Читать книгу Menschenversuche - Michael Lindenberg - Страница 10

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ES IST AUS


Ludwig Hirsch: Die gottverdammte Pleite

Als die Kinder Kröten nach Hause brachten

und im Zirkus nicht mehr lachten,

als sie ihr Brot nicht mehr aßen

und statt dessen die Kröten fraßen,

als sie Teddybären zerrissen

und in Autoreifen bissen,

als schließlich Kindergärten brannten

und Lehrer um ihr Leben rannten,

da wussten wir, es ist aus.

Sie trafen sich im Weise.

Der Tag verlief für Johannes nicht so, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Der Flieger aus München hatte sich verspätet. Es hatte einige Turbulenzen gegeben, die selbst dem Airbus einiges abverlangten. Die Landung war hart, weil der Pilot das Flugzeug in dem heftigen Seitenwind schräg aufsetzen musste, um nicht die Landebahn zu verfehlen. Beim Aufsetzen richtete der Pilot die Nase mit einem heftigen Ruck in Rollbahnrichtung. Aber Johannes beachtete das kaum, weil er nichts anderes im Kopf hatte, als zum Termin mit Bi pünktlich zu erscheinen.

Mit gewohnter Routine verließ er den Flughafen und fuhr auf Richtung Café Weise. Noch konnte er es schaffen. Es sah eigentlich sehr gut aus, bis er die Dorotheenstraße erreichte. Diese Dorotheenstraße, die unendlich langweilig war mit ihren toten Fenstern und kargen Bäumen. Gerade hier musste es jetzt einen Stau geben. Die Zeit läuft aber auch in einem Stau weiter. Eben nur unendlich langsam. Er würde nicht rechtzeitig durchkommen, das wusste er, denn dazu war er die Strecke zu oft gefahren. Mehr denn je erschien sie ihm als ein Tunnel, eng und ohne Ende.

Fahrig hielt er an irgendeiner Toreinfahrt an und parkte dort halb quer ein, weil ein blauer Container ihm nicht mehr Platz ließ. Das Hupen der dadurch behinderten Fahrzeuge drang nicht zu ihm durch. Er wollte nur kurz Bi Bescheid geben. Er rief sie über das Display seines neuen Jaguars an und ließ es geduldig klingeln. Aber sie nahm das Gespräch nicht an. Er versuchte es nochmal, sein Anruf wurde angenommen aber auch sofort beendet. Danach bekam der die Standardnachricht wegen Nichterreichbarkeit.

Er beruhigte sich mit dem Gedanken, sie könne ja in einem Einsatz sein, womit er so falsch nicht lag.

Er hinterließ ihr schnell und fahrig noch eine Whatsapp-Nachricht und hoffte genervt, dass es bald zügig weitergehen würde.

Zügig war übertrieben, er würde es aber innerhalb des akademischen Viertels schaffen, wenn er vor dem Café Weise schnell einen Parkplatz finden würde, und er hatte sogar Glück. Sein Gesichtsausdruck löste sich und wechselte in erwartungsfreudig, als er die Außenanlage des Cafés erreichte. Seine Augen scannten die Gäste. Er fand keine Frau mit blonden Haaren, wie Bi sie hatte. Er wollte sich schon auf den Weg in Innere machen, um sie dort zu suchen, nicht ohne auf dem Display seines Smartphones zu checken, ob sie ihm per WhatsApp geantwortet hatte. Aber es gab keine Nachricht. Vielleicht war sie auch nur kurz aus irgendeinem Grund verhindert.

Eine Frau winkte ihm zu und als er zu ihr hinschaute, gab sie ihm durch Kopfnicken zu verstehen, dass die Johannes meinte. Die Unbekannte trug einen nicht zu kurz geschnittenen Bob aus tiefschwarzen Haaren, der mit ihrem hellhäutigem und dezent geschminktem Gesicht kontrastierte. Zu ihrem silbergrauen Kostüm mit einem Hauch von Grün trug sie rehbraune Stiefel.

Johannes zwängte sich durch die eng zusammenstehenden Tische und Stühle zu ihr durch, nicht ohne sich in alle Richtungen schauend, zu vergewissern, ob Bi nicht doch da war. Sein dunkelblaues Leinensakko trug er wegen der Wärme über den Schultern. Er strich sich schnell noch seine zerzausten schwarzen Haare aus dem Gesicht. Er war etwas schlanker geworden. Seine Entschlossenheit, die seinem Gesicht Prägnanz verlieh, verlor sich allerdings diesmal leicht in seiner Mimik. Er war irritiert.

Die schwarzhaarige Frau erhob sich zur Begrüßung mit den Worten:

»Guten Tag Herr Dr. Schwarz.«

»Guten Tag Frau …«, entgegnete Johannes ihr ersichtlich etwas durcheinander.

»Ihre Freundin wird nicht kommen, Herr Dr. Schwarz.«

»Woher …?«

Sie viel ihm ins Wort.

»Erkennen Sie mich nicht?«

Ihre Geste machte ihm unmissverständlich klar, dass er sich setzen sollte.

»Frau Walker liegt im Krankenhaus und ist gerade notoperiert worden.«

»Woher wissen Sie das alles und wer sind Sie.«

»Sie erkennen mich immer noch nicht?«

»Neeiin.«

Und nach einer Schaltsekunde wusste er, wer sie war.

»Sie sind ????«

Sie hatte ihre Haarfarbe geändert. Jetzt erkannte er sie an den oberen Eckzähnen, die leicht spitz geformt waren. Und jetzt konnte er sich auch an ihr Kostüm erinnern. Etwas scheu und ernst schaute sie ihn an.

»Und was glauben Sie, wer ich bin?«

»Frau Ariel Brunner, alias Henrichs oder Frau Henrichs alias Ariel Brunner. An den zweiten Vornamen kann ich mich nicht erinnern.«

»Linda.«

»Ja, mein Gott, ich erkenne Sie wieder. Wir hatten schließlich schon mal das Vergnügen, da hatten Sie noch lange feuerrote Haare.«

Ihr war nicht nach Vergnügen. Etwas ungelenk achtete sie darauf, dass die Ärmel ihres Kostüms ihre Handgelenke verdeckten. Ein helles Make-up verdeckte eine kleine Verletzung am Hals.

»Frau Walker geht es sehr, sehr schlecht. Sie hat einen Lungenriss und ist vor ein paar Stunden minimal invasiv operiert worden. Sie liegt auf der Intensivstation der Uni Klinik. Sie stand kurz vor einem Erstickungstod.«

Erschrocken fragte Johannes:

»Was ist passiert?«,

»Gleich. Es kam noch schlimmer. Sie hat sich eine Staphylokokken-Infektion zugezogen, die zu einer schweren Lungenentzündung geführt hat …«

»Scheiße!!!«

»Das kann man laut sagen.«

»Das geht bei diesen Bakterien rasend schnell. Ich hoffe, dass sie durchkommt«, versuchte Ariel ihn zu beruhigen.

»Aber es gibt noch ein Problem. Aber einen Augenblick.«

Die Kellnerin servierte den beiden Kaffee und besorgte vom Nebentisch einen Aschenbecher.

Johannes fummelte seine Zigaretten und sein Feuerzeug aus dem Sakko, zündete sich aufgeregt eine an und schaute ihr fragend in die Augen.

»Die Bakterien sind multiresistent! Sie stammen wahrscheinlich aus Indien oder Pakistan.«

»Um Gottes willen!«

»Man hat ihr Tigezyklin verabreicht. Das ist ein Reserveantibiotikum. Viele Möglichkeiten gibt es sonst nicht mehr bei diesen Bakterien.«

Ariel versuchte, ihre sichtliche Betroffenheit sehr konzentriert zu überspielen.

Johannes drückte seine Zigarette halb aufgeraucht nervös im Aschenbecher aus.

»Man hat sie erst mal in ein künstliches Koma versetzt«, fuhr sie fort.

»Scheiße. Ich fahr sofort hin!«

Johannes stand auf, wurde von Ariel aber abgehalten.

»Nein! Bitte nicht!«

»Doch!«

»Lassen Sie das. Setzen Sie sich wieder«, befahl sie im mit leiser, aber bestimmter Stimme.

»Sie können sie nicht sehen. Man wird Sie nicht zu ihr lassen. Sie sieht auch nicht gut aus. Sie liegt unter einem Sauerstoffzelt.«

Johannes versuchte, sich mit einer zweiten Zigarette zu beruhigen.

»Sie möchten sicher wissen, was passiert ist, und woher ich das alles weiß?«

Johannes quittierte die rhetorische Frage mit einem Schweigen und ließ Ariel fortfahren.

»Danke. Frau Walker war zu einem Einsatz in der Biologie in der Heinrich-Heine-Uni. Sie hatte Herrn Horri an ihrer Seite. Ich denke, sie sind im Einsatz wegen eines Mordes an einem Biologieprofessor gewesen. Bei der Durchsuchung einiger Laboratorien kam es erst zu einer Schießerei. Bei der Verfolgung trafen sie in einem anderen Gebäude auf den Widerstand der Täter. So lässt sich jedenfalls vermuten. Danach ereignete sich in dem Gebäude eine schwere Explosion. Dass dabei die Trommelfelle reißen ist nicht das Problem. Sie hat auch jede Menge Prellungen, Abschürfungen und Schnittwunden. Aber das kriegen die wieder super hin. Die Explosion war aber stark genug, um ihre Lunge reißen zu lassen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich das ist. Kaum Luft zu bekommen unter unsäglichen Schmerzen. Sie hatte Glück, dass das in der Uni passiert ist. Schneller war sie nirgendwo in guten Händen. Und die haben da jede Technik. Wenn die das nicht hinkriegen, dann kann das keiner. Aber sie ist noch in Lebensgefahr und noch lange nicht über dem Berg.«

Johannes schien wie auf der Flucht zu sein, deshalb wartete Ariel seine Fragen auch gar nicht ab und fuhr fort:

»Sie möchten sicher wissen, woher ich das weiß.«

»Wäre ja mal ne Frage« antwortete Johannes auf eine Art, die normalerweise nicht seine war. Er war völlig neben sich und antwortete mechanisch.

»Danke. Ich war dabei.«

»Sie waren …«

»… Dabei. Ja.«

»Bei was dabei?«

»Habe Ihnen doch gerade erzählt.«

Johannes blickte Ariel fassungslos an. »Wieso war die dabei?«, dacht er.

»Sie hat mir das Leben gerettet.«

»Wie schön für Sie«, antwortete er nüchtern, nicht ohne diese Bemerkung wegen Bi sofort zu bedauern. Ihm blieb jetzt nichts anderes übrig, als seine stets gelassen wirkende Beherrschung wiederzugewinnen.

Sie schluckte kurz und zeigte Verständnis: »Ich weiß Ihre Beziehung zu Frau Walker zu schätzen, Dr. Schwarz. Deshalb sollten Sie an mir umso mehr vertrauen?«

Sie fixierte ihn und ließ seinen Blick nicht los.

Johannes konnte sich ihrem Flair nicht entziehen. Wollte er das überhaupt? Er hatte sie ja schon einmal kennengelernt. Wollte er ihrer kultivierten Weiblichkeit entfliehen? Aber davon abgesehen, war sie damals nicht von allen die Cleverste?

»Aber Sie haben doch sicherlich irgendetwas mit mir vor? Sonst wäre Sie doch nicht hier?«, entgegnete er ihr mit charmantem Lächeln, durch das aber auch eine gewisse Härte zu spüren war.

»Schön erst mal, dass Sie da sind? Ja, ich habe einen Auftrag für Sie.«

»Auftrag?«

»Ja, Auftrag.«

»Ich kann Ihnen gerne ein Angebot machen«, antwortete Johannes, ohne das wirklich ernst zu nehmen.

Ariel lachte kurz auf.

»Dr. Schwarz, ich möchte Ihnen das ‚Du‘ anbieten. Ich glaube, Ihre Freundin hätte nichts dagegen.«

»Na, ja?«

»Ihre Frau?«

»Ich werde mich jederzeit ihres Vertrauens und Ihrer Liebe würdig erweisen. Unsere Liebe heiligt unsere Ehe für immer.«

Betreten antwortete Ariel: »Gut Johannes. Ich möchte, dass Du einen Mediziner oder Biologen suchst, der an irgendeiner gewaltigen Schweinerei arbeitet, die wir selber noch nicht ganz kennen. Die aber alles in den Schatten stellen dürfte, was wir bisher erlebt haben.«

»Ich bin mir nicht sicher, was das mit dem ‚Projekt‘ von damals zu tun hat.«

»Nicht sicher?«

»Nicht wirklich sicher. Ich habe einen schlimmen Verdacht.«

»Verdacht … Klingt vielversprechend.«

»Ja, aber dafür müssen wir einen Mediziner oder Biologen finden. Für Bi – ich darf sie doch so nennen – und für Dich, Deine Familie – und wenn, Dir das was bedeutet – für mich, von der möglichen Katastrophe für die Menschheit ganz zu schweigen.«

Ihm war nicht unbedingt nach Weltuntergang. Aber ihre Stärke und ihr offensichtlicher Mut steckten langsam an und holten ihn aus seiner eher skeptischen Haltung heraus. Also macht er ihr versteckt ein Angebot.

»Aber Ariel, was hab ich denn überhaupt mit Biologie zu tun. Naturwissenschaften sind nicht mein Hauptthema. Und in dem Fach kenne mich doch überhaupt nicht aus. Du weißt doch, was ich kann«, entgegnete er.

»Ich weiß, Deine Stärke ist die Philosophie.«

»Genau!«

»Aber hier geht es darum, jemanden zu finden und darin bist Du doch Meister. Bist Du nicht einer der besten Personalberater?«

Aus lauter Verlegenheit zündete er sich eine Zigarette an und blies den Rauch – ihm nachdenklich nachblickend – langsam in die Höhe.

»Geht so …«, spielte er ihr Kompliment herunter und fuhr fort: »… Aber Super. Solche Aufträge mag ich.«

»Geld spielt keine Rolle.«

»Das spielt in diesem Fall keine Rolle für mich. Aber meinetwegen. Ich kann Dir ja gerne ein Angebot mit ‚Aufwand unbekannt‘ zusenden. Das hatte ich noch nie. Aber das kriegen wir schon hin.«

»Gut. Mach das.«

»Ach komm Ariel. Lassen wir die Späße. Ich möchte nur eines wissen. Du garantierst meine Sicherheit?«

»Johannes, was denkst Du? Ja. Deine, die von Lizzie – so heißt sie doch – die Deiner Tochter, die von Bi und Deine. Habe ich jemanden vergessen?«

»Ja.«

»Ach so. Natürlich: auch für Deinen Kollegen Ashkan Horri. Für den gilt das auch.«

»Du kannst verstehen, dass ich Bedenkzeit brauche, denn bisher war das ja eher voll daneben.«

»Natürlich. Es ist Deine Entscheidung.«

Johannes musste nicht lange nachdenken. Wohl war ihm aber nicht dabei. Aber hatte er eine Garantie dafür, dass ihm nichts passierte, wenn er diesen ‚Auftrag‘ nicht annahm. Er wusste dunkel, dass er nicht wusste, was sie wirklich wusste. Unter diesem Schleier der Unwissenheit richtig zu entscheiden, war fast unmöglich. Und Bi war ja weiterhin in Gefahr.

Er rang sich durch: »Gut, ich mach es.«

»Ich danke Dir. Weitere Informationen sind auf diesem Stick«, den sie aus der Jackentasche ihres Kostüms zog und ihm in die Hand drückte, die sie fest umschloss: »Ich bin Dir unendlich dankbar, Johannes. Ich weiß, dass ich das nur mit Deiner Hilfe schaffe.«

Er schaute ihr in die Augen und auf ihre Lippen.

Mehr als ratlos fuhr er nach dem Gespräch mit Ariel nach Hause … hatte sie ihm alles erzählt?

Er hatte heute noch einige Abendtermine mit Bewerbern im Interconti auf der Kö, deshalb wollte er sich morgen früh den Stick anschauen.

Er musste stark blinzeln. Die Straßen dorthin kamen ihm im Zwielicht fremd vor. Er dachte an das Gedicht von Eichendorf. Ja die Ruhe war tückisch …

So war es dazu gekommen …

Im Polizeipräsidium war es verhältnismäßig ruhig. Bi und Ashkan hatten Dienst. Sie hatten Nachtschicht. Sie langweilten sich wie so oft an solchen Tagen.

Phoebe Zoe Walker – genannt Bi – und Ashkan Horri waren ein eingespieltes Team, und sie hatten schon einige Abenteuer miteinander durchstanden. Bi’s Tage waren allerdings bei der Kripo in Düsseldorf gezählt. Sie wollte in sechs Wochen beim LKA anfangen, dass ihr eine attraktive Stelle angeboten hatte.

Sie saßen beide in der Kantine und daddelten ein bisschen auf Ihren Smartphones.

»Sag mal Bi, man hat ja intern so einiges von Deinem neuen Chef im LKA gehört. Ist der wirklich so ein Brain?«

»Da hast Du mich kalt erwischt. Ich glaube, ich bin nicht schlecht in der Fallanalyse. Aber die haben ein ziemlich neues Programm dafür. Das haben wir bei uns noch nicht. Ich werde Euch auf jeden Fall vermissen. Aber der Job ist schon cool. Die haben in der Fallanalyse die beste Ausstattung in Deutschland und vor allem haben die ziemlich moderne Methoden der vorhersagenden Polizeiarbeit. Im LKA arbeiten die mit SKALA.«

»Ich weiß. SKALA soll prognostizieren, wo es Kriminalitätsbrennpunkte beim Wohnungseinbruch gibt und wir können den Tätern zuvorkommen, bevor sie einbrechen. Klingt wie Tom Cruise …«

»… in Minority Report.«

»Und Du machst dann Wohnungseinbrüche«, bemerkte Ashkan sarkastisch.

»Nein, aber behalte es für Dich. Die rüsten das System mit K.I. auf und wollen die Morde der Zukunft voraussehen. Lass mich raten, das wird dann SKALA 4. 0.«

»Also doch Tom Cruse.«

»Nein, nur wir Superheldinnen werden mehr.«, musste Bi unweigerlich grinsen.

»Aber ich denke, das hat Potential. Das ist die Zukunft.«

»So habe ich Dich noch nie gehört.«

»Du hast recht; ich laber Scheiße. Aber was soll ich machen? Den technischen Fortschritt verpennen?«

»Welchen technischen Fortschritt. Die machen irgendeinen Homebrew-Quatsch, der sowieso nicht funktioniert.«

»Da kannst Du recht haben.«

»Die Algorithmen nehmen uns doch nur läppische Lästigkeiten in der Arbeit ab und nachher richten sie dabei Kollateralschäden an, für die keiner was kann.«

»Soll ich Dir noch ein Geheimnis verraten? Aber bitte schweig für immer.«

»Mein Ehrenwort Bi.«

»Ich muss ein bisschen zur Ruhe kommen, was meine Arbeit angeht.«

»Geht es Dir nicht gut?«

»Nein, im Gegenteil. Flo macht bald Abitur, Frederik wird demnächst fast nur noch in Düsseldorf sein, und wir werden im nächsten Jahr umziehen. Wir haben eine schöne Wohnung in der Lindemannstraße gefunden. Ein sehr schöner Altbau mit einer tollen Terrasse. Und die Gegend ist ja auch sehr schön mit dem Zoo Park um die Ecke und der Rethelstraße in der Nähe. Du bist auch mit der Rheinbahn schnell in der Innenstadt.«

»Ich weiß. Mit einem tollen Eiscafé.«

Bi schaute Ashkan von oben bis unten an. Das Eiscafé hatte an ihm ein paar Spuren hinterlassen. Ansonsten war er von äußerst kräftiger Statur wie ein Ringer. Er war aber auch von seinem Wesen eher gemütlich, wie viele Ringer das sind, denn sie müssen im Kampf gut beobachten und trotz ihrer Masse blitzschnell zugreifen können. Er wusste seine Masse physikalisch so einzusetzen, dass sie seine Bewegungen immens beschleunigten.

Ashkan warf einen Blick auf die kümmerlichen Reste seiner asiatischen Nudelpfanne mit Wok-Gemüse, Hähnchenfleisch und Ei und stocherte lustlos weiter, während sie entschlossen den letzten Rest Kaffee aus ihrem Becher trank.

»Schöne Neuigkeiten. Ich kann Dich sehr gut verstehen. Vielleicht komme ich ja nach?«, antwortete Ashkan melancholisch, denn für ihn gab es im Augenblick nur den Job. Privat hatte er seit Ewigkeiten Pech.

»Ne, bleib lieber. Du fühlst Dich doch sehr glücklich im Team und ob der neue Vorgesetzte so toll ist wie Schumann …?«

Sie plauderten noch eine Zeitlang über ihre gemeinsamen Abenteuer und die Arbeit mit den Kollegen.

»Hast Du schon das Neueste von Lena gehört?«

Bevor Bi eine neugierige Rückfrage stellen konnte, ging das Telefon. Es war Lena Dobberke, ihre Kollegin im Polizeipräsidium.

