen wir unser Gepäck schon mal rüber tragen?“

Der Transit hatte eine Klimaanlage und war angenehm kühl. Die Frauen verabschiedeten sich von Lokman und stiegen ein. Zhanna wartete bis zuletzt. Sie drückte ihn für einen Moment an sich, bevor auch sie einstieg.

Lokman winkte ihr nach. Dann wandte er sich an den großen Schweiger.

„Ich kriege noch was von dir, Kollege.“

Er hatte bei der Abfahrt in Bishkek nur die Hälfte seines Lohns erhalten.

„Hm.“

Der Kerl war so sparsam mit Worten, dass er rumänischer Meister im Dauerschweigen werden konnte. Er holte einen Umschlag aus der Türablage und gab ihn dem kleinen Asiaten, der ihm nicht von der Seite wich. Er schaute schweigend auf ihn hinunter. Lokman zählte das Geld und nickte zufrieden, ebenfalls schweigend. Fünftausend Dollar.

Er hatte sich die nächste Frage lange überlegt.

„Welche Route nehmt ihr jetzt?“ fragte er beiläufig, während er den Umschlag in seiner Hosentasche verstaute.

Der Typ schaute ihn misstrauisch an.

„Was geht’s dich an?”

„Bin selbst schon die Tour gefahren. Wollte nur wissen, ob ihr auch über Plovdiv fahrt oder südlich über Thessaloniki.“

„Plovdiv.“

Lokman nickte wissend.

„Na dann, gute Fahrt.“

Er winkte noch einmal zu den Frauen hinauf und ging zu seinem Bus. Er stieg ein, startete sofort und wendete den Wagen. Dann gab er Gas. Er hatte keine Sekunde zu verlieren.

„Danke, dass Sie sich Zeit nehmen, meine Fragen zu beantworten“, sagte die Frau.

Sie war Mitte vierzig, trug zur Jeans eine hellblaue Bluse unter einer grauen Leinenjacke. Mit einer kurzen Bewegung des Kopfes warf sie ihr Haar zurück und reichte dem jungen Mann, der ihr gegenüber saß, die Hand.

Er saß ungelenk auf dem Holzstuhl und lächelte schief. Seine Haut war blass, er hatte in letzter Zeit nicht viel Sonnenlicht gesehen. Die Häftlingskleidung spannte um seinen mageren Körper wie ein zu klein gewordener Konfirmandenanzug. Aber seine Augen verrieten einen wachen Geist.

„Sie glauben gar nicht, wie gerne ich aus dieser beschissenen Zelle rauskomme“, sagte er. „Ich hocke mit neun Männern auf ein paar Quadratmetern, und keiner von denen ist die Sorte Mensch, die ich als Freund haben wollte.“

„Wurden Sie geschlagen?“ fragte die Frau. Sie hatte bemerkt, dass die linke Hälfte seines Gesichts gerötet war.

„Halb so wild. Da ist ein Kerl bei uns, der um jeden Preis der Boss in der Zelle sein will. Jetzt liegt er auf der Krankenstation, da kann er nachdenken, wenn sein Schädel wieder funktioniert.“

Die Frau lehnte sich zurück und musterte den Burschen. Sie schob ihre Locken mit einer schnellen Bewegung der Hand zurück, doch sie drängten gleich wieder nach vorne. Sie war überrascht, einen so jungen Mann vor sich zu sehen. Er wirkte mehr wie ein Junge, der zu schnell gewachsen war. Vielleicht musste er deshalb erst einmal klarstellen, was für ein harter Brocken er war.

„Ist es ok, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?“

„Sie wollen also darüber schreiben?“

„Ich werde deinen Namen nicht nennen.“

Der junge Mann nickte.

„Sonst könnte ich mich gleich einsargen lassen.“

Sie holte einen Digitalrecorder aus ihrer Handtasche, legte ihn auf den Tisch und schaltete ihn ein.

Der Häftling schaute sie neugierig an. Dann sagte er mit einem Lachen, das fast verlegen klang:

„Darf ich erfahren, wie Sie heißen?“

„Entschuldige“, gab die Frau zurück. „Mein Name ist Estella Corletti, Journalistin aus Bologna, Italien. Und du?“

Er hätte vom Alter her ihr Sohn sein können, daher sprach sie ihn gleich mit du an.

