Читать книгу Perry Rhodan 3088: Gucky kehrt zurück - Michael Marcus Thurner - Страница 6

Оглавление

Erster Akt:

Begegnung im Andersraum

Gucky stand wie verloren in der endlos weiten Ebene. Er fühlte sich leer und müde, seine Gedanken flossen träge dahin.

Er ging, weil es nichts anderes zu tun gab. Seine Paragaben hatten ihn verlassen. Es gab in dieser Gegend keine Gedanken zu lesen und nichts mithilfe seiner telekinetischen Kräfte zu bewegen. Die Steine und Felsen, die er rings um sich sah, ließen sich nicht erfassen.

So gerne wäre er teleportiert, aber er schaffte es einfach nicht. Etwas hinderte ihn daran, womöglich er selbst. Schließlich war er nicht ganz bei sich.

Gucky setzte einen Schritt vor den anderen. In Richtung jener etwas stärkeren Linie am Horizont, die womöglich ein Gebirge darstellte. Sie war das einzige Ziel, das er in dieser Wüstenei ausmachen konnte.

Wie lange bewegte er sich schon durch die Ebene? Eine Sekunde, einen Tag, ein Jahrzehntausend?

Er wusste es nicht zu sagen. Er war froh, dass er seine Namen – Plofre und Gucky, aber nie zugleich – kannte, denn viele andere Dinge hatte er vergessen.

Was tat er an diesem Ort? Wie war er hergekommen? Wo war er überhaupt?

Er ging und ging und ging.

Da war ein Freund gewesen, der eine Wanderschaft durch die Ewigkeit hinter sich gebracht hatte. Jul... Julian war sein Name gewesen, oder? Den Jahrmillionenmann hatten sie ihn genannt.

Drohte ihm ein ähnliches Schicksal?

Verging in dieser Einöde mit jedem seiner Schritte ein Jahrtausend? Zerbröselten Reiche, während er einen Atemzug tat? Wurden Superintelligenzen geboren und starben, während er einen Gedanken fasste?

Da waren so viele Erinnerungsfetzen in ihm, die er nicht recht einzuordnen wusste. So viele, dass sie wohl kaum in das Leben eines Einzelnen passten.

»Gucky«, sprach er den Namen aus, der ihm richtig vorkam, »ich heiße Gucky. Ich bin ein Ilt. Ich stamme von einer ... einer Welt, deren Namen ich nicht kenne.«

Ein Fluch seiner Muttersprache fiel ihm ein. »Pettek!«, sagte er und fühlte, wie seine Barthaarspitzen erzitterten. Er war nicht so. Er verwendete selten Schimpfwörter.

Das Gebirge rückte nicht näher. Es war Gucky, als träte er auf der Stelle. Markante Felsbrocken, die er in der Ebene links und rechts bemerkte, schienen sich umzugruppieren und neue Formationen zu ergeben.

Gucky glaubte, sich schon öfter durch diese Ebene bewegt zu haben. Er war sich allerdings nicht sicher. Sein Erinnerungsvermögen war zu schwach.

Etwas änderte sich. Gucky benötigte eine Weile, bis er diese Änderung benennen konnte. Neben jener dicken Linie, die vielleicht einen Gebirgszug markierte, waren mehrere Pünktchen aufgetaucht.

Im Unterschied zu der Linie bewegten sie sich aber.

Auf ihn zu.

Mit dem Anblick der Veränderung, der ersten Veränderung seit gefühlten Jahrmillionen, kamen Erinnerungen zurück. Gucky wusste wieder, wer er war – und wie er womöglich auf diese öde Ebene gelangt war.

*

Da waren die beiden Tomopaten gewesen, Ly und Genner. Dazu ihre Helfer. Ein Asaran namens Trupar sowie dessen Lehrer, der Gefirne Shattka Agheff.

Ein Kampf. Eine Teleportation. Ein kurzer Schmerz. Ein Betäubungsmittel.

Er lag halb betäubt da und fühlte, dass rings um ihn Feinde waren. Also wehrte er sich. Intuitiv und kaum in der Lage, einen logischen Gedanken zu fassen.

Er las unerklärliche, unbeschreibliche Gedanken. Sie waren ein Richtwert. Etwas, das man packen und mithilfe der Telekinese bekämpfen konnte.

Trotz all seines Einsatzes war der Widerstand der Gegner zu stark. Er versank in finaler Bewusstlosigkeit ...

*

Immer wieder kam Gucky zu sich. Er versuchte zu espern und zu erfassen, was man mit ihm tat. Doch da war nichts Greifbares. Roboter hatten ihn transportiert. Dumme Maschinenwesen.

Was war mit dem Trackersystem an seinem SERUN? Mit den Nanosonden, die dieser ausgestoßen hatte? Oder war das gar nicht geschehen? Hatte das System seines Anzugrechners versagt?

Offensichtlich. Denn niemand kam, um ihn zu unterstützen oder gar zu befreien.

Immer wieder erhielt Gucky Beruhigungsmittel. Sie sorgten dafür, dass er zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit pendelte. Ohne dass er Zugriff auf seine Parakräfte bekam.

Die Roboter ließen ihn irgendwann fallen. Auf ein Lager. Nein: in eine Art Gefäß, das Erinnerungen in ihm weckte. Es fühlte sich einerseits komfortabel an, andererseits wie ein Gefängnis.

Gucky versuchte die Augen zu öffnen und zu sehen. Es wollte kaum gelingen. Die Beruhigungsmittel hielten ihn fest im Griff. Die Augen sahen, aber das Gehirn schaffte es nicht, die Informationen aufzunehmen und in klare Bilder umzuwandeln.

Seine Haptik sprach ein klein wenig besser an: Er fühlte, dass er in eine Art Gruft gebettet worden war. Die Umgebung war ihm vage bekannt.

Gucky ruhte in einer Art Suspensionsalkoven, wie er sie von der RAS TSCHUBAI her kannte. Nur der Geruch nach Katzenminze war ihm neu.

Dafür war dieser Alkoven etwas geräumiger. Die Halterungen für die Hände im Inneren hatten feine, scharfgratige Nute, die auf schlampige Fertigung schließen ließen. Und die Liegefläche gab nur widerwillig nach. Die denksensitiven Druckpunkte waren nicht für das geringe Gewicht eines Ilts gefertigt worden, ganz im Gegensatz zu jenem Alkoven, den Gucky auf der RAS TSCHUBAI zur Verfügung hatte.

Gucky besaß unendlich viel Erfahrung. Er wusste ganz genau, wie viel er seinem Körper und seinem Geist zumuten konnte. Er war erschöpft, ja. Aber er war schon unter bedeutend schlechteren Umständen teleportiert. Also würde es auch hier funktionieren.