Bi ging dran und machte sich ein paar Notizen. Ihr Blick, den sie zwischendurch Ashkan zuwarf, wurde immer rätselhafter.

»Gut Lena, ich übernehm das mit Ashkan.

Sie erklärte Ashkan, dass es einen Vorfall in der Heinrich-Heine-Universität gegeben hat. Es hatte Schreie gegeben und Geräusche, die nach Schüssen klangen. Ein Hausmeister hatte angerufen.

»Warte. Ich drucke noch schnell den Lageplan der Uni aus. Auf nem Smartphone findest Du auf dem Plan nichts.«

Sicherheitshalber hatte er noch ganz schnell die App der Uni installiert, damit sie die Gebäude auch auf diesem Weg finden konnten.

»Los jetzt. Beeil Dich. Wir nehmen meinen, dann kann ich anschließend direkt nach Hause fahren und Dich zwischendurch bei Dir absetzen.«

»Schon fertig.«

Wenig begeistert machten sie sich auf den Weg, nicht ohne vorher noch ihre Waffen zu checken. Wenigsten macht Bi's knallroter Alpha mit der sagenhaften Ferrarimaschine Ashkan Spaß.

Sie sollten ins BMFZ. Das war das Biologisch-Medizinische Forschungszentrum, eine Technologieplattform, der Medizinischen und der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät.

Es lag in einem hochmodernen Neubau, der die sanierungsbedürftigen Gebäude drumherum in ihren Baugerüsten noch maroder aussehen ließ, als sie es schon waren. Niemand in der Uni konnte sich daran erinnern, wann mit der Sanierung dieser Bauten begonnen worden war, und niemand konnte sagen, wann sie dann fertig werden würden. Selbst die Hinweisschilder der Baufirmen, die ein Ende der Arbeiten verkündeten, waren schon in einem desolaten Zustand.

Aber dieses Gebäude war ein Glanzstück und erstrahlte tagsüber in kalkweiß.

Die Uni war inzwischen fast Tag und Nacht geöffnet. Eigentlich erschienen die Gebäude nachts leblos. Aber in einigen Räumen schien das Licht nicht auszugehen, ohne dass man von außen erkennen konnte, welchen wissenschaftlichen Sinn das Leuchten in den Zimmern ergab.

Vorsichtshalber stellte Bi das Fahrzeug im Sichtschatten des Gebäudes ab und beschloss, sich zunächst auf den Weg zum Hausmeister in einem Nachbargebäude zu machen. Ashkan hatte zur Sicherheit zwei schusssicherer Westen in seinen Rucksack gepackt.

Erstaunlicherweise war der diensthabende Hausmeister mit dem Namen Schmitz hilfsbereiter, als sie dachten. Wenn etwas an der Hochschule funktionierte, dann waren es die Hausmeister und besonders die mit dem Namen Schmitz.

Er erklärte ihnen, dass er bei seinem Rundgang Schreie gehört hatte und andere merkwürdige Geräusche, so als wenn Glas in Scherben fiel.

Er entschuldigte sich, dass er alleine auf Nachtschicht war. Seine Erzählungen, wie lange er hier schon arbeitete, und wie man das Personal gekürzt hatte, und wie man immer mehr zu tun hatte wegen der ganzen Beamer und der vielen Wlan-Technik, und dass man keine jungen Leute mehr bekam und, und, und … Bi musste sehr höflich abbrechen.

Er bot ihnen an, sie zu begleiten, was sie allerdings ablehnten, nicht ohne sich für das Angebot zu bedanken.

Für den Notfall gaben Sie ihm aber noch eine Telefonnummer für das Präsidium.

Sie zogen ihr Schutzwesten an und machen sich auf den Weg.

Bi hatte ihre Walther P99 griffbereit im Schulterholster als sie ins Innere des Biologisch-Medizinisches Forschungszentrum vorrückten.

Der Bau besaß ein großzügiges dreigeschossiges Atrium mit kühn geformten Treppen aus Glas und Stahl. Die Wände aus Sichtbeton wurden von kleinen Lampen gegliedert. Von der Decke hingen lange röhrenförmige Leuchten herab. Die runden Aufzüge waren grün lackiert in der Farbe, die zahlreiche Applikationen in dem Gebäude zierten. Sie bestimmten das ‚Markenimage‘ des Gebäudes. Umkränzt waren die Aufzüge mit Ringen aus LEDs, die sie wirkungsvoll inszenierten.

Unübersehbar stand im Eingangsbereich die Skulptur ‚Großer Steinkeil – Rhythmus des Wachstums‘ vom Düsseldorfer Zero-Künstler Heinz Mack.

Mack hatte sie aus hellem ockerfarbigem türkischem Muschelkalk gemeißelt. Das zum Teil poröse Gestein war organischen Ursprungs. Durch seinen Beinamen stellt die Plastik eine archaische und dennoch direkte Beziehung zum Gebäude her, das sich die Erforschung der Lebensvorgänge verschrieben hat.

Bi und Ashkan hatten aber wenig Zeit, die Ästhetik des Kunstwerkes wahrzunehmen. Bi speicherte die massive Steinskulptur für andere Zwecke.

Ansonsten war im Foyer nichts los. Ruhe war eingekehrt. Kein Mensch war zu sehen. Es war absolut still. Ausgestorben.

»Du nimmst den Aufzug in die erste Etage, ich nehm die Treppe.«

Sie brauchte nicht zu erklären, dass sie sich gegenseitig zu sichern hatten.

Sie durchsuchten die beiden oberen Etagen, ohne auf irgendeine Auffälligkeit zu stoßen.

»O.k. Ashkan, lass uns abziehen. Hier ist nichts. Lass uns einen Bericht schreiben, dann können die Kollegen morgen noch mal gucken.«

»Mir ist auch nichts aufgefallen, also ziehen wir ab. Kann ich Dich noch zu einem Kaffee einladen?«

Bi kannte diese Frage. Er war irgendwie kein Frauenheld. Sich mit Bi sehen zu lassen, war für ihn schon der Himmel auf Erden, obwohl er sich bei der Frage natürlich nichts anmerken lassen wollte. Auch das wusste Bi. Manchmal hatte sie sich nicht ohne einen Hauch von Mitleid mit dem Vorsatz darauf eingelassen, ihm ernsthaft ein paar Tipps von Frau zu Mann zu geben. Immer, wenn sie den Versuch machte, wiegelte er ab. Probleme hatte er angeblich nicht. Nur im Augenblick und der dauerte schon, solange sie ihn kannte.

Sie wusste, dass sie jene Mischung aus perfekter Schönheit und wacher Intelligenz gepaart mit psychischer Energie war, die sie nicht verheimlichen konnte.

So wirklich Lust auf das Angebot hatte sie allerdings heute nicht und suchte nach einem Ausweg.

»Meinetwegen …«

Freude zeigte sich ins Ashkans braunen Augen nicht ohne einen Hauch von Enttäuschung, denn er kannte sie zu gut und ihre Ablenkungsmanöver.

»Lass und das Gebäude noch mal von außen absuchen.«

Ungerührt ließ er die kalte Dusche auf sich herniedergehen, nicht ohne noch einen Funken Hoffnung zu haben.

»Gute Idee.«

Als Mann wollte er ihr bei diesem Vorschlag nicht widersprechen.

»Du gehst links- und ich rechtsrum. Einverstanden?«

Er widersprach nicht und trottete los.

Das Institut sah auch von der Rückseite perfekt aus. Einige äußere Jalousien waren in willkürlicher Ordnung herabgelassen.

Das Mondlicht war so hell, dass sie einigermaßen sehen konnten. Sie konnten aber nichts entdecken. Links entdeckten sie ein Souterrain, zu dem eine Treppe hinunterführte, die Ashkan neugierig machte. Mit dem starken Lichtstrahl seiner Lampe durchsuchte er von oben sorgfältig Bahn um Bahn den Steingarten vor den Fenstern. An einem niedrigwüchsigen Gebüsch blitzte es kurz auf. Hatte es was gefunden?

Er gab Bi ein kurzes Lichtsignal und empfing sie, indem er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Stelle zeigte.

»Das sieht nach Glas, nach Glassplittern aus.«

»Das ist hier doch noch ne halb Baustelle.«

In der Tat war die Rückseite des Instituts noch etwas ‚unaufgeräumt‘. Einige Container mit Bauschutt standen hier noch herum und die Grünanlagen warteten noch auf ihre Vollendung.

»Aber gut, wir können uns das ja mal anschauen.«

Nach kurzem Suchen fand Ashkan das, was im Licht gefunkelt hatte.

»Und wie kommt da Blut dran?«, kommentiere er seinen Fund.

Bevor sie Anstalten machen konnte, das Glas näher zu betrachten, ergänzte er:

»Eins der Außenrollos in der ersten Etage sieht auch etwas merkwürdig aus.«

»Volltreffer!!!«

Was seinen Beruf anging, war Ashkan schon ein Ass. Er hatte Gespür oder das, was man einen untrüglichen Riecher nannte.

»Gut. Prägen wir uns die Außenfassade ein und gehen noch mal rein. Aber Vorsicht.«

Das Gebäude war in der Grundstruktur symmetrisch aufgebaut. So wie sie es von außen gesehen hatte, mussten sie in den linken Trakt.

Beide zückten Ihre Waffen. Ashkan nahm seine Taschenlampe vom Gürtel, denn der Gang war ziemlich dunkel. Sie konnten sich ausrechnen, dass es sich um höchstens drei Räume handeln konnte. Sie drückten sich links und rechts von der ersten der Türen an die Wand. Ashkan versuchte, die Türklinke herunterzudrücken. Sie war verschlossen.

Bi gab ein Zeichen mit dem Kopf, das hieß:

»Nächste.«

Schussbereit positionierten sie sich an der zweiten Tür. Links Bi rechts Ashkan.

»Die ist nicht zu«, signalisierte Ashkan und hielt seinen Zeigefinger vor den Mund.

»Pst!!«, hieß das.

Bi bestätigte.

Sie wandte Ihren Kopf mit einer kurzen Bewegung nach links und er stimmte durch ein kurzes Nicken zu. Bi kam auf seine Seite.

Ashkan trat gegen die Tür und Bi fingerte nach einem Lichtschalter, nachdem die Tür aufflog.

Das gelang ihr gerade noch, bevor erste Schüsse fielen.

»Zurück, zurück!!!«, rief sie.

Drei vermummte Männer flüchteten aus dem Raum an ihnen vorbei und feuerten auf sie. Die Schüsse gingen aber vorbei und nur Ashkan wurde getroffen. Er taumelte zwar ein bisschen, die schusssichere Weste fing die beiden Schüsse aber ab und brachten ihn lediglich ins Taumeln. Was ihn dann nicht davon abhalten konnte, die Männer zu verfolgen, die das Treppenhaus herunterliefen. Auf seine Rufe antworteten sie mit ihren Waffen. In vollem Lauf rückwärts zu feuern ist aber nicht besonders effektiv.

Ashkan hielt kurz an und schoss auf einen der Männer, der Schutz hinter der Plastik von Mack suchte. Ashkan verfehlte ihn und traf dreimal den großen Steinkeil. Die Kugeln hinterließen hässliche Narben in dem weichen Kalkstein, nachdem der Staub heruntergerieselt war.

»Schumann wird mich kreuzigen. Er liebt Kunst. Na ja, jetzt sieht man dem Keil wenigstens an, wo wir heute evolutionär gelandet sind …«, sinnierte er.

Er rannte weiter zum Haupteingang und konnte gerade noch schemenhaft erkennen, dass ein alter weißer Lieferwagen das Gebäude verließ. Eine Aufschrift, geschweige denn ein Nummernschild waren nicht zu erkennen, denn er machte sich ohne Fahrlicht in Bewegung.

Zurück zu Bi nahm er einen der grünen Auszüge.

Wortlos zeigte Sie auf ein grauenhaftes Bild.

Auf dem Boden des Labors, als das sich der Raum entpuppte, lag ein nackter Mann auf ein paar umgedrehten Paletten gefesselt in seinem Blut. Die Lache vergrößerte sich immer noch und rann durch die Bretter auf die Erde. Er war in den Kopf und in der Brust getroffen.

Während Bi das Präsidium anrief und Fahndungsalarm gab, versuchte Ashkan sich um den am Boden Liegenden zu kümmern. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sein Blick signalisierte:

»Tot. Scheiße.«

Bi fuhr die Rollläden hoch und schaute aus dem Fenster, um zu sehen, in welche Richtung die Drei flohen.

Sie konnte aber niemanden entdecken.

»Schau mal, kannst Du Dir das Loch in der Scheibe erklären?«

»Lass mal sehen.«

Neben der Leiche nicht weit vom Fenster lag eine Stahlflasche, mit der irgendein medizinisches Gas transportiert wurde.

»Was schließen wir daraus?«

»Jemand hat versucht, das Fenster einzuschlagen.«

»Hast Du ne Idee warum?«

»Um zu fliehen« schloss Ashkan ziemlich bestimmt, war sich dann aber doch nicht sicher.

Und er fuhr fort:

»Sein Gesicht ist total schmerzverzerrt.«

Und erst jetzt sahen sie, welche Folterqualen er ausgehalten hatte. Merkwürdig verdreht lag er da. Diese Verbrecher hatten ihm systematisch die Unterschenkel, Oberschenkel, Oberarme und einen Unterarm zerschmettert. Das konnten nur Profis, die die mechanisch physikalischen Eigenschaften menschlicher Knochen genau kannten und mit präzisen Schlägen so zertrümmern konnten, dass die Knochen nicht so splitterten, dass sie das Fleisch nach außen durchbohrten. Es waren nach allen Regeln der Kunst trainierte Folterknechte.

Selbst für einigermaßen abgebrühte Kriminalbeamte war das zu viel.

Bi fragte sich nur, warum sie einen Unterarm verschont hatten.

»Sind die von uns überrascht worden oder hatten sie ihr Folterziel erreicht und ihn auf die Schnelle exekutiert? Was glaubst Du?«, war ihre Frage an Ashkan.

Der zuckte nur mir den Schultern: »Sieht nach was Mittelalterlichem aus. Erinnert mich an Rädern. Obwohl, in der Neuzeit wurde mehr gefoltert. Die Hexen wurden doch erst in der Zeit der Inquisition verbrannt. Die Letzte glaube ich im 18. Jahrhundert.«

»Woher weißt Du das denn alles?«

»Lesen bildet.«

»Wir sollten trotzdem mal in unseren Datenbanken nachsehen, ob es so was schon mal gegeben hat.«

Bi dacht laut nach:

»Mafia, Rechtsradikale, Sekten – egal was für welche – oder auch nicht, die üblichen Verdächtigen – Islamisten – Terroristen, wen haben wir noch?«

»Ich kann mich an irgendeinen Film im Fernsehen erinnern, da gab es das auch. Der spielte in Irland und handelte von der IRA. Der war echt hart. Wir sollten tatsächlich in die Datenbanken schauen«, kürzte Ashkan den Monolog ab.

Sie konnten noch nicht einmal vermuten, was tatsächlich passiert war, und wandten sich entsetzt ab, als sie den Holzbalken hinter seinem Schreibtisch sahen.

»Rufen wir die Kollegen an. Wir müssen eine Fahndung auslösen und die KTU informieren. Wobei die Lieferwagen ohne irgendwelche Anhaltspunkte sind, die hast Du in Düsseldorf zu Tausenden.

»Wenn die KTU hier nichts Konkretes findet.«

»O.k. was machen wir jetzt?«

»Bestimmt keinen Kaffee trinken«, antwortete Ashkan.

»Und wenn wir den Hausmeister fragen?«

»Hausmeister wissen viel, fast alles. Wenn Du nem Hausmeister was sagst, ist die klassische Antwort 'Da wissen se mehr als ich'.«

»Du meinst, wir müssen ihn dazu bringen, sein Wissen preiszugeben.«

»Ist das ein Problem für Dich?«

»Wofür hältst Du mich?«, und setzte nach: »Traust Du mir zu, dass ich es mit Hausmeistern kann?«

»Wofür hältst Du Hausmeister?«

»Für schlauer als Du denkst? Aber lass mich ruhig mal machen.«

Das beredete Schweigen von Ashkan daraufhin, war ein Argument, das sie nicht widerlegen konnte.

Also machten sie sich auf den Weg in das Gebäude, wo sie den Hausmeister vermutetet, wenn er nicht unterwegs war.

War er aber nicht, denn er schaute Fußball, wie immer um diese Uhrzeit.

»Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ich konnte auch Schüsse hören.«

Natürlich war der Hausmeister mehr als neugierig. Es war ja sein Revier und außerdem musste er ja morgen vor einen Kollegen prahlen und glänzen.

Also erzählte ihm Bi alles, was er morgen sowieso in der Zeitung lesen würde. Und dann lobte sie – sichtlich sehr zu seiner Freude – seine Insiderkenntnisse aus dem ersten Gespräch, obwohl sie seinen Redeschwall im ersten Gespräch so abrupt abgebrochen hatte. Sie entschuldigte sich hierfür ganz artig, wie ein kleines Mädchen und dem Hinweis, dass sie ja in Eile gewesen war. Voll des Lobes redete er dann, nicht ohne darauf hinzuweisen, wie sympathisch er Bi fand und wie wichtig er doch an dieser Hochschule sei, ohne dass sie es ihm jemals gedankt hatte.

»Jemals!«, wiederholte er, um dann aber – wie er es, als seine Pflicht verstand – fortzufahren:

»Einen Lieferwagen suchen Sie?«

»Unbekanntes Fabrikat, so weiß oder so.«

»Diese alte Karre? Ja da gibt es einen, der hier ab und zu aufkreuzt. Aber wir kontrollieren Lieferwagen nicht, auch wenn die da parken, wo andere Fahrzeuge nicht parken dürfen. Hier wird so viel gebaut. Und glauben Sie, wir werden darüber informiert? Wir doch nicht.«

»Ja, aber das geht doch gar nicht.«

Geschmeichelt entgegnete er:

»Endlich mal jemand, der das auch so sieht, gute Frau.«

Bi warf Ashkan einen kurzen Blick zu, der in etwa bedeutete:

»Musste ich dafür eine Frau sein?«

Der Blick von Ashkan kam ungerührt und feixend zurück:

»Bilde Dir ja nichts darauf ein oder glaub dran.«

»Herr Schmitz, haben Sie ne Ahnung, wo der sich herumtreiben könnte?«

»Ja. Ich meine, ob der jetzt da steht, weiß ich natürlich nicht. Der steht öfter in einem Innenhof. Was der da macht? Kein Plan. Wir haben auch noch nie jemanden gesehen. Kennen Sie sich auf dem Gelände aus?«

»Ein bisschen« antwortete Bi.

»Sie wissen, wo die Brücke über die Universitätsstraße ist?«

Schmitz warte die Antwort erst gar nicht ab: »Da fahren Sie drunter her. Und dann biegen sie rechts ab. Stören Sie sich nicht an den Baustellen. Sie kommen dann in einen ersten offenen Hof, der einen Durchgang zu dem eigentlichen Innenhof hat. Links sehen Sie dann das Gebäude mit blauen Fenstern. Seit Urzeiten eingerüstet. Da waren die früher drin.«

Bi verstand nicht: »Wer war da drin.«

»Dieselben, die jetzt hier sind. Da ist aber jetzt alles zu. Da sollen irgendwann die Geistesheinis – sorry, die Philosophen oder wer immer – rein. Dazu müssen aber noch die Labore ausgebaut werden, die da noch drin sind. Das ist auch ein Entsorgungsproblem. Aber das soll uns ja nichts angehen. Das macht ne Spezialfirma.«

Bevor Bi wieder eine Frage stellen konnte, setzte er nach: »Wie gesagt, ich weiß nicht, ob er jetzt da ist. Und eigentlich weiß ich gar nichts.«

»Das bleibt völlig unter uns. Niemand wird davon erfahren. Da können Sie sicher sein.«

Das war im insgeheim jetzt auch nicht ganz recht, denn er hoffte, irgendwie zum Helden zu avancieren.

»Laufen oder Fahren?«

»Fahren«, antwortete Ashkan sehr eindeutig aber auch mit einem Anflug von Müdigkeit.

Sie hielten in dem Vorhof, um sich auf den Weg zu dem Gebäude zu machen. Er war etwas verwildert. Rechts sahen sie einen Verschlag mit Gasflaschen hinter verschlossenen Eisengittern. Aus keinem Fenster drang Licht. Selbst die Treppenhäuser waren nur sehr schummerig beleuchtet, soweit man das von außen sehen konnte. Einen schäbigen Lieferwagen konnten sie aber nicht identifizieren.

»Gehen wir rein?«, wollte Ashkan wissen.

»Ein Lieferwagen steht hier nicht. Wir schauen mal. Sieht ja harmlos aus.«

Der Eingang sah schon trostlos genug aus, ein Eindruck, der sich innen fortsetzte. Das fahle Licht ließ die Flure noch grauer erscheinen, als sie vielleicht bei Tageslicht aussahen. Schwer zu begreifen war, dass hier einmal hochkarätige Forschung stattgefunden hat. Nun galten die Naturwissenschaftler auch nicht gerade als Ästheten. Bi und Ashkan inspizierten jede Tür auf Geräusche und Licht in den Spalten zwischen Tür und Fußboden. Bei einigen Türen legte Ashkan sich auf den Boden, um genauer nachzusehen. Er fand aber nichts.