„Ich bin Boris, einundzwanzig Jahre alt, aus Priština. Wieso interessieren Sie sich für Frauenhandel?“

„Das ist eine lange Geschichte, Boris. Mein Mann war Sizilianer, ebenfalls Journalist. Er hat über die Mafia geschrieben. Das hat er nicht überlebt. Als ich versuchte, seinen Tod aufzuklären, bin ich darauf gestoßen, dass jedes Jahr Zehntausende von Frauen aus Osteuropa nach Italien verschleppt werden. Das hat mich schockiert. Mein Mann hat an den Hintergründen dazu gearbeitet und belastende Beweise gesammelt. Nach seiner Ermordung habe ich eigene Recherchen begonnen und die Lieferkette Schritt für Schritt verfolgt. Deshalb bin ich jetzt hier.“

Boris nickte langsam.

„Verstehe.“

Er überlegte einen Moment.

„Was wollen Sie wissen?“

„Mich interessiert, wie dieses Geschäft abläuft, wie die Preise sind, wer in Politik und Behörden geschmiert wird, welche Summen dafür gezahlt werden.”

Der junge Mann lachte lautlos und schüttelte den Kopf.

„Das ist eine Menge Sprengstoff, Lady. Glauben Sie im Ernst, jemand riskiert seinen Kopf, damit Sie Ihre Story schreiben können?“

„Manchmal kann man nur staunen, was die Leute alles erzählen“, sagte sie.

„Das wundert mich. Wer redet, wird zu einem Risiko.“

„Das kommt darauf an. Wie viele Jahre hast du bekommen?“

„Drei. Ich wurde beim Schmuggeln erwischt, aber ich war nur ein Handlanger.“

„Was hast du geschmuggelt?“

Boris schaute sie ohne jede Verlegenheit an.

„Frauen.“

„Seit wann machst du das? Wie hat es angefangen?“

„Ich bin seit sechs Jahren im Geschäft, angefangen hat es mit Drogen, danach Waffen. Aber mit Frauen verdient man mehr. Viel mehr.“

„Du hast mit fünfzehn angefangen zu schmuggeln?“

„Ja. Vorher habe ich von kleinen Diebstählen gelebt.“

„Kannst du mir Namen nennen von Leuten, die ich ebenfalls fragen könnte?“

„Darüber müsste ich erstmal nachdenken.“

„Verstehe. Was genau war dein Job?“

„In den letzten zwei Jahren habe ich Frauen an der Grenze zu Moldawien abgeholt und mit einem Lastwagen nach Albanien gebracht. Da werden sie an Händler verkauft, für Italien, Tschechien, Österreich und Deutschland.“

„Wie findet der Verkauf statt?“

„Wir bringen die Frauen an einen versteckten Ort, möglichst einsam gelegen. Dort werden sie erzogen. Nach einer Woche sind sie so weit, dass man die Händler einlädt. Die kommen mittlerweile jeden Donnerstag. Am Freitag werden die Frauen dann für die Kunden eingeteilt und abgeholt.“

„Was meinst du damit, sie werden erzogen?“

Boris schaute kurz zu ihr hinüber. Er legte seine Fingerspitzen zusammen und betrachtete sie konzentriert.

„Man bricht ihren Willen, damit sie aufhören, sich zu wehren. Sie werden geschlagen, unter die Straßenbahn geworfen, erpresst und ...“

„Unter die Straßenbahn geworfen?“

„Ist so eine Redensart der Fenja.“

„Was ist Fenja?“

„Russische Gaunersprache. Der Ausdruck bedeutet, sie werden von den Männern vergewaltigt, die sie bewachen.“

„Du bist doch gar kein Russe.“

„Man lernt im Laufe der Zeit so einiges von seinen Geschäftspartnern.“

„Wo finde ich so ein Lager?“

Boris sah Signora Corletti mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis an. Mit der rechten Hand rieb er sich das Kinn.

„Lassen Sie die Finger davon, Lady. Das ist zu gefährlich.“

„Meinst du, man würde mich gleich einkassieren?“

„Blödsinn. Dafür sind Sie viel zu alt.“

„Danke für das Kompliment.“

Sie versuchte es mit Humor, doch er verzog keine Miene.