Was für ein Ziel sollte er anvisieren? Er kannte seine Umgebung nicht. Auch hatte man ihm den SERUN ausgezogen. Ein Sprung aus dem Inneren des Alkovens war mit hohem Risiko verbunden.

Na und? Gucky kicherte. Sein Leben war meist ein Spiel gewesen. Warum sollte er nicht um sein Leben spielen?

Er versuchte, einen Platz unmittelbar neben dem Alkoven zu visualisieren. Ein Minisprung, kaum einen Gedanken wert, würde ihn problemlos dorthin bringen. Also gab er sich einen geistigen Ruck – und blieb hängen. Die Teleportation gelang nicht. Wie er auch mit der Telekinese scheiterte.

Gucky hatte seine besonderen Gaben verloren.

*

Falsch.

Seine Gaben waren noch da. Er fühlte, wie sie in Ansätzen funktionierten, aber rasch von irgendeiner Kraft neutralisiert wurden. Der Alkoven war von Anti-Psi-Feldern umgeben. Etwas, das ihn daran hinderte, seine Talente einzusetzen.

Also musste er Geduld haben und warten. Irgendwann würde man sich um ihn kümmern. Es wäre widersinnig, würde ihn ein Gegner leben lassen und sich nicht mehr für ihn interessieren. Man wollte etwas von ihm.

Vermutlich Informationen. Er war mit Atlan unterwegs gewesen. Vielleicht betrachteten ihn seine Kidnapper als Druckmittel, um an den Arkoniden heranzukommen.

»Ha! Ihr werdet euch wundern!«

Seine eigene Stimme klang sonderbar. So, als hätte er sie seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt. Sie klang schrill und ein klein wenig nach Panik. Die Lage setzte Gucky mehr zu, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte.

Er konzentrierte sich auf sein Inneres. Ausgerechnet Bully, der als der spontanste aller Unsterblichen galt, hatte ihm in langen, ausführlichen Sitzungen beigebracht, wie man zu innerer Ruhe fand.

Guter, alter Reginald. Deine Freundschaft ist unbezahlbar. Wenn wir uns wiedersehen, bekommst du einen Freiflug über Neu-Terrania von mir spendiert. Ich bin mir sicher, dass du deinen Spaß damit haben wirst.

Die Erinnerungen an seinen besten Freund halfen ihm tatsächlich, zu mehr Ruhe zu finden. Er versenkte sich in ein einfaches Mantra, das ein Mohrrübenkompott zum Thema hatte, und wartete. Gucky lauerte auf diesen einen Augenblick, in dem sich jemand am Alkoven zu schaffen machte. Dann wäre er fort.

*

Die Müdigkeit überwältigte ihn, Gucky erlaubte sich dennoch keinen Schlaf. Immer, wenn ihn Trägheit zu packen drohte, putschte er sich mit besonderen Gedanken hoch. Wie würde er Rache nehmen an den beiden Tomopaten und ihren Helfern? Er würde sie nicht töten, aber der eine oder andere gebrochene Knochen ging schon in Ordnung. Oder sollte er lieber Ly und Genner ihre Krallenhände dorthin stecken, wo die Sonne nie hinschien?

Gucky fühlte Anzeichen einer Veränderung – und war augenblicklich bei der Sache. Jemand machte sich am Alkoven zu schaffen. Dieser Jemand war vorsichtig.

Obwohl Gucky seiner Parakräfte beraubt war, fühlte er, dass der andere mit größter Sorgfalt vorging. Er wollte ihm keinerlei Chance zur Flucht eröffnen.

Gucky wartete weiterhin und griff in möglichst kurzen Abständen mit seinen Gaben nach jener Lücke, die sich unweigerlich auftun würde. Nach einem winzigen Lichterschein im Dunkel seiner Begabungslosigkeit.

Da war das Licht. Der Hauch eines Paralichts, schwach und kaum funkelnd. Enttäuscht stellte Gucky fest, dass diese Chance zu klein war, um zu teleportieren. Auch Telekinese griff nicht, und Telepathie schon gar nicht.

Aber er hatte einen letzten Pfeil in seinem Paraköcher. Einen, den er zwar nur höchst ungern einsetzte, aber in diesem Fall musste er darauf zugreifen.

Gucky ertastete eine Abschirmung, die sich mithilfe der Schmerzensteleportation überwinden ließ. Seine Feinde hatten ihre Hausaufgaben schlampig gemacht. Andernfalls hätten sie ihm diese Möglichkeit zur Flucht nicht offengelassen.

Gucky sprang in diese zähe, widerliche Masse, die den Zugang zum Andersraum kennzeichnete. Der Vorgang war derart mühsam und schmerzhaft, dass er einen Schock erlitt. Einen, der all seine Erinnerungen beiseite wischte. Als er in der Ebene des Andersraums wieder zu sich kam, wusste er rein gar nichts mehr.


Illustration: Dirk Schulz

*

Das waren nun seine Erinnerungen an all die Dinge, die er vergessen gehabt hatte.

Sollte das alles sein?

Nein.

Tröpfchen- und dann schubweise kehrte sein Wissen zurück. Eine Schicht an verloren gegangenen Gedanken legte sich um die nächste, so lange, bis er wieder der Gucky war. Der Überall-zugleich-Töter, der beste Freund der Terraner, der fähigste Parabegabte der bekannten Milchstraße – und das vielleicht einsamste Wesen des Universums.

Seine Kräfte allerdings waren nicht zurückgekehrt. Sie funktionierten nicht im Andersraum.

Er schritt schneller aus, auch wenn er nicht das Gefühl hatte, dadurch den Punkten am Horizont rascher näher zu kommen. Er musste sich beeilen. Er hatte diese bewegungslose Bewegung so satt ...

Gucky war nie ein guter Läufer gewesen. Seine Beine schmerzten schnell, und es kostete ihn gehörig Kraft, den Schwanz so weit anzuheben, dass er nicht über den staubigen Boden schleifte. Er keuchte und schleppte sich dahin, legte immer wieder kurze Pausen ein, um Luft zu holen, und eilte dann weiter.

Hatte es mit seinen Bewegungen zu tun, dass diese winzigen Punkte größer wurden – oder waren es sein Wunsch nach Veränderung und seine Willenskraft?

Es kümmerte ihn nicht. Seine Aufregung stieg, als sich die Pünktchen als Teile einer kleinen Karawane entpuppten.

Reittiere. Sechsbeinige Kamele, die sich hölzern durch die Landschaft bewegten. Links und rechts von ihren mächtigen Körpern hingen Körbe herab, die mit jeder Bewegung der Lasttiere in Schaukelbewegungen versetzt wurden.

Gucky hielt in seinem Lauf inne. Er konnte einfach nicht mehr. Also atmete er kräftig durch und massierte seine sauren Muskeln. Vor allem der Schwanz schmerzte gehörig von der starren, fast waagrechten Haltung.