So ging es dann auf die zweite Etage, in der sie ebenfalls nichts fanden.

»Wie viele noch?«

»Drei, gibt's ein Problem?«, wollte Bi wissen.

»Nö, aber was soll es hier schon geben?«

»Stell keine Fragen, setzen wir es einfach um.«

Die nächste Etage hatten sie schnell durch und nahmen die Treppe zur vierten.

»Irgendwie muss es hier doch einen Fuchsbau geben.«

»Fuchsbau? Eh?«

»Wenn Du mir schon nicht glaubst, dann wenigsten dem Hausmeister«, flüsterte Bi.

Der Gang nach links sah nicht nach einer Überraschung aus. Altes Gerümpel stand in dem Gang und auf dem Boden lagen ein paar Gasflaschen. Eine Tür sah allerdings anders aus als die, die sie bisher gesehen hatten. Sie hatte eine Art Bullauge, das die beiden sofort interessierte. Das Glas war von der Rückseite zugeklebt. Aber nicht sorgfältig genug, um nicht einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Schimmer Licht durchzulassen.

Mit zwei Handzeichen wies Bi ihren Kollegen an, Stellung zu beziehen und die Waffe zu ziehen. Ashkan stand links von der Türklinke an der Zarge und Bi rechts. Langsam uns sehr gelenkig hob er sein Bein in Richtung Türklinke. Als er sie erreichte, macht Bi sich bereit. Als die Tür durch einen kräftigen Fußtritt auf die Klinke aufflog, wurden sie mit kräftigem Feuer empfangen.

»Zurück!!!«

Sie rannten im Zickzack Richtung Treppenhaus und konnten den Schüssen ausweichen. Was sich wegen der herumliegenden Gasflaschen mehr nach Hürdenlauf aussah. Doch das Unheil nahm seinen Lauf.

Fast gleichzeitig hatte Ariel sich fertig gemacht, zog eine schwarze Jeans, ein enganliegendes langarmiges schwarzes Top an und stülpte sich ihre schweren schwarzen Stiefel über.

Sorgfältig und lautlos schraubte sie den Schalldämpfer auf ihre Beretta APX und probierte den Laserpointer an der Waffe aus … Sie lächelte dabei kalt. Das Magazin war mit 17 Kaliber 9 mm Luger Patronen gefüllt. Zwei Ersatzmagazine hatte sie an ihrem Gürtel neben einer Sturmmaske befestigt. Insgesamt 51 Schuss, das musste reichen. In ihrem kleinen schwarzen Tornister hatte sie ein kleines Notebook und ein paar Werkzeuge verstaut. Ihren Schulterholster hatte sie so nach hinten geschoben, dass er halbverdeckt durch den Rucksack kaum auffiel. Dennoch war die Waffe leicht zu zücken.

Sie lief runter zur Garage und stieg in ihren schwarzen Mercedes EQC, der sich lautlos in Bewegung setzte. Es war schon dunkel, nur der Vollmond warf sein fahles Licht durch die leicht diesigen Wolken auf die Stadt. Voller böser Zornesfalten zwischen den Augen steuerte sie ihr Auto Richtung Universität. Sie musste sich nicht beeilen, deshalb versuchte sie, sich innerlich runterzuschalten. Sie kannte ihr Ziel genau, denn sie hatte es bereits ausspioniert.

Auf der Fahrt von Kaiserswerth hatte sie genügend Zeit, ihre sie quälenden Erinnerungen, die sich ihr aufdrängten und ihr in der Stille Angst machten zu verarbeiten.

Sie wusste, dass sie mit der Angst sprechen musste: »Hallo Angst, da bist du also wieder. Erdrück mich nur. Schnür mir die Luft ab. Aber Du besiegst mich nicht.« Nur so hatte sie gelernt, die Selbstkontrolle wiederzuerlangen.

»Ich darf nicht gegen diese Bilder und Gefühle kämpfen. Ich muss sie zu ertragen, ja zulassen.«

Sie hatte nach dem Untergang von OVERLORD und der Exekution von Fuchs beschlossen, Karim El-Samarany in Marokko zu treffen. Sie war einfach neugierig auf diesen Menschen, der ihr Schicksal so geprägt hatte. Insgeheim wollte sie aber auch wissen, was für ein Mann er war.

Sie wusste: Seine künstliche Intelligenz funktionierte offensichtlich immer noch perfekt. Sie musste aber auch gar nicht nach Marokko. Sie musste lachend daran denken, wie sich ‚Homerisches Gelächter‘ bei ihr mit einem Cheat meldete. Er teilte ihr mit, dass er anlässlich der MEDICA in Düsseldorf sein würde und sie gerne treffen würde. Was sie nicht zu diesem Zeitpunkt wusste, war, warum er sie in Düsseldorf treffen wollte. Aber sie ließ sich darauf ein, weil sie ihm vertraute. Und damit begann fast die größte Pleite ihres Lebens.

Ihr Blick glich einer Rachegöttin.

»Ich bringe ihn um. Ich töte ihn! Ich schlachte ihn!«

Sie trommelte wütend auf ihr Lenkrad.

»Jemand hat uns beide reingelegt, Karim, was hast du gemacht?«

Sie atmete tief durch.

»Aber ich bin ja auch darauf reingefallen. Ich könnte mich dafür hassen. Ich habe gelernt, perfekt zu funktionieren und bin doch in entscheidenden Momenten naiv und bescheuert! Boah. Ich hasse mich!«

Doch einige Zeit vorher hatte Ariel noch ein Rendezvous …

Sie plante schnell und präzise ihr Äußeres. Der Lippenstift einen Hauch kralliger, ihre Haare einen Touch strähniger und ihr Kleid in Zartgrün, passend zu ihren schwarzen Haaren, die aber noch nicht die volle Länge erreicht hatten. Das Kleid passte perfekt und war so lässig im Schnitt, dass man jede Fantasie in Männerblicken, die es erregte als völlig unbeabsichtigt dementieren konnte. Sie wusste nicht genau, wie groß er war. Sollte sie High Heels oder Sneakers tragen. Sie entschied sich für Sneakers. Sie hatte nur Weiße, fand sie aber passend. Sie gefiel sich nach einem erneuten Blick in den Spiegel.

Sie traf ihn im Steigenberger Parkhotel auf der Terrasse. Das gesamte Ambiente war in zartem Weiß und pastellfarbenen Hellgrün gehalten, was perfekt zu dem Spargelgericht passte, das El-Samarany vorschlug. Spargeln gibt es in Marokko nicht, es wächst dort auch schließlich nicht. Ein Wiener Schnitzel wollte er sich auch nicht entgehen lassen, bestand es doch aus Kalbfleisch.

Sie waren viel zu neugierig aufeinander, als dass sie der Weinempfehlung des Obers widersprachen.

Auch das Essen konnten sie kaum genießen, die Story von Karim – sie duzten sich nach dem ersten Anstoßen – war zu unglaublich.

Er erzählte ihr, dass ihre künstliche Intelligenz von irgendjemandem kopiert worden war, bevor Karim sie funktionsunfähig gemacht hatte. Und schlimmer noch. Auch Karims K.I. hatte man kopiert.

Ariel war entsetzt und wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Karim zögerte bei der Antwort: »Digital können sie das geklaute Programm ja einsetzen, nur analog …«

Er gab sich eine Kopfnuss: »… müssen sie es auch verstehen.«

Sie wusste immer noch nicht, worauf er eigentlich hinauswollte. Sie hatte mehr von dem Gespräch erwartet, bis er ihr stolz Fotos von seiner Familie zeigte.

»Scheiße. Wie eitel war ich. Ich traf meiner Meister und er behandelt mich wie eine Schülerin.«

Sie bemerkte nicht, dass Karim in dem Augenblick hoffte, dass man Schülerinnen nicht unterschätzen sollte.

»Aber leider ist Rabea – eh, meine Frau – vor einem Jahr gestorben. Das war kurz nach den Ereignissen, die Du ja kennst. Kein Attentat – wenn Du das denkst – sie hatte nach einer Operation an der Gebärmutter eine Infektion, die sich mit keinem Antibiotikum heilen ließ. Offenbar war es ein multiresistenter Keim. Es war schrecklich. Schrecklich. Ich habe unglaublich gelitten. Aber mein Leiden ist ja eigentlich völlig egal. Glaub mir, ich musste zusehen, wie sie erbärmlich verstarb. Es war schrecklich. Der Mensch, den ich so geliebt habe. Mehr als mich selbst. Und dann wurde ich nach ihrer Patientenverfügung gefragt. Ich war außer mir vor Wut wegen dieser Zumutung. An ihrem Bett stehend, mit Hunderten Schläuchen verbunden, sollte ich eine Entscheidung treffen. Bin ich Gott? Sie starb ohne meine Entscheidung. Ich bin nicht gläubig. Aber ich dankte ihm. Ja verdammt, warum eigentlich.«

Seine Tränen konnte er kaum unterdrücken, deshalb fuhr er fort: »Meine Tochter und mein Sohn haben mich sehr unterstützt, obwohl sie in Vancouver und Genf leben. Sie sind schon groß, weil wir sehr früh geheiratet haben.«

Ariel blieb anteilnehmend und tapfer, aber auch geschäftsmäßig und fragte nach dem wahren Grund des Treffens.

Sie erfuhr, dass sein Programm in die Hände von Bio-Hackern gelangt war. Sie erzählte ihm daraufhin, dass ihre Organisation noch existierte und ihre Möglichkeiten größer waren, als er es sich dachte. Unterkühlt versprach sie ihm, sich darum zu kümmern.

»Ich werde Dir einen Hinweis geben.«

Dieser Hinweis sollte es in sich haben. Sie hatte damals nicht im Entferntesten gewusst, was sich für sie beide daraus entwickeln würde. Und sie wusste auch nicht im Geringsten, wie das alles zusammenhing.

Sie verabschiedete sich kühl und ein bisschen formell mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben. Er war erfahren genug, um das richtig zu deuten und erfüllte ihre Hoffnung, dass der Funke auch auf ihn übergesprungen war.

Als er ihr zum Abschied die Hand gab und sie anschaute, wusste sie, dass es mehr als ein Funke war. Er war entflammt und sie jubelte innerlich, aber auch völlig überfordert. Sie verließ das Parkhotel mehr als irritiert.

Der Hinweis ließ nicht lange auf sich warten und enthielt den Namen eines Biologen. Der Name war nicht neu für sie. Sie waren pari. Sie hatte Gewissheit.

Ihr Mercedes EQC gab ihr ein bisschen Halt. So eine Art Heimatgefühl. Ihr Navi sagte ihr, dass sie die Uni in neun Minuten erreichen würde. Die letzten Meter fuhr sie nur mit Abblendlicht und völlig lautlos. Kein Soundgenerator. Sie parkte neben einem roten Alpha Julia, ohne dem irgendeine Bedeutung beizumessen. Aber schließlich sind nachts ja auch alle Katzen grau.

Sie schlich leise und jeden Schutz in der Dunkelheit nutzend in das Gebäude, das Bi und Ashkan kurze Zeit später auch erreichen sollten. Sie hatte einen genauen Plan im Kopf und nahm ein Treppenhaus, welches eine Verbindung zu dem Gang hatte, den sie suchte und machte sich zielsicher auf den Weg.

Ihre Pistole gezückt – bereit den Laserpointer einzuschalten – erreicht sie die vierte Etage. An jeder Tür suchte sie Deckung und spähte sorgfältig nach vorwärts und rückwärts.

Ihr Ziel war das Ende des Ganges, von dem sie noch geschätzt zwölf Türen trennten. Sie kannte die Tür. Ihre Augen hatten sich inzwischen so an die Dunkelheit gewöhnt, sodass ihr nichts entging. Die Zwischentüren waren alle offen. Sie wunderte sich. Offenbar wollte sich dort jemand alle Fluchtwege offenhalten. Sie atmete konzentriert und lautlos.

Nächste Tür. Deckung suchen.

Weiter.

Je weiter sie kam, desto muffiger roch es nach abgestandenen Plunder.

Noch zwei Türen.

Sie bereitete sich auf den Gang zur nächsten Tür vor, als sie unvermittelt ein fürchterlicher Schlag gegen ihren Hinterkopf traf …

Als sie wieder zu sich kam, saß sie gefesselt in einem hässlichen und abgewetzten Bürostuhl mit aufgerissenen Polstern. Es war der Raum mit dem Bullauge, den sie gesucht hatte. Ihre Sturmmaske hatte man ihr vom Kopf gerissen. Ihre Kopfschmerzen waren so groß, dass sie sich übergeben musste. Ihr warmes Blut sickerte durch ihre Haare in ihr schwarzes Hemd.

Jemand knipste eine uralte Schreibtischlampe an und richtete sie auf ihr Gesicht. Sie war nicht sonderlich hell, reichte aber aus, dass sie drei Männer hinter dem Schreibtisch erkennen konnte. Ihre Waffen sprachen eine beredte Sprache. Sie hatten Sturmmasken an.

»Na Du Hure, damit hast Du nicht gerechnet. Dein ‚Freund‘ ist schon mit allen Sachen weg. Außerdem will jemand Rache für einen Toten. Und jetzt bist Du an der Reihe. Also, wie hast Du ihn gefunden und was weißt Du, Du Schlampe? Wir wollen alles wissen«, herrschte sie der Mittlere an.

Er drehte auf einem abgeschabten Schreibtisch einen Computerbildschirm in ihre Richtung, der sofort aufleuchtete. Irgendeine undefinierte Seite war zu sehen.

Sie schwieg und machte keine Anstalten, auf den Kerl einzugehen.

»Sie will es nicht anders! Habt Ihr gehört. Sie gehört uns!«

Es schien, als vergaßen sie ihren Auftrag. Aber sie schwieg und wusste selber nicht, ob vor lauter Todesangst oder einem letzten Funken Tapferkeit, um nicht den letzten Rest ihrer Würde zu verlieren. Sie wusste, was auf sie zukommen würde. Ihr Geheimnis preisgeben oder gefoltert zu werden. Erschießen würde man sie anschließend in jedem Fall.

Sie checkte den Raum. Es schien nicht so, dass etwas vorbereitet war. Aber sie wollte auch die Fantasie von drei Männern nicht unterschätzen, deren geile Blicke sie gierig musterten. Wie verabredet gingen sie auf sie zu. Der Mittlere zog seinen Gürtel aus seiner Hose und ein anderer riss ihr ihr Shirt vom Leib. Ihre Fesseln schnitten sie brutal durch, sodass sie an den Handgelenken blutete. Zu zweit warfen sie sie auf den Boden. Sie grölten sich gegenseitig an und ihre Schwänze ragten ekelerregend prall aus ihren Hosen. Sie würden ihr alle Körperöffnungen in einem mörderisch grausamen Gang Bang gleichzeitig …

Sie krümmte sich wie ein Embryo, um Schutz zu suchen, von dem sie wusste, dass es ihn nicht gab. Ein Vieh ergriff mit Händen wie ein Schraubstock ihre Fesseln, das zweite griff ihr brutal in ihren Schritt und machte sich an ihrem Hosenbund zu schaffen. Mit letzter Kraft ihrer Oberschenkel wehrte sie seine Hand. Sie schloss die Augen angesichts des nahenden blutigen Gemetzels …

Dann flog die Tür auf …

Sie bekam mit, dass die drei flohen, und sie hörte mehrere Schusssalven. Ein Schuss, der ihr gegolten hatte, verfehlte sie knapp. Einige Splitter aus dem Einschussloch in der Wand trafen ihren Nacken.

Einen kurzen Augenblick geschah nichts. Sie wollte sich gerade aufrichten, bevor eine gewaltige Explosion das Gebäude erschütterte.

Ariel wurde durch eine gewaltige Druckwelle durch den Raum geschleudert. Neben dem umgekippten Bürostuhl landete sie in der hinteren Ecke des Zimmers, dessen Fenster nach außen geflogen waren. Die Hitze einer Explosion nahm ihr den Atem. Aber trotz ihrer Benommenheit stürzte Ariel benommen aus dem Zimmer, das beinahe ihre Todesfalle geworden wäre. Sie entkam gerade noch den Flammen und rutschte fast auf Glassplittern aus.

Einen kurzen Augenblick vorher …

Bi und Ashkan konnten das Treppenhaus unbeschadet erreichen. Doch dann fiel ein Schuss mit verheerenden Folgen. Er traf eine Sauerstoffflasche, die mit lautem Donnerschlag detonierte, und die sie mit einer gewaltigen Druckwelle die Treppe herunterschleuderte. Der Knall zerriss ihre Trommelfelle. Der Explosion folgte ein Feuerball, denn die Sauerstoffflasche war präpariert. Jemand hatte sie mit Fett präpariert, das sich in reiner Sauerstoffatmosphäre, spontan selbst entzündete. Der Druck ließ die Wände in dem Gang bersten und riss die Deckenverkleidungen aus ihren Verankerungen. Das letzte Licht erlosch, Kabel hingen von der Decke herunter, an denen Reste der Neonlampen hin- und her pendelten. Feuer brach in den umliegenden Räumen aus. Die Zwischentür wurde zurückgeschleudert und flog samt Zarge in Richtung Treppenhaus. Das Sicherheitsglas spuckte sie vorher aus. Die Flammenwand, die folgte, erreichte sie aber nicht mehr, weil sie das Treppenhaus hinuntergeschleudert wurden. Sie überstanden die höllische Hitze ohne Brandverletzungen. Einige Brocken des Glases trafen Bi und fügten ihr ein paar kleinere Verletzungen zu, aus denen ihnen Blut die Arme herunterlief.

Ashkan hatte es nicht gefährlich erwischt. Außer ein paar Prellungen und Abschürfungen ging es ihm ganz gut. Seine Schmerzen ertrug er gelassen.

Dafür sah er, dass es um Bi umso schlimmer bestellt war. Sie konnte kaum noch Atmen. Die Schmerzen waren unerträglich, sie röchelte und konnte fast keine Luft ziehen. Ihr Atem zischte. Sie spuckte Blut. Sie musste unerträgliche Schmerzen haben. Ihre Augen waren vor Panik weit aufgerissen. Das Flehen in Ihrem Blick schien ein letztes Aufbäumen zu sein. Sie wollte Ashkans Hand erreichen. Dann fiel sie in Ohnmacht.

Ashkan rappelte sich entsetzt und hilflos auf, griff zu seinem Handy und rief den Rettungsdienst an, was aber nicht mehr nötig war, denn im Hof erhellten die Blaulichter der Feuerwehr schon die umstehenden Gebäude und ließen sie wie einen in den Himmel ragenden Dom erscheinen.

Zuerst bemerkte Ashkan es nicht. Es knirschte leicht. Er wandte sich um. Aus der Dunkelheit erschien fast unsichtbar eine in schwarz gekleidete weibliche Gestalt mit bloßem Oberkörper und blutigen Handgelenken. Das Blaulicht vom Hof ließ ihren Leib immer wieder blau-weiß und fast außerirdisch rein aufleuchten. Bevor Ashkan überhaupt wusste, was das war, signalisierte sie: »Psst!«

Er zückte seine Waffe und herrschte Sie an: »Weg hier!«

Ohne dass er wusste, ob sie ihn überhaupt verstehen konnte, antworte sie mit zu einem Peace Zeichen geformten Fingern und nahm Bi's Hand in ihre. Gespenstisch, aber auch friedlich war ihr Anblick. Er ließ sie – weiß der Himmel warum – gewähren.

Ashkan konnte nicht hören, sondern nur sehen, dass sie »Danke!«, sagte. Sie küsste Bi's Hand und verschwand wieder in der Dunkelheit, als wäre sie nie erschienen.

Ashkan konnte sich auf das Erscheinen der Unbekannten keinen Reim machen und kümmerte sich erst einmal um Bi.

Endlich wurde es laut und Licht durchdrang die Stille. Zwei Feuerwehrleute – begleitet von einem Notarzt – erreichten das Treppenhaus. Er hörte nur Kommandos. Er wandte sich weg, als sie ihren Oberkörper entblößten.

»Scheiße! Lungenriss!«

»Sauerstoffmaske!«

»Adrenalinspritze!«

»Rettungsdecke!«

Der Notarzt bediente inzwischen das NIDA-Pad, mit dem er die Daten von Bi in die Notaufnahme der Uniklinik senden konnte. Er gab durch, das Bi sofort in ein künstliches Koma versetzt musste.

Die Zeit, in der sie das hinkriegten, war rekordverdächtig.

»Sie kommen klar?«, mit dieser Bemerkung, bei der er Ashkan keines Blickes würdigte, ließen sie ihn in der Dunkelheit zurück.

Völlig allein gelassen setzte er sich auf die Treppenstufe und vergrub sein Gesicht in seinen Händen, bis er wieder Schritte hörte.

Er fingerte nach seiner Waffe. Die Schritte klangen so vernehmlich deutlich, dass sie keine Gefahr verhießen. Dann sah er das flackernde Licht einer Taschenlampe und eine vertraute Polizeimütze.

»Herr Horri, Sie sind in Sicherheit. Wir haben alles im Griff.«

Das Gesicht unter der Mütze strahlte ihn zuversichtlich an.

»Im Griff, wenn der wüsste.«

»Ich bring sie nach Hause und hol sie morgen um elf Uhr ab. Ihr Chef hat mich angewiesen, Sie lange schlafen zu lassen.«

Die Fahrt zu seiner Wohnung reichte aus, damit er seine Geschichte erst mal loswerden konnte. Verdrängen ist nicht das Falscheste bei einem Trauma. Zuhause angekommen fiel er nur noch ins Bett und träumte von der Hölle. Er war aber auch ein Typ, der sich an seine Alpträume nicht mehr erinnern konnte.

Das war auch besser so. Denn die Höllenfahrt sollte erst noch beginnen. Und das war noch untertrieben …

Mit klarem Verstand hatte sie ziemlich schnell den Biologen ausfindig gemacht, dessen Namen El-Samarany ihr genannt hatte und den sie für ihre Zwecke einspannen sollte. Er war sogar in XING zu finden. Der Typ sah lustig bis doof aus in seinem karierten Hemd.

»Einsamer sucht Einsame zum Einsamen«, fiel ihr dazu ein. Egal, wo sie das schon wieder herhatte. Auf den ersten Blick sah er mit seinen straßenköterblonden schütteren Haaren und leicht traurigem Blick so aus, als wollte er Mutterinstinkte in ihr auslösen. Nur damit hatte sie es nicht.

Wo verabredet man sich mit einem doofen Biologen und worum eigentlich. Ein Termin war kein Problem. Sie wusste, wie man so was macht.

Aber wohin zu Teufel: »Mensa? Ne. Weise? Geht gar nicht, das ist unser Café, Scotti´s auf der Christophstraße? Perfekt. Da laufen doch auch jede Menge Mediziner rum.«

Bevor Sie ihr Handy zückte, überlegte sie mit einem Blick auf ihren Kleiderschrank: »Was zieh ich bloß an?«

Mit der Telefonnummer, die El-Samarany ihr gegeben hatte, rief sie ihn an. Eine Legende hatte sie im Kopf, aber es gab auch zur Not eine Homepage ihres ‚Unternehmens‘.

»Ich bin Frau Heinrichs, guten Tag Herr Doktor Feldmann.«

»Andreas Feldmann. Guten Tag? Mit wem habe ich das Vergnügen.«

Immerhin, einen Ansatz von Stil hatte der Typ.

»Ich rufe an von einem amerikanischen Start-up in der Biogenetik. Ich bin gerade auf der MEDICA in Düsseldorf, die ja bald zu Ende geht. Ich hatte dort das Vergnügen, mit Herrn Prof. Dr. – wie hieß der nochmal, sorry ich habe den Namen vergessen – gesprochen und der hat mir Ihren Namen gesagt und Sie mir herzlichst empfohlen. Sie arbeiten – so habe ich erfahren – an einem Projekt, das uns sehr gefällt, und wir würden gerne über eine kommerzielle Nutzung mit Ihnen reden. Wir können Ihnen helfen, der Erste zu sein. Sein wissen ja: The Winner Takes It All.«

Sie lachte penetrant aufdringlich auf, was ihr gemäß ihrer Rolle, die sie spielen wollte, auch problemlos sehr ‚authentisch‘ gelang.

»Jaaa, und was wollen Sie von mir?«

»Ihr Professor hat mir gesagt, dass ich Sie vor meinem Rückflug nach Thousand Oaks unbedingt sprechen soll.«

Sie wusste, dass er nicht Rücksprache mit seinem Professor suchen konnte, weil der ja nach der Messe zu einem Kongresstermin nach Genf jetten wollte. Nur eben nicht konnte, wie sie noch erfahren sollte.

Jetzt noch ein Kompliment und sie hatte ihn.

»Ihr Professor hält Sie für einen überaus hervorragenden Wissenschaftler, ohne den sein Institut nicht die internationale Anerkennung bekommen hätte, die es in Fachkreisen genießt.«

Das saß. Er hatte heute noch Zeit. Sie bekam aber nicht mit, dass er hässlich grinste, als das Telefongespräch endete.

Sie entfernte sorgfältig den Nagellack von ihren Fingern und schaute in den Spiegel. Schminken brauchte sie sich nicht, oder? Ein bisschen kann nicht schaden. Aber nur fast unsichtbar. Sie sah auch völlig ungeschminkt fantastisch aus und war sich dessen bewusst.

»Zerrissene Jeans, dazu eine graugrüne Sweatjacke mit kurzen Ärmeln und Reißverschluss? Zu wenig Businesslike. Knielanger schwarzer Rock mit weißem Top und dunkelblauem Blaser. Dünne Goldkette. Passt. Noch ein Hauch von Lippenstift.«

Zufrieden zog sie sich an.

Sie fuhr mit dem Taxi zum Scotti’s, sodass es aussah, als käme sie direkt von der Messe mit genau sechsminütiger geplanter Verspätung und so, damit er sie sah.

Sie erkannte ihn sofort, weil sie sich das XING-Foto eingeprägt hatte und winkte ihm entschuldigend aus der Ferne zu. Immerhin sah er nicht so stoffelig vor, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Er hatte sich etwas aufgebrezelt und trug über einem hellblauen Hemd einen Blazer, der auf den zweiten Blick aber auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Ansonsten wirkte er etwas blass mit seiner hellen Haut und seinem dünnen blonden Haaren. Wie in dem Bild auf XING.

»Guten Tag Frau Heinrichs.«

»Henrichs, macht aber nichts. Einen guten Tag Herr Dr. Feldmann. Schön, dass das noch so schnell geklappt hat.«

Er musterte sie schüchtern und nervös. Sein linkes Augenlid zuckte kurz. Sie drehte sich um, um eine Bedienung heranzuwinken und spürte seinen deutlicheren Blick.

»Was möchten Sie trinken, Dr. Feldmann?«

»Eh, bitte ein alkoholfreies Weizen.«

»Ein alkoholfreies Weizen für den Herrn und für mich eine Rhabarberschorle, bitte«, gab sie dem Kellner als Bestellung auf.

»Sehr schön hier. Ich habe früher mal für einige Zeit in Düsseldorf gewohnt, bevor ich in die Staaten gezogen bin,« fing Ariel an.

»Wie hieß der Ort nochmal?«

»Thousand Oaks. Das ist so eine Art Silicon Valley der Biotechnologie. Der Ort liegt im Norden von L.A. ungefähr 360 Meilen von San Francisco.«

Feldmann zuckte bei ‚Thousand Oaks‘ sichtlich zusammen. Aber er ließ sich nicht in die Karten schauen. Er kannte den Ort.

»Und wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte er sie mit großen Augen.

»Nach der IT siedeln sich dort zunehmend auch Biotechnologieunternehmen an. Wie wir. Wir sind ein junges Startup und nach knapp sechs Monaten schon börsennotiert, unser Kurs geht durch die Decke. Wir arbeiten an neuen Medikamenten. Sie wissen ja, die Antibiotika gehen uns so langsam aus.«

»Ja das ist ein Riesenproblem. Die Pharmakonzerne investieren zu wenig, weil jedes neue Antibiotikum in der Entwicklung mindestes ne Milliarde kostet. Eigentlich müssten die Regierungen einspringen. Aber die warten die nächste Epidemie ab, damit sie dann mit neuen Investitionsprogrammen Steuererhöhungen durchsetzen können und als Helden gefeiert werden. Wissen Sie, dass durch die spanische Grippe weltweit etwa 70 Millionen Menschen gestorben sind? Na ja, das ist die höchste geschätzte Zahl.«

»Das war aber ein Virus … «

»Sorry, aber dagegen tun wir ja auch nichts mehr. Stellen sich nur vor, es gibt einen Tuberkelbazillus, der multiresistent ist. Na, dann Nacht Mattes! Die amerikanische Armee hat im 1. Weltkrieg durch die Grippe mehr Soldaten dadurch verloren als im ganzen Krieg.«

Er grinste sarkastisch und sein Augenlid konnte er nicht so schnell mit einer fahrigen Bewegung verdecken, wie es wieder zuckte.

»Auch noch ein Autist«, schlussfolgerte Ariel für sich und lächelte ihn wegen seines ‚klugen‘ Vortrags an.

»Und die Evolution kann das, ohne auch nur zu wissen, was Geld ist. Geschweige denn, was Aktien oder Banken sind.«

Die Idee gefiel ihr, war sie denn wenigstens originell. Sie würde noch lernen, dass das ihr größter Denkfehler sein sollte.

»Es soll doch noch eine neue Methode geben. Sind Phagen keine Alternative gegen multiresistente Keime?«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.

»Bakteriophagen. Also Viren, die gezielt im Körper Bakterien killen. Sie meinen die Forschungen der Kollegen in Braunschweig und Leipzig?«

»Die waren auch auf der Messe.«

»Sie sind auch zu mir gekommen. Außerdem ist das mit den Phagen komplizierter als die denken.«

»Sie kennen sich sicher sehr gut aus. Möchten Sie was essen? Ich kann Ihnen …«

»Scheiße nur nicht versprechen«, schalte sie geistesgegenwärtig.

»… einen Blick in die Speisekarte empfehlen. Sie sind natürlich eingeladen.«

»Ich kenne die. Die haben hier fantastische Burger. Sogar vegetarisch.«

»Ich nehm was Leichteres.«

Sie besorgten sich die Speisekarte. Ihr Gast bestellt sich einen Chili Burger mit deftigem Chili con Carne und Käse und sie sich einen Salat mit gebratenen Pfifferlingen. Dazu ein richtiges Weizen für ihn und für sich einen Primitivo.

Der Burger quoll über und er verschlang ihn unappetitlich.

»Geht das auch mit Messer und Gabel?«, dachte sie sich und stocherte etwas lustlos in ihrem Salat herum, damit sie sich das nicht ansehen musste. Immerhin war der sehr knackig, die Pfifferlinge gut gewürzt und das Dressing eine gute Verbindung zwischen beiden.

Feldmann war in Fahrt und fuhr weiter fort: »Wir sind da schneller.«

»Ich weiß. Sie erforschen Spiegelmere, das sind gespiegelte Aptamere. Aptamere sind neuartige Antikörper. Sie haben aber einen entscheidenden Nachteil. Sie werden im menschlichen Körper sofort abgebaut. Durch die Spiegelung können sie vom Körper nicht erkannt werden. Die Spiegelung wirkt wie eine Tarnkappe. Dadurch erreichen Spiegelmere eine hohe Biostabilität. Damit können Sie im Idealfall alle Bakterien und Viren bekämpfen.«

»Sie kennen sich aus. Woher wissen Sie das alles?«, antwortete er anerkennend.

Sie lächelte mit Kennermiene, um weitere Fragen nicht aufkommen zu lassen und warte geduldig darauf, dass er fortfuhr.

»Wegen der ‚Stealtheigenschaft‘ haben wir sie intern ‚Cappamere‘ genannt.«

»Aja?«

»Siegfried hat im Nibelungenlied eine Tarnkappe von einem Zwerg namens Alberich, der den Hort der Nibelungen bewacht, bekommen. Fälschlicherweise hat man daraus einen Helm gemacht. In Wirklichkeit war das aber ein Mantel oder Umhang, die ‚Cappa‘.«

War das sein Wissen oder Originalton seines Professors. Immerhin ein guter Marketinggag. Sie musste auf jeden Fall seine Bildung loben.

»Herr Feldmann, ich habe mich nicht getäuscht in Ihnen. Sie sind ein ganz exzellenter und vor allem auch sehr gebildeter Wissenschaftler. Alle Achtung!«

Er freute sich über das Kompliment und zeigte, dass er geschmeichelt war.

»Wissen Sie, Frau Henrichs, wir führen einen Kampf gegen die Natur, den wir so nicht gewinnen werden. Macht Euch die Erde untertan. So steht es doch in der Bibel. Nur steht die unterworfene Natur in der Technik wieder auf. Das ist doch das, was wir erleben.«

Ariel wünschte sich Johannes herbei, denn philosophische Dispute waren nicht ganz ihr Ding, obwohl sie sich in dieser Hinsicht nicht ganz für unterbelichtet hielt. Ihre Reaktion genoss er, um weiter zu monologisieren.

»Kennen sie die Kesselstruktur der Welt?«

Etwas genervt, denn sie wollte endlich zum Geschäft kommen, antwortete sie mit gespielter Neugier: »Nein, den Begriff habe ich noch nie gehört.«

»Stellen Sie sich einen Kessel vor. Der Boden in der Mitte ist flach. Zum Rand hin steigt er langsam an, um immer steiler zu werden. Wenn Sie versuchen, den Kessel von der Mitte des Bodens her zu erkunden, so geht das auf dem Boden noch einigermaßen ohne große Anstrengung. Aber da, wo es steiler wird, werden ihre Anstrengungen schnell größer werden, als ihnen lieb ist, bis sie gigantisch werden.«

»Ich verstehe, haben sie ein Beispiel?«

»Ja denken Sie nur an die technologischen Probleme, die wir haben, wenn wir in den Weltraum wollen. Der Aufwand vervielfältigt sich enorm überproportional mit der Geschwindigkeit, die wir bräuchten, wenn wir auch nur aus unserem Sonnensystem wollten.«

Sie wollte ihn nicht unterbrechen bei dem Gedanken, dass es nur drei Dinge gäbe, die ihr Lust auf den Mond machen würden. Gosch am Rheinufer, Dauser am Marktplatz und die Kö mit dem angrenzenden Hofgarten. Das würden noch die Enkelkinder der Zwillinge und Drillinge von Musk nicht schaffen.

Sie entschuldigte sich für die geistige Atempause mit gespielter Aufmerksamkeit: »Sorry, sehr spannend, was Sie da erzählen.

»Es kommt aber noch schlimmer. Die moderne Technik fragt überhaupt nicht danach, was sie möglich macht, was die Bedingung der Möglichkeit von Geschicklichkeit ist. Wir leben in einer begrenzten Welt. Und die ökologische Krise zeigt uns heute schon ihre Grenzen. Die Wände des Kessels werden steiler. Gut, dann haben wir keinen Fortschritt mehr. Aber jetzt haben wir das Problem, dass die Umwelt schon aus dem Ruder gelaufen ist. Das heißt, jetzt bekommen wir es damit zu tun, dass wir – bildlich gesprochen – nasse Füße kriegen. Und die Frage lautet, werden wir schneller lernen, die Wände hochzukommen, als das Wasser steigt?«

Damit endete er nicht ohne Theatralik seinen Monolog.

Ariel mimte Begeisterung. So doof erschien er ihr jetzt nicht mehr. Sie machte das, was man in einer solchen Situation artig gelernt hatte.

»So habe ich das noch nie gesehen. Ich werde viel aus dem Gespräch mitnehmen. Haben sie diese Gedanken auch schon einmal publiziert?«

»Noch nicht, aber ich bin dabei.«

»Möchten Sie noch etwas trinken?«

»Gerne.«

Sie atmete auf, denn sie war ja noch nicht am Ziel.

»Sagen Sie, könnten Sie sich eine Zusammenarbeit mit uns vorstellen. Wir sind zurzeit das erfolgreichste Unternehmen auf diesem Gebiet.«

»Warum nicht. Qiagen wurde ja auch von einem Wissenschaftlerteam der Uni gegründet und ist heute ein Weltunternehmen.«

»Dann lassen Sie uns noch einen Espresso trinken.«

»Wie machen wir weiter?«, wollte Feldmann wissen.

»Ich müsste erst noch was mit meiner Firma klären. Die Messe läuft noch zwei Tage. Wir könnten uns übermorgen wieder hier treffen. Allerdings erst in den Abendstunden. Sagen wir 20 Uhr. Passt das?«

»Perfekt Frau Henrichs. Wir können uns gerne im Institut treffen.«

Er bemühte sich noch, sich formvollendet von ihr zu verabschieden.

Auf der Rückfahrt mit der Rheinbahn dacht Ariel nach: »Wenn das stimmt, was der mir erzählt hat, dann stehen die kurz vor einer sensationellen Innovation, die ein Milliardenwenn nicht ein Billionengeschäft verspricht. Dagegen würden die IT-Konzerne verblassen. El-Samarany hatte mir einen tollen Tipp gegeben. Aber ist das sein Plan? Warum hetzt mich El-Samarany auf diesen Typen. Sollen wir jetzt ein Pharmaunternehmen gründen? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber warum hat er mir nicht mehr mitgeteilt? Und dieser Feldmann? Eigentlich ein scheiß Typ. Aber gefährlicher als man denkt, wenn man ihn sieht. Und bestimmt ein Psycho.«

Da lag sie nicht falsch. Nur so ganz durchschaute sie diesen Typen nicht.

Sie dachte weiter nach: »Aber was hat er wirklich mit mir vor? Oder was haben Karim und dieser Typ mit mir vor?«

Zuhause in der Dorotheenstraße angekommen wollte sie nur noch eins. Schlafen. Sie hatte schon ihren Schlüssel in die Hand genommen, als sie sah, dass jemand in ihre Wohnung eingebrochen war. Sie war mit Gewalt aufgebrochen worden. Erschrocken lief zu zurück zu ihrem Auto und riss eine Ersatzwaffe und Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Sie musste sich beherrschen, denn sie wusste, Disziplin schlägt Wut.

»Nur nicht im Zorn kämpfen!« Sie wiederholte diesen Spruch auf ihrem Weg zurück.

»Scheiße, ich bin reingelegt worden. Und Karim auch. Karim auch?«

Ein böser Verdacht kam in ihr auf. Sie war sich schnell sicher, dass dieser doofe Biologe sie beide reingelegt hatte. Oder steckte Karim dahinter. Und wer war dieser Typ wirklich?

Vorsichtig schlich sie sich zurück zu ihrer Wohnung und trat mit gezückter Waffe gegen die offene Tür.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen. Wie sie gehört haben, hat es in der Heinrich-Heine-Universität einen unglaublich brutalen Mord gegeben, der zumindest in der Geschichte unseres Präsidiums beispiellos ist. Dabei ist unsere Kollegin, Frau Walker schwer verletzt worden. Sie liegt auf der Intensivstation der Uni-Klinik im künstlichen Koma. Der Chef-Arzt hat mir versichert, dass sie das alles unbeschadet überstehen wird. Es wird keine bleibenden Schäden geben. Man will sicherheitshalber unbedingt keine Risiken eingehen.«

Das Team von Schumann zeigte sich sehr erleichtert.

»Ich habe Polizeischutz für sie angeordnet. Vier Kolleginnen oder Kollegen werden mit unserer neuen Maschinenpistole MP 5 ausgerüstet, um ihr Zimmer in der Klinik sichern. Ihre Familie wird ebenfalls mit hohem Aufwand geschützt. Auch Herr Horri bekommt Polizeischutz.«

Auch das quittierte das Team mit Beifall. Schumann war in seinem Team sehr beliebt. Er war bekannt für seine brillante Rhetorik, galt als exzellenter Fachmann und absolut parkettfest. Sein Interesse galt der zeitgenössischen Kunst.

»Wir bilden – wie üblich – eine Mordkommission. Name: Heinrich Heine. Der klingt jetzt nicht sonderlich kreativ, lässt sich aber noch ändern. Die Presse mag so was. Doch jetzt zu dem Fall. In einem Institut der Uni ist ein Biologieprofessor auf die brutalste Methode, die man sich vorstellen kann, gefoltert und buchstäblich exekutiert worden. Anders kann am es nicht nennen. Es handelt sich um Professor Gabriel Krappmann, wie wir wissen. Die Familie haben wir informiert. Die Uni gleicht einem Aufruhr im Bienenstock. Bei der Verfolgung der Täter sind Frau Walker und Herr Horri – ich habe angewiesen, ihn ausschlafen zu lassen – in eine vorbereitete Falle gelaufen. Ich möchte das jetzt nicht kommentieren angesichts des Zustands der geschätzten Kollegin. Ich weiß nicht, ob das leichtsinnig oder fahrlässig war. Das werden wir erst erfahren, wenn sie wieder vernehmungsfähig ist.«

Etwas müde erschien dann doch noch Ashkan. Schumann schaute erstaunt auf.

»Ich begrüße Sie. Sie hätten sich ruhig Zeit nehmen lassen.«

»Kein Problem.«

Das hatte er mit seiner außergewöhnlichen Kondition auch nicht. Er sah nur etwas besorgt aus.

»Ach so, Herr Horri. Um das Kunstwerk sollten sie sich keine Gedanken machen. Das Land kommt dafür natürlich auf. Ich denke, das wissen Sie ja. Sie werden es also wieder restaurieren.«

Und dann grinste er: »Sofern das gewollt ist. Denn jetzt streiten sich die Stifter mit dem Künstler. Ich kenne den Heinz Mack ganz gut und habe mit ihm telefoniert. Er findet das eher lustig. Verzeihen Sie mir das Wort in dieser makabren Situation. Er hat Ihnen eine gewissen ästhetische Ader bestätigt und findet die Einschläge in seine Plastik sehr gelungen. Er möchte den Steinkeil so lassen.«

Ashkan lächelte verlegen, das Team dafür umso lauter.

»Soweit, so gut. Machen wir weiter. Ich weiß, wir können von folgendem Tathergang ausgehen.«

Er schrieb auf sein Tablet ein paar Stichworte, die alle auf dem riesigen Bildschirm sehen konnte und erläuterte seine Notizen: »Erstens: Der ermordete Wissenschaftler war Leiter einer Forschungseinrichtung mit internationalem Renommee. Wir gehen davon aus, dass er vor seinem Flug zu einem internationalen Kongress in Genf noch etwas aus seinem Büro holen wollte. Mehr wissen wir zurzeit aber nicht. Wie haben jedenfalls kein Motiv. Wir können aber davon ausgehen, dass es sich um einen gezielten Anschlag handelt. Ein einfacher Mord sieht meines Erachtens anders aus. Die KTU untersucht den Tatort. Noch mehr im Dunkeln tappen wir im Hinblick auf die Geschehnisse, die sich anschließend abspielten.«

Kräftig nickend bestätigte Ashkan die Aussage.

»Nachdem das Gebäude gesichert worden ist und wir uns Zugang verschaffen konnten, haben wir uns einen ersten Überblick verschafft. Der Raum, in dem die drei Täter waren, ist von uns untersucht worden. Es waren offensichtlich die, die auch den Mord begangen haben. Die Computer sind schwer beschädigt und gehen zu den Kollegen, die sich damit auskennen. Es scheint sich um eine Art Labor zu handeln. Einige Geräte sind identisch mit denen im Labor des ermordeten Wissenschaftlers. Was damit erforscht wurde, wissen wir nicht. Das wird der Kollege Ashkan noch herausfinden.«

Der Angesprochene nickte ob des Auftrags, von dem er noch keine Ahnung hatte. Aber so war Schumann. Er delegierte schnell und präzise.

»Aber es war noch eine Person im Spiel, die offenbar auch dort war. Wir haben in dem Labor eine Waffe gefunden, deren Griff für eine Frauenhand ausgelegt war. Außerdem Reste von Fesseln. Die SPUSI wird auch jede Menge DNA an Haaren und Blut finden. Sie muss durch die Aktion unserer Kollegin und Ihren, Herr Horri, Schlimmeres erspart haben. Sie ist danach spurlos verschwunden. Wer die Geheimnisvolle ist? Frau Walker können wir im Augenblick nicht fragen. Sie mussten sich aber gekannt haben. Oder haben Sie wissen Sie mehr?« Er blickte Ashkan an.

»Vage. Es gab im Fall ‚Sokrates‘ eine Terroristin, die – ich glaube – Brunner hieß. Sie hatte uns ja nach Marokko verschickt und war am Ende des Krieges zwischen den beiden Terrororganisationen nicht mehr auffindbar. Vielleicht hat Joh … Mhm, ich meine der Dr. Schwarz Kontakt zu ihr.«

»Können Sie das herausfinden? Sollte sich das bewahrheiten, wären wir sicher einen Schritt weiter.

»Gerne, nach den gemeinsamen Abenteuern würde ich ihn gerne wiedertreffen.«

»Also gut, die üblichen Verdächtigen. Dann wäre das schon mal geklärt. Aber einen Augenblick noch. Mir fällt noch was ein. Da gab es doch noch diesen arabischen Philosophen mit dem homerischen Gelächter; der war doch auch in Marokko dabei …«

Das Team konnte sich gut an seinen Videoauftritt im Präsidium erinnern.

»Ja, der hieß Karim El-Samarany. Ich weiß aber nicht, wo der steckt. Ich kann ja mal eine Anfrage über die Deutsche Botschaft machen.«

Er wusste nicht, dass er sich das sparen konnte, denn Karim war viel näher, als sie dachten und vor allem, er hatte seine eigenen Pläne. Und Ariel hatte ja schon erfahren, dass er die nicht wirklich preisgeben wollte.

Schumann fuhr fort: »Wir wissen also hier erst einmal sehr wenig. Heißt: Zweitens: Wir müssen herausfinden, warum der Professor gefoltert und ermordet wurde. Das übernehmen Sie Herr Horri. Bitte nehmen Sie Kontakt zur Hochschule auf und ermitteln dort. Wie müssen ermitteln, an was dort geforscht wird und warum das zu einer Ermordung des Professors geführt hat. Außerdem müssen wir natürlich auch herausfinden, was die Täter denn durch die Folter erreicht haben, denn einen Unterarm haben sie nicht bestialisch gebrochen. Hat er ihnen etwas verraten. Gibt es irgendwas in dem Labor, was darauf hin entwendet wurde. Wenn ich nicht ganz falschliege, kann es sich hier um geheime Forschungsdaten gehen. Einen Durchsuchungsbefehl bekommen Sie. Wahrscheinlich brauchen wir auch einen Zugriff auf die IT des Instituts oder der Uni. Die Kollegen der IT werden Sie natürlich unterstützen. Ich werde entsprechend informieren und instruieren.

Ashkan nickte.

»Zweitens müssen wir ermitteln, wer die Täter sind und was es mit dem Labor in dem verlassenen Gebäude auf sich hat und wer dahintersteckt. Wer unterhält dort ein verdecktes Labor? Gibt es Verbindungen zu der Forschung an der Uni?«

Er machte eine kurze Pause und schaute erwartungsvoll sein Team an. »Hat jemand von Ihnen Fragen? Es gilt übrigens die höchste Sicherheitsstufe. Alleingänge …«

Er schaute Ashkan an.

»… sind zu unterlassen. Wir brauchen keine Helden. Ach so. Frau Hoffmann, Sie begleiten Ihren Kollegen und umgekehrt er Sie.«

Die beiden hatten verstanden. Julia, kannte sich sehr gut im IT-Bereich aus und wusste, dass Ashkan jederzeit einen guten Riecher hatte. Er war auch sehr zuverlässig. Trotz seines kompakten und kräftigen Äußeren, das er der Muckibude verdankte, war er schneller, als es ihm anzusehen war und konnte absolut präzise zuschlagen. Julia war etwas größer als Ashkan und als Frauenfußballerin ebenfalls gut im Training. Sie mochten sich kollegial, obwohl das bei einem Junggesellen, wie Ashkan nie wirklich klar war. So sehr er sich bei all seiner Schüchternheit anstrengte, war er doch schon fast ein ‚ewiger‘ Junggeselle. Dass Julia das wusste, wollte sie ihn aber nicht anmerken lassen, obwohl sie zurzeit selbst ‚unbemannt‘ war und bei ihr die Zeit langsam anfing zu ticken.

Schumann beendete das Gespräch: »Der Hausmeister hat übrigens einen psychischen Schock erlitten und ist krankgeschrieben.«

Das konnte sich das Team nach dem Bericht von Schumann gut vorstellen.

Er fuhr fort: »Also, wie immer an die Arbeit. Ich erwarte von Ihnen Informationen ‚in Echtzeit‘. Der Fall ist heiß. Sehr heiß. Deshalb wollen wir alle gemeinsam Ergebnisse. Packen wir’s an. Und wir werden es packen. Auf Wiedersehen liebe Kolleginnen und Kollegen.«

Und das wollte sein Team auch. Es gibt schließlich sehr viel langweiliger Fälle in der kleinsten Weltstadt Düsseldorf. ‚Dorf‘, wie der Name schon sagt.

Ihre Wohnung war verwüstet. Man hatte ihre Wohnung in Späne verwandelt. Alle Möbelstücke waren auseinandergerissen und die Einzelteile in Stücke zerbrochen. Der Boden war meterlang herausgerissen. Alles, was auch nur halbwegs nach Elektronik aussah, war entfernt. Notebooks, Tablets, Router, Zweithandy … Die Lampen waren von der Decke gerissen.

»Die wollten sichergehen, dass ich nicht irgendwo eine Mikro-SD versteckt oder einen USB-Stick habe. Und dann haben Sie wahrscheinlich die Trümmer mit einem Metalldetektor durchsucht. Oder was sonst. Wie altmodisch. Das macht heute doch keiner mehr.«

Erschöpft setzte sie ich auf einer freien Stelle ihres Bodens hin und betrachtet die Chintz-Vorhänge die sorgfältig verklebt jeden Blick von außen verhinderten. Sie war fertig und presste die Hände vor Ihre Augen, bis sie aufs Klo musste und erschrak erneut. Auf dem Spiegel war mit einem ihrer Lippenstifte geschrieben:

Danke für den Burger!!!

Sie zog ihre Beretta aus dem Hosenbund und ballerte das halbe Magazin gegen den Spiegel, der zersplittert zu Boden fiel und den Zettel unter sich begrub.

»Wer zum Teufel ist dieses gottverdammte Arschloch?«, durchfuhr es sie.

Immerhin konnte sie sich jetzt vorstellen, wer hinter den Männern stand, die sie in der Uni überwältigt hatten.

Sie zückte ihr Handy, gab ein paar Anweisungen an ihr Leute durch, packte etwas Unterwäsche und was sonst noch für ein Hotel zu gebrauchen war und fuhr in den Breidenbacher Hof, in dem sie Quartier bezog.

An der Bar schickte sie Karim eine längere hasserfüllte Nachricht, trank sie noch einen japanischen Whiskey straight on und ging schlafen …

Am frühen Morgen schaltete Johannes in seinem Arbeitszimmer sofort sein Notebook an.

Er steckte den Stick in den entsprechenden Slot. Ohne dass er wusste warum, öffnete sich eine Seite und eine Internetverbindung wurde hergestellt.

»سالم العيقو م, Salam aleikum Johannes, ich grüße sie, mein Freund und Wegfährte.«

»Das ist ja eine Überraschung. Mein Gott. Nach unserem gemeinsamen Abenteuer. Wie geht es Dir, Karim?«

»Nicht so gut. Rabea – eh, meine Frau, ist vor einiger Zeit gestorben.«

»Das tut mir unendlich leid. Mein aufrichtiges Beileid nachträglich.«

Er ärgerte sich über diese blöde Floskel. Aber mehr bot seine Kultur wohl nicht, wie er bei dieser Gelegenheit erfahren musste.

»Danke Johannes.«

»Ich berichte Dir ganz kurz. Ich habe Euch ja getroffen. Wir haben was entdeckt. Unser Programm ist in die Hand von …, – … wenn ich das wüsste geraten. Wir wissen nicht, wer die Drahtzieher sind. Du solltest mit Ariel der Sache nachgehen.«

Johannes schwieg und wartete ab.

»Bi’s Zustand verfolge ich rund um die Uhr in jeder jede Sekunde.«

»Ich danke Dir, mein Freund.«

»Ich hatte geglaubt, dass ihr beide das Rätsel besser ohne Polizei lösen solltet. Anders geht das mit Ariel nicht; nach ihr wird ja international gefahndet. Aber sei sicher, ich bin jederzeit näher bei Euch, als Du denkst.«

»Schön. Und mit einer ‚Kriminellen‘ soll ich so was wie Dein Geheimagent werden? Nein, ich müsste verrückt sein«, erwiderte Johannes.

Kommentarlos antworte Karim: »Sie hat Dir ja den Stick gegeben. Sie ist eine sehr interessante Persönlichkeit.«

»Das ist sie in der Tat. Das kann ich aus eigener Anschauung mehr als bestätigen. Sie hat mir in unserem unerwarteten Treffen erzählt, dass Bi ihr das Leben gerettet hat.«

»Ja ich weiß. Das war alles nicht geplant. Aber es war mein Fehler. Das war knapp an der Katastrophe vorbei. Sehr knapp!«

»Der Zufall ist die in Schleier gehüllte Notwendigkeit. Gut nicht? Von wem war das nochmal? … von der Ebner-Eschenbach, glaube ich …«

»In diese Richtung gingen auch meine Gedanken. Vielleicht ist es ein Wink des Schicksals صير asir oder Bestimmung قدر Qaddara, dass Bi für einige Zeit ausgeschaltet ist und Ariel ebenfalls überlebt hat.«

»Ich bleibe doch lieber bei meiner Lesart.«

»Du hast recht, ich kann die Schuld, die auf mir lastet, nicht ertragen. Aber wir sind Wissenschaftler.«

»Karim, ich weiß, wie Du fühlst. Das kann ich gut nachvollziehen.«

»Danke Johannes. … die in Schleier gehüllte Notwendigkeit …? Was denkst Du, was das heißen könnte?«

»Was sagt es Dir, Karim? Du hast doch sicher eine Vermutung?»

»Du weißt ja, was mit unseren K.I.-Programmen passiert ist?«

Die Frage war so rhetorisch, dass Johannes Karim weiterreden ließ.

»Wir dachten, wir hätten eine Spur. Und die war ja auch nicht ganz falsch.«

»Ich würde gerne Mal zusammenfassen. Bi und Ashkan waren im Einsatz wegen eines Mordes an einem Professor der Biologie. Beim Zugriff auf die Täter können diese entkommen. Bei der anschließenden Verfolgung dringen sie in ein Gebäude ein, in dem Ariel etwa zur gleichen Zeit in eine Falle gelaufen ist. Sie liefern sich mit drei Männern eine Schießerei und werden durch eine Explosion einer Sauerstoffflasche außer Gefecht gesetzt. Als Folge kann Ariel den drei Männern entkommen. Welch eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Ein Zufall? Das hat Dir Ariel wahrscheinlich schon erzählt.«

Johannes nickte.

Sie wussten natürlich nicht, was im Vorfeld passiert ist. Dass Bi und Ashkan durch eine Aufmerksamkeit eines Hausmeisters alarmiert wurden und einen scheußlichen Mord entdeckten, mussten sie außerhalb ihrer theoretischen Überlegungen lassen. Und dass die Täter sich nicht einfach vom Uni Gelände machten auch nicht.

Vielleicht hatten sie nur vor, erst den Professor zu misshandeln, um sich anschließend Arial zu schnappen. Aber welche Falle hatte wer aufgestellt. Warum riskierten sie auch noch, ihren Plan aufrecht zu erhalten, wenn sie davon ausgehen konnten, dass sie verfolgt würden. Hatten sie damit gerechnet, war das geplant? Ein Doppelschlag gegen zwei, die ihnen gefährlich werden könnten. Aber Killer arbeiten im Auftrag. Sie sollten irgendeine Person schützen.

Mussten sie dazu einen Biologieprofessor killen und Ariel umbringen, was ja nicht gelang. Oder sollten sie auch Bi und Ashkan ausschalten. Oder hatte, man schlichtweg die Hausmeister mit ihrem Leitspruch ‚da wissen Sie mehr als ich‘ nicht einkalkuliert?

»Wir wissen nicht, ob es ein Zufall war. Zweifellos eine interessante Option.«

Karim konnte sich dieser Logik nicht entziehen. Er hatte aber seine Zweifel.

»Wie war das noch mal mit Deinem Zitat?«

»Das wäre ein perfider, aber auch riskanter Plan gewesen. Aber sag mal, wie ist sie denn in die Falle reingeraten.«

»Ja ich hatte ihr ja einen Tipp gegeben und ihr den Namen eines Biologen an der Uni gegeben. Nach dem Treffen fuhr sie nach Hause und kam in ihre völlig verwüstete Wohnung. Komplett zerlegt. Ihr ist nichts passiert. Sie zog dann in den Breidenbacher Hof. Sie schrieb mir lange eine Nachricht und bezeichnete mich als einen gottverdammten Verräter. Sie schwor Rache.«

»Das hattest Du mir noch gar nicht erzählt.«

»Der Typ war offensichtlich gefakt. Geht alles: Telefonnummer, Homepage der Uni, und was weiß ich. Er muss sich bei den Biologen eingeschlichen haben. Ausweise sind kein Thema. Da hat er wahrscheinlich Forschungsergebnisse geklaut und in dem alten Gebäude einen Fuchsbau eingerichtet.«

»Und wie hat Ariel von dem erfahren. Kannte sie auch einen Hausmeister?«

»Vielleicht habe ich sie unabsichtlich auf die Spur gebracht«, räumte Karim ein.

Johannes wurde neugierig: »Wie das?«

»Die sind alle erst vor einiger Zeit umgezogen und waren früher in einem alten Gebäude untergebracht. Das hatten wir besprochen. Sie muss geahnt haben, dass dieser ‚Mensch‘ dort zu finden war. Vielleicht hat sie ja vorher auch selbst etwas rausgekriegt.«

So ganz falsch war die Annahme nicht. Auf der Homepage waren einige Institute noch mit den alten Gebäudenummern angegeben. Die des ermordeten Professors auch.

Unbemerkt und völlig lautlos stand Alice hüllenlos, makellos und braungebrannt mit frisch geföhnten schwarzen Haaren in der Tür zum Arbeitszimmer. Sie lächelte leicht belustigt und dehnte sich mit geradem Rücken, in dem sie einen Fuß mit einer Hand griff und an den Po drücken, sodass die Ferse ihn berührt. Dann wechselte sie die Stellung. Sie ging leicht in die Grätschstellung, um mit dem rechten Bein einen seitlichen Ausfallschritt machen, sodass das Knie ein ziemlich genau über dem Fußgelenk stand. Das Joey mit Karim per Video chattete, konnte sie nicht sehen.

Auf seinem Notebook sah Johannes, wie Karim völlig erschrocken seine Augen mit seinen Händen verdeckte. Und bevor Johannes verstand, warum er das machte, zeigte er mit seinem Zeigefinger nach vorne.

Johannes drehte sich um und sah Alice. Sie verblieb in ihrer Stellung. Sie federte noch mehrmals mit auf ihrem rechten Bein. Ihre linke Brust und ihr amüsierter Blick waren geometrisch genau auf den so Überraschten gerichtet. Sie stand da, wie eine modere Version des Bildes ‚Die Wahrheit‘ von Lefebvre nur eben aus einem Fitnessstudio.

Er klappte vor lauter Schreck sein Notebook zusammen.

»Ich habe Hunger!!!«

Den hatte er auch. Und noch mehr.

»Gerne Lizzie …«

Er entledigte sich seines Morgenrocks, bekam einen anerkennenden Blick von ihr, umarmte sie und ging Hand in Hand mit ihm statt in die Küche ins Schlafzimmer …

… »Der Kaffee ist fertig, hörte sie seine Stimme. Den Tisch hatte er reichhaltig gedeckt. Er wusste genau, was seine Lizzie mochte. Mit seiner neuen App war er Weltmeister im Eierkochen.

Niemand konnte auf die Terrasse ihres Gartens schauen. Splitternackt genossen sie ihr himmlisches Frühstück in ihrem Paradies …

Als Johannes sich dann doch ganz unparadiesisch seine Frühstückszigarrette anzündete, wurde Alice etwas ernster. Sie musterte ihn in der Art, die ihn immer zum Reden brachte.

Mit einem kleinen Hüsteln, das nichts Gutes versprach, begann er seine Erzählung.

Ihre Mimik reichte von Erstaunen, Ungläubigkeit, Entsetzen bis Panik.

»Es tut mir leid um Bi aber auch für ihre Familie. Aber Joey, das kann nicht Dein Ernst. Das kannst Du uns nicht antun.«

»Ich weiß. Das habe ich auch nicht vor.«

»Genau. Und wie war das im letzten Jahr? Die Hölle war das für uns.«

»Du hast völlig recht. Aber für mich war das nicht die Hölle? Aber wir haben es hingekriegt«, antwortete stolz.

»Nur wie. Dafür ist doch eigentlich die Polizei zuständig.«

»War sie doch. Oder waren Bi und Ashkan und wie die alle heißen das nicht? Ich habe ihr ein bisschen geholfen.«

»Blödmann. So kann man das natürlich auch nennen.«

»Die Gefahr war aber doch real. Stell Dir vor, was passiert wäre …«

»Ja mein Held und Weltenretter. Ich bin unheimlich stolz auf Dich«, patzte sie wütend zurück.

»Und wenn es diesmal um mehr geht.«

»Um mehr …«, kommentierte sie sarkastisch.

»Da experimentieren irgendwelche Irren mit Krankheiten und was weiß ich. Und außerdem bin ich sicher, dass Schumann uns ständig in Beobachtung hat …«

»Dein Joker, ich bin begeistert.«

»Ich sag es noch mal. Das was gerade passiert, ist kein Spaß!«

»Das musst Du wissen. Aber Gnade Dir Gott, Du machst einen Fehler.«

»Mach ich schon nicht.«

»Ach so, ich muss Lyssa abholen. Und vergiss nicht, ich hab Dich sehr lieb.«

Er hoffte im Stillen, dass das so war und das das auch der einzige wirkliche Grund war für seine Entscheidung, die er längst getroffen hatte, einen anderen Grund konnte er sich selbst nicht vorstellen … den Rest verdrängte er …«

Das war auch gut so, denn das Ausmaß der Gefahr, die sich anbahnte, war auch nicht zu unterschätzen.

Ashkan und Julia wurden im neuen Gebäude der Biologen empfangen. Der Steinkeil von Mack war mit rotweißem Sperrband gesichert. Bevor sie den Aufzug erreichten, zeigte Ashkan Julia stolz sein Werk. Sah eigentlich nicht übel aus, redete er sich ein. Aber er hatte auch nicht den Blick für sowas, wie der Künstler.

In einem Konferenzraum wurden sie vom Rektor der Universität Prof König, der Kanzlerin Dr. Curtius, den Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät Professor Paschen, sowie der Pressesprecherin Dr. van Kampen M.A. empfangen.

Professor König war eine imposante Erscheinung. Er war jene Mischung aus gemütlich und unberechenbar cholerisch, was manchmal zur Vorsicht mahnte. Er war bekannt dafür, dass er die Hochschule nach außen mit viel Geschick vertrat und sein Gespür für Marketing passte zu seiner Eitelkeit, was an sich ja kein Fehler in dieser Position war. Wenn er in Fahrt war, konnte er äußerst witzig und charmant sein. Aber heute war er angesichts der Situation eher sehr beherrscht.

Steif eröffnet der das Gespräch: »Ich gehe davon aus, Sie sind auf dem gleichen Informationsstand wie wir.« Er wandte seinen Blick zu Pressesprecherin.

Seine Pressesprecherin sah etwas überarbeitet aus. Sie konnte ihren Workoholismus kaum verbergen und verschanzte sich hinter ihrem iPad.

»Ja«, antwortete Julia knapp und dachte sich: »Nein, wir wissen hoffentlich mehr. Die können vielleicht forschen, aber wir ermitteln.«

»Hier ist es im Augenblick alles etwas provisorisch. Aber ich hoffe, sie können den Mord an Professor Krappmann schnell aufklären. Wir sind alle zutiefst erschüttert. Er war eine absolute Koryphäe auf seinem Gebiet. Völlig unersetzbar, zudem ein persönlicher Freund des Stifterehepaares. Professor Krappman wäre bestimmt ein Anwärter für einen Nobelpreis. Den dritten, den wir dann hätten nach Professor Forstmann und Professor Derra, den beiden Medizinern.

Alle Anwesenden nickten, obwohl sie nicht wirklich glaubten, dass diese Uni wieder einen Nobelpreisträger hervorbringen würde.

»Wir haben als Hochschule vor kurzem in der Exzellenz-Initiative eine Auszeichnung bekommen und es geht um sehr hohe Forschungsetats. Ich hoffe, Sie verstehen, worum es hier geht. Damit kein falscher Verdacht aufkommt. Der hochverehrte Professor würde das nicht anders sehen.«

Ein solcher Verdacht lag Julia und Ashkan völlig fern deshalb nickten sie auch verständnisvoll.

»Was uns aber noch interessiert sind die Vorkommnisse in dem anderen Gebäude, in dem sie früher untergebracht waren, Herr Paschen. Was wissen sie darüber. Das haben wir jedenfalls schon ermittelt.«, fragte Julia deshalb.

Der Dekan schaute über seine Lesebrille. Vom Typ her war er eher etwas hager und durch und durch Wissenschaftler.

»Ehrlich gesagt ist das mir ein völliges Rätsel. Nein, ich habe überhaupt keinen Plan. Mir fällt keine Hypothese dazu ein. Dazu fehlen mir einfach noch valide Daten.«

»Und sagt Ihnen der Name Dr. Feldmann etwas? Leider haben wir keinen Vornamen?«, bohrte Ashkan nach, um endlich weiterzukommen.

»Nein, der ist uns völlig unbekannt. Wir kennen keinen Dr. Feldmann«, antwortete die Kanzlerin Dr. Curtius empört. Die Kanzlerin hatte die Organisation der Uni ganz gut im Griff, war aber auch als Intrigantin bekannt und deshalb war sie schwer einzuschätzen. Ihre eiserne Mimik verriet wenig.

»Können Sie uns denn sagen, an was Herr Professor Krappmann geforscht hat?«

»Nein, das können wir nicht. Jedenfalls nicht so ohne Weiteres«, wandte Professor Paschen ein und erklärte seine Gründe: »Forschung und Lehre sind vom Grundgesetz geschützt. Sie fallen nicht unter Verwaltungshandeln und damit auch nicht unter die Auskunftspflicht.«

»Ach ja? Hier handelt es sich aber um einen Mordfall!«, hakte Julia nach.

»Frau Hoffman, niemand ist mehr an dessen Aufklärung interessiert als wir. Ich bin schließlich auch für die Sicherheit des Personals dieser Hochschule verantwortlich. Aber bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir erst juristisch klären müssen, zu was wir verpflichtet sind. Im Übrigen sind Ihre Beamten ja schon im Haus und untersuchen den Tatort«, gab der Rektor zu verstehen und ergänzte:

»Wir wollen Ihre Arbeit jederzeit unterstützen, wir müssen uns aber auch an Recht und Gesetz halten. Ich vermute, Sie brauchen einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, dem wir uns beugen werden, wenn er hinreichend begründet ist.«

Julia war sich bewusst, dass das nicht anders laufen würde und blickte Ashkan an. Er erkannte ihre Botschaft: »Wenn nicht so, dann durch die Hintertür.«

»Frau Hoffmann, Herr Horri, danke für Ihren Besuch. Wir werden alles unternehmen, was im Sinne einer ‚Beamtenhilfe‘ notwendig ist.

Seine Mimik war anzusehen, dass ihm das Wort ‚Beamtenhilfe‘ mit einem Anflug an Verächtlichkeit über die Lippen kam.

Im Grunde konnte er aber auch nicht anders, denn der Ruf einer Hochschule wurde durch solche Ereignisse besser. Und vielleicht zog das auch noch andere ‚Interessenten‘ an.

Vor dem Gebäude standen zwei Bäume in zwei großen und bepflanzten Betonringen, die zum Sitzen einluden.

»Was hältst Du von dem Gespräch«, wollte Julia wissen.

»Hast Du was anders erwartet?«

»Nö!«

»Kennst Du eine Abkürzung?«

»Das sollten wir doch mal Schumann überlassen.«

Nach dieser Pflichtveranstaltung fuhren sie zurück ins Präsidium in der Gewissheit, dass ihrem Chef schon das Richtige einfallen würde.

Johannes schrieb eine Whatsapp-Nachricht:

»Hallo Alex,

wir wollten uns doch diese Woche mal wieder treffen.

Kann ich Dich zum Mittagessen in den Malkasten einladen.

Wir haben uns ne Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Liebe Grüße

Johannes.«

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Hallo Johannes,

gute Idee!

Malkasten klingt super bei dem Wetter.

Ich hoffe, Du hast ne geile Story.

Wann?

Herzliche Grüße

Alex«

»Perfekt.

Sagen wir 13 Uhr.

Ich reserviere einen Tisch auf der Terrasse.

Lass Dich überraschen.

Bis gleich!

Johannes«

»Bin gespannt!«

Johannes hatte Glück, direkt vor den Malkasten parkte er seinen grünen Jaguar. Vorbei an der in blaues Licht getauchte Bar und ging zielstrebig durch das Restaurant auf die Terrasse, zu dem Tisch, den ihm der Kellner zuwies. Er bestellte sich einen Kaffee und einen Ascher. Das ‚Lido‘ im Malkasten ist trotz der guten Lage in der Nähe des Hofgartens immer noch ein Geheimtipp. Das Restaurant im Malkasten hat schon viele Besitzer gesehen. Der Jetzige ist wohl der Schillerndste. Er ist eigentlich Techniker und stellt Autoteile für Sportwagen her. Das Restaurant – sein drittes neben den beiden ‚Lido’s‘ im Hafen – betreibt er – so lautet die Story darüber - wegen seiner Mutter, die seit mehr als einem halben Jahrhundert Jahren fast jeden Tag in ihrem Eiscafé als netteste Oma von Kaiserswerth steht. Ihr Sohn hatte ihr einst versprochen, zumindest den Namen des Cafés – Lido – weitertragen zu wollen.

Eigens für das Lido im Malkasten hat die weltbekannte Künstlerin der Kunstakademie in Düsseldorf, Rosemarie Trockel einen Teppich von imposanten 400 Quadratmetern Größe entworfen. Die Wände des Restaurants mit seinen bunten Stühlen zierten zahlreiche Bilder in einem an die Petersburger Hängung erinnernden geordneten Chaos.

Das alles beachtete Johannes nicht. Er entspannte sich mit der Aussicht in den Malkastenpark, der vor Jahren durch den Sturm Ela zu großen Teilen zerstört worden. Selbst Gebäude waren durch den Sturm schwer beschädigt worden. Und schon damals redete man vom Klimawandel. Der Gesamtverlust an Bäumen betrug damals über 30 Tausend.

Das Herzstück der Anlage ist eine zentrale barocke Achse mit Allee, Venusteich mit seiner Wasserfontäne und eine Tiefe, die man in der Innenstadt kaum vermutet. Obwohl Fontaine in der Stille des Parks kaum zu hören war, empfand er das Wasser immer wieder, wenn er hier war, als beruhigend und erfühlte sich fern ab jeder Hektik.

Eine Hand klopft ihm auf die Schulter und riss ihn aus seiner melancholischen Kontemplation.

»Hallo Johannes!«

»Hallo Alex, ich grüße Dich. Gut siehst Du aus.«

Alex sah stets seriös und verbindlich aus, ohne aufgesetzt zu wirken. Er war mittelgroß, braungebrannt und eher etwas hager. Er wirkte jugendlich durch sein volles blondes Haar und seine strahlenden blauen Augen. Seine Mundwinkel waren auf den zweiten Blick bei aller Jovialität aber nicht ohne Sarkasmus. Der Beruf hatte sich in ein Gesicht eingeschnitten. Er konnte aber immer noch – wie ein großer Junge – entwaffnend charmant lachen.

»Wenn ich Dich so sehe, geht es Dir aber auch nicht schlecht.«

Was möchtest Du trinken?«

»Du trinkst doch Kaffee, ich bin zu Fuß. Ich fange mit einem Hugo an.«

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Wie geht es Dir?«

»Durchschnittlich. Schlechter als letztes Jahr und besser als Nächstes«, musste er selber über einen alten DDR-Witz lachen.

»Aber im Ernst. Mein Job ist viel schwieriger geworden. Wer liest noch regelmäßig Zeitung? Die Redaktionen sind zusammengestrichen worden. Hättest Du Dir früher vorstellen können, dass im SPIEGEL dieselben Nachrichten stehen wie in der FAZ? Die Onlineausgaben kümmern vor sich hin. Ich glaube, die jungen Menschen heute kennen uns schon gar nicht mehr.«

»Du übertreibst. Meine Tochter schon.«

»Meine Kinder natürlich auch. Du weißt ja, wie das war, als die DAZ einen großen Teil ihrer Redakteure gefeuert hat. Gut ich habe es überlebt. Du hast mir ja auch durch Deine Kontakte bei TARGET geholfen. Ich bin jetzt seit einiger Zeit freischaffend wie Du. Das war alles andere als ein Zuckerschlecken. Aber inzwischen habe ich es geschafft. Finanziell geht es mir sogar besser. Aber um doppelt so viel zu haben, muss ich viermal so viel tun. Kannst Du Dir ja ausrechnen, das sind 32 Stunden …«

Danach sah Alexander Gaertner nun wirklich nicht aus. Johannes wusste, womit Alex sein Geschäft machte. Mit Storys. Um im Geschäft erfolgreich zu sein, brauchte man eine Story. Und das hatte er drauf. Sein Spezialgebiet und Steckenpferd war der Investigationsjournalismus. Er war gefürchtet in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. So sehr, dass er letztes Jahr den ‚großen Waffenschein‘ erworben hatte. Johannes wusste, dass seine Ehe vor Jahren gescheitert war, weil seiner Frau sein Leben unerträglich geworden war. Seine Kinder waren aber schon groß.

»Wie geht’s den Deinen?«, fragte er ihn, wohl wissend, dass er noch eine ‚freundschaftliche‘ Beziehung zu seiner Ex hatte.

»Da hat sich nicht viel seit unserem längsten Treffen geändert. Carolin lebt immer noch in Köln und die Zwillinge haben sich prächtig entwickelt. Lisa-Marie jetzt in einer ganz bekannten Architekturfirma beschäftigt und erklärt mir bei jedem Spaziergang, was die alles in Düsseldorf gemacht haben und noch planen. Ich bin begeistert von ihren Stadtführungen. Und Maximilian. Du weißt ja, der hat auch was ‚Anständiges‘ studiert. Er arbeitet als Ingenieur bei Mercedes in Düsseldorf. Aber da mach ich mir doch ein bisschen Sorgen. Ich weiß nicht, was in der Automobilindustrie noch passieren kann. Er promoviert aber gerade in Aachen … Was war noch mal das Thema? Ach so: Autonomes Fahren von LKWs, Bussen und so weiter.«

»Das hat bestimmt Zukunft.«

»Das denke ich auch. Aber lass uns doch mal was bestellen.«

Sie entschieden sich beide für ein neues Gericht auf der Karte: Saltimbocca vom Kalbsrücken mit Pancetta, Salbei, Rübstiel und Gnocchi. Dazu wählten sie einen weißen Luganer aus der Lombardei.

»Und wie sieht es bei Dir aus?»

Ich bin eigentlich sehr zufrieden. In der Schule von Alice läufst, obwohl es immer mehr Spinner gibt. Es macht ihr aber immer noch großen Spaß. Und Larissa macht dieses Jahr ihr Abi.«

»Was will sie danach machen.«

»Puh. Das ist noch nicht ganz klar. Auf jeden Fall was mit nachhaltigem Management und Corporate Social Responsibility. Sie ist auch bei den ‚Grünen‘ engagiert und in einem Ethiknetzwerk der Wirtschaft. Wir finden das gut. Wenn ich so alt wäre, wie sie, könnte ich mir das auch vorstellen.«

»Müsst Ihr jetzt vegan essen?«

»Ne, da unterschätzt Du sie. Sie sieht schon, dass, dass das alles eine viel größere Nummer wird.«

»Ganz der Vater.«

»Da bin ich bescheiden. Mutter und Vater.«

»Und sonst?«

»Der demographische Wandel erschlägt uns. TARGET ging es noch nie so gut. Wir kommen kaum nach und haben sehr viele neue Mitarbeiter. Über mangelnde Arbeit kann ich mich nicht beklagen.«

Sie unterhielten sich noch über dies und das, denn das Essen sollte schmecken und es hielt, was es versprach. Alex beendete den Small Talk: »Du hast ne Story für mich?«

»Erst mal einen Espresso.«

»Da bin ich dabei. Danke.»

»Also …«

Johannes erzählte ihm alles, was er wusste. Er musste sich ein paar bissige Bemerkungen wegen seiner ‚Freundinnen ‘Bi‘ und ‚Ariel‘ gefallen lassen.

»Diese ‚Ariel‘ gefällt Dir?«

Sein provokantes Dementi war für Alex überraschend: »Ja.«

»Und was sagt Alice dazu?«

Johannes musste auf diese Frage hin schallend lachen.

Alex gegenüber wollte er sich nicht für die üblichen schmutzige Klischees rechtfertigen. Er wollte aber auch nicht dessen derzeitigen Beziehungsprobleme hochkochen lassen.

»Sorry, natürlich ist das eine hochattraktive und sehr mutige Frau. Keine Frage. Sie ist aber auch eine Killerin. Aber sie hat Bi und mir damals den Arsch gerettet. Also jetzt nicht direkt persönlich, aber sie hat damals den Hauptschurken ausgeschaltet. Ich möchte mich einfach revanchieren, wenn Du mich schon nach den persönlichen Motiven fragst.«

»Frauenversteher.«

»Noch nie was von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau am Arbeitsplatz gehört?«

Er wollte das nicht vertiefen, weil Alex ihn nicht wirklich verstehen konnte oder wollte, was in seiner Situation auch nicht ganz unverständlich war.

»Also zurück zum Thema. Die Hintergrundstory, die wir Dir im letzten Jahr mit unserem Abenteuer mit den K.I.-Programmen geliefert haben …«

»… war ein großes Ding. Da hättest Du eigentlich Provision für bekommen müssen, und die wäre nicht schlecht gewesen. Aber jetzt hast Du ne neue Story für mich.»

»Nein, so leider nicht.«

»Du enttäuschst mich.«

«Lass uns erst mal den Espresso genießen.«

Sie steckten sich beide eine Zigarette an.

»Du hast keine Story?«

»Ich möchte, dass Du mir eine lieferst. Dann hast Du eine. Und die wird nicht schlecht sein.«

»Klingt witzig. Aber kannst Du das mal erklären?«

»Ganz einfach. Wir …«

»Ariel – so hieß die doch – und Du …«

»… wollen herausfinden, was hinter der ganzen Geschichte dahintersteckt.«

»Aha.«

»Damit wir …«

»Was?«

»… herausfinden, welche Schweinerei da läuft. Und dann hast Du Deine Story.«

»Aber ihr habt da doch Euer Genie. Wie nannte der sich nochmal? ‚Homerisches Gelächter‘? Der hatte doch dieses Programm entwickelt, mit der zwei Terrororganisationen die Welt in den Abgrund stürzen wollten. Kann der Euch nicht helfen?«

»Vielleicht. Aber bisher ist alles ja ganz anders gekommen. Ich muss mehr wissen.«

»Du hast ja gesagt, jetzt geht es um Biologie, Medizin und was ich. Das sind Gefahren, die alles Bisherige in den Schatten stellen werden. Künstliche Intelligenz und der ganze Datenschutz interessieren ja eh keine Sau. Da sieht nach einer coolen Story aus. Was soll ich also herausfinden?«

»Wie wäre es mit Details aus der Uni.«

»Das bringt cashmäßig wenig. Aber weil Du es bist.«

»Das ist doch erst der Zipfel des Tischtuchs. Dahinter verbirgt sich was Gigantisches.«

»Deine Worte in Gottes Ohr. Ganz überzeugt bin ich nicht. Aber ich lass mal meine Finger spielen.«

»Danke Alex.«

»Was ist mit Spesen?«

Johannes überhörte die Frage einfach. Er wusste: Alex war von Natur her ein Skeptiker. Er war es auch gewohnt, Storys angeboten zu bekommen, obwohl er eher dafür bekannt war, anderen heiße Storys vor der Nase wegzuschnappen. Deshalb wertete er seine Aussage als vollen Erfolg.

»Gut, ich mach’s. Deine letzte Story war ja auch für mich ein riesen Geschäft. Ach so. Und noch was. Wir sollten in Zukunft unsere Whatsapp-Nachrichten doppelt verschlüsseln. Ist zwar auch nicht sicher. Aber angeblich soll selbst die NSA da nicht drankommen. Ach so, das ist eine meine nächsten Storys.«

»Ja danke noch für Deine Einladung, es war wirklich – wie immer - sehr schön mit Dir. Grüß Alice herzlich von mir. Du hörst von mir.«

»Danke, dass Du gekommen bist. Und ich bin ganz heiß drauf. Mach’s gut alter Freund.«

An diesem Morgen hatte Johannes einen Termin in der Wildenbruchstraße bei seiner Firma TARGET. Er war dort seit vielen Jahren als Managing Director – also als Gesellschafter – tätig.

Der Personalberatung gehörte ein sehr gediegenes denkmalgeschütztes Stadthaus. Die Fassade hob sich in einer Farbe zwischen Hellelfenbein und Zinkgelb von denen aus Backstein rechts und links ab. Er mochte das Haus wegen seiner schlichten Architektur. Die schlanken Säulen am Eingangsbereich trugen einen Balkon, auf dem vier Buchsbäume wuchsen. Die Balkonmauer zierte außen ein ovales Relief mit floralen Motiven. Viele Gespräch mit Firmen oder Kandidatinnen und Kandidaten hatte er dort schon geführt. Er hatte Glück und konnte zwischen den alten Bäumen, die die Straße säumten, direkt vor der Eingangstür parken. Ein bisschen nervös war er schon, denn der Grund war sein neuer ‚Auftrag‘, den er von Ariel übernehmen sollte. Er hatte selber darum gebeten. Natürlich hatte er kurz erklärt, worum es gehen würde. Er hasste selber Gespräche, bei denen er nicht schon im Voraus die Agenda kannte.

Als Johannes im Büro auftauchte, wurde er schon empfangen.

»Hallo Frau Leonhardt, guten Morgen, ist Herr Heitkamp schon da?«

»Hallo Herr Dr. Schwarz, ja, seit ein paar Minuten. Er telefoniert noch mit einem Kunden. Aber es ist ja noch nicht neun Uhr. Ich habe ihn schon versorgt. Er ist im Raum K 12. Sie können schon mal reingehen. Soll ich Ihnen - wie immer – einen Kaffee bringen?«

»Sehr gerne, Danke schön.«

Der Konferenzraum war vor einiger Zeit neu möbliert worden und ließ ihn lichter erscheinen.

»Guten Morgen Herr Dr. Schwarz. Sie planen ein neues Abenteuer? Dann schießen Sie mal los!«, begrüßte Heitkamp ihn.

»Gerne, aber bitte keine Notizen. Man weiß heutzutage nie, wo die landen.«

Der Gründer und Gesellschafter von TARGET – Martin Heitkamp – hörte sehr konzentriert zu. Er musste keine Fragen stellen, denn Johannes war sehr präzise in seinen Ausführungen.

»Ich danke Ihnen erstmal dafür, dass Sie mich so detailliert in ihr Vertrauen gezogen haben. Darf ich das mal alles auf den Punkt bringen? Erst einmal und nochmal meinen vollen Respekt für ihr letztes ‚Abenteuer‘ im letzten Jahr. Sie haben uns damals keiner direkten Gefahr ausgesetzt. Wir haben aber auch am eigenen Leib mitbekommen, welche Gefahren uns wirklich gedroht hatten. Zweitens. Ich bin hier als Gründer immer noch der Senior unter den Partnern. Deshalb fühle ich mich allen, die hier arbeiten gegenüber verantwortlich. Zugegebenermaßen auch für meine Sicherheit. Und da sind wir schon bei: Drittens: Ich kann keine alleinige Entscheidung ohne die übrigen Gesellschafter treffen. Und seit unser Kollege Berghorst internationaler Vice President geworden ist, haben wir da auch ein Problem.«

TARGET war ein internationales Partnerunternehmen mit mehr als 90 Büros in über 50 Ländern global und gehörte zu den TOP 10 in der Welt. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie seine Wahl zeitgleich mit seinem Geburtstag im ORLANDO in München unter barocken Goldstuckdecken und Kristall-Leuchtern gefeiert hatten. Heitkamp ahnte, woran er dachte: »Ein guter Tipp von Ihnen.«

»Viertens möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es klingt hart. Sie sollten TARGET – natürlich nur für eine gewisse Zeit – verlassen. Sie werden ab diesem Zeitpunkt nicht mehr bei uns präsent sein. Für TARGET existieren Sie schlichtweg nicht mehr. Nicht als Gesellschafter, Berater, für unsere Kunden und so weiter. Ihren Verbleib kennen wir nicht. Die offizielle Lesart wird sein: Sie sind Privatier oder ‚Privatgelehrter‘.

Fünftens, was Sie jetzt machen, ist Ihre Sache, bitte respektieren Sie aber auch meine Position.«

Johannes hatte damit gerechnet, dass das jetzt kam. Er hätte, hätte Heitkamp ihn gefragt, den gleichen Vorschlag gemacht.

»Und jetzt zu uns. Im Grunde kann ich Ihnen nur glauben und vertrauen, was ich auch tue. Aber vielleicht hilft Ihnen mein Vorschlag sogar. Herr Dr. Schwarz, ich sehe Ihnen Ihre Anspannung an. Gehen wir auf den Balkon.«

Der Himmel war etwas diesig und grau. Aber immerhin gab es dort einen Aschenbecher. Gemeinsam trugen Sie ihr Kaffeegeschirr nach draußen.

Heitkamp rückte ein Stück näher an Johannes heran und sein Ton wurde leiser und subversiv: »Jetzt möchte ich ihnen aber auch noch ganz offen was sagen. Sie sind sehr mutig. Das nötigt mir als ehemaliger Marineoffizier und Kapitän einer Fregatte höchsten Respekt ab. Dass es Bedrohungen geben kann, die wir in dieser Dimension nur ahnen können, haben wir – wie erwähnt – schon hautnah erlebt. Ich finde es gut, dass Sie genug Zivilcourage haben, gegen so was anzukämpfen.«

Letzteres ging ihm dann doch nicht ohne Ironie über die Lippen: »Ich bin gespannt, wie Sie sich mit dieser Ariel schlagen.«

Johannes steckte das weg, hatte sich aber nichts mehr gewünscht als das, was dann kam.

»Sie sollten nicht denken, dass ich Sie im Stich lasse. Deshalb schlage ich Ihnen noch Folgendes vor:

»Erstens: Ihr ‚Exodus‘ geschieht nur auf Zeit …«

Johannes hatte kein Problem damit. Er hatte das gehofft.

Düster fuhr Heitkamp fort: » … und nicht für ewig. Ich hoffe natürlich auch, dass wir die Gefahr, von der Sie sprachen, unbeschadet überstehen. Wobei mir immer noch nicht klar ist, warum Sie auserkoren sind, die Welt zu retten. Das könnte mich natürlich auf Gedanken bringen. Sie sagten aber, dass Sie darauf vertrauen, dass dieser …«

»Schumann ….«

»… Genau im Hintergrund einen Schutzschirm für Sie organisieren wird.«

»Ja. Ich habe nicht vor, das ohne Netz und doppelten Boden zu machen. Ich muss auch an meine Frau und meine Tochter denken.«

Sie sparten sich die üblichen Artigkeiten zu dem Thema und Heitkamp fuhr fort.

»Nun noch zum Geschäftlichen. Ich möchte Sie natürlich zwischenzeitlich absichern. Ihre Kunden werde ich bei Laune halten. Ich werde Sie persönlich vertreten, das kommt gut an. Ich muss mir nur einfallen lassen, wie wir das mit den Provisionen für Sie machen. Ich sag mal so. Ich werde Sie ganz ordnungsgemäß in Rechnung stellen und wenn Sie wieder bei uns sind, kriegen Sie die von mir dann wieder. Ja nicht ganz. Ich denke, es ist kein Problem für Sie, die Zeit finanziell zu überbrücken. Wir haben auch noch weltweit ein paar Banken für den Notfall. Das ist mein Beitrag, den ich für Sie leisten kann.«

Johannes quittierte seine Komplizenschaft mit einem Lächeln.

»Spannend fand ich noch Ihren Bericht über die ‚Toten Briefkästen‘. Vielleicht sollten wir so was auch einrichten. Analog natürlich. Ich kenne noch einen pensionierten Offizier das Militärischen Abschirmdienstes, der gegen die damalige DDR eingesetzt war.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Unterstützung.«

»Denn gehen Sie ans Werk und räumen Sie ihr Büro und packen Sie Ihre Sachen. Lassen Sie bitte auch ihren Dienstrechner hier. Bitte sorgen Sie dafür, dass auf Ihren Geräten auch alle Daten gelöscht sind. Wir geben ihn natürlich an unser Serviceunternehmen. Aber sicher ist sicher. Ich denke, Sie wissen, wie das geht. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und drücke Ihnen die Daumen.«

Innerlich war Johannes dankbar. Beim Packen seiner Sachen erwischten ihn aber schon sehr mulmige Gefühle – an Lizzie nicht zu denken als er ihr Foto und das von seiner Tochter, Lyssa, vom Schreibtisch nahm …

Johannes fuhr nachdenklich nach Hause. So ganz wohl war ihm nicht. Er schaltete die Musik in seinem Auto ab. Er bauchte Ruhe, denn so ganz konnte er nicht abschätzen, worauf er sich eingelassen hatte. Welche Dimensionen das einnehmen würde, konnte er ja auch nicht wissen und da war auch besser so. Und dennoch musste er sich – so seine innere Stimme – darauf einlassen. Wenigstens das war richtig, denn er steckte tiefer drin, als er glaubte. Aber hätte er anders entschieden, wenn er das alles schon gewusst hätte. Sein Blick wurde trotzig. Renitent machte er sein Radio an. Es lief ‚Prayer in C‘. Eigentlich ein perfider Song über das Ende der Welt, in der Kinder verhungern und die Menschheit sich selbst ausrottet und die Kinder Gott nicht vergeben. Ein Abgesang auf die Welt, wie sie existiert als Party. Er drehte die Lautstärke hoch. Würde man ihm vergeben?

Als er die Haustür aufmachte, hörte er Lyssa auf der ersten Etage: »Weg damit, das braucht kein Mensch! Wofür brauch ich diesen ganzen Scheiß?«

Neugierig ging Johannes die Treppe hoch und sah, dass Lyssa ihre Kleidung in den Flur warf.

»Eh, Lyssa, was machst Du denn hier?«

Lyssa steckte lachend den Kopf aus der Tür: »Ausmisten!«

»Ausmisten?«

»Ja, weg mit dem Scheiß!«

»Muss ich das verstehen?«

»Nö. Tust Du sowieso nicht.«

»Aha.«

Johannes stapfte durch die Berge an Kleidung und erreichte ihr Zimmer. Es sah wüst aus. Der komplette Inhalt ihres Kleiderschranks lag auf dem Boden. Und mittendrin eine fröhliche Lyssa.

»Was hast Du vor?«

Lyssa wusste, dass ihr Vater eine Neugier an den Tag legen konnte, die fast unheimlich war, weil man sich ihr nicht entziehen kann.

»Hast Du ne Kippe für mich?«

»Eigentlich nicht. Und wenn nur auf der Terrasse. Soll ich Dir nen Kaffee machen?«

»Äh. Eigentlich nicht. Ka doch. Aber Kaffee und Zigarette, klingt nicht schlecht.«

»Mach ich Dir.«

Johannes wusste aus Erfahrung, dass man in manchen Situationen erst einmal Zeit brauchte, um sich vorzubereiten. Wie hieß das in der Sprache der Profis? Ergebnisoffen. Das war aber auch seine Stärke und entsprach auch seiner inneren Einstellung, in das Staunen einen wichtigen Platz einnahm. Lyssa vertraute ihrem ‚Papa‘, obwohl ihr auch nach einer Zigarette vor lauter Aufregung war, denn sie kannte auch seinen geduldigen Blick, der jeden wehrlos machte.

Mutig und mit einer ‚Müpfigkeit‘, von der sie wusste, dass sie ihren Vater wehrlos macht, begann sie: »Die Welt ist aus den Fugen. Jeder redet von der Klimakatastrophe, nur keiner macht was dagegen.«

Johannes stimmte ihr zu und sie fuhr fort: »Wir haben an der Uni ein Projekt, in dem wir überprüfen sollen, was wir überhaupt zum Leben brauchen. Und dann habe ich mir mein Zimmer und meinen Kleiderschrank angeschaut.«

Johannes verkniff sich den Satz: »Wenig ist das nicht. Und was ist im nächsten Semester, wenn sich die Gruppe wieder auflöst?«

»Ich will meinen Konsum reduzieren.«

»Gut?«

»Brauche ich wirklich so viel? Und definieren wir uns über Labels?«

Johannes konnte ihr da nicht widersprechen.

»Und was ist dein Ziel?«

»Ich will diesen ganzen Scheiß nicht mehr, ich will herausfinden, mit wie wenig ich auskommen kann. Brauch ich zwanzig Jeans? Ich will das alles nicht mehr. Meine Freundinnen gehen mir zum Teil auf die Nerven mit ihrem Modewahn.«

»Ich dachte …«

»Nicht alle.«

»Gott sei Dank. Aber … hm … Deine Sachen sind doch noch fast alle wie neu und Du hast sie doch geliebt. Wir waren doch auch stolz auf Deinen Geschmack. Und wir haben Dir die Sachen auch sehr gerne gekauft und uns gefreut.«

»Ich brauche sie aber nicht mehr und ich will sie auch nicht mehr. Ich werde ab jetzt asketisch leben.«

»Sollen wir das nicht …?«

»… mit Mama besprechen? Nö. Ich hab mich entschieden und zieh das durch.«

»Okay. Und Du bist konsequent?«

»Da müsstest Du doch wissen, Papa!«

Johannes wusste, dass sie das war.

»Und noch was Papa. Ab jetzt esse ich vegan.«

Das fand Johannes nicht so toll und man konnte ihm den verzweifelten Blick ansehen. Welche Kröten musste er noch schlucken?

»Na ja, zu Weihnachten und Euren Geburtstagen bin ich flexi.«

»Immerhin.«

»Mensch Papa, denkst Du denn nicht, dass wir was tun müssen.«

»Doch!«

»Dann schaff doch Deinen protzigen Jaguar ab.«

»Äh. Den brauche ich doch.«

»Nö. Brauchst Du nicht.«

»Kauf Dir zumindest ein Elektroauto.«

»Sieh mal …«

Lyssas Gesicht bekam sehr starke Zornesfalten.

»… wenn ich das mache, ist der Wagen ja nicht aus der Welt. Den kauft dann jemand und fährt damit munter weiter. Vielleicht mehr als ich. Außerdem fahre ich immer weniger. Meine Kollegen beneiden mich, dass ich nicht ständig im Auto sitze. Wir wollen in unserer Firma übrigens dafür sorgen, dass wir nur noch regionale Kunden akquirieren und über dreißig Prozent weniger fahren. Wenn ich an früher denke, fahre ich nur noch die Hälfte.«

»Du kannst ihn doch verschrotten.«

»Verschrotten?« Johannes schluckte.

»Und wie viel fährst Du mit öffentlichen Verkehrsmitteln? Oder Ihr teilt Euch die Autos?«

»Das macht keinen Spaß.«

»Keinen Spaß. Es geht um unser Überleben und Du willst Spaß?«

»Wenn ich den verschrotte, macht das auch keinen Sinn, denn bei der Herstellung wird auch die Umwelt belastet. Aber ich weiß nicht, ob das sich rechnet. Und mit dem Teilen. Damit fahren wir keine Kilometer weniger.«

»Rabulistik!«

»Ich wollte nicht spitzfindig werden.«

»Aber diesen Scheiß kenne ich doch nur von den sogenannten ‚Experten‘. Und ihr macht gar nichts.«

»Doch. Was wir machen können, machen wir. Wir haben seit zwei Jahren Ökostrom. Und für nächstes Jahr plane ich eine umweltfreundliche Heizung. Dann ist Dein geliebter Kamin wegen Feinstaub aber auch weg.«

Johannes sinnierte dann noch laut: »Ich glaube wir werden in Zukunft weniger Ressourcen verbrauchen müssen. Aber wir können die stärker veredeln. Ich nenne mal ein Beispiel. Du kannst Dir in irgendeiner Pommesbude ne Tüte Pommes mit Mayo und Ketchup kaufen und das Zeug in Dich reinstopfen. Du kannst aber auch was ganz Tolles draus machen. Und weil Du es genießt, isst Du auch weniger davon, was manchen sicher gut bekäme.«

»Papa, hörst Du mir überhaupt zu? Du laberst wieder. Kannst Du mir helfen, meine Klamotten wegzubringen?«, antwortete Lyssa trotzig.

»In meinem Auto?«

»Du bist doof!«

»Ja und?«

»Verstehst Du mich überhaupt?«

»Ja.«

Das Blödeste, was er jetzt tun konnte, war ihr einen Vortrag dazu zu halten. Er wusste, dass die Umsetzung das Problem war. Und er wusste, dass Askese ein Schicksal der Kinder der Welt werden könnte. Vor allem wusste er aber, dass er eine tolle Tochter hatte. Er beschloss deshalb, nicht darüber nachzudenken, was er in ihrem Alter getan hätte. Er würde sie unterstützen, ohne sich anzubiedern. Die nötige Bärbeißigkeit dazu hatte er.

»Gut. Das geht aber nur unter einer Bedingung; nein zwei.«

»Du stellst mir Bedingungen? …«

»Ja. Erstens: Ehre das, was wir und andere Dir mit Liebe geschenkt haben.«

Lyssa lachte sich kaputt.

»Ich mach noch ein Johannes Schwarz Museum auf.«

»Na ja, Traditionen gehören doch ins Museum.«

»Scheiß Idee.«

»Vielleicht braucht man Andenken, wenn man sich von etwas verabschieden möchte?«

»Was ist das denn für ne bescheuerte Idee?«

»Och. Ich möchte mir nochmal mit Dir anschauen, was Du wegschmeißt. Vielleicht ist es besser, sich die V erluste bewusst zu machen.«

»Finde ich doof. Weg mit Schaden finde ich besser.«

»Gut«, entgegnete Johannes melancholisch.

»Hast Du noch so ne perverse Bedingung?«

»Ich hätte gerne ein Kochbuch für vegane Gerichte und Du hast in Zukunft mehr Küchendienst.«

»Papa, da gibt es doch ne App …«

Sie gingen gemeinsam in den Flur und erzählten sich dann doch die Geschichten der Kleidungsstücke, die jetzt auf dem Müllhaufen der Geschichte landen würden.

»Papa, weißt Du eigentlich, warum wir so viele antike Statuten heute in den Museen haben?«

»Ich höre.«

Irgendwann waren die Römer ihrer Zivilisation so überdrüssig, dass sie alles, was sie an Krempel auf ihren Fensterbänken hatten, in den Müll geschmissen haben.«

»Irre, das wusste ich nicht. Aber es kommt mir plausibel vor.«

Johannes schaute auf seine Fensterbank und erschrak ein wenig bei der Vorstellung, was denn in ferner Zukunft von der Gegenwart in Museen zu finden werden würde, wenn es eine solche denn dann noch gab.

»Gut Lyssa, machen wir weiter. Ich hole ein paar Wäschekörbe aus dem Keller.«

Sie warfen Teil für Teil in die Körbe und erzählten sich die Geschichten der einzelnen Teile.

»Das Top hattest Du doch auf dem Geburtstag Deiner besten Freundin an.«

»Fand sie aber gar nicht gut, weil ich mehr Komplimente bekam als sie.«

»Na ja, es war aber wirklich sehr schön. Das hast Du doch mit Deiner Mutter gekauft.«

»Ja. Sie hat mich etwas reingelegt. Sie fand die Eltern ziemlich scheiße und Deine Freundin mehr als oberflächlich.«

Sie machten weiter. Manche Teile hielt sich Lyssa vor ihren Körper und Johannes machte mit seinem Handy einige Fotos. Bei ihrem Teddy zögerte sie. Doch dann warf sie ihn entschlossen in einen Wäschekorb, nicht ohne das Johannes noch ein Foto davon gemacht hatte. Sie hatte ihn, als sie klein war, so geliebt und ständig hinter sich hergezogen. Er hieß Flocke.

»Die Bilder sind nur für mich und Deine Mutter. Mir fällt der Abschied schwerer.«

Lyssa ließ ihn gewähren. Und beide hatten einen Mordsspaß bei den alten Geschichten.

Unvermittelt schaute Lyssa auf ihre Uhr: »Oh sorry, ich muss los.«

»Wohin, wenn ich fragen darf?«

Was er natürlich nicht durfte.

Sie antwortete aber: »Ich bin mit meiner Gruppe verabredet. Wie bereiten ne Demo vor. Tschüss Paps!«

Bevor Johannes etwas sagen konnte, war sie schon verschwunden.

Johannes fand sich erstmal im Leben allein und verlassen. Er warf noch einem Blick auf ihre Sachen und ging runter ins Wohnzimmer. Es wirkte leb- und farblos. Die Wände waren stumm und er fremdelte beim Anblick der Möbel. Er ging in sein Arbeitszimmer. Der Holzschnitt von Baselitz mit einem schwarzweißen auf dem Kopf stehenden Antlitz irritierte ihn. Er hatte sich natürlich mit dem Künstler beschäftigt und wusste, durch das Auf-den-Kopf-Stellen, wurde der Bildgegenstand eigentümlich abstrakt. Man sollt sich unbeeinflusst vom Inhalt des Bildes nur auf das Gemalte konzentrieren. Das war dann aber nicht mehr interpretierbar. Man konnte es nur betrachten. Und davon ging auch der Reiz aus. Das hatte er stets goutiert.

Wie ein kleiner Junge nahm er das Bild in seinem Chromrahmen von der Wand und drehte es auf den …

… Kopf. Und was sah er jetzt? Ein Gesicht, das auf die Welt schaute und dessen Hände sein Gesicht ergriffen. Und was hinter dem Bild? Er drehte es um. Außer einer ziemlich profanen Spanplatte war da nichts. Das Bild vermittelt keine Weltanschauung, keine Emotionen und keine Visionen. Genau darin lag die Entlastung von den Anforderungen der heutigen Zeit.

Ein Madonnenbild, enthält eine ethische Anforderung, der ein moderner Mensch nicht gewachsen ist. Er würde sie nicht aushalten. Die Bilder der modernen Malerei dagegen seien frei von Forderungen. Man kann sie aushalten und darum lieben wir sie. Aber es gibt einen …

Ihm fehlte das Wort. »Überschuss? Sinnüberschuss?«

Er fragte sich: »Sind wir nicht in der heutigen Zeit vielfach einfach ‚sprachlos‘, weil wir die richtigen Worte nicht finden. Worte, die es noch gar nicht gibt? Gibt es nicht auch das ‚Unaussagbare‘ oder ‚Unbewältigte‘. War hier nicht das Bild – wenn es gelungen ist – ein sichtbares Äquivalent des Wortes? Und macht es meiner Seele Luft?«

Er spürte das Versagen der Sprache, die ständig hinter dem Anspruch zurückblieb, Verständigung zu ermöglichen. Philosophisch war er das gewohnt. Aber sein Sein war offensichtlich weiter als sein Bewusstsein.

Er musste sein Leben neu sortieren. Er brauchte Halt. Er wusste, auf Lizzie und Lyssa konnte er sich verlassen …

… und sich selber wollte er auch nicht ausschließen.

Es begann zu nieseln.

Johannes war nach der ‚Videokonferenz‘, die abrupt endete, erstaunt zu erfahren, dass Karim sich in Düsseldorf aufhielt. Die Nachricht über seinen neuen Aufenthaltsort bekam er – wie gewohnt – per SMS. Er sagte sofort zu, als er ihn um ein Gespräch bat. Karim traf Johannes Nordpark.

Er hatte sich bei der der Einfahrt die beiden gigantischen Statuen mit den ‚Rossebändigern‘ angeschaut. Johannes erwarte ihn schon. Gemeinsam gingen zu den Wasserspielen in einem langen Becken zu der sich anschließenden großen Fontäne, die den Abschluss dieser Achse bildete. Das sprühende Wasser in dem großen Becken bildet, formt sich auf der gesamten Länge zu einem großen Bogen und war eine erste Attraktion für die Besucher, die selbst, wenn sie an schönen Tagen in riesiger Zahl erschienen, doch eher etwas dekorativ wirkten.

»Monumental!«

»Genau. Du hast es auf den Punkt getroffen.«

»Erzähl mir mehr über den Park.«

Eigentlich war Johannes nicht danach. Dem Park war seine Vergangenheit noch immer eingeschrieben, nur kümmerte das heutzutage die wenigsten. Sie genossen ihn einfach als einen schönen Park und entspannten sich beim Anblick der prächtigen Blumenbeete. Johannes musste erst einmal nachdenken. Was wusste er über den Park, außer, dass seine Spaziergänge mit Lizzie und früher auch mit Lyssa immer im gleichen Café landeten und sie jedes Mal auch einen Tisch fanden? Er musste erst einmal nachdenken und fühlte sich als ‚Düsseldorfer‘ echt gefordert.

»Also, der Park wurde von den Nazis errichtet. Das war für eine Ausstellung ‚Schaffendes Volk‘. Eigentlich war das Brachland. Wegen der geringen Höhenunterschiede auf dem Gelände konnte man hier aber große Achsen bauen. Und das gefiel diesen braunen Idioten.

»Hier«, er zeigte auf einige verbliebene Statuen, die entlang des Wasserbeckens aufgestellt waren. »Hier waren die Berufe des schaffenden Volks aufgestellt. Alle von Nazi-Künstlern gemacht. Die Soldaten sind natürlich entfernt worden.«

»Du meinst, die große Achse ist ein monumental inszenierter Freiraum, ähnlich dem Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg?«

»Hattest Du nicht vorhin selber ‚monumental‘ gesagt?«

»Scheiße, ja, Du hast recht!«

»Und weißt Du, wozu das alles diente?«

Johannes hatte kurz vorher noch ein bisschen gegoogelt.

»Ich zeig Dir mal ein Zitat. Und dann las er von seinem Handy vor: ‚Alle Kultur und damit auch alle Kunst und ihre Stile sind - diese Wahrheit hat sich heute in Deutschland allgemein durchgerungen - immer nationalen und rassischen Ursprungs und Lebens. Das Trugbild einer ‚internationalen Kultur‘, einer ‚Weltkultur, gehört der Vergangenheit an, jedenfalls für uns Deutsche‘. O.k.?«

Karim schauderte.

»Gehen wir weiter.«

Stumm spazierten sie durch den Park, bis sie in der in der nordwestlichsten Ecke den Japanischen Garten erreichten.

Johannes wollte Karim doch wieder etwas aufmuntern: »Du hast sicherlich auf dem Weg hierher auch die großen Backsteingebäude mit der Tonhalle gesehen. Das ist das runde Bauwerk mit der grünen Kuppel aus Kupfer. Die sind nicht von den Nazis. Die sind architektonisch eine Rarität. Die aus Ziegel gestaltete Fassade der Tonhalle mit den umlaufenden Schuppenornamenten und das ‚Grüne Gewölbe‘ im Innern sind typisch für die expressionistische Architektur des 20. Jahrhunderts. Die Nazis haben die expressionistischen Plastiken, die als ‚entartete Kunst‘ galten aber nicht angetastet.

Die meisten Düsseldorfer können das eh nicht unterscheiden und so richtig nazimäßig sieht der Nordpark heute auch nicht aus, wie Karim gleich sehen sollte.

Der japanische Garten lud zur Beschaulichkeit ein, was ja auch sein Sinn war. Aber heute war hier noch was anderes los. Der Garten war voller ‚Cosplayer‘, die sich als Manga- oder Animefigur für Fotoshootings und präsentierten.

»Macht Larissa damit?«

»Nicht das ich wüsste, aber einige Ihrer Klassenfreundinnen und deshalb wird sie sicher hier auch schon auf getaucht sein. Bestimmt hätte sie mir Bilder per WhatsApp geschickt. Komm, lass uns in Café gehen.«

Der Platz, den sie fanden, war ausreichend entfernt von Zuhörern. Es wäre auch schwierig gewesen, etwas vom Nebentisch mitzubekommen, weil an die Außenanlage ein Spielplatz grenzte.

»Also gut, letztes Mal sind wir ja unterbrochen worden.«

Karim konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Johannes fuhr fort: »Was meinst Du, wie soll es jetzt weitergehen?«

»Gute Frage. Was haben wir in der Hand?«

»Wir müssten diesen Feldmann finden.«

»Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Außerdem jagt Ariel den nicht schon?«

»Vielleicht braucht sie Verstärkung?«

»Sie müsste aber doch wissen, dass ich nichts von diesem ganzen Kram weiß, so unheimlich das einem auch vorkommen kann. Wahrscheinlich reicht aber auch dazu meine Fantasie nicht aus. Und noch was, ich kann zwar schnell lesen und auch Literatur finden, aber in Biologie? Keine Ahnung.«

»Da hast Du leider recht.«

»Aber Du kannst als Personalberater doch Leute mit seltenen Kompetenzen suchen?«

»Leute mit seltenen Kompetenzen. Nett gesagt. Ja das kann ich.«

»Eben.«

»Nein, eben nicht ‚eben‘.«

Karim rang nach Worten: »Aber Du suchst doch auch Mediziner?«

»Dafür brauche ich kein Mediziner zu sein. Ich weiß, was Krankenhäuser suchen. Für das Fachliche ist der Kunde zuständig. Ich muss mich in der Branche auskennen, und die kenne ich in- und auswendig.«

»Das glaube ich Dir.«

»Schön.«

»Ich kenne keinen Besseren.«

Johannes musste schmunzeln und hatte Lust darauf zu qualmen.

»Hast Du eigentlich schon daran gedacht, was Ariel nach all dem, was passiert ist, von Deinen Plänen hält? Die hält Dich entweder für einen Trottel oder hinterhältigen Verräter.«

»Meinst Du, das weiß ich nicht?«

»Das hoffe ich doch. Aber egal, ob sie mich dafür hält oder meinetwegen auch Du. Sie wird mit Dir zusammenarbeiten wollen.«

»Und ich bin ja gewarnt.«

»Ich muss Dir noch was sagen.«

Karim fixierte Johannes auf eine Art und Weise, dass er merkte, es wurde jetzt ernst.

»Kurz vorher hat es zwischen uns gefunkt. Nein, das klingt zu lapidar. Ich liebe Sie.«

»Wenn Du mir das jetzt als Drehbuch für einen Film anbieten würdest, würde ich Dich rausschmeißen …« Johannes holte Luft und rauchte auf Lunge, was er ansonsten eher selten tat.

»Verliebt? Du kennst mich. Also laber keinen Scheiß. Liebe ist schön, aber auch sehr ernst.«

»Doch, ich brenne für sie!«

»Und sie.«

»Ich habe gespürt, dass …«

»… und reitest sie in die Scheiße. Weißt Du eigentlich, was das für eine Frau ist?«

»Du hast sie doch nur zweimal gesehen?«

»Ja, deshalb weiß ich, was das für eine Frau ist.«

»Und was denkt sie, was für ein Mann Du bist?«

»Eben einer, der weiß, was sie für eine Frau ist. Und mehr zählt jetzt ja auch nicht.«

»Zurück zum Thema.«

»O.k.«

»Kannst Du ihr helfen?«

»Nochmal, ich soll einen Terroristen suchen, der irgendwas im Bereich Biologie oder Medizin vorhat?«

»Genau.«

»Suchen wir aber nicht einen Terroristen, der ein Unternehmen sucht.«

Karim nickte.

»Nein, wir suchen ein Terrorunternehmen, das einen Terroristen sucht.«

Karim verabschiedete sich von Johannes und wollte noch den Rhein entlanglaufen, um sich den Ehrenhof und die Tonhalle anzuschauen. Johannes ging nachdenklich zu seinem Auto. Die Wasserfontänen und der große Springbrunnen hatten ihre Arbeit eingestellt. Langsam wurde es leerer in dem Park. Auf den zahlreichen Infotafeln, die er sonst nie beachtet hatte, las er noch mal nach, ob er was Falsches erzählt hatte. Er hatte Glück. Keine große Bildungslücke.

Johannes konnte in dem Augenblick noch nicht einmal ahnen, wie nah er an der Wahrheit war.

Sie trafen sich im Weise.

Er hatte lange gezögert, ob er sich mit Ariel im Weise treffen sollte. Aber schließlich war er auch nicht abergläubisch.

Ihm war nichts zureichend klar, die Situation, seine Rolle in dem oder den Spielen, seine Gefühle für Karim und vor allem auch zu Ariel. Könnte er doch mit seiner Weggefährtin Bi reden. Er wusste zutiefst, das Ashkan ihm im Sinne von Bi im Hintergrund helfen würde. Nur konnte er nicht mit ihm in Verbindung treten. Er musste auf ihn warten. Was verstellte möglicherweise seine Wahrnehmungsfähigkeit? Nur in ein einem war sich sicher. Er würde Lizzie und Lyssa nie enttäuschen. Nur das gab ihm Halt und ihm seine Nüchternheit zurück.

Ariel wirkte unerwartet sehr entspannt. Sie konnte mit ihrem Geheimnis, das sie mit Karim teilte, gelassen umgehen. Sie ließ sich nicht anmerken, was das Geheimnis war. Johannes wollte auch keine Wette dafür abgeben, was in ihrer Hassliebe stärker war. Er wollte sich auch nicht von seinen Gefühlen beeinflussen lassen, denn so verliert man Wetten nur.

»Hallo Johannes, ich grüße Dich.«

Mit dieser Begrüßung nahm sie Ihre Sonnenbrille ab. Sie hatte diesmal das an, was sie bei dem Treffen mit diesem Feldmann bewusst nicht in die engere Wahl gezogen hatte. Zerrissene Jeans, dazu eine graugrüne Sweat Jacke mit kurzen Ärmeln und Reißverschluss und einen kleinen schwarzen Rucksack. Ihre schwarzen Haare wurden zunehmend länger. Lange würde sie nicht mehr brauchen, sie zu entfärben.

»Liebe Ariel, ich grüße Dich.«

Johannes hatte inzwischen einen Blick dafür und erkannte, dass sie nicht unbewaffnet war.

»Wir wollten uns heute ja nochmal zusammensetzen, um zu planen, was ich jetzt für Dich tun kann. Es wird mit Sicherheit nicht einfach, weil ich die geringsten Anhaltspunkte habe. Das hatte ich ja schon angedeutet, als wir uns das letzte Mal getroffen haben.«

»Ich weiß.«

»Und …«

»Nur deshalb habe ich Dir die Sache anvertrauen wollen.«

Johannes schluckte.

»Oder denkst Du, wir bräuchten Dich, wenn wir schlauer wären als Du.«

Sie lachte entwaffnend und taxierte ihn.

»Gut, aber ich sollte ja einen Auftrag erfüllen. Dann hätte ich doch gerne ein paar Details mehr.«

»Kennst Du Alice im Wunderland?«

»Jaaa«, gab er skeptisch dreinblickend zurück.

»Kennst Du die Geschichte mit der Schwarzen Königin? Ich erzähl sie Dir. Im Wunderland trifft Alice auf die Schwarze König und folgender Dialog spielte sich ab. Die schwarze Königin wollte von Alice wissen, was Larifari auf Französisch heißt. Alice erkannte sofort ihre Chance und erwiderte ziemlich siegessicher, dass sie es der Königin gerne sagen würde, wenn sie wüsste, welche Sprache ‘Larifari’ ist, denn ‘Larifari’ ist kein Deutsch. Das hatte die Königin nicht behauptet. Sie antwortete indigniert: ‚Königinnen handeln nicht.‘ Gefällt Dir das?«

»Ja.«

Ariel gefiel das.

»Schön, meine Schwarze Königin. Aber vielleicht ist das auch ein bisschen voreilig von Dir. Bist Du nicht in Wirklichkeit die rote Herzkönigin. Ich bin nicht so gut im Zitieren wie Du. Aber ich bin ja mit Alice verheiratet und kenne die beiden Geschichten. Du weißt doch, dass die Herzkönigin in ihrer Urteilsverkündigung gegenüber Alice sehr rechthaberisch gefordert hat. ‚Erst die Strafe – dann das Urteil.‘ – und dann forderte: ‚Kopf ab.‘ Du solltest etwas runterkommen.«

Ariel konterte mit den Worten der Weißen Königin, die sie sinngemäß zitierte: »Als Alice der weißen Königin nicht glauben wollte, was diese alles behauptete, war die Antwort sinngemäß etwas so. Sie sagte ihr, sie solle die Augen schließen und erst mal tief durchatmen und belehrte sie, dass diese Ungläubigkeit ein Privileg der Jugend sei. Sie selbst hätte jeden Tag geübt, bis sie auch unmögliche Sachen glaubte. Etwas Ähnliches sagte ihr auch die Schwarze Königin: ‚Du kannst es Unsinn nennen, wenn du willst‘, sagte sie, ‚aber ich habe Unsinn gehört, gegen den das hier so vernünftig wie ein Wörterbuch ist!‘.«

»Gut pariert, Du weißt aber, was die Weiße Königin nach Deiner Eingangsgeschichte Alice gefragt hat.«

Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: »Sie hat Alice gefragt, was die Ursache von Blitzen ist. Alice muss sehr stolz und selbstsicher geantwortet haben, dass dies der Donner sein. Um sich anschließend sofort zu korrigieren und zu versichern, dass es genau andersherum sei. Die Antwort der König war harsch. ‚Man kann, wenn man etwas gesagt hat, es nicht mehr verbessern. Es ist zu spät, es nagelt es dich fest, und du musst die Konsequenzen tragen‘.«

»Fast perfekt zitiert.«

»Ich geb mir Mühe. Aber es ist wie bei einem Schachspiel, bei dem man keinen Zug zurücknehmen kann. Wenn man gezogen hat, ist es geschehen und lässt sich nicht rückgängig machen. Und nach den neuen Spielregeln muss man sogar ziehen, sobald man die Figur auch nur berührt hat.«

»Spielst Du Schach?«

»Nicht mehr, ich war ein mittelmäßiger Spieler. Und Du?«

»Ich hab es nie versucht.«

»Dann frage ich gar nicht weiter. Hoffentlich müssen wir nicht pokern.«

»Ist Dir nach pokern?«

»Im Augenblick ist mir nach gar nichts. Nun haben wir schön herumgeblödelt.«

Er erzählte Ariel nicht, dass er interimsmäßig seinen Job an den Nagel gehängt hatte und seine Entscheidung, den Auftrag von Ariel anzunehmen, schon in die Tat umgesetzt hatte. Aber nun war er doch etwas ratlos. Er schwieg eine Zeitlang und schaute auf die Straße.

»Immer noch keine Idee?«

Er schwieg schon fast störrisch.

»Hat Dir Karim nichts erzählt?«

»Was meinst Du.«

»Gut, dann muss ich das nachholen. Dieser Feldmann, das Schwein forscht an Spiegelmeren.«

»Und dazu muss man einen Professor bestialisch foltern und töten. Aber was sagtest Du? Spiegel … was?«

Er verstand jetzt den Zusammenhang zu den Anspielungen auf die Bücher von Carroll und schaltete um auf Zuhören.

»Das sind neuartige Antikörper, die auf völlig neue Art Bakterien und Viren bekämpfen können. Das wäre unsere Rettung gegen multiresistente Keime.«

»Und warum heißen die Spiegelmere?«

»Weil die vom Körper nicht erkannt werden. Die sind asymmetrisch zur Immunabwehr in unserem Körper aufgebaut. Die Spiegelung wirkt wie eine Tarnkappe. Also nochmal. Ganz einfach. Das sind künstliche Antikörper, die Viren und Bakterien killen und dabei von den körpereigenen Antikörpern nicht erkannt werden.«

»Aha. Da sind wir ja ein Stückchen weiter. Du hast mich ganz schön auf die Folter gespannt.«

Sie lachte ihn an.

Unsicher lachte er zurück.

Während sie den Augenblick genoss, ging ihm durch den Kopf: »Vom Lachen wird sie jetzt kein bisschen wirklicher, selbst wenn sie einen wirklichen Grund dafür hatte. Nur, wenn sie nicht wirklich wäre, könnte sie schließlich nicht lachen. Aber hielt sie das für ein wirkliches Lachen, was sie da lachte? Und hätte sie dann tatsächlich einen Grund dafür?«

Er wachte wieder aus seinen Gedanken auf.

»An was hast Du gerade gedacht?«

Er äußerte sich ausweichend: »An nichts. Du weißt ja, Männer können das.«

Sie registrierte sein Ausweichmanöver.

»Also. Dass das ein Billionenmarkt ist, kannst Du Dir vorstellen?«

Wieder präsent antwortete er ihr: »Ohne jeden Zweifel. Aber was will Dein Terrorist damit anstellen.«

»Das sollst Du ja herausfinden.«

»Und wie stellst Du Dir das vor? Soll ich jetzt ne Stelle für jemanden ausschreiben, auf die der genau passt?«

»Warum nicht?«

»Witzig! Diese Möglichkeit gibt es Augenblick für mich nicht mehr.«

»Natürlich nicht über TARGET, dein hochgelobtes ehrenwertes Unternehmen.«

»Das sind die auch. Ich muss es ja wissen, wir verdienen unser Geld ohne Leichen im Keller.«

»Komm …«

»… solange die Geschäfte gut laufen. Aber ich hab auch noch keinen Kunden erlebt, der uns ein unmoralisches Angebot gemacht hat. Ich meine irgendwas gibt es immer … aber uns wirklich was anhängen? Nö.«

Er hob seine Finger zum Schwur.

»Und jetzt sitzt Du vor mir.«

»Gut, es gibt ein paar Methoden, die ‚dirty‘ sind. Aber dafür bin ich auch nicht der Richtige.«

»Du Armer!«

»Na ja, das kannst Du meine Sache sein lassen.«

»Ich wünsch Dir viel Spaß dabei.«

»Lass die blöden Kommentare.«

»Sorry, ich wusste nicht, dass Du so empfindlich bist.«

»Du ahnst gar nicht, wie gerne ich ein spießiger Familienvater bin.«

»Sorry, ich vergaß.«

»Aber sag mal, was ist eigentlich mit Karim.«

»Das ist meine Sache«, fuhr sie ihn forsch an.

»Ich brauche ihn aber sicher noch.«

»Das ist Deine Sache.«

Sie suchten gemeinsam danach, das Gespräch ‚freundschaftlich und konstruktiv‘ zu beenden.

»Du weißt jetzt hoffentlich, worum es geht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mich auf dem Laufenden hältst. Und noch etwas, wenn Du mir berichtest, wie es Bi geht, würde ich mich sehr freuen.«

An einem Bussi nicht vorbeikommend verabschiedete er sich von Ariel.

Auf der Fahrt nach Hause schaltete er das Radio an. Er war fast an der Dorotheenstraße angekommen, da begannen die Nachrichten. Abrupt bremste er seine Katze, parkte in eine Toreinfahrt ein und drehte die Lautstärke auf. Es klang unglaublich.

Eine tödliche Epidemie war in Ravensburg in Baden-Württemberg ausgebrochen. Irgendein Krankenhauskeim hatte mutiert und war dabei, die freie Wildbahn außerhalb der Kliniken zu erobern. Der Name war Klebsiella-pneumoniae und Johannes hatte ihn noch nie gehört. Es klang aber nicht gut. Die offiziellen Stellen dementierten eine Gefahr für die Bevölkerung, was Johannes auch für erstmal gut fand, Glaubwürdigkeit war nicht das Thema, sondern gezielte Abwehr der Gefahr. Er war kein Fachmann für solche Fragen, deshalb konnte nur vertrauen, dass man der Gefahr Herr werden konnte.

Ein ‚Experte‘ warnte aber in der Nachrichtensendung: »Diese Erreger bekommt man nicht in der Straßenbahn, durch Essen von Fleisch, Baden im Baggersee oder an der Ägäis Küste, das haben wir bisher geglaubt. Aber offensichtlich kann er es jetzt. Soweit wir informiert sind, gibt kein wirksames Gegenmittel. Die Letalitätsrate liegt bei ungefähr 30 Prozent.

Er schickte Lizzie und Lyssa aber per WhatsApp vorsorglich eine Warnung.

»Gutes Timing«, fuhr ihm angesichts des Gesprächs mit Ariel durch den Kopf.

Ja das war es.

Die Welt war die Hölle und jetzt erschien der Teufel.

Menschenversuche

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