Seine Augen tasteten ihre Gesichtszüge ab, als wollten sie auf diese Weise herausfinden, welche Gedanken sich dahinter verbargen. Sie nahmen jedes Detail in sich auf. Dunkelbraune Locken, die hinter die Ohren geklemmt waren und ständig nach vorne drängten. Erste graue Strähnen darin. Ihre grünen Augen, traurig und entschlossen zugleich. Das gelegentliche Zucken unter dem rechten Auge, die Fältchen um Augen und Mund. Das energische Kinn unter dem fein geschwungenen Mund, darüber die große Nase. Sie war eine Frau, deren Gesicht einen Eindruck hinterließ.

„Warum wollen Sie unbedingt ein Loch in Ihren hübschen Kopf bekommen, Lady?”

Signora Corletti blickte ihn regungslos an. Er war über zwanzig Jahre jünger als sie, aber er redete wie ein erfahrener Gangster.

Boris entging nicht, dass sie blasser wurde.

„Wie meinst du das?“ fragte sie.

Boris beugte sich vor und reckte ihr seine Hände entgegen.

„Schauen Sie“, sagte er.

Sie blickte auf seine schmalen, aber kräftigen Fäuste. Beide Handrücken waren von runden Narben übersät, die sie aussehen ließen wie die eines alten Mannes.

„Ich habe einmal den Fehler gemacht, nachts draußen eine Zigarette zu rauchen. Ein einziges Mal“, sagte er. „Mein Boss hat sie mir auf den Händen ausgedrückt. Immer wieder. Ich durfte keinen Laut von mir geben.“

Er lehnte sich zurück. Signora Corletti sagte nichts.

„Haben Sie vielleicht eine Kippe für mich?“ fragte er mit einem schiefen Lächeln.

Sie nickte. Wortlos holte sie eine Packung aus ihrer Handtasche und schob sie ihm mit einem Feuerzeug zu.

„Danke.“

Er riss die Folie auf, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief in seine Lungen.

„Sie müssen wissen, Lady, dieses Geschäft ist, nun ja – kompromisslos.“

„Ich weiß, worauf ich mich einlasse“, sagte Signora Corletti.

Boris zog an seiner Zigarette.

„Einen Scheißdreck wissen Sie“, sagte er langsam.

Er blies den Rauch in ihre Richtung und blickte sie unverwandt an.

„Sie kommen aus Bologna. Das soll eine schöne Stadt sein, habe ich gehört. Eine reiche, ordentliche Stadt in Norditalien.“

Er rückte seinen Stuhl näher an sie heran und beugte sich vor. Die Spitze seines Zeigefingers tippte auf den Tisch, während er sprach.

„Das hier ist nicht Bologna, Lady. Falls Sie hier abends auf die Straße gehen und zu viele Fragen stellen, können Sie froh sein, wenn Sie morgens wieder im Hotel aufwachen. Der Kosovo ist fest in der Hand der Mafia. Hier läuft alles so, wie es die Bosse wünschen. Die Polizei regelt den Verkehr, schnappt ein paar kleine Diebe. Aber die großen lässt sie in Ruhe, denn die bezahlen dafür. Und die ganz großen liegen mit den Politikern in einem Bett. Aber meistens liegt da sowieso nur einer, der beides ist.“

Er lachte heiser, setzte sich wieder aufrecht und nahm einen weiteren tiefen Zug aus seiner Zigarette.

„Gegen den Kosovo ist sogar Russland ein Rechtsstaat.“

Er schüttelte den Kopf. Die Finger, zwischen denen die Zigarette klemmte, zeigten auf sie.

„Sie wissen gar nichts, Lady. Sie glauben zu wissen, und das ist gefährlich. Viel gefährlicher als nicht zu wissen.“

Signora Corletti ließ sich nicht anmerken, ob sie von seiner Schilderung eingeschüchtert war.

„Du scheinst gerne zu philosophieren.“

Er lehnte sich zurück, betrachtete sie mit einem Blick, den sie nicht einschätzen konnte.

„Stellen Sie sich vor: Ich habe Bücher gestohlen und gelesen, habe mir aus lauter Neugier Vorlesungen angehört: Psychologie, Philosophie, Wirtschaftslehre. Aber hier können Sie kein Geld verdienen, wenn Sie arm und ehrlich sind. Also habe ich mit dem Schmuggeln angefangen, um Bücher und vielleicht mal ein Studium zu finanzieren. Das war mein großer Traum: Studieren und später Lehrer werden. Oder Manager. Was man halt so träumt als kleiner Junge, wenn man keine Ahnung hat.“

Boris rieb seine Zigarette an der Unterseite des Tisches aus.