Müde ging er weiter – und bemerkte erschrocken, dass die Karawane links an ihm vorbeiziehen würde. Hatte man ihn denn nicht bemerkt? Und überhaupt: Wo waren die Besitzer der Sechsbeiner? Bisher hatte er bloß die Tiere samt ihrer Körbe gesehen.

»Hierher!«, rief Gucky. »Schaut gefälligst hierher!«

Er winkte, sprang in die Luft, schleuderte Steine in Richtung der Karawane und schaufelte haufenweise Sand empor, sodass die Körnchen in diesem Raum völligen Stillstands langsam und majestätisch wieder auf ihn herabrieselten.

Nichts. Keine Reaktion. Die Tiere zogen weiter, stur und in einem sanften Wiegeschritt. Sie gingen einer uralten Spur nach, die ihre Urahnen womöglich zu Anbeginn der Zeit durch den Andersraum gezogen hatten. Vermutlich konnten sie gar nicht anders.

Heftiger Zorn packte Gucky. So sehr hatte er diese Begegnung herbeigesehnt. Seine Einsamkeit als letzter Ilt des Universums war bei Weitem nicht so schlimm wie eine Enttäuschung derart großen Ausmaßes. Was, wenn er die kleine Karawane wirklich verfehlte? War er dann gezwungen, bis zum Ende seines Lebens dieses tote Land zu durchwandern?

Er stampfte mit dem rechten Fuß auf, gab ein enttäuschtes Mausbiberpfeifen von sich und trommelte mit dem Schwanz auf den Boden.

Als wären dies die einzig richtigen Signale, hielten die Kamele abrupt inne – und wandten sich in seine Richtung. Sie hatten ihn bemerkt.

*

Die Tiere näherten sich quälend langsam. Sie ähnelten tatsächlich Kamelen mit sechs Beinen, allerdings besaßen sie robotische Körperkomponenten. Teile der Brust und des Hinterteils waren mit Metallplatten verziert, die wiederum mit glänzenden Nieten beschlagen worden waren. Mit jedem Schritt der Tiere entstand ein leiser Ton, der je nach Schrittlänge variierte. Gleichzeitig erzeugten die Tritte bildliche Symbole, die auf die genieteten Metallplatten übertragen wurden. Diese Bilder erinnerten Gucky an etwas. Er wusste nicht zu sagen, was es war. Womöglich hatte er doch nicht alle Teile seiner Erinnerungen zurückgewonnen?

Die Kiefer waren metallüberzogen, die Augen rot glühende Linsen. Als das Leittier einen Schrei ausstieß und die Karawane, bestehend aus insgesamt sechs Tieren, etwa 20 Meter von Gucky entfernt anhielt, stellte sich sein Nackenfell auf. Die Metallkamele wirkten wütend.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, auf sich aufmerksam zu machen?

Das Schwanken der Körbe endete, die Kamele standen ruhig da. Wie auf Kommando gingen die Tiere in die Knie und verschränkten die Beine unter ihren Körpern. Das Leittier beugte seinen Hals unnatürlich weit nach hinten, in Richtung des linken Tragkorbes. Der Hals bestand aus ineinander verschobenen Elementen. Scherenelemente, die wie die Spielerei eines irrwitzigen Bastlers wirkten.

Nichts von dem, was Gucky sah, war moderne Technik. Doch es musste eine interne Rechnersteuerung geben. Ein positronisches oder anders höherwertiges Gerät, das die Kamele befehligte.

Er hatte zu viel gesehen und erlebt, um sich über derartige Hybridwesen zu wundern. Es gab im Universum nichts, das es nicht gab. Also nahm er die Existenz der Metallkamele hin.

Das Leittier öffnete die Klappe des einen Korbes mithilfe seiner weichen Nüstern, holte Nahrung hervor und wandte den Kopf wieder in Guckys Richtung. Gemächlich kaute es auf Körnern herum und spuckte immer mal wieder Schleim auf den Boden.

»Was seid ihr bloß für Geschöpfe?«, fragte Gucky. »Kann man sich mit euch unterhalten?«

Keine Reaktion. Alle sechs Tiere hatten sich mittlerweile an ihren Nahrungskörben bedient. Sie stierten ihn an, als warteten sie auf etwas.

Geduld war nie seine Stärke gewesen. Gucky ging auf das Leittier zu und streckte beide Hände aus. Vielleicht verstand es dieses Symbol der Offenheit und Friedfertigkeit? Würde der Steuerrechner des Tiers erkennen, dass er Kontakt aufnehmen wollte? Waren sie so etwas wie Wächter dieser endlosen Wüste, die nach Gestrandeten suchten und Meldungen an eine übergeordnete Einheit weitergaben?

Das Leittier hob den Kopf, als wollte es etwas sagen – und spuckte ihn an. Mitten auf die Brust. Das Zeug verfing sich in seinem Fell und verklebte es.

»Du verdammtes Vieh! Ich werde dir ... werde dir ...«

Was konnte er schon machen? Er war bloß ein Ilt mit einem leichten Hang zu einem Wohlstandsbauch. Völlig nackt, all seiner Fähigkeiten beraubt. Wenn er dem Tier auf die Nase hieb, würde es den Schlag vermutlich nicht einmal richtig spüren. Aber es würde auf den Angriff womöglich reagieren, seinen Hals ein weiteres Mal ausfahren und ihm den Kopf abbeißen.

Gucky beherrschte sich also. Er umrundete die Tiere, die wie an einer Perlenkette hintereinander aufgereiht dasaßen. Ihre Köpfe drehten sich mit ihm. Beobachteten ihn in völliger Synchronizität. Verfolgten jeden seiner Schritte.

»Was wollt ihr von mir?«, piepste Gucky, so laut er nur konnte. »Soll ich mich etwa auf einen von euch draufsetzen? Ist es das, weshalb ihr hergekommen seid?«

Die Metallkamele kauten gemächlich weiter. Nur das Leittier bewegte den Kopf nach oben und nach unten, als wollte es Guckys Frage bejahen.

»Also schön, ihr Teufelsviecher. Wenn mir etwas geschieht, schwöre ich euch, dass ich aus der Mausbiberhölle zurückkehre und euch telekinetisch die Hälse verknote.«

Gucky war klar, dass er sich gerade keine Freunde machte, sollte seine Begegnung mit den Tieren von einer Leitinstanz registriert und ausgewertet werden. Aber er war völlig erschöpft, ratlos und verzweifelt. Er hatte keine Ahnung, wie er jemals wieder aus dem Andersraum zurück in die Realität finden sollte. Die einzigen Wesen, die so etwas wie Hilfe versprachen, spuckten ihn an und verhielten sich feindselig.

