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Regenwald von Kolumbien, Gegenwart
ОглавлениеDER TEMPEL
Aus den Aufzeichnungen des Jesuitenpaters Santiago, 1640
Ich trete diese Reise an in der Gewissheit, nicht zurückzukehren. Bevor wir von Cádiz in See stachen, vertraute ich Gott meine Seele an. Seitdem liegen viele Tage des Gebetes, des Zweifels und der Kontemplation hinter mir. Wir müssen fest im Glauben sein, Brüder!
Auf Höhe Gibraltars füllte ein bräsiger Wind die Segel, gerade als ob die Elemente wollten, dass wir eine schnelle Reise machen. Vielleicht ist es uns bestimmt – doch wer steht hinter der Bestimmung? Gott oder der Teufel?
O fluchwürdige Neue Welt – welche Schrecken und Gefahren wir doch meistern mussten!
Wir glaubten das Böse vor über einhundert Jahren besiegt zu haben, doch nun müssen wir feststellen, wie sehr wir uns täuschten. Schlimme Nachrichten haben das Hohe Officium erreicht. Gottlosigkeit und Heidentum erheben erneut ihre Köpfe, einer teuflischen Hydra gleich. Die Wilden beten noch immer die Alten Götter an, tief in den Dschungeln lodern die Zeremonialfeuer und auf den blutnassen Opfersteinen sterben Christen unter entsetzlichen Qualen. Die Finsternis ist zurück und es liegt an uns, der Heiligen Inquisition, Licht in die Dunkelheit zu bringen, das Böse in den Flammen der Heiligen Feuer zu verbrennen.
Möge Gott mit uns sein!
Um Mitternacht erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Nach einer Serie von zuckenden Blitzen und krachenden Donnerschlägen, hielt die Natur für einen Moment wie betäubt inne, dann zerriss blaues Himmelsfeuer den tosenden Regenvorhang, verdampften die Wassertropfen im knisternden Schein des flammenden Lichtbogens, ehe die Erde bebte und die Pyramide im Zentrum des Felskessels von den Energien des Blitzes getroffen wurde.
Der krachende Lärm des Einschlags hallte von den Felswänden wider, ein heulender Sturmwind drückte die Bäume und Sträucher mit solcher Kraft hernieder, dass die Wipfel beinahe den bebenden Boden berührten. Das Wasser des Regens war kalt wie Eis.
Von seinem zugigen Versteck im Felsdurchgang des Kessels beobachtete Fernandez das wütende Toben der Elemente.
Ihm fror erbärmlich, der Sturm peitschte den Regen beinahe waagerecht durch den Spalt im Fels. Es zog und heulte, der Poncho flatterte wie ein losgelöstes Banner um seinen Körper.
Selten hatte Fernandez so einen Sturm gesehen, geschweige denn war Teil davon. Und alles nur, weil der Comandante ihn zum Wachdienst bei der Stufenpyramide eingeteilt hatte. Als ob das Ding ihnen davonlaufen könnte!
Fluchend starrte er zu dem Bauwerk hinüber, das gleich einer kauernden Kröte im Zentrum des Felskessels aufragte. Umgeben von Urwald und lotrechten Felswänden. Im zuckenden Licht der Blitze schimmerte es giftgrün, bedeckt von Ranken, Moosen und Flechten. Etwas Unheimliches haftete dem Bauwerk an. Fernandez konnte die eingeborenen Arbeiter beinahe verstehen, dass sie nur widerwillig ihren Aufgaben nachkamen. Wo es ging, mieden sie die Pyramide. Und wenn sie dann doch daran arbeiteten, meldeten sie sich spätestens nach einem Tag krank.
Arbeitsscheues Gesindel, dachte Fernandez. Er hatte für die Eingeborenen nichts übrig. Sie waren nur für niedere Arbeiten zu gebrauchen.
Seine Stimmung wurde noch schlechter, als er daran dachte, dass die Indios jetzt in ihren Hütten lagen und schliefen, während er Wache schieben musste.
Ein weiterer Fluch drang über die Lippen des Mestizen. Er schaute wieder zu dem Bauwerk hinüber, blaues Elmsfeuer lief über die Flanken der Stufenpyramide. Oben, auf dem Flachdach, wo ein quadratisches Tempelhaus stand, hing eine Qualmwolke. Sie schimmerte türkisfarben. Als die Rauchwolke vom Sturmwind weggeblasen wurde, war Fernandez Neugierde geweckt. Es hatte den Anschein, als wäre das Tempelhaus auf dem Dach beschädigt. Trotz des Unwetters rannte der Mestize über die gerodete Fläche. Er wusste um die Geschichten, die sich die Eingeborenen über die Pyramide erzählten, und er hatte auch den Comandante darüber sprechen gehört. Angeblich verbarg sich ein gewaltiger Goldschatz im Inneren des Bauwerks, das über keinerlei Zugänge verfügte. Zumindest hatten die Gringos von Wissenschaftlern noch keinen Eingang gefunden.
Die Moos- und Grasschichten, die den Stein der Pyramide bedeckten, fühlten sich feucht und schleimig an. Unter seinen Fingern spürte er bearbeiteten Stein, voll von Fresken und
Ornamenten. Einen Teil hatten die Wissenschaftler schon freigelegt.
Hastig kletterte Fernandez die rutschige Stufentreppe in der Mitte des Bauwerks hoch. Völlig durchnässt stand er oben auf der Plattform. Die Luft roch nach Ozon und feuchtem Staub.
Er hatte recht gehabt! Der Blitz hatte das Gebäude beschädigt. Als er um das hintere Eck des Tempelhauses bog, sah er die Verwüstung. Ein Loch klaffte im Gemäuer! Im Schein des nächsten Blitzes glaubte er es golden leuchten zu sehen. Mit großen Augen trat der Mestize näher an die halb zerstörte Rückwand. Schwärze gähnte vor ihm, doch nur einen Atemzug lang. Wieder zuckten und prasselten Blitze, ihr grelles Feuer offenbarte Fernandez die Erfüllung seiner kühnsten Träume. Mit einem breiten Lächeln betrat er das Tempelhaus.
***
Der Sturm wütete die ganze Nacht, und als am Morgen die schweren Winde nach Osten abzogen, bot sich ein Bild der Zerstörung.
Eine breite Schneise entwurzelter Bäume und zerfetzten Urwaldes spannte sich von den senkrechten Felswänden des Hochplateaus bis zu den Ausläufern der östlichen Kordilleren. Alles was sich darin befunden hatte, war vernichtet. Zerschmettert von den Titanenfäusten des Sturmwindes, vom prasselnden Hagelschlag, vom flammenden Blitzfeuer und vom bebenden Rumpeln der Erde. Eine riesige Sense aus Wind und entfesselter Elemente hatte die Bäume niedergemäht, der rumorenden Erde den Boden aufgerissen und peitschender Regen neue, tiefe Gräben und Furchen gegraben. Der Fluten des Rio Magdalena traten über die Ufer und überschwemmten das weite Umland, verwandelten es in eine sumpfbraune Moorlandschaft.
Es wurde von einem Taifun gesprochen, von einem Hurrikan der oberen Kategorie. Wie immer man das Unwetter auch klassifizieren wollte, es hatte das Samon-Tal hart getroffen.
Weiterhin fiel Regen, dampfte der Boden und klebte die schwülfeuchte Luft auf der Haut. Wasser gurgelte in tief ausgewaschenen Gräben durch das Camp der archäologischen Expedition und Böen brachten die Zeltplanen zum Knattern. Es knallte dabei, als würde irgendwo in der Nähe mit einer Elefantenbüchse geschossen werden.
Maeve Kilburn wischte sich das nasse Haar aus dem hübschen Gesicht und ließ nochmals ihren Blick über das Lager gleiten.
Nicht ein Zelt war unbeschädigt geblieben, von den provisorischen Behausungen der Träger ganz zu schweigen. Der Pferch mit den Lasttieren nur noch Trümmer, die Esel und Alpakas ausgebüxt. Schlimmer noch hatte es das Laborzelt mit der ganzen Technik-Ausrüstung erwischt. Es war in alle Winde zerstreut. Ty Jackson, der Computerspezialist, stampfte mit verweinten Augen durch den Schlamm und Dreck und wühlte mit den bloßen Händen im Morast, um noch Teile seiner Ausrüstung zu finden.
Maeve hatte ihm drei Arbeiter zur Seite gestellt, sie wusste, wie wichtig die elektronischen Geräte waren. Ein weiteres Zelt hatte als Magazin für die entdeckten Funde gedient. Die Arbeit von eineinhalb Wochen war binnen weniger Stunden zunichte gemacht. Gott sei Dank gab es keine Toten, der materielle Verlust war ohnehin enorm. Allerdings wurde ein Mann vermisst, der Wache beim Tempel gehalten hatte. Sentera, der ortskundige Führer und Verantwortliche für die Sicherheit, hatte bereits einen Suchtrupp zusammengestellt. Maeve wusste nicht einmal den Namen des Vermissten.
Schon seltsam, dachte Maeve Kilburn. Sie kannte die meisten Indios und Mestizen von Zino Tamperons Arbeitsgruppe, doch die Wachleute von Diego Sentera waren ihr fremd. Vermutlich, weil sie sich mit dem Kolumbianer nicht verstand.
Die Mahlan-Group hatte den Jäger und erfahrenen Dschungelführer angeworben. Dabei wusste jeder, dass Sentera auch für die Drogenkartelle arbeitete. Das schien aber niemanden zu stören. Die Mahlan-Group zeichnete gleichfalls dafür verantwortlich, dass kein Mediziner an der Expedition teilnahm. Ihr Geldgeber hatte eigene Vorstellungen, was die Ausrüstung einer Grabungsexpedition betraf.
Ein Umstand, den Maeve Kilburn sehr bedauerte. In den letzten Tagen hatten sich die Indios immer wieder über Übelkeit und Unwohlsein beschwert. Zino Tamperon, der Vorarbeiter, verfügte zwar über einige Kenntnisse, die ausreichten, um Schürfwunden und Insektenbisse zu behandeln. Doch der Krankheit, unter der seine Männer litten, stand er machtlos gegenüber. Die Hausmittelchen versagten hier völlig.
Maeve Kilburn, die zwei Doktortitel über südamerikanische Mesakulturen und lateinamerikanische Kultstätten ihr Eigen nannte, fungierte als Expeditionsleiterin und Archäologin. Promoviert hatte sie an der Miscatonic-Universität, ehe sie an das Misram-Institut wechselte. Der Rest ihres wissenschaftlichen Teams bestand aus zwei Experten, erfahrenen Südamerika-Forschern, sowie dem Computerspezialisten Ty Jackson, einem Tüftler, der aus einem Stück Draht und einer Zitrone ein kleines Atomkraftwerk basteln konnte. Momentan allerdings war er mit den Nerven runter. Seine gesamte Ausrüstung im Wert von einhunderttausend Dollar hatte sich in einer einzigen Nacht in Luft aufgelöst.
Überhaupt hatte die Mahlan-Group bei dieser Expedition auf Technik gesetzt. Vermutlich wollte man schnell zu einem Ergebnis kommen, was anfangs ja auch funktionierte.
Nach nicht einmal zwei Wochen Aufenthalt im Regenwald, fanden sie die Stufenpyramide. In einem alten Text aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert, wurde sie erwähnt, die Überarbeitung der handschriftlichen Aufzeichnungen diente für die Expedition wie ein Kompass.
Mit Hilfe moderner Funkpeilung und dem Einsatz eines ultramodernen Sonargerätes konnte Jackson den Standort bestimmten. Die letzten paar Tage hatten sie damit zugebracht, das Bauwerk in schweißtreibender Arbeit aus den Klauen des Dschungels freizulegen.
Als Maeve Kilburn südwärts blickte, sah sie nur das Grün des Dschungels, und dahinter erhoben sich die zerklüfteten Felswände des Samon-Tales. Eine enge Kluft spaltete den Fels an einer Stelle und gab den Weg in einen schmalen Kessel frei. In dieser mit üppiger Vegetation ausgestatteten Seitenschlucht ragte aus der Mitte ein Tempel auf, erbaut von einem unbekannten Volk, das nach ersten Hinweisen weder den Inka noch den Maya zuzuordnen war. Die Steinquader waren uralt und grob bearbeitet, die Wurzeln von Bäumen und Sträuchern hatten dafür gesorgt, dass die Stufenpyramide sehr mitgenommen wirkte. Sie hatten das Alter noch nicht bestimmen können, die eingravierten Reliefs und Fresken, bestehend aus menschenartigen Köpfen und tierhaften Körpern, wurden von den Wissenschaftlern katalogisiert, allerdings noch nicht klassifiziert.
Ein kalter Schauer lief über den Rücken der rothaarigen Wissenschaftlerin. Die fünfstufige Steinpyramide hatte etwas an sich, das niemand genau definieren konnte. Im grauen Licht erschienen die Ecken und Kanten seltsam schief, die Winkel irgendwie falsch. Selbst die Farben wirkten unscharf. Untypisch war auch das Fehlen von Fenstern und Nischen. Der zyklopische Stein fügte sich fugenlos aneinander, ein gewaltiger Turm ohne sichtbaren Eingang, auf dessen abgeflachter Spitze ein Tempelhaus thronte.
Jedesmal, wenn Doktor Kilburn bei der Stufenpyramide arbeitete, fühlte sie sich beobachtet. Ein Gefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte.
