Читать книгу Meteorologie des Herzens - Michael Krüger - Страница 7

Оглавление

1.

Mein Großvater konnte über hundert Vögel

an ihren Stimmen erkennen, nicht gerechnet

die Dialekte, die in den Hecken gesprochen wurden,

dunklen Schulen hinter dem Hof,

wo die Braunkehlchen Aufsicht hatten.

Mein Großvater war Spezialist für Kartoffeln.

Mit den Händen grub er sie aus, zerbrach sie

mit den Daumen, die weiß wurden,

und ließ mich an der Bruchstelle lecken.

Mehlig, gut für Schweine und Menschen.

Auch nach der Enteignung wollte er unbedingt

an Gott glauben, weshalb ich die Kartoffeln

ausbuddeln mußte aus seinem ehemaligen Acker.

Wie auf holländischen Bildern zogen

schwere Wolken über den sächsischen Himmel,

sie kamen aus Rußland und Polen

und fuhren nach Westen, ihre Fracht wurde leichter,

durchsichtiger und feiner, bis sie in Frankreich

als Seide verkauft wurde. Im Westen, sagte er,

finden Verwandlungen statt, wir werden verwandelt.

Im Dorf fehlten einige seiner Freunde,

die mußten in Rußland die Wolken beladen.

2.

Meine Großmutter benutzte die Brennschere,

um ihre dünnen Haare zu wellen. Man muß

dem Herrgott ordentlich frisiert gegenübertreten.

Der kam meistens nachts, wenn ich schon

schlafen sollte, setzte sich auf den Bettrand

und unterhielt sich mit ihr auf sächsisch.

Beide flüsterten, als hätten sie ein Geheimnis.

Manchmal waren sie freundlich zueinander,

dann wieder zankte sie mit ihm wie

mit dem Großvater, wenn der sein Glasauge

neben den Teller legte. Wenn man es falsch herum

einsetzt, kann man nach innen sehen,

in den Kopf hinein, wo die Gedanken leben,

sagte er und stopfte seine Pfeife mit Eigenbau,

der neben dem Tisch an der Wand hing, labbrige Blätter,

von einem Faden durchzogen. Die Ärmel der Joppe

des Großvaters waren von Brandlöchern genarbt.

Wie deine Lunge, sagte die Großmutter, beides

aus braunem Stoff. So vergingen die Tage.

Abends gab es Kartoffeln mit Sauce oder ohne.

Wenn auf dem Hof geschlachtet wurde, fand ich

Wellfleisch auf meinem Teller, aber ich durfte nicht

fragen,, wie es zu uns gefunden hatte.

Wellfleisch kann fliegen, damit war alles gesagt.

Ich stellte mir Gott als einen Menschen vor,

der alles mit sich machen ließ.

3.

Mein Großvater las nicht mehr. Alle Bücher stehen

in meinem Kopf, sagte er, aber ganz durcheinander.

Dafür erzählte er gerne, am liebsten vom König,

der sich angeblich für ihn interessiert hatte.

Auf der Jagd sollte er ihm einen Hasen

vor die Flinte treiben, aber der Großvater hatte

das Tier unter seinem Mantel versteckt.

Ich kann noch heute das Hasenherz schlagen hören,

rief er und faßte sich an die Stelle, wo seine Uhr

hing. Hasen haben ein schlechtes Herz,

damit kann man keinen Staat machen. Vom Staat

war nicht viel zu erwarten. Wenn die Großmutter

nicht im Zimmer war, hörten wir Radio, messerscharfe

Stimmen, die den Rauch seiner Pfeife zittern ließen.

Saubande, sagte mein Großvater, der sonst nie

fluchte. In der Nähe von Beromünster war die Musik

zu Hause, da fahren wir eines Tages hin, sagte er,

und hören Bach und Tschaikowsky. Dann schlief er ein.

Das Lid über seinem Glasauge war nie ganz geschlossen.

4.

Als ich mein Dorf kürzlich besuchte,

fiel mir alles wieder ein, nur ungeordnet:

der Kunsthonig und der schwarze Sirup, der sämig

durch die Löcher im Brot tropfte, die fauchenden Feuer

über Meuselwitz, die kyrillischen Gewehre im Steinbruch

von Keyna, der Kohlenstaub, Warmbier, der ängstliche Gott,

der schnatternde Alarmruf des Wiedehopfs,

die puckernden Flüsse auf dem Handrücken des Großvaters,

der blaue Teppich unter den Pflaumenbäumen,

die Eselsohren in der Bibel, die fromme Armut,

das Glück. Auch die Toten redeten mit, von fern her

angereist in altmodischen Kleidern, die Frauen

mit Haarnetzen, die Männer in gewendeter Uniform,

mit Schußlöchern auf der eingefallenen Brust.

Und in der Mitte mein Großvater, ein Auge auf die Welt

und eines nach innen gerichtet, vor sich ein Teller

Kartoffeln, mehlig und buttergelb, gut für Schweine

und Menschen und mich.

5.

Das alles bin ich, der Mann mit dem Hasenherz.

Nicht mehr, eher weniger.

Meteorologie des Herzens

Подняться наверх