Also ging Gucky schnurstracks auf das hinterste Tier zu, krallte sich kurzerhand im Körperfell fest und wuchtete sich auf seinen Rücken.

Es gab ein Grunzgeräusch von sich, mit dem es womöglich seiner Überraschung Ausdruck verlieh. Es spannte die Muskeln gut spürbar unter Guckys Hintern an – und schob sich wackelig in die Höhe.

Die anderen Metallkamele taten es ihm gleich. Sie verfielen in gemächlichen Schritt und setzten ihren Weg fort. Weiter in jene Richtung, die sie ursprünglich verfolgt hatten.

Gucky schwankte vor und zurück, immer wieder. Bereits nach wenigen Schritten wusste er, dass er diese Art des Reisens ganz und gar nicht mochte. Zu seinem Glück hatte er nichts in seinem Magen, das er von sich geben konnte.

*

Die Tiere wanderten gemächlich dahin, und während sie dies taten, veränderte sich die Landschaft nun doch. Es war, als würde die Karawane eine Realität im Andersraum schaffen, die Gucky verstand. Mit einem Mal hatte er wieder Hunger. Auch die Hitze machte sich unangenehm bemerkbar. Seine Kräfte allerdings kehrten nicht zurück. Weiterhin hinderte ihn etwas in seinem Kopf, darauf zuzugreifen.

»Wohin bringt ihr mich?«, fragte Gucky, an sein Transporttier gewandt. »Habt ihr so etwas wie einen Heimatstall, in den ihr zurückkehrt?«

Keine Antwort. Natürlich nicht. Diese Hybridwesen waren stumpfe Tiere ...

Ein Geräusch.

Etwas, das nicht zu dem beständigen Klingklang gehörte, das die Metallkamele erzeugten. Vielmehr eine Art Zirpen, das hinter ihm ertönte.

Gucky wandte sich um. Da war bloß ein weiteres Tier, das gemächlich kaute. Die beiden Transportkörbe schaukelten genauso weit hin und her wie die seines eigenen Transportkamels.

Der rechte Korb öffnete sich. Ein Kopf lugte daraus hervor, der dem einer großen Maus mit noch größeren Ohren ähnelte. Die Hörorgane waren durch biomechanische Prothesen ersetzt, die weitaus raffinierter gefertigt waren als die der Metallkamele.

Das Wesen schob sich bis zum Bauch aus dem Transportgestell und streckte die schlanken Arme weit in die Höhe, als würde es sich ausgiebig strecken. Es gähnte, eine silbrig glänzende Zunge wurde hinter einem einzelnen stumpfen Zahn sichtbar.

Ein zweites Wesen tauchte aus einem Transportkorb auf. Es hatte im Tragegestell des letzten Kamels gesteckt und wirkte ebenso wie das andere verschlafen.

Gucky sah die beiden Geschöpfe an. Fassungslos. Warum hatten sie sich nicht gerührt, als er aufgesessen hatte? Wer waren sie? Warum nahmen sie seine Anwesenheit derart selbstverständlich hin? Sie grinsten ihn pausbäckig an, ihre einzelnen Zähne schillerten im Licht.

Das eine Wesen sagte etwas, das andere ergänzte. Gucky verstand kein Wort. Allerdings waren da erneut vage Erinnerungen, als hätte er dies Sprache bereits einmal gehört.

»Tut mir leid, Jungs«, sagte er, »ihr müsst schon deutlicher reden. Aber schön, dass ihr da seid. Ihr hättet euch gerne etwas früher melden können. Ach ja, noch etwas: Eure Transporttiere sind nicht sonderlich gut erzogen. Wenn ihr sie und euch schon mit Prothesen umbaut, denkt bitteschön bei der nächsten Ergänzung daran, ihren Speichelfluss zu unterbrechen.«

Eines der Wesen rief mit schriller Stimme einen Befehl. Sein Reittier glitt aus der Reihe, ging einige schnellere Schritte und war gleich darauf neben Gucky. Sein Gefährte glitt an die andere Seite von Guckys Metallkamel.

Beide deuteten auf seinen Mund und zogen zugleich eiförmige Geräte aus ihren Tragegondeln. Gucky verstand: Er sollte weiterreden und damit den Wortschatz erweitern, den seine beiden neuen Freunde mithilfe eines translatorähnlichen Geräts aufzeichnen und analysieren wollten.

»Meine Güte«, plapperte Gucky, »was bin ich froh, dass wir uns gefunden haben! Ich hätte es nicht mehr lange ausgehalten in dieser verdammten Pettek-Wüste ...«

Die beiden Fremden bekamen große Augen und wedelten aufgeregt mit den kurzen, schlanken Armen.

»Pettek!«, wiederholten sie, »Pettek!«

Ein Zufallstreffer, nicht mehr und nicht weniger. Es gab mehr Sprachen, als man zählen konnte, und natürlich gab es Ähnlichkeiten. Pettek bedeutete im Jargon der beiden Wesen ganz gewiss etwas anderes ...

Sein linker Gesprächspartner schob sich ein gutes Stück aus dem Transportkäfig und tastete nach Guckys Arm. Die Bewegung fühlte sich sanft an. Doch das war es nicht, was Gucky zuerst zum Zittern und dann zum Weinen brachte.

Es war der Schwanz, der dem Fremden aus dem Steiß wuchs. Er war wie Guckys eigener. Ein echter Mausbiberschwanz.

*

Es dauerte eine Weile, bis sich Gucky beruhigt hatte und damit fortfahren konnte, die Translatoren der beiden mausbiberähnlichen Geschöpfe zu füttern.

Immer wieder unterbrach er und suchte nach Ähnlichkeiten. Sie waren unverkennbar da. Der Schwanz und der einzelne Zahn, der allerdings stumpf war wie der eines irdischen Bibers. Die übergroßen Ohren. Die zarten Hände, das in großen Teilen vorhandene Körperfell. Eine gewisse Verschmitztheit, die sich den beiden in die behaarten Gesichter gebrannt hatte.

»Ich bin Daidra«, sagte das etwas stämmigere Wesen, nachdem der Translator durch ein Blinken angezeigt hatte, dass er vorläufig genügend Daten gesammelt hatte.

Und ergänzte: »Ich bin postfeminin-reproduktionsautark«, als wäre ihr diese rätselhafte Bemerkung besonders wichtig.