„Ich habe hier viel Zeit zum Nachdenken, und ich habe herausgefunden, dass es fünf Arten von Wissen gibt“, sagte er und schnippte die Kippe in eine Zimmerecke.

Er blickte Signora Corletti mit einem prüfenden Blick an.

„Erstens: wenn ich weiß, dass ich etwas weiß. Das ist unser normales Wissen, mit dem wir durch den Alltag gehen und unsere Ziele verfolgen. Zweitens: Ich weiß, dass ich etwas nicht weiß. Das sind die Grenzen des eigenen Wissens. Drittens: Ich weiß nicht, dass ich etwas nicht weiß. Das ist der unbekannte Teil der Welt, die Überraschungen. Viertens: Ich weiß nicht, dass ich etwas weiß. Da spielt das Unbewusste eine Rolle, Verdrängung. Und fünftens: —“

Boris sah Signora Corletti eindringlich an.

„— Ich glaube zu wissen, aber ich weiß nicht. Das ist die gefährlichste Art des Wissens, weil es gar kein Wissen ist. In meinem Geschäft führt es geradewegs ins Verderben.“

Die Signora wusste nicht, was sie antworten sollte. Diese Worte klangen so unpassend und altklug aus dem Mund dieses jungen Burschen, der die besten Jahre seines Lebens in einer überfüllten Zelle in einem beschissenen Gefängnis verbrachte.

„Du redest wie ein alter Mann.”

Boris lachte freudlos.

„Meine Eltern sind gestorben, als ich vier Jahre alt war. Ich musste mich als Straßenkind durchschlagen. Haben Sie auch nur eine Ahnung davon, was das bedeutet? Viele schnüffeln Benzin oder Klebstoff, um die Scheiße um sich herum, den Schmerz, den Hunger wenigstens für ein paar Augenblicke zu vergessen. Ich habe lieber lesen gelernt und mich in Bücher vertieft. Hier im Knast sehe ich all die Typen um mich herum, die für ihre Probleme nur eine Lösung kennen: Gewalt. Auch ich bin damit aufgewachsen. Aber zum Glück weiß ich, dass es andere Dinge gibt, die wichtig sind, und auch andere Wege, etwas zu erreichen. Nur eben nicht in diesem Gewerbe.“

Signora Corletti schwieg.

„Ich bin zwar noch jung, Lady, aber ich habe schon einiges erlebt. Und es war nicht viel Schönes dabei.“

Dieser Junge war erstaunlich. In einer geordneten Umgebung und mit ein wenig Hilfe konnte er viel erreichen. Er war intelligent, dachte nach. Aber bislang hatte er mit keinem Wort gezeigt, dass er irgendetwas von dem bereute, was er getan hatte. Und das waren keine Kleinigkeiten. Er war Menschenhändler. Ein professioneller Verbrecher, der seinen Gewinn aus der Arbeit und dem Leid anderer zog. Selbst wenn er nur ein Handlanger war.

Zugleich bedauerte sie ihn. Seine Intelligenz hatte unter diesen Umständen kaum eine Chance, sich in etwas Anderes als Verschlagenheit zu entwickeln. Aber dahinter steckte auch die Absage an jede Form von Recht und Respekt. Dem eigenen Vorteil fiel alles Mitmenschliche zum Opfer. Der Stärkere nahm sich jedes Recht, den Schwächeren auszunutzen. Ohne die geringste Scham. Und ohne Grenzen.

Diese Art zu denken war es, die ihren Mann getötet hatte. Ihr gegenüber war man als Mensch mit Respekt vor den Rechten des Anderen immer im Nachteil.

„Ein philosophischer Frauenhändler“, sagte sie, „wer hätte das gedacht.“ In ihrem Tonfall schwang mehr als nur ein wenig Sarkasmus mit. „Ich hoffe, dass ich Gelegenheit haben werde, auch meine Philosophie darzulegen.“

Er machte eine Geste mit der Hand. Sie fuhr fort.

„Es ist manchmal schwierig, Wissen und Glauben zu unterscheiden. Was ich von Anderen lerne, kann ich zunächst nur glauben. Zu Wissen wird es erst, wenn ich es in der wirklichen Welt einer Prüfung unterziehe und bestätigt sehe. Dazu besteht nicht immer die Möglichkeit. Aber genau das ist mein Job und der Grund meiner Nachforschungen.“

Ihre schmalen Hände waren in Bewegung geraten. Boris sah, dass sie aufgebracht war. Es ging ihr nicht nur um die Story für irgendeine Zeitschrift. Er wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu.

