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Drittes Kapitel:
29. Juni, vormittags

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»Fräulein Dr. Amalia Wilhelmina Fried! Wollen Sie den hier anwesenden Herrn Ingenieur Maximilian Ritter von Becker zu Ihrem Gemahl nehmen, ihn lieben und ehren …«

Amalia Fried träumte vor sich hin. Sie stand in ihrem Brautkleid vor dem Spiegel und betrachtete sich ausgiebig von vorne, von links, von rechts und drehte ihren Oberkörper in alle Richtungen. Ihre beiden besten Freundinnen Julia und Veronika waren in der Rolle der Brautjungfern bei ihr, und das Lachen, Kichern und die endlose Freude nahmen kein Ende. In wenigen, sehr wenigen Stunden würde sie Frau Becker sein.

Das Collier ihrer verstorbenen Mutter trug sie um den Hals. Es lag auf dem züchtigen Ausschnitt und glänzte, als wäre es neu. Ihr Vater hatte es aufpolieren lassen. Eine dicke, hüfthohe Kerze stand neben dem Spiegel, weiß, mit der Aufschrift »Mama«. Amalia würde sie höchstpersönlich auf dem Altar platzieren und somit ihrer Mutter die Anteilnahme an ihrem bisher schönsten Lebensmoment ermöglichen. So hatte sie es sich immer in ihrer Fantasie ausgemalt, seinerzeit als Siebzehnjährige, bald nach Mutters Tod, und jetzt als neunundzwanzigjährige Frau mit einem abgeschlossenen Psychologiestudium. Sie hatte gelernt, als Frau ihren Mann zu stehen.

Ihr Vater war stolz auf sie. Sie hatte sich in schweren Jahren ihres Lebens bewährt, sie war nicht untergegangen. Sie wusste sehr wohl, dass es seine Angst gewesen war, dass die junge Frau, noch Schülerin, abstürzen könnte. Ja, es hatte Irritationen gegeben. Sie hatte sich schwer getan mit dem Lernen, ganz plötzlich. Was ihr zuvor leicht von der Hand gegangen war, hatte sich nun schwierig, zäh und mühsam gestaltet. Doch ihr Vater hatte sie immer unterstützt und ihr gut zugeredet. Er war ein guter Vater gewesen. Und war es noch.

Ihr Vater mochte Maximilian Ritter von Becker. Vielleicht sah er in ihm jenen Schutz und jene Sicherheit für seine Tochter, nach denen er immer gestrebt hatte. Ein klassisches Männer- und Ehebild. Sie nahm es ihrem Vater nicht übel, er gehörte schließlich einer anderen Generation an. Und sein Motiv war allemal ehrenhaft.

Julia und Veronika schwirrten um Amalia herum und zupften hier und zupften da. Nicht mehr lange und das Automobil, das ihr Vater bestellt hatte, würde vorfahren. Es würde Amalia mit ihren Brautjungfern und ihrem Vater in nicht einmal zehn Minuten von zu Hause zur Stanislauskapelle bringen.

»Idiotische Maschen!« Dr. Fried stapfte zornig in das Zimmer und unterbrach die flirrende Freude der jungen Frauen. »Das kann man einfach nicht binden!«, beklagte er sich und hielt Amalia die schwarze Schleife entgegen. Er weigerte sich standhaft, vorgebundene Fliegen anzulegen. Als Mann und Herr von Format hatte er gewisse Prinzipien.

Amalia lächelte milde. Tante Lucia hatte ihr oft erzählt, wie sich ihr Vater damals vor der eigenen Hochzeit mit der Schleife eine wahre Schlacht geliefert hatte. Schweißgebadet war er schließlich vor den Altar getreten. Ihr Vater erzählte die Geschichte freilich anders, allerdings doch nur in kleinen Details abweichend.

»Komm her, ich mach’ dir das!« Sie winkte ihn vor den Spiegel und band hinter ihm stehend geduldig eine wohlgeformte Schleife.

»Sehr gut«, zeigte sich Dr. Fried zufrieden und bedankte sich mit einem Kuss auf die Stirn seiner Tochter. Nun konnte er sich in aller Ruhe die Manschettenknöpfe anlegen und die dunkelgraue Weste anziehen.