»Ich bin Pretopart«, meinte das andere. »Ich sehe mich als postmaskulin-reproduktionsautark. Keiner von uns beiden hat das Reproduktionspogramm bereits gestartet.«

»Sehr interessant. Danke für die Informationen.«

Daidra und Pretopart sahen sich an, die Zähne verschwanden hinter metallenen Backentaschen. »Du weißt darüber also nicht Bescheid?«

»Worüber?«

Daidra sprach nach langem Zögern weiter. »Es ist gefährlich, dieses Wissen mit dir auszutauschen. Wir werden dich aufklären, sobald wir unser Ziel erreicht haben. Vorerst sollte es dir reichen zu wissen, dass wir aus den Yllits hervorgegangen sind. Hast du zumindest diesen Begriff schon mal gehört?«

»J... ja.«

Gucky erinnerte sich an zwei Begegnungen. Mit Manzaber, einem Wesen aus dem Volk der Aiunkko, das ihm von einem Mythos der Yllit berichtet hatte. Von geheimnisvollen Wesen, die wie Mausbiber aussahen und an Bord ihrer Sternenbarken das All durchreisten.

Bei einer missglückten Schmerzensteleportation war Gucky inmitten der Ebene des Andersraums auf einen Hochsitz gestoßen. Eine Tafel hatte in der Symbolschrift der Mausbiber einen zweiten Hinweis auf die Existenz der Yllit gegeben.

»Man nennt die Yllit auch Geiststreiter«, sagte Gucky leise.

»Richtig«, sagte Daidra. »Und wir sind Post-Yllit«, ergänzte sie, als wäre damit alles erklärt.

»Wir sind also miteinander verwandt? Wie ist das möglich ...?«

»Wir reden darüber, sobald wir unser Ziel erreicht haben.«

Beide Post-Yllits ließen ihre Reittiere ein Stück zurückfallen. Sie machten deutlich, dass sie auf eine Fortsetzung der Unterhaltung derzeit keinen Wert legten.

Gucky murmelte »Pettek« und erduldete die weiteren Schaukelbewegungen seines Reittiers voll Ingrimm und Ungeduld.

*

Guckys Gefühl nach verging etwa eine Stunde, bis ein Objekt mit angenehm ruhigen Formen in der Ebene vor ihnen auftauchte. Es lag am Ostrand jenes Gebirgszugs, dem er nicht aus eigener Kraft hatte näher kommen können, in einem kleinen Tal zwischen zwei Ausläufern der steinernen Erhebungen.

»Unsere Sternenbarke«, sagte Daidra, ohne mehr zu verraten.

Gucky betrachtete das vermeintliche Raumschiff genauer und meinte darin jene Formgebung wiederzufinden, die auch die Mausbiber stets geschätzt hatten: viele Rundungen, klare Linien, eine gewisse Verspieltheit.

Je näher sie der Sternenbarke kamen, desto genauer konnte er deren Proportionen einschätzen. Der ellipsoide Grundleib des Schiffs war etwa 80 Meter hoch und durchmaß 50 Meter. Auf dem 30 Meter langen Hals, rund und fein geschwungen, saß ein bumerangförmiges Element. Es war etwa 70 Meter lang. Alles wirkte höchst elegant, aber keinesfalls symmetrisch. Der Korpus war rot-weiß gefärbt, da und dort zeigten sich ornamentale Symbole in Schwarz. Die Zeichen übten eine Wirkung auf Gucky aus, die er sich nicht so recht erklären konnte. Sie erzeugten ... Sehnsucht.

Das Bumerangelement ragte hoch in die Luft wie die Schwanzflosse eines irdischen Wals, während der ellipsoide Grundkörper satt im Wüstensand aufsaß. Antriebseinheiten oder andere Funktionselemente waren nirgendwo zu entdecken.

»Wie heißt das Schiff?«, fragte Gucky, erhielt aber keine Antwort. Die Post-Yllits lächelten ihm freundlich zu und blieben distanziert.

Erst, als die Metallkamele unmittelbar neben der Sternenbarke zum Stillstand kamen, ihre Knie beugten und sich wieder Nahrung aus den Körben besorgten, durchbrachen die beiden ihr Schweigen. Sie stiegen ab und redeten miteinander in jenem Idiom, das eine ganz vage Ähnlichkeit mit Guckys Muttersprache hatte. Anschließend wandten sie sich ihm zu und baten ihn zu einer Schleuse, die sich wie von Zauberhand im unteren Teil des Schiffs ausbildete. Es war, als würde sich zähflüssige Masse zurückziehen und dem Raum dahinter Platz machen.

Gucky betrachtete die beiden Post-Yllits eingehender. Sie hatten denselben Watschelgang wie er, obwohl Teile ihrer Beine metallen glänzten. Der Übergang zwischen Fleisch und robotisch gesteuerten Elementen war nicht zu erkennen. Sie trugen kurze Hosen, die bunt schillerten und darüber hinaus mit grünen und weißen Tupfen versehen waren.

Guckys Herz wurde unendlich schwer. Er hatte Angst vor dem, was Daidra und Pretopart zu sagen hatten. Andererseits gierte er nach Informationen über die Verbindungen zwischen Ilts, Yllits und Post-Yllits. Seit Jahrtausenden suchte er Spuren seines verlorenen Volkes. Niemals hatte er die Hoffnung aufgegeben, Artverwandte zu finden. Trotz vieler, vieler Enttäuschungen und Verluste.

Iltu.

Jumpy.

Daidra, die um eine Handbreit größer und breiter war als Pretopart, trat als Erste durch die sonderbare Schleuse.

Gucky folgte ihr. Mit einem Mal fühlte er sich wirklich nackt. Er hätte die Sternenbarke in voller Montur betreten sollen – ganz besonders im Schutz seines SERUNS. Schließlich wusste er nichts über die Gefahren des Andersraums. Die Post-Yllits wirkten vertrauenswürdig. Aber er durfte sich nicht sicher sein und konnte nicht auf seine telepathischen Möglichkeiten zurückgreifen, um sich dessen zu vergewissern.

Es roch nach Gemüse. Nach saurem, bitterem Gemüse. Darunter mengte sich der vage Duft nach Öl.

Sehr sympathisch. Hier könnte ich mich wohlfühlen.

Daidra schritt auf eine kugelförmige Hülle mit zwei Meter Durchmesser zu, einer überdimensionierten Seifenblase nicht unähnlich, und ging mitten durch die Wandung des Gebildes.

Gucky folgte der Yllit. Als er die dünne, schillernde Haut durchstieß, hatte er das Gefühl körperlicher und geistiger Erfrischung. Sein Hunger war mit einem Mal wie weggeblasen. Auch sein Optimismus, der ihn zeit seines Lebens ausgezeichnet hatte und der ihm während der langen Wanderschaft durch den Andersraum verloren gegangen war, kehrte zurück.

Pretopart zwinkerte ihm zu. »Das tut gut, nicht wahr? Die Lebensblase ist eine der großartigsten Errungenschaften unseres Volkes.«

Die Lebensblase setzte sich in Bewegung, der Boden unter Guckys Füßen und denen seiner beiden Begleiter verfestigte sich. Sie reisten durch das Schiff. Ringsum herrschte angenehmes Licht. Es war das einer kaum noch leuchtenden, sterbenden Sonne.