„Ich will wissen, was dran ist an den Behauptungen, die ich von so vielen Menschen gehört habe. Und dazu muss ich selber sehen, wie die Dinge liegen. Verstehst du das, Boris?”

„Sicher“, sagte er. „Aber dadurch begeben Sie sich in Gefahr. Das sollte Ihnen klar sein. Wir spielen hier nicht Boccia in Bologna. Hier geht es um ein verschwiegenes Geschäft, bei dem sehr, sehr viel Geld verdient wird. Niemand hat Lust auf eine Diskussion mit Ihnen. Und kaum jemand nimmt sich Zeit für einen Warnschuss. Wer den Betrieb stört, wird eliminiert.“

„Ich weiß, wie wenig ein Menschenleben zählt. Spätestens seit dem Tod meines Mannes.“

Ihre Stimme hatte nicht länger den unbeteiligten Tonfall der Reporterin. Sie griff nach den Zigaretten. Nach einigen ungeduldigen Zügen fuhr sie fort.

„Es gibt nämlich noch eine weitere Form des Wissens: Wenn man eine persönliche Erfahrung gemacht, eine Erkenntnis gewonnen hat. Dann wird das Erlebte zu einer Art innerem Wissen, das man nicht vermitteln oder beweisen kann. Intuitives, unerschütterliches Wissen. Die einzige Wahrheit, die es gibt. Du weißt bestimmt, was ich meine. Jeder erlebt das irgendwann.“

Sie lehnte den Kopf in den Nacken und blies eine Rauchwolke in Richtung der Zimmerdecke. Ihre Augen waren geschlossen.

Boris beobachtete sie schweigend. Leid und Wut hatten sich in ihre Züge eingegraben, auch Verbissenheit. Er kannte diese Spuren in den Gesichtern der Menschen nur zu gut.

„Dieses Wissen ist in meinen Augen das einzige, das jeden Zweifel übersteht. Es ist tausendmal wertvoller als all das Zeug, das wir von anderen Leuten übernehmen. Mit diesem Wissen sind die Dinge nicht mehr dieselben, die sie vorher waren.“

Ohne ihre Haltung zu verändern, öffnete sie die Augen und sah ihn an.

„Und auch wir selbst nicht.“

Der Rauch ihrer Zigarette zog langsam kreisend nach oben, verlor allmählich alle erkennbare Form. Der Blick ihrer halb geschlossenen Augen folgte dem Tanz der weißgrauen Schlieren und verlor sich in einem Himmel, den sie nicht sehen konnten.

„Ich habe mit Dutzenden Frauen gesprochen, die verschleppt worden sind. Viele haben geweint aus Verzweiflung, aus Ekel vor sich selbst. Ich weiß, dass ich nicht einfach zuschauen kann, wie jeden Tag mehr als Tausend Frauen entführt, geschlagen, vergewaltigt und verkauft werden, während kaum jemand etwas dagegen unternimmt. Die Polizei läuft euch nur hinterher, hat kaum eine Chance. Die Mafia hat so viel Macht, dass sie in manchen Ländern die Gesetzgebung beeinflusst. Die Politiker sind im besten Falle nur ignorant, im schlimmsten Falle stecken sie mittendrin. Es war schon immer so, ja, aber es widert mich an. Natürlich weiß ich, dass ich die Welt nicht retten werde. Ich schaue bloß, was ich tun kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Sie schnippte die Asche von der Glut.

„Ich habe nichts mehr zu verlieren, nichts außer mir selbst. Das nehme ich in Kauf, um zu tun, was ich tun muss. Ansonsten würde ich jede Achtung vor mir verlieren.“

Boris sagte kein Wort. Seine Miene war versteinert. Die plötzliche Stille lastete schwer auf dem kahlen Raum. Langsam erhob er sich von seinem Stuhl und ging zur Tür. Dort stand er mit gesenktem Kopf, die rechte Faust erhoben, um seine Knöchel auf das Holz zu schlagen. Er verharrte einen Moment lang reglos.

„Passen Sie gut auf sich auf, Lady“, sagte er mit dem Rücken zu ihr.

Dann klopfte er an die Tür.

„Und ich habe noch nicht einmal angefangen, vom Gewissen zu sprechen“, sagte Estella Corletti, ebenfalls ohne sich umzudrehen.