»Max wird staunen!«, sagte er, als er das Zimmer wieder verließ. »Eine schönere Braut habe ich nie zuvor gesehen.« Und er dachte – ohne es auszusprechen – kurz an seine verstorbene Frau.

Er fühlte längst keinen Schmerz mehr, schon seit fast ewig empfundenen Jahren nicht. Es war eher ein sentimental-schönes Gefühl, das in ihm hochstieg, wenn er sich an seine Frau erinnerte. Ein wärmendes Erinnern. Ein Erinnern, das ihm immer wieder zuflüsterte: »Es war gut, wie es war. Und gut ist es auch jetzt.« Wäre Dr. Fried ein tiefgläubiger Mensch gewesen, er hätte sich einreden können, dass es die Stimme seiner Frau aus dem Jenseits war, die ihm diese Erkenntnis einflüsterte. Natürlich hatte er ein »Recht«, erfüllt weiterzuleben; die »Pflicht« in Gestalt des ihm anvertrauten Kindes verließ mit dem heutigen Tag seinen Haushalt.

Sein Leben würde sich massiv ändern. Es gab keine Amalia mehr, die sich um seine Wohnung, seinen Haushalt, seine alltäglichen Bedürfnisse kümmern würde. Sie hatte das immer getan, seinerzeit neben der Schule, später neben dem Studium und zuletzt neben ihrer Tätigkeit in der vor zwei Jahren gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Professor Freud persönlich hatte sie dem Präsidenten der Vereinigung, Carl Gustav Jung, als Mitarbeiterin vorgeschlagen und der hatte sie sofort mit offenen Armen aufgenommen. Und das, obwohl sie keine Jüdin war. Das fand Dr. Fried beachtlich. Nicht dass er antisemitische Haltungen vertreten würde, aber er wusste doch, dass die Juden gerne unter sich blieben.

Dr. Fried erinnerte sich an den vor zwei Jahren verstorbenen Bürgermeister Dr. Karl Lueger und seinen berühmt gewordenen Ausspruch: »Wer ein Jud’ ist, bestimme ich.« Damit war eigentlich alles gesagt, fand Dr. Fried. Die Judenfrage war weder ein Problem noch ein politisches Thema, wozu manche Gruppierungen es machen wollten. Und ob man Juden mochte oder nicht, war eine ganz persönliche Entscheidung. Dr. Fried traf diese Entscheidung stets neu gegenüber einem jeden Individuum.

Auf der Konsole im Vorzimmer lag eine längliche weiße Schachtel mit geöffnetem Deckel. Darin befand sich achtlos zusammengeknüllt weißes Seidenpapier. In dieses würden sie die Kerze einpacken und in der Schachtel behutsam zur Kapelle transportieren. Es würde eng werden zu viert.

Dr. Fried fühlte sich wie im Staatsornat. Er hätte auch seine Paradeuniform anziehen können, aber schließlich war die Hochzeit kein offizieller Staatsakt, sondern ein privates Fest. Dementsprechend ging er in Zivil. Die weiße Nelke im Knopfloch seines Sakkos war das Einzige an Auszeichnung, was er zuließ: die Auszeichnung als Brautvater.

»Wir wären so weit, Paps!«, erklang von hinten Amalias Stimme.

Sie war noch nicht zu sehen, aber ihre beiden Freundinnen flatterten in ihren Brautjungfernkleidern wie Kolibris auf ihn zu. Dahinter tauchte wie ein Schemen Amalia auf. Mit beiden Händen umfangen trug sie die Kerze für ihre Mutter und ging zügig auf die Konsole zu. Gemeinsam mit Dr. Fried verpackte sie die Gedenkkerze und hielt kurz inne, einen festen Blick auf ihren Vater gerichtet. Der erwiderte den Blick, mild, bestimmt. Er nickte. Mehr nicht, das genügte. Es war der richtige Gedanke und es war die richtige Tat. Sie würden die Kerze nicht, wie den Blumenschmuck, in der Kapelle lassen, sondern zur anschließenden Festtafel mitnehmen. Am Ende würde Amalia sie in ihr neues Zuhause, in Max’ Wohnung, bringen und ihr dort einen angemessenen Platz geben.