Uralte Erinnerungen drängten sich Gucky auf. Er dachte an die Zeit auf Tramp. An ein unbeschwertes Leben, frei von Sorgen und, vor allem, frei vom Wissen um kosmisch-galaktische Zusammenhänge.

Was er während der Reise durch die Sternenbarke zu sehen bekam, war flüchtig. Gucky sah es – und vergaß es gleich wieder. Er bekam Wunder zu sehen, die ihm unbegreiflich erschienen und die Sehnsucht erweckten, für immer im Inneren des Schiffs zu bleiben. Nichts davon blieb haften.

»Es tut uns leid«, sagte Daidra und ließ die metallenen Ohren hängen. »Du wirst gleich verstehen, warum wir dir nur einen Teil deiner Erinnerungen vom Schiff lassen können. Zumindest vorerst.«

Gucky schwieg. Er würde erst dann argumentieren, wenn es ihm notwendig erschien.

Die Lebensblase hielt in einem kreisrunden Raum an, der von unzähligen Fenstern gekennzeichnet wurde. Das sonderbare Gefährt gab sie frei und löste sich unmittelbar danach in nichts auf. Zurück blieb ein bunt schillernder Tropfen, der im Boden versickerte.

»Ich habe keine Fenster an der Außenseite des Raumschiffs gesehen«, sagte Gucky.

»Sie werden erst freigeschaltet, sobald sich jemand im Raum befindet«, meinte Daidra knapp.

Etwas stimmte mit dem Licht nicht, das durch die großen und kleinen Fenster schien. Gucky brauchte eine Weile, bis er den Grund dafür bemerkte.

»Es ist das Licht unterschiedlicher Sonnen!«, rief er. »Wird diese Welt denn von mehreren beschienen?« Er bemühte sein Gedächtnis, wusste aber nicht mehr zu sagen, ob er in der Ebene überhaupt eine Sonne gesehen hatte.

Daidra und Pretopart schwiegen. Sie sahen einander an, kicherten und wurden gleich wieder ernst. Die postfeminin-reproduktionsautarke Frau sagte: »Es tut mir leid, dass wir so geheimniskrämerisch tun. Wir haben unsere Gründe.«

Sie bat Gucky zu einem Stuhl, der eine komfortable Aussparung für seinen Schweif hatte. Er setzte sich und fühlte, wie Luft aus einem unsichtbaren Gebläse das Fell auffrischte. Sein Bauch, der unter der Spuckattacke des Metallkamels gelitten hatte, wurde mit einer Art Desinfektionsmittel behandelt, ohne dass Gucky die Quelle erkennen konnte.

»Welche Gründe?«, fragte Gucky und schloss genussvoll die Augen, um sie gleich darauf wieder weit aufzureißen. Er musste aufmerksam bleiben, durfte sich nicht einlullen lassen.

»Was du Andersraum nennst, wird von vielen Gestrandeten als Zerozone bezeichnet«, sagte Daidra. »Wir sind wie du mit unserer Sternenbarke hier gestrandet. Wir kennen die Bedingungen mittlerweile relativ gut. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, mehr über die Zerozone zu erfahren.«

»Ihr wollt nicht mehr dorthin zurückkehren, woher ihr gekommen seid?«

»Das werden wir. Eines Tages. Aber kommen wir zu dem Problem, das du für uns darstellst.«

»Ich bin gespannt.«

»In aller Regel verläuft die Zeit hier und im Normaluniverum synchron«, sagte Pretopart, der sich neben Daidra schob. »Leider treten Phasen einer ... Xenozeit auf, die die Zerozone asynchron laufen lässt. Manchmal geht sie der Zeit in der Außenwelt voraus, manchmal fällt sie dahinter zurück.«

»Ich könnte also, wenn ich die Chance bekomme, in mein altes Leben zurückzukehren, dabei aber in einem anderen Jahr als bei meiner Abreise landen?«, fragte Gucky erschrocken.

»Vielleicht auch in einem anderen Jahrhunderttausend.«

Pretopart ließ die Worte wirken, und das war auch gut so. Gucky hatte mit Problemen gerechnet. Nun, da er ihre Dimensionen erahnte, war der Schock riesig.

»Wir wissen nicht, ob du und wir gleichzeitig sind. Du könntest ein Geschöpf aus tiefster Vergangenheit sein – oder der Zukunft. Wir glauben zu wissen, dass du lange vor unserer eigenen Existenz gelebt hast oder leben wirst. Wir können uns nicht sicher sein.«

»In allen Fällen wäre eine Informationsvergabe an dich riskant«, ergänzte Daidra. »Möglicherweise fatal. Du wärst nicht der erste Chronospion oder Chronomanipulator, der die Xenozeit ausnutzen möchte.«

Gucky versuchte zu begreifen. Auf dieser Ebene, der Zerozone, fand nach den Worten der beiden Post-Yllits ein Kampf statt. Oder mehrere. Sie war eine Art Membran zwischen Räumen und Zeiten, die zum Austausch von Wissen genutzt werden konnte. Verriet ein Gestrandeter zu viel, mochte er die Geschehnisse in jenem raum-zeitlichen Kontinuum verändern, aus dem er stammte.

Von wem aber wären Chronospione oder Chronomanipulatoren beauftragt? Von den Chaotarchen? – Gewiss. Durch die Kosmokraten? – Höchstwahrscheinlich.

Gucky dachte zu einseitig. Es gab unendlich viele Parteien, die an Wissen aus der Zukunft interessiert waren. Superintelligenzen genauso wie deren Hilfsvölker – oder auch die Vertreter technisch hoch entwickelter Zivilisationen, die einen eigenen Weg gingen. Wissen war nun mal Macht.

»Okay. Ich verstehe euer Dilemma«, sagte er, an die beiden Post-Yllits gerichtet. »Aber es muss einen Grund geben, warum ihr mich hierher gebracht habt. Richtig?«

»Richtig. Wir wollten dich vermessen und dich kennenlernen.«

»Ihr habt mich vermessen?«

»Die Lebensblase hat dich, nun ja: eingefangen. Sie hat deine grundsätzlichen Charakterzüge eruiert.«

Daidra legte den Kopf leicht zur Seite, wie es Atlan meist tat, wenn er sich mit seinem Extrasinn unterhielt. Vermutlich hatte die Bewegung bei der Post-Yllit einen ähnlichen Hintergrund: Sie bekam Wissen vermittelt, von einem Rechnerteil, das an ihren Verstand gekoppelt war.

Gucky ärgerte sich. Er selbst ging mit seiner Gabe der Telepathie äußerst sorgfältig um, auch wenn das nicht jedermann glauben wollte. Hätte er die Möglichkeit gehabt, in die Gedanken der Post-Yllits vorzudringen, hätte er es nur mit deren Zustimmung getan. Die beiden hatten ihm Informationen vorenthalten und seinen Charakter bestimmt.

»Ich ahne, woran du gerade denkst«, sagte Daidra. »Du fühlst dich ... ausgenutzt.«

»Das kann man wohl sagen!«

»Versuch uns bitte zu verstehen, Gucky. Ich darf nicht allzu viel verraten, aber in unserer Zivilisation gehört es zum guten Ton, sich mithilfe einer Lebensblase auszutauschen. Man erfährt, wie der andere tickt – und kann sich aufeinander einstellen.«

Gucky winkte ab. Er war zu vielen Wesen unterschiedlichster Denkweise begegnet, um sich lange über derlei Dinge aufzuregen.

»Kommen wir zu meiner Frage zurück«, sagte er. »Warum habt ihr mich hierher gebracht? Ich glaube nicht, dass ihr mich zufällig in der Zerozone entdeckt habt.«

»Wohl kaum«, sagte Pretopart. »Du verfügst über bestimmte Gaben, nicht wahr? Du vermisst sie. Andernfalls hättest du sie längst angewandt.«

Die beiden Post-Yllits waren wahre Meister darin, ihn von seinem Kurs abzubringen. Immer wieder überraschten sie ihn mit winzigen Wissensbrocken und lenkten ihn von seinen dringendsten Fragen ab.

»Woher wisst ihr das?«

Na gut. Ein allerletztes Mal gehe ich auf ihre Ablenkungsmanöver ein.

»Wir beide haben selbst gewisse Fähigkeiten. Was umso mehr für unsere genetische Verwandtschaft spricht und diese Unterhaltung noch schwieriger macht.« Pretopart zog eine Gemüseknolle aus der Tasche seiner kurzen Hose und biss herzhaft hinein. »Meine Partnerin ist Ereignis-Prospektorin, ich selbst bin Paraspeiser.«

»Das heißt?«

»Daidra hat dich quasi entdeckt. Sie spürt, wann und wo sich Dinge ereignen werden, die für uns beide oder für Post-Yllit im Allgemeinen von Bedeutung sein könnten. Sie hat deine Anwesenheit, deinen Schmerz, deine Verzweiflung und deine Bedeutung für uns ertastet. Natürlich auch dein Demoir, aber das tut jetzt nichts zur Sache.«

Gucky verstand ansatzweise, welche Verantwortung mit dieser sonderbaren Begabung einherging. Der Begriff »Demoir« allerdings blieb ihm unklar.

Bevor Gucky nachhaken konnte, fuhr Pretopart fort: »Ich selbst kann meine eigene Paraenergie in andere Wesen ... einspeisen. Ich kann Fremde auf Kosten meiner eigenen Kräfte stärken. Was in deinem Fall bedeutet: Ich habe die Möglichkeit, dir deine Gaben wieder zu beschaffen. So, dass du womöglich aus eigener Kraft die Zerozone verlassen könntest.«

*

Gucky versuchte zu verstehen. »Ihr zeigt mir den Weg zurück?«

»Ich verstärke lediglich dein Potenzial. Ich helfe dir, verloren gegangene Fähigkeiten zu finden und sie so aufzubereiten, dass sie dir helfen, den Ausgang aus der Zerozone zu entdecken. Ich müsste aber deine Gaben erst einmal sichten, ehe ich verbindliche Zusagen machen kann.«

»Leg los!«

Daidra mischte sich in die Unterhaltung ein. Ihre Stimme klang traurig. »Dir ist bewusst, dass es noch eine andere Möglichkeit für dich gibt, dein Leben zu gestalten?«

Gucky blickte die Post-Yllit an – und verstand. »Du möchtest mich einladen, bei euch zu bleiben?«

»Richtig. Würdest du bei uns im Zero-Asyl bleiben, würden wir uns besser kennenlernen. Vertrauen aufbauen. Die Möglichkeit ausschließen, dass du ein Chronospion oder Chronomanipulator bist.« Daidra gab ein ganz und gar ilthaftes Seufzen von sich. »Wir würden dir vielleicht mehr über unsere Yllit-Vorfahren erzählen und möglicherweise auch über Ilt-Kulturen, die noch existieren. Derzeit dürfen wir kein Wort darüber reden.«

Gucky brauchte einige Sekunden, um die Konsequenzen seiner Entscheidung zu begreifen. »Entweder kehre ich zu meinen Freunden zurück, um ihnen zu helfen – oder ich erfahre, wohin die letzten Ilts verschwunden sind.«

»Wie gesagt: Ich kann dir nichts versprechen. Ich darf dir nichts versprechen.«

»Habt ihr eine Ahnung, was ihr mir damit antut?«, fragte Gucky und unterdrückte ein Stöhnen. »So eine Entscheidung kann ich nicht treffen.«

»Du musst. So leid es mir tut. Wir sind an Regeln gebunden. Verantwortung. Für Raum und Zeit und Kausalität.«

»So wichtig sind wir Ilts nicht, Daidra.«

»Leider doch, Gucky. Du hast keine Ahnung, wie bedeutsam die Zusammenhänge zwischen deinem Volk und der Existenz des Lebens an sich sind.«

Gucky spürte Stolz aufkeimen, schob ihn aber gleich wieder beiseite. Er würde bei diesem bösen Spiel nicht mitmachen. War es denn zu viel verlangt, dass er wissen wollte, ob es noch andere wie ihn gab?

»Atlan und meine anderen Freunde, die ich in meiner alten Existenz zurückgelassen habe, würden genauso gut ohne mich auskommen, nicht wahr?«

»Mag sein.«

»Sie würden verstehen, wenn ich bei euch bliebe.«

»Vermutlich.«

»Sie würden es mir gönnen. Bully und Perry und all die anderen würden mich umarmen und mir alles Glück der Welt für meine Suche nach den Ilts wünschen. So sind sie nämlich, diese verdammten Terraner.«

»Wenn du es sagst ...«

»Mach dich endlich an die Arbeit, Pretopart!«, piepste Gucky lautstark und zornig. »Sieh nach, ob du mir meine Parabegabungen zurückgeben kannst und ob es einen Weg zurück für mich gibt.«

Er schämte sich nicht für seine Tränen.

Auch dafür nicht, dass er sich in eine Ecke verzog, in die kein Licht hinschien, und den Kopf zwischen den Armen verbarg.

*

Pretopart starrte Gucky einfach nur an. Ab und zu wedelte er mit den Händen, als müsste er unsichtbare Fliegen verscheuchen.

Er schwitzte, dicke Tropfen sammelten sich auf Metallflächen in seinem Gesicht. Körpereigene Gebläse sorgten dafür, dass die Feuchtigkeit rasch wieder verschwand.