Sie nahm einen letzten Zug aus ihrer Zigarette, warf den Stummel auf den Boden und zerrieb ihn ungehalten mit ihrem eleganten italienischen Schuh.

Die Tür wurde geöffnet und Boris ging hinaus. Der Beamte blickte die Signora verwundert an, die Recorder und Zigarettenschachtel in ihre Handtasche feuerte. Er wurde fast von ihr überrannt, als sie hinausstürmte.

„Arrivederci“, hörte er noch, dann rauschte sie durch eine Stahlgittertür, die man ihr öffnete, und war verschwunden. Der Geruch von kaltem Rauch und Schweiß hing in der verbrauchten Luft. Und ein Hauch Parfum. Unsichtbar, aber nicht zu leugnen.

Iwanas Hand zitterte, als sie den Hörer auflegte. Sie war kalkweiß im Gesicht. Der Mann hatte seinen Namen nicht genannt, nur gesagt, sie müsse sich keine Sorgen mehr um Eva machen. Es gehe ihr da, wo sie jetzt sei, himmlisch gut. Und es sei wirklich nicht nötig, sich in dieser Sache weiter zu melden. Im Gegenteil, das mache alles nur schlimmer. Ob sie ihn verstanden habe.

Sie hatte nach einer Pause mit heiserer Stimme gesagt, ja, sie habe verstanden. Gut, hatte er gesagt, dann müsse er sich ja um sie keine Gedanken machen, oder? Nein, war ihre tonlose Antwort gewesen, sie werde sich nicht mehr melden.

Kluges Mädchen, hatte er gesagt. Und meine Grüße an die Frau Mutter.

Dann hatte er aufgelegt.

Ein Tropfen fiel auf den schwarzen Telefonhörer und glitt an ihm herab. Es war kalter Schweiß, der von Iwanas Stirn rann.

Lokman jagte den Bus durch die Straßen Istanbuls zu Kemals Autohandel. Die Uhr an seinem Handgelenk zeigte viertel nach zehn. Er betete inbrünstig, dass die Zeit für die Zulassung des BMW gereicht hatte.

Da stand er. Inshallah!

Er hielt vor dem Autoparkplatz, packte seine alte Sporttasche und sprang aus dem Bus. Er rannte auf den Bretterverschlag zu. Im selben Moment, in dem er die Tür aufreißen wollte, kam ihm Kemal entgegen. Fast wäre er gegen seinen Kugelbauch geprallt.

Kemal begann sofort zu erzählen.

„Mann, das war knapp! Ich bin erst seit fünf Minuten wieder hier, da war so viel los auf dem Amt und —“

„Keine Zeit!“

Lokman riss ihm Dokumente und Schlüssel aus der Hand und sprintete zu dem BMW. Er winkte zum Dank mit dem Schlüssel und drückte noch im Laufen den Knopf zum Öffnen. Mit quietschenden Reifen schoss er vom Hof.

Kemal stand verdutzt vor der Tür, in seiner erhobenen Linken eine Papiertüte haltend.

„— zwei Falafel für unterwegs hab ich auch noch“, murmelte er, „falls …“

„Plovdiv, Plovdiv“, murmelte Lokman vor sich hin. Bis zur Auffahrt zur Brücke über den Bosporus kannte er den Weg durch die Stadt, danach brauchte er das Navi. Während er durch die Straßen jagte, holte er mit einer Hand das Gerät aus der Sporttasche und schaltete es ein. Er spuckte auf den Saugnapf und drückte ihn an die Frontscheibe.

Es war nicht einfach, gleichzeitig zu schalten, das Navi anzubringen und wegen der Idioten vor ihm zu hupen. Dauernd fiel das Scheißding wieder runter, weil es nicht an der Scheibe halten wollte. Er brüllte einen uigurischen Fluch der übelsten Sorte.

Dank der Beschilderung fand er die Autobahnzufahrt ohne Probleme und war schon fast auf der Brücke, als das Gerät endlich an seinem Platz blieb. Der Akku war geladen, das Kabel konnte er später noch einstecken.

Er war schweißgebadet, suchte den Schalter für die Klimaanlage und begann sich zu entspannen, als es kühler wurde. Anschließend versuchte er, die Route nach Plovdiv, Bulgarien, einzugeben. Es war unmöglich, das Gerät nahm das Ziel nicht an. Er hämmerte auf das Armaturenbrett, rasend vor Wut.