Max Becker hatte von Anfang an Verständnis für die Idee mit der Kerze gehabt. Er hatte Amalia sogar darin bestätigt. Er selbst hatte seinen Vater verloren, als er ein kleiner Junge war. Er hatte noch viele Erinnerungen an ihn, und oft tauschten er und Amalia ihre Erinnerungen aus. Als Amalia ihn gefragt hatte, ob er nicht ebenfalls eine Kerze für seinen Vater aufstellen wollte, hatte er nur den Kopf geschüttelt. Er hatte für einen Augenblick das Gesicht abgewandt – vielleicht um Tränen zu verbergen? Amalia hatte ihn innig umarmt und in dieser Umarmung, die er nie wieder lösen zu wollen schien, hatte er es ihr wie eine Beichte erzählt: Sein Vater hatte sich das Leben genommen.

»Ich denke, der Wagen steht bereits unten«, sagte Dr. Fried.

Die Aufregung nahm zu. Sein Herz schlug heftiger, die beiden Brautjungfern waren überhaupt nicht mehr zu bremsen in ihrem Geplapper, und Amalia umklammerte mit weit aufgerissenen Augen die Schachtel mit der Kerze.

»Gehen wir«, hauchte sie, dann lachte sie ihren Vater und die beiden Brautjungfern an und schlüpfte als Erste zur Wohnungstür hinaus.

Der Motor des schwarzen H 10 Reichenberger mit aufgeschlagenem Verdeck tuckerte vor sich hin. Der Chauffeur saß in Livree und mit Kappe am Steuer und blickte geduldig, vielleicht sogar gelangweilt auf die Gruppe, die eben aus dem Haustor trat. Eine Person durfte neben ihm Platz nehmen und dieses Vorrecht hatte Dr. Fried vorab für sich ausbedungen. Wenn man schon einmal mit einem dieser modernen Geräte, die sich Taxis nannten, fuhr, dann wollte er es auch entsprechend auskosten.

Bezahlt war der Wagen bereits. Dr. Fried hatte vor einigen Tagen alles mit dem Chef des Chauffeurs ausverhandelt, eine einfache Fahrt, den Weg zurück würden sie zu Fuß gehen oder eine Pferdekutsche nehmen, jeder in einen Teil der Stadt.

Das Fahrzeug war laut. Die gute Stimmung der jungen Frauen sank in ungeahnte Tiefen, während sie rumpelnd und sich immer wieder die Ohren zuhaltend in Richtung Stadtzentrum unterwegs waren. Die Straßen waren teilweise holprig, ein Vergnügen war die Fahrt nicht. Aber sie bewegten sich wenigstens auf den modernen Höhen ihrer Zeit.

Dr. Fried ließ den Wagen in der Tuchlauben halten. Den Weg zur Kapelle durch die Steindlgasse wollten sie zu Fuß zurücklegen. Das Trinkgeld für den Chauffeur fiel angemessen aus, Dr. Fried erkannte es an dessen Gesichtsausdruck. Als Kriminalinspektor hatte er gelernt, die Gesichter der Menschen zu lesen – wenigstens bis zu einem gewissen Punkt. Geständnisse hatte er, zugegebenermaßen, bislang noch nicht aus dem Mienenspiel von Tätern herausfiltern können.

Der Weg führte sie an der Bierklinik vorbei, in der sie nachher die Hochzeitstafel haben würden. »Anton Polan’s Restauration« stand breit über dem Eingangstor, das in einen Hof führte.

Dr. Fried und die jungen Frauen waren nicht die Ersten. Tante Lucia stand mit ihrem Mann vor dem Haustor der Kurrentgasse 2 und schien schlagartig erleichtert, als sie die Braut und ihre Brautjungfern erblickte. Dr. Frieds Schwägerin war kinderlos geblieben, was ihr Mann Georg – so unterstellte Dr. Fried es jedenfalls, wenngleich er es nie gewagt hätte, das in Gegenwart von Lucia auszusprechen – als absoluten Vorteil betrachtete. Auch der andere, der neue Teil der Familie traf gerade ein. Maximilian Ritter von Becker, umrahmt von einer älteren und einer jüngeren Frau, schritt eilig in ihre Richtung.

»Diese Fiaker!«, schimpfte er vor sich hin. »Vermaledeite Kerle! Wissen die nicht, wie sie hierher fahren sollen?«

Da hatte es Dr. Fried mit seiner krachenden Maschinenkutsche wohl doch besser getroffen. Er küsste Frau Becker die Hand, erst der älteren, dann der jüngeren. Den Bräutigam hieß er sogar mit einer innigen Umarmung willkommen. Max Beckers Schwester war ein bildhübsches Geschöpf, aber anscheinend etwas simpel gestrickt. Ihr Lächeln, so strahlend und sympathiegewinnend es auch sein mochte, stand wie eingefroren in ihrem Gesicht und schien sich gar nicht mehr auflösen zu wollen. Hoffentlich kein Krampf, dachte Dr. Fried sich unwillkürlich und ermahnte sich in aller Stille sogleich wegen derart unpassender Gedanken.

Jetzt fehlte nur noch Dr. Frieds Bruder Albert. Es war untypisch für ihn, dass er nicht überpünktlich erschien. Als Notar legte er Wert auf Genauigkeit und Zuverlässigkeit in allen Lebenslagen. Diese Eigenschaft hatte die beiden Brüder mehr auseinandergetrieben als zusammengebracht. Nicht dass sie zerstritten wären, nicht im Geringsten. Dr. Otto Fried liebte seinen Bruder Albert und Dr. Albert Fried liebte seinen Bruder Otto. Da gab es keinen Zweifel. Ihre Bruderliebe wuchs allerdings im selben Maße, in dem sie Distanz zueinander wahrten – räumlich wie zeitlich.

Wann hatten sie einander das letzte Mal gesehen? Dr. Fried dachte an das Begräbnis seiner Frau, aber so lange konnte es nun auch wieder nicht her sein. Das wäre eine Schande gewesen, den eigenen Bruder eine so lange Zeit … Nein, das konnte nicht stimmen. Die Verlobungsfeier! Natürlich! Vor ziemlich genau einem Jahr, in den Weinbergen Wiens, als Picknick gestaltet. Dr. Albert Fried hatte von dem Bräutigam seiner Nichte denselben Eindruck gehabt wie Dr. Otto Fried und es dem Bruder gleich zugeflüstert: »Eine gute Wahl, dieser junge Mann. Gratuliere. Der wird seinen Weg machen.«

Dr. Albert Fried trug einen Backenbart, in dem nur mehr marginale Spuren des ehemaligen tiefen Schwarz zu erkennen waren, das zudem dereinst sein üppiges Haupthaar bestimmt hatte. Üppig war es immer noch, doch inzwischen begann sogar schon das Grau zu weichen und einem bleichen Weiß Platz zu machen.

Ganz anders Dr. Otto Fried: Sein Gesicht war glatt rasiert, einzig als junger Mann hatte er einmal mit einem Oberlippenbart geliebäugelt. Es waren jene Zeiten gewesen, in denen er seine Wirkung auf junge Frauen hatte testen wollen. Er war vielleicht nicht gerade unwiderstehlich, aber auch nicht völlig erfolglos. Und sein Haupthaar – nun ja, die Fülle wie bei seinem Bruder hatte er selbst als Kind nicht aufbringen können. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden.

Das Haustor wurde geöffnet und die alte Frau, die Dr. Fried bei seinem ersten Besuch bei Pater Anzelm begegnet war, streckte ihren mageren Kopf heraus. Sie musterte die Versammelten auf der Straße und schien sie aufgrund der festlichen Kleidung für die richtige Gesellschaft zu befinden, denn mit einem einladenden Lächeln zog sie die Tür weiter auf und sagte etwas in ihrer Sprache, was »herein« oder »Kommen Sie bitte weiter« bedeutete.

»Zuerst ihr alle«, ordnete Dr. Fried an. »Wir kommen dann nach.«

Natürlich machte er von seinem väterlichen Vorrecht Gebrauch, die Braut persönlich vor den Altar zu führen, um sie dort dem Bräutigam zu übergeben. Max Becker legte kurz seine Hand auf Amalias Schulter, drückte sie sanft und strahlte sie an.

»Nimmst du sie?«, bat ihn Amalia und hielt ihm die