Daidra brachte Gucky derweil eine sämige Brühe, die nach den besten Gemüsesorten schmeckte. Die Suppe wärmte Guckys Bauch und sorgte dafür, dass er sich ein klein wenig besser fühlte.

»Es tut mir sehr leid, dass du dich so entschieden hast«, sagte sie.

»Freundschaft ist ein unendlich wertvolles Gut. Es gibt da jemanden, den ich unter keinen Umständen im Stich lassen darf. Ihr redet davon, dass wir Ilts womöglich den Gang mehrerer Universen beeinflussen. Mein Freund Atlan ist nicht weniger bedeutsam. Mag sein, dass sein Überleben für die heimatliche Milchstraße existenzentscheidend ist.«

»Armer, armer Ilt.« Daidra streichelte ihm unbeholfen über das Fell am Nackenansatz. Es fühlte sich keinesfalls so an, als würde ihn seine geliebte Iltu kraulen. Aber die Berührungen hatten dennoch eine Bedeutung für Gucky.

Daidra sagte kein Wort, während sie ihn immer und berührte. Mit der Unbeholfenheit eines Geschöpfs, für das es nie so etwas wie Zärtlichkeit gegeben hatte.

Und sie roch. Ihr Duft erweckte etwas in ihm. Ganz gewiss war sich Daidra nicht bewusst, welche Wirkung sie auf ihn hatte.

Pretopart erwachte aus seiner scheinbaren Trance, Daidra zog die Hand abrupt zurück und ging einige Schritte auf Distanz.

»Ich habe deine Gaben überprüft«, sagte Pretopart. »Es grenzt an ein Wunder, dass du es geschafft hast, in die Zerozone zu teleportieren.«

»Das bedeutet?«

»Dass dich die Anstrengung und der Schock deine Paragaben vergessen ließ. Ich denke, ich habe die nötige Kraft, um sie zurückzubringen.«

»Und dann?«

»Werden wir beide alles daransetzen, um dich an den Ausgangspunkt deiner Reise zu schaffen.«

»Ich darf auf keinen Fall zurück in den Suspensionsalkoven, aus dem ich geflüchtet bin.«

»Eine gewisse räumliche Abweichung ist sicherlich machbar. Allerdings ...«

»Ja?«

»Du wirst einen hohen Preis für diese eine Teleportation zahlen. Sie wird Narben hinterlassen und dein Parapotenzial schwächen.«

»Geht's ein wenig genauer?«

»Du bist mithilfe der Schmerzensteleportation hierhergekommen, und genauso verlässt du die Zerozone auch wieder. Mit diesem letzten Sprung bleibt dir unser derzeitiger Lebensbereich für immer verschlossen. Denn du wirst die Gabe der Schmerzensteleportation verlieren. Sie wird veröden.«

»Ein Grund mehr, bei euch zu bleiben, nicht wahr?« Gucky versuchte ein Lächeln, er versagte kläglich.

»Du allein triffst die Entscheidungen«, sagte Daidra. »Du weißt, was Pretopart und ich gerne hätten. Aber wir wollen nicht, dass du dein Leben lang darunter leidest, die falsche Wahl getroffen zu haben.«

»Könnt ihr beide denn nicht mit mir kommen? Damit wärt ihr in meiner Zeit und wir müssten keine Geheimnisse voreinander haben.«

»Wir Post-Yllit haben wie du eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Es gibt Gründe dafür, dass Pretopart und ich in die Zerozone geraten sind. Hier kommt meine Begabung erst so richtig zum Tragen. Anderswo hätte ich sie niemals so recht anwenden können.«

»Seid ihr denn schon anderen Vagabunden in der Zerozone begegnet?«

»Einigen. Aber darüber darf ...«

»... darfst du mit mir nicht reden, Daidra. Ich weiß.«

»Hast du deine endgültige Entscheidung getroffen?«, fragte Pretopart.

»Ja.« Gucky bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich will zurück an Bord der THORA. Auf das Schiff meines Freundes Atlan.«

»Was du tust, ist richtig«, sagte Daidra mit rauer Stimme. »Und dennoch ...«

Sie vollendete ihren Satz nicht und wandte sich stattdessen ab. Teile ihres metallenen Körpers gaben quietschende Geräusche von sich. War dies ein Zeichen ihrer Trauer?

»Nimm meine Hand!«, verlangte Pretopart. »Das kennst du ja sicherlich.«

Gucky packte zu. Er sah sich ein letztes Mal um. Nahm das Licht mehrerer Sonnen auf, blickte die Post-Yllit namens Daidra an, die sich keinesfalls bewusst war, wie wenig postfeminin-reproduktionsautark sie war, und konzentrierte sich auf sein ureigenstes Ich. Auf seine Begabungen, die stets da gewesen und deren Fehlen sich wie ein Loch in seiner Seele anfühlte.

Gucky meinte, ein Echo zu hören. Einen Widerhall, der von Pretopart stammen musste und der ihm half, in dieser inneren, leeren Zone Schnipsel seiner Parakräfte zu ertasten. Sie waren da. Sie waren bloß ... geplatzt. Zerfetzt. Gucky musste sie mithilfe des Paraspeisers wieder zusammenfügen.

Ihm war klar, dass sein Geist sich mit Ausdrücken und Bildern behalf, die nicht passten. Guckys Parabegabungen hatten keinen richtigen Platz. Sie griffen auf eine Ebene zu, die keinerlei räumlichen Begriffen untergeordnet war.

Er nahm eines der Puzzleteile und fügte es an ein anderes. Wundersamerweise passte es. Ebenso das dritte und das vierte. Es dauerte nicht lange, und Gucky hatte eine Art Symbol zusammengesetzt. Es ähnelte dem Omega-Zeichen.

»Da sind noch so viele andere Schnipsel, die ich einsammeln muss«, sagte er und erschrak über den müden Klang seiner Stimme.

»Ich habe nur die ... Kraft, dir zu einer Parabegabung zurückzuhelfen.« Pretopart ächzte. »Alles andere musst du selbst erledigen, sobald du ... zurück bist. Und jetzt geh. Geh! Ich kann dir nicht mehr länger helfen.«

Gucky fühlte sich weggeschubst. Weggetreten. Der Post-Yllit gab ihm Starthilfe. Springen musste er schon selbst.

Er meinte Daidras Stimme ein letztes Mal zu hören. Sie sagte etwas, das er gleich darauf wieder vergaß.

Schade. Außerdem habe ich vergessen zu fragen, was dieses Demoir ist ...

Gucky konzentrierte sich auf das Omega-Zeichen – und sprang. Zurück in seine Zeit, zurück in seine Welt voll Trauer und Schmerz.

Perry Rhodan 3088: Gucky kehrt zurück

Подняться наверх