„Verkackte Ziegenscheiße!“

Dann wurde ihm klar, dass das Navi nur Karten für Asien enthielt. Mit einem Aufschrei riss er es von der Scheibe und feuerte es in den Beifahrerfußraum.

Er würde eins an der nächsten Tankstelle kaufen. Geld hatte er genug. Er beruhigte sich wieder.

Nach einer Weile ließ er den Blick durch den Innenraum seines neuen Autos wandern. Tatsächlich, der Tank war voll. Zwei kalte Dosen steckten in den Halterungen, vorne rechts rollten zwei Plastikflaschen mit Mineralwasser vor und zurück. Sie stießen an ein Bündel aus Packpapier. Lokman begann sich zu entspannen. Er musste lachen.

Da hatte er innerhalb weniger Stunden sein gesamtes Leben umgekrempelt. Einfach so. Den Bus verkauft, seine Zukunftspläne abgehakt und sich mit unbekanntem Ziel nach Europa aufgemacht. Es war, als wüsste er genau, was zu tun war. Dabei hatte er nicht die leiseste Ahnung, was auf ihn zukommen würde.

Nach einer Weile wurde er wieder ernst. Er hatte sich gegen die Organisation gestellt, und das würde Konsequenzen haben. Aber was es auch war, er würde sich nicht kleinkriegen lassen. Nie wieder. Von niemandem.

An der nächsten Tankstelle kaufte er ein Navigationsgerät, das ihn durch Europa bringen würde.

Und wenn er mich verarscht hat und die andere Route fährt? dachte er. Dann finde ich sie nie.

Er fluchte.

Ich muss es einfach versuchen.

Noch während die Route berechnet wurde, warf er den Motor an und jagte mit kreischenden Reifen davon. Wie lange würde er brauchen, um den Transit zu finden?

Pling. Plovdiv, 403 Kilometer, vier Stunden und sechsundvierzig Minuten.

Er konnte nicht schneller fahren als der Ford, solange er in der Türkei war. Wenn er raste und man ihn anhielte, würde er nur noch mehr Zeit verlieren. Er würde bis zum Abend brauchen, um sie einzuholen.

Aber dann musste er lachen. Egal wie schnell sie fuhren, sie machten garantiert Rast. Keine Etappe länger als drei Stunden, dafür würden die Blasen der Damen schon sorgen. Das hatte er auf seinen Touren schnell gelernt.

Nach zwei Stunden begann er, Parkplätze anzufahren und nach dem Transit zu suchen.

Kurz vor halb drei wurde er fündig.

Er fuhr langsam an dem Bus vorbei und parkte so weit entfernt wie möglich. Er blieb im Auto sitzen und beobachtete den Transit im Rückspiegel. Niemand war zu sehen.

Er verspürte ein menschliches Bedürfnis, denn unterwegs hatte er reichlich getrunken. Er griff nach dem Kanister, rutschte auf dem Sitz nach vorne, öffnete den Reißverschluss. Ein dumpfes Plätschern, Mann, das tat gut.

Sein Blick fiel auf das Papierbündel. Er nahm es hoch und legte es auf seinen Schoß. Erst nachdem er sich mehrmals umgeblickt hatte, öffnete er den Knoten.

Unter den Lagen von Packpapier kam eine Beretta M9 zum Vorschein, eine Waffe der amerikanischen Armee. Fast ein Kilo tödlicher Stahl.

Er prüfte die Munition. Es waren zwei unterschiedliche Schachteln mit jeweils fünfzig Schuss 9 mm Munition. Eine enthielt Parabellum NATO Munition, die andere JHP Hollow Point, Teilmantelgeschosse mit Hohlkopfspitze. Die Bleiköpfe waren nicht wie üblich grau, sondern kupferfarben.

Lokman stieß einen leisen Pfiff aus.

Wenn ein solches Projektil sein Ziel traf, faltete es sich auseinander und riss ein großes Loch ins Gewebe. Die Schockwirkung war erheblich stärker als bei Standardmunition. Und bei einem Durchschuss war die Austrittswunde richtig übel.

Ein zweites Magazin lag ebenfalls bei. Mit entschlossener Miene lud er die Magazine, eins mit Parabellum, das andere mit den Hohlkammergeschossen. Dann schob er das zweite in den Griff, bis es einrastete.

Euch werde ich das Leben zur Hölle machen, dachte er, denn da gehört ihr hin.

Stille Herzen

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