In Gedanken rief sie sich zur Ordnung. Sie konnte sich solche negativen Gefühle nicht leisten. Das Misram-Institut hatte sie zu dieser privaten Grabung abgestellt, weil Eric Mahlan, der Großindustrielle und leidenschaftliche Altertumsforscher, sie dafür anforderte. Mahlan zahlte an das Institut nicht nur ein horrendes Gehalt, sondern auch eine großzügige Spende.
Maeve wischte eine widerspenstige, rote Haarsträhne aus ihrer Stirn. Die unbekannte Stufenpyramide beherrschte ihr Denken. Eigentlich hatten sie heute nach einem Eingang suchen wollen, doch zuerst musste das Chaos im Camp behoben werden. Die Pyramide konnte ihnen nicht weglaufen, dafür allerdings die Zeit.
Die Grabungskonzession belief sich auf sechs Wochen. Eine beinahe unmöglich einzuhaltende Frist, wenn man bedachte, dass das Objekt der Grabung erst einmal gefunden werden musste. In ihrem Fall hatten sie Glück gehabt.
Sie drehte sich um und ging die wenigen Meter zum Verpflegungszelt. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase.
***
Maeve Kilburn blieb nicht viel Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie hatte noch keinen Schluck aus dem Metallbecher genommen, als Diego Sentera das Zelt betrat. Er war ein großgewachsener Mann mit funkelnden, unruhigen Augen. Das unrasierte Gesicht war dunkel gebräunt, auf dem Kopf saß ein speckiger, jetzt nasser Hut. Der Kolumbianer trug die Kleidung eines Jägers, feste Stiefel, Khaki-Hosen und ein verschwitztes Hemd, darüber eine ärmellose Weste mit vielen Außentaschen. Patronen steckten in Stoffösen auf Brusthöhe. Um die Leibesmitte hatte er einen Waffengurt mit Messer und Pistolenhalfter gegürtet. Trotz des Nieselregens trug er keine Regenjacke.
„Das sollten Sie sich ansehen, Senhorita Doktore“, sagte er in seiner polternden Art. Seine Augen saugten sich förmlich an ihrem hochgewachsenen Körper fest. Seinem Gesicht war abzulesen, was er dachte. Für Diego Sentera existierten Frauen nur zur Befriedigung seiner Gelüste.
Maeve ließ langsam den Becher sinken. Ihre zwei Kollegen traten mit erwartungsvoller Haltung neben sie.
„Haben Sie Ihren verschwundenen Mann gefunden?“ fragte Maeve Kilburn den kolumbianischen Führer.
„Noch nicht, aber Ihr Tempel ist beschädigt. Sieht aus, als habe der Blitz eingeschlagen!“
***
Sie brauchten zwanzig Minuten für die siebenhundert Meter zur Stufenpyramide. Fünfundzwanzig Meter hoch, aufgeteilt in fünf quadratische Podeste, erbaut aus Sandkalkstein und dunklem Basalt. Verziert mit gemeißeltem Reliefschmuck, beherrschte sie das umgebende Gelände. Noch vor wenigen Tagen hatte der Urwald seine grüne Decke über die Pyramide gebreitet gehabt. Der Boden um den Tempel war auf einer Breite von zehn Metern gerodet, mehrere Fußpfade führten über markierte Grabungsfelder vom Zugang des Felskessels zum Bauwerk. Nur mit Mühe hatte sie die eingeborenen Arbeiter dazu bewegen können, den Kessel zu betreten und mit den wichtigen Rodungsmaßnahmen zu beginnen. Für die Indios war die Pyramide mehr als nur das Überbleibsel einer alten, halbvergessenen Kultur. Viele von ihnen hingen noch immer dem Glauben an bluttriefende Götter an, und der Standort des Monuments in dem vulkanverseuchten Landstrich traf die Indios tief in ihrer abergläubischen Seele.
Maeve rannte mit schnellen Schritten den Hauptweg zum Pyramidentempel. Über den schlotartigen Wänden des Kessels nistete ein grauer, tiefhängender Regenhimmel. Der Fels wirkte fast schwarz, die archaische Pyramide schien alle Helligkeit aufzusaugen, als läge ein finsterer Schleier darüber.
Unter den verschiedenen Grüntönen von Moosen und Flechten zeichneten sich einst rotbemalte Steinstufen ab. Früher war das Monument bunt bemalt gewesen, bis auf die schwarzen Seitenwände aus Basalt. An den vier Ecken des Tempels kroch jeweils eine Steinschlange nach oben, zum Tempelhaus hinauf. Jadesplitter klebten noch auf den zerfallenen Stuckskulpturen. Das Synonym Quetzalcoatls, der Gefiederten Schlange. Eine Gottheit, die einst die Tolteken anbeteten, bevor die Azteken sie in ihre Religion integrierten.
Erbaut für die Ewigkeit, strahlte das Monument eine rohe, archaische Kraft aus. Wie es schien, hatten nicht einmal die leichten Erdstöße dem Bauwerk Schaden zufügen können.
Der Boden war matschig, teilweise mit Erdspalten übersät. Entwurzelte Bäume blockierten immer wieder den Weg. Am Fuß der Felswände des Kessels hatte sich Geröll gesammelt, herausgebrochen von der Kraft des Erdbebens und des sintflutartigen Regens der letzten Gewitternacht.
„Dort oben“, sagte der kolumbianische Führer und deutete auf das schmale Tempelhaus auf der Spitze. „Auf der anderen Seite!“
Maeves Herz schlug ihr hoch bis zum Hals. Der Tempel beschädigt, wie konnte das nur sein?
Närrin, schalt sie sich in Gedanken. Heute Nacht hat die Erde gebebt!
Vielleicht wurde durch diesen Umstand eines ihrer Probleme gelöst, nämlich einen Zugang ins Innere des Tempels zu finden. Und dann würde die eigentliche Arbeit erst beginnen. Das Alter musste bestimmt und abgeglichen werden, die Räume erkundet, katalogisiert und das Inventar aufgenommen werden. Und erst dann würde sie eine Meldung via Satellitentelefon an die Mahlan-Group schicken und bestätigen, den richtigen Ort für die anstehende Suche gefunden zu haben. Eric Mahlan, der Finanzier der Unternehmung, hatte deutlich gemacht, um was es ihm ging. Er suchte nach einem verschwundenen Kodizes, von dem selbst Maeve Kilburn nur sehr wenig gehört hatte. Wenig mehr als Andeutungen und Gerüchte, kaum Handfestes, noch weniger plausibles. Ein Buch, das Obscura Mundi genannt wurde, ein Werk, das von den Dunklen Welten berichtete. Eine Art Heilige Bibel für Esoteriker und Okkultisten, keine Lektüre für pragmatische Wissenschaftler und empirische Forscher.
Der Tempel war nach Westen ausgerichtet, dem Sonnenuntergang entgegen. Was bestimmte Fragen aufwarf, denn die meisten religiösen Bauwerke der präkolumbianischen Ära wiesen nach Osten, als Anbetung für Inti, dem Sonnengott. Als Maeve die andere Seite erreichte, sah die Archäologin sofort die Beschädigung am oberen Tempelhaus. Die halbe hintere Wand war eingestürzt.
Der Himmel öffnete nochmals seine Schleusen, und aus dem Nieselregen wurde ein Sturzbach. Die Expeditionsleiterin ignorierte es und machte sich an den Aufstieg. Oben angekommen, wischte sie sich das Wasser aus den Augen und blickte ihre beiden Kollegen Thomas Reardon und Borgo Rastillas auffordernd an.
„Wenigstens haben wir jetzt einen Zugang“, sagte Rastillas.
„Dann sehen wir ihn uns etwas genauer an“, erwiderte Maeve entschlossen.
***
Schon nach einem ersten Überblick wurde der Archäologin das ganze Ausmaß der Zerstörung bewusst. Der Wind fegte den Regen beinahe waagerecht in ihr Gesicht, die Blätter des Regenwaldes duckten sich unter den Böen, raschelnd und rauschend.
Und aus der Pyramide selbst schien ein Ton zu dringen, wie ihn noch kein Mensch vernommen hatte. Vielleicht war es aber nur das gurgelnde Regenwasser.
Langsam trat die Expeditionsleiterin näher und betrachtete die halb eingebrochene Wand. Ein Teil desquadratischen Daches darüber war zertrümmert und nach innen gestürzt. Maeve sah uralte, geschwärzte Dachbalken und den halb geschmolzenen Sandstein der Decke.
Neben ihr begutachtete der achtunddreißigjährige Reardon die Beschädigungen mit zusammengekniffenen Augen.
„Ein Blitzschlag“, sagte der amerikanische Anthropologe überzeugt. Er beugte sich vor, versuchte in das dunkelerfüllte Innere zu blicken. Irgendetwas blitzte dort auf. Einen Moment nur.
„Was ist das da auf dem Balken dort?“, fragte Doktor Rastillas, der Südamerikaforscher von der Universität Bogota, der zusammen mit Sentera das Tempelhaus einmal umrundet hatte. „Sieht aus wie geschmolzenes Metall?“
Maeve folgte seinem Blick. Irgendeine Legierung war auf dem Holz zerronnen. Kurz entschlossen hackte Maeve die Stablampe von ihrem Gürtel und schaltete sie ein. Der gebündelte Lichtstrahl drang in das Innere der Kammer vor.
Staub wirbelte über den Mosaikboden, der um eine gute Mannslänge tiefer lag als das Niveau der Kammer. Trümmer des Daches wurden der Dunkelheit entrissen. Schatten an den Wänden huschten über gemalte Bilder, halb verblichen vom Zahn der Zeit. Säulen, die die Deckenkonstruktion stützten, bedeckt mit weißem Gesteinsmehl.
Etwas blitzte gelblich im Licht der Stablampe auf. Dann nochmals. Und dort auch, als Maeve den Arm und somit die Lampe weiterbewegte. Über einen Teil der Wände, dem Boden, die Säulen.
Jetzt konnte sie es besser sehen. Der Schmutz war nur eine dünne Schicht, konnte nicht verhüllen, was sie mit erstauntem Blick erkannte.
Gold! Die ganze Kammer war mit Gold ausgekleidet. Und zwischen den Trümmern, vor einem gewaltigen Motiv-Stein, lag eine nackte, leblose Gestalt!
***
„El Dorado“, sagte Doktor Thomas Reardon und lehnte sich in dem Plastikstuhl zurück. „Seit über fünfhundert Jahren suchen die Menschen nach der Stadt aus Gold, dem sagenhaften Hort unermesslichen Reichtums. Ich denke, wir haben ihn gefunden!“
Reardon hob das Schnapsglas und prostete den anderen zu. Auf seinem Gesicht lag ein fröhliches Lächeln. Maeve konnte seine Freude nicht ganz teilen.
Sie dachte an die Probleme, die der Fund bringen würde. Schon jetzt wurde unter den Arbeitern getuschelt, glitten hungrige Augen zur Tempel-Pyramide, wurden Träume und Pläne in so manchem Kopf gewälzt.
Sentera hatte schnell reagiert und fünf seiner Leute vor dem Zugang des Felskessels postiert. Bis auf weiteres war der Zugang zum Tempel abgeriegelt. Nur Maeve und die Wissenschaftler durften passieren. Und selbst sie sah Sentera mit schiefem Blick an. Dabei war der Mann gegen die Verlockungen des Goldes keineswegs gefeit. Der kolumbianische Führer, der von seinen Leuten respektvoll Comandante genannt wurde, hatte eigene Pläne. Über kurz oder lang würde es zu ernsthaften Spannungen kommen.
Und dann war da noch der mysteriöse Fremde, den sie aus der Kammer geborgen hatten.
Er lag im Quartier der Wissenschaftler, einer von Zino Tamperons Arbeitern war bei ihm.
So überraschend es auch war, aber der Mann lebte! Sein so plötzliches und rätselhaftes Auftauchen blieb ein Geheimnis. Genauso ungeklärt waren die Fragen um seine Person.
Was hatte er in der Pyramide zu suchen? War er ein Goldräuber, ein Schatzsucher? Wie war er hineingelangt, warum trug er keine Kleidung?
Der Mann hatte etwas Rätselhaftes an sich. Der dürre Körper war mit Narben und Verletzungen übersät, alten und neuen. Die jüngeren Datums schienen medizinisch behandelt worden zu sein. Das Haar war etwa schulterlang, das schmale Gesicht unrasiert. Die Haut sonnenverbrannt, der Körper abgemagert und sehnig. Auf der Brust trug er ein eigenartiges Tattoo, vier verschlungene Dreiecke, von denen zwei auf der Spitze standen. Reardon hatte die Symbole als die Zeichen der vier Elemente erkannt. Von der linken Schulter bis zum Ellbogen des Armes schlängelte sich eine spiralartige Tätowierung, einem Maori- oder Keltensymbol nicht unähnlich.
Der Fremde mochte zwischen dreißig und vierzig Jahre sein, das kantige Gesicht mit den halbverblassten Narben erschien selbst in der Bewusstlosigkeit noch angespannt und zornig.
Der Fremde jagte Maeve Angst ein, und auch die anderen wussten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten.
Für Diego Sentera war der Fall klar, ein illegaler Schatzräuber, der ihnen vielleicht von Cartagena aus gefolgt war. Warum er keine Kleidung trug, und sie auch keine Ausrüstungsgegenstände gefunden hatten, war für den Comandante nur nebensächlich. Es galt, den sagenhaften Fund von El Dorado zu schützen. Darum wollte er auch keine Polizei über das Satellitentelefon rufen.
Vorläufig würde der Fremde im Camp bleiben, vor dem Zelt stand eine bewaffnete Wache.
Das war auch einer der Gründe, warum sie den Fremden nicht im Lazarett-Zelt untergebracht hatten. Sie wollten ihn vorläufig isoliert halten, es wurde ohnehin schon zu viel gemunkelt.
Das ist also der Stand der Dinge, dachte Maeve Kilburn, wir haben El Dorado gefunden und stehen vor einem Berg von Problemen.
Wenn sie in die Gesichter der anderen blickte, den hungrigen Glanz richtig deutete, dann würde es auch Schwierigkeiten beim Einhalten der Prioritäten geben.
„Komm schon, Maeve, du kannst dich ruhig ein wenig freuen! Das ist der bedeutendste Fund einer Grabungsexpedition seit Schliemanns Entdeckung von Troja!“
Unwillkürlich musste Maeve den Computerspezialisten anlächeln. Ty Jackson gehörte eindeutig zu den Idealisten. Ein verwegenes Grinsen kerbte das mit Bartstoppeln bedeckte Gesicht. Die dunklen Haare standen wellenförmig nach allen Seiten ab. Blaue Augen funkelten in einem sonnengebräunten Gesicht. Ty hätte jederzeit als Surf Boy in einem Film mitspielen können. Doch er hatte sich der Erforschung des Altertums gewidmet, versuchte mittels modernster Technik der Vergangenheit die Rätsel vergangener Kulturen zu entreißen.
Und er war erfolgreich damit.
„Was ist schon Troja“, sagte Reardon pathetisch. „Dieser Fund macht uns berühmt und reich! El Dorado – ich kann es immer noch nicht glauben!“
„Behalten Sie einen kühlen Kopf, Amigo“, sagte Doktor Rastillas bedächtig. Er blickte auf sein halbvolles Glas Whisky. „Bisher haben wir nur die Tempelkammer gesehen. Nichts deutet darauf hin, dass auch die anderen Räume mit Gold überzogen sein müssen, oder dass darin unermessliche Schätze gelagert sind. Von der Tempelkammer führt kein Weg weiter. Wir sollten auch diesen Fremden nicht vergessen, und Sentera vermisst einen Mann aus seiner Gruppe.“
Reardon winkte lässig ab. Sein Glas war schon wieder leer, seine Augen glänzten matt.
„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir sind den alten Aufzeichnungen gefolgt, haben uns also an die Fakten gehalten – und voila! – hier ist El Dorado!“
„Eine abseits gelegene Pyramide, erbaut von einem unbekannten Stamm“, fuhr Rastillas fort. „Bisher konnten wir das Bauwerk keiner Kultur zuordnen. Die Fresken enthalten Arbeiten verschiedener andinischer Völker, Maya, Inkas und selbst aztekische Symbole und Stile wurden verwendet. Welche Bedeutung wird ihr zugeschrieben? Gleichfalls gibt mir der Standort zu denken.“
„Was ist daran denn komisch?“ fragte Doktor Reardon und seine Stimme hatte einen herausfordernden Klang. Maeve wurde bewusst, dass sie in den sich anbahnenden Disput eingreifen musste.
„Kolumbien spielte niemals eine zentrale Rolle in den führenden präkolumbianischen Kulturen. Obwohl sich das Reich der Inkas von Peru bis Mexiko ausdehnte, drangen sie niemals tief in die Regenwälder Kolumbiens ein. Sie nannten diesen unermesslich weiten Urwald das ´Wilde Land´. Hier hausten Geister und Dämonen. Und auch die Azteken und Maya in Mittelamerika schienen Kolumbien zu meiden. Im Gegensatz zu den anderen Ländern Lateinamerikas hat sich hier niemals eine Hochkultur entwickelt. Kolumbien wurde von wilden Stämmen bewohnt, kriegerisch und barbarisch, mit archaischen Riten. Die spanischen Konquistadoren berichteten von Kannibalen und Eingeborenen, die mehr Tieren als Menschen ähnelten. Warum sollte man in dieser Wildnis El Dorado erbauen, das Paradies aus Gold und Juwelen? Wer hätte Freude daran, hier zu leben, wo der Tod tausendmal drohte? Und dieser Felskessel, abgelegen und beinahe unzugänglich. Warum baut man hier einen Schatztempel?“
Reardon schnaubte, als er die Argumente seines Kollegen hörte. Er wusste so gut wie Rastillas, dass El Dorado in der Nähe des Guatavita-Sees unweit von Bogota vermutet wurde. Aber was zählten schon Vermutungen gegenüber den harten Fakten.
„Sie sollten sich selbst hören, lieber Doktor! Das klingt ja fast, als hätten Sie Angst davor, die Wahrheit zu akzeptieren. Fürchten Sie sich vor El Dorado?“
„Nicht vor dem Mythos, aber vor dem, was er aus den Menschen macht!“
Der amerikanische Anthropologe murmelte etwas Abfälliges und erhob sich wankend.
„Wenn mich die Kollegen entschuldigen wollen, ich habe noch zu arbeiten.“
Rastillas blickte ihm nach, wie er das Zelt verließ.
„Ich glaube, wir stecken schon knietief in den Problemen.“
„Dann widmen wir uns wieder der Arbeit“, sagte Maeve Kilburn beschwichtigend. „Als erstes gilt es, wieder Ordnung in das Lager zu bringen. Danach kümmern wir uns um die Pyramide.“
Sie hatten das Tempelhaus mit Planen und Zeltbahnen notdürftig gegen Wind und Wetter abgedeckt.
„Ty, wie steht es mit deiner Ausrüstung?“
Es wurde noch ein langer arbeitsreicher Nachmittag.
***
Schmerzen! Als hätte man seine Knochen unter Mühlsteinen zerrieben. Sein Mund war trocken, in den Ohren war ein anhaltendes Pfeifen, das sich wie mit Dolchstichen in seinen Schädel bohrte. Eine Vielzahl von Gerüchen drang ihm in die Nase, allesamt fremd. Er konnte nichts zuordnen. Seine Sinne waren noch zu verwirrt.
Er versuchte ruhig einzuatmen, aber die Luft fühlte sich an, als würde er flüssiges Feuer inhalieren. Die Lungen brannten. Durch seinen Kopf tobte wildes Sturmgebraus.
Auf einem ölig schimmernden Meer tanzten Buchstaben wie Ping-Pong-Bälle. Zwei Wörter, die einen Namen bildeten.
Ich heiße Deighton Croft, dachte er inbrünstig. Das ist mein Name. Deighton Croft!
Diese Tatsache erschien ihm äußerst wichtig. Alle anderen Erinnerungen blieben tief unter der Oberfläche, niedergedrückt vom Gewicht und der Kraft der schmierig-dunklen See. Ein finsterer Sog wollte nach ihm greifen.
Mit einem Keuchen riss Deighton die Augen auf und schnellte hoch. Schleier flimmerten vor seinem Gesichtsfeld, verwaschene Konturen, die sich einer Fixierung widersetzen.
Er glaube links von sich eine Bewegung zu sehen und hob den Arm.
Für einem Moment war ihm, als würde er etwas flüchtig berühren. Ein schrilles Geräusch gellte durch seine Gehörgänge.
Er versuchte sich zu konzentrieren, kniff die Augen zusammen. Wirbelnde Schleier, Lichtpunkte, die Annahme einer Bewegung. Dann traf ihn etwas ins Gesicht und schleuderte ihn zurück.
Er wurde angegriffen! Rein instinktiv rollte er zur Seite, trat mit dem Fuß aus, kam hoch und wirbelte herum. Er starrte in eine graue, verwaschene Welt die voller Bewegungen war. Schemen wie Geister umringten ihn. Er stolperte, als eine plötzliche Schwäche seine Beine weich werden ließ. Er fing seinen Sturz ab, verlor aber die Kontrolle über seine Muskeln. Etwas krachte gegen seinen Hinterkopf und warf ihn vornüber.
Einen Momentlang glaubte er Stimmen zu hören.
„Das… ein…Wilder! Sollte…totprügeln…fesseln!“
Er versuchte den Worten einen Sinn abzuringen. Nur am Rande nahm er wahr, dass er auf die Füße gerissen wurde.
Arme wie Tentakel schlangen sich um seinen Leib. Deighton wehrte sich in grimmiger Wut, sprengte den Griff, warf sich herum und rannte. Er prallte mit dem Knie gegen etwas Hüfthohes, kam aus dem Takt, hastete weiter und rannte gegen eine Art Stoffwand, die ihn zurückschleuderte. Dann waren die anderen heran. Diesmal fackelten sie nicht lange. Bevor er das Bewusstsein verlor, glaubte er einen Schimmer von Rot zu sehen.
„Aufhören!“, schrie eine Stimme. Weiblich. „Sofort aufhören!“
Das Rot wurde zu schwarz.
***