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1. Was bedeutet Gerechtigkeit? Spurensuche im Alltagsverständnis

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Das Nachdenken über politische Fragen in der Philosophie war im 20. Jahrhundert nicht immer populär gewesen. In den siebziger Jahren hat sich das grundlegend geändert. Denn 1971 hat der mittlerweile verstorbene US-amerikanische Philosoph John Rawls seine „Theorie der Gerechtigkeit“ vorgelegt. Das philosophische Nachdenken über Gerechtigkeit in Gesellschaft, Politik und Ökonomie spielt seither keine untergeordnete Rolle mehr, sondern ist zu einem zentralen Thema der Philosophie geworden. Man könnte auch sagen, mit John Rawls ist die politische Philosophie wieder salonfähig geworden innerhalb der Philosophie. Gerechtigkeit ist seither ein Dreh- und Angelpunkt der politischen Philosophie, das ist gewissermaßen das Erbe der Theorie der Gerechtigkeit. Wenn man heute in die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten weltweit schaut, so spielt Gerechtigkeit deshalb eine zentrale Rolle.

Was aber bedeutet Gerechtigkeit überhaupt? Gerechtigkeit ist sicherlich, so lässt sich schnell feststellen, kein eindimensionaler Begriff, auch die Verwendungsweisen sind oft sehr unterschiedlich. Zum einen kann man danach fragen: Betrifft Gerechtigkeit eher den einzelnen Menschen, seine individuellen Verhaltensweisen oder betrifft Gerechtigkeit die gesamte Gruppe, d.h. eine größere Gemeinschaft oder gar die Weltgesellschaft als Ganze?

Eine zweite Facette, die in gewisser Weise mit der ersten zusammenhängt, wäre: Ist Gerechtigkeit eher eine Bewertung von einzelnen Handlungen oder von gesellschaftlichen Regeln? Der erste Aspekt von Gerechtigkeit bezieht sich auf den einzelnen Menschen, der zweite versteht Gerechtigkeit als eine ethische Kategorie zur Beurteilung von Institutionen.

Der dritte Aspekt, der heute in der Öffentlichkeit viel diskutiert wird, ist die Frage, ob Gerechtigkeit ein abstraktes und allgemeines Prinzip oder eine konkrete Regel ist, die beispielsweise in konkreten Verteilungskonflikten eine Orientierung bietet.

Ein vierter Aspekt von Gerechtigkeit betrifft seine Verwendung in unserer Alltagssprache. Beispielsweise sagen wir, „das war ein gerechter Wettbewerb“ oder „das Ergebnis eines Fußballspiels ist gerecht“. Bei Fußballkommentatoren findet man diesen Begriff sehr häufig. „Das war nicht gerecht, dass sie verloren haben“ – dieser Satz meint entweder, dass eigentlich die andere Mannschaft hätte gewinnen müssen oder dass der Schiedsrichter nicht anständig gepfiffen hat.

Diese vier Aspekte spannen ein Grundraster auf, wie Menschen den Begriff Gerechtigkeit verwenden.

Wenn man sich nun der philosophischen Debatte zuwendet, dann kann man diese vier Aspekte in verschiedene philosophische Grundfragen übersetzen.

Eine erste zentrale Frage, die innerhalb der letzten zwanzig Jahre in der politischen Philosophie eine große Rolle gespielt hat, ist die nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit auf der einen und Gleichheit auf der anderen Seite. Bedeutet, gerecht zu sein, jedem das gleiche zu geben oder kann Gerechtigkeit auch eine gewisse Form von Ungleichheit beinhalten? Und wenn es Ungleichheit gibt, worin besteht sie?

Eine zweite philosophisch spannende Frage ist die nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Inwieweit ist unser Recht, beispielsweise unsere Verfassung, ein Ausdruck von Gerechtigkeit? Wie hängt der ethische Begriff von Gerechtigkeit mit unserem Rechtsverständnis zusammen?

Eine dritte Frage, die in den aktuellen Diskussionen der politischen Philosophie oft auftaucht, ist folgende: Hat Gerechtigkeit etwas mit Verteilung zu tun? Und wenn ja, welche Verteilungsregel ist denn die gerechteste?

Ich möchte diese Unterscheidungen der Philosophie zum Thema Gerechtigkeit zum Einstieg an einem Beispiel illustrieren: Man stelle sich ein schönes Sommerfest vor. Man sitzt mit Freunden im Garten zusammen und stellt plötzlich fest, dass nicht genügend zu essen da ist. Man beschließt kurzerhand den Pizzaservice anzurufen und eine große Familienpizza XXL zu bestellen. In wenigen Minuten ist die Pizza da. Man setzt sich an den Tisch, und stellt sich nun die Frage: Wie teilen wir denn die Pizza auf? Die erste Frage ist natürlich, wer bekommt denn bitteschön die entsprechenden Stücke, die man aus der Pizza herausschneidet. Sind es nur die Leute, die um den Tisch herum sitzen oder sollen auch die Menschen berücksichtigt werden, die gerade im Haus sind und nicht mitbekommen, dass die Pizza schon da ist. Man weiß vielleicht, dass um Mitternacht Uhr noch späte Gäste kommen: Soll man für sie auch Pizzastücke aufheben? Es geht in dieser Perspektive im Grunde um die Reichweite von Gerechtigkeit und die Frage, wer an der Verteilung der Pizza überhaupt beteiligt werden soll.

Als zweites muss geklärt werden, nach welchem Verfahren aufgeteilt werden soll. Soll der Gastgeber bestimmen oder ein demokratisches Verfahren? Philosophisch wird diese Frage als Verfahrensgerechtigkeit diskutiert. Mit diesem Begriff ist die Suche nach einem gerechten Verfahren gemeint, mit dem entsprechende Güter, in unserem Fall die Pizza beim Sommerfest, aufgeteilt werden soll.

Wenn sich die Gäste auf ein entsprechendes Verfahren und die Reichweite von Gerechtigkeit verständigt haben, bleibt trotzdem noch eine entscheidende Frage: Wie wird die Pizza denn nun schlussendlich aufgeteilt? Hier möchte ich einige Vorschläge machen, die Spiegelbild der aktuellen philosophischen Debatte über Gerechtigkeit sind.

Ein erstes Kriterium liegt auf der Hand: gleich große Stücke. Wir sehen hier den umgangssprachlich schon aufgezeigten Zusammenhang von Gerechtigkeit und Gleichheit. Gerechtigkeit würde dann darin bestehen, dass sich die Verteilung an dem Kriterium der Gleichheit orientiert.

Ein Einwand gegen dieses Kriterium ist, dass Gleichheit letztlich kein adäquater Maßstab ist. Vielleicht hat der eine vorher schon zu Hause gegessen, der andere noch nicht. Wir teilen doch lieber danach auf, wer den größten Hunger hat, so ein Gegenargument, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Wer hat es am nötigsten von der Pizza zu essen? Man kann dies philosophisch als Bedarfsgerechtigkeit bezeichnen. Der, der den größten Bedarf hat, in diesem Fall: der, der den größten Hunger hat, kriegt das größte Stück der Pizza.

Eine dritte Möglichkeit betont, wer die Pizza bezahlt hat. Vielleicht war einer der Gäste sehr großzügig und hat gesagt: „ich übernehme natürlich die Pizza, der Gastgeber hat uns schon die ganzen Getränke gestellt und alles schön hergerichtet.“ Hat dieser Mann oder diese Frau nun ein Vorrecht auf ein größeres Stück? Man könnte argumentieren, dass derjenigen, der die Pizza bezahlt das größte Stück bekommt oder zumindest das Verfahren zur Verteilung festlegen darf. Das ist eine Form von Gerechtigkeit, die im aktuellen Diskurs auch als Leistungsgerechtigkeit bezeichnet wird. Derjenige, der am meisten leistet bekommt auch das größte Stück. Dieses Verständnis spiegelt sich auch in den erwähnten Fußballkommentaren wider.

An diesem Pizza-Beispiel werden verschiedene Facetten von Gerechtigkeit gut deutlich. Diese unterschiedlichen Maßstäbe spielen nicht nur in unserem Alltag und in der Philosophie, sondern ebenfalls in der Politik eine wichtige Rolle. Einige politische Konzepte von Gerechtigkeit seien angeführt, die direkt an das Pizzabeispiel anschließen.

Es gibt heute erstens viele öffentliche Debatten, die um das Feld der sozialen Gerechtigkeit kreisen.

Wie geht beispielsweise eine moderne Gesellschaft, die vor dem Problem der Arbeitslosigkeit steht, mit den Arbeitslosen um? Gibt es eine Verpflichtung zur Unterstützung von Arbeitslosen oder gar eine zu sozialer Umverteilung? Gibt es Gründe für eine solidarische Arbeitslosenversicherung? Das, was in Deutschland heute unter Hartz-IV-Reform diskutiert wird, ist eine genuine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Dazu gehören auch die Diskussionen um die Höhe der Gehälter von Managern in Zeiten der Finanzkrise.

Ein zweiter Aspekt, der in der politischen Debatte hoch aktuell ist, ist die politische Gerechtigkeit. Diese zeigt sich z.B. bei den Diskussionen um die Europäische Union. Hier wird intensiv darüber gestritten, wie die EU, wenn sie immer mehr Mitgliedstaaten hat, politisch gerecht organisiert werden soll. Es geht also politisch um das, was vorhin als Verfahrensgerechtigkeit bezeichnet wurde. Wer bekommt wie viele Stimmen in der Europäischen Kommission? Wie werden Ministerentscheidungen organisiert? Gibt es ein Mehrheitsvotum oder nicht? Wer wird in diese Entscheidung mit einbezogen? All diese Fragen gehören zu dem Themenfeld der politischen Gerechtigkeit.

Ein letzter Aspekt, den ich aus dem politischen Diskurs nennen möchte, ist die Frage nach globaler Gerechtigkeit. Armut ist heute nach wie vor eines der drängenden politischen Probleme der Welt, wie beispielsweise die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen betonen. Wie kann die Weltgesellschaft aber das weltweite Armutsproblem in den Griff zu bekommen? Was bedeutet dabei globale Gerechtigkeit? Braucht es hierzu Entwicklungszusammenarbeit oder weitere Formen wirtschaftlicher Förderung und gerechter weltwirtschaftlichen Strukturen? Damit ist die Frage nach der Reichweite von Gerechtigkeit angesprochen.

Bisher habe ich das umgangssprachliche und politische Feld skizziert und erste Dimensionen von Gerechtigkeit identifiziert. Diese spielen wie bereits angedeutet auch in der aktuellen Diskussion der politischen Philosophie zu Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Ich möchte nun im Folgenden entlang verschiedener Philosophen versuchen, das Feld der philosophischen Debatte abzustecken. Ich möchte zu Beginn die eingangs erwähnte Theorie der Gerechtigkeit von Rawls in ihrer Grundidee skizzieren und diese als Referenzpunkt verwenden. Man kann die politische Philosophie nach 1971, also nach der Veröffentlichung der „Theorie der Gerechtigkeit“, als eine Antwort auf dieses Konzept von Gerechtigkeit verstehen. Insofern werde ich verschiedene Einsprüche gegen John Rawls vorstellen. Damit lässt sich ein sehr gutes Bild der aktuellen philosophischen Debatte über Gerechtigkeit zeichnen und die Frage klären, was bedeutet es denn nun wirklich, über Gerechtigkeit philosophisch nachzudenken.

Damit nun zum ersten Punkt, und zwar zur Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls als Referenzpunkt der aktuellen Debatte der politischen Philosophie.

Sozialphilosophie, Teil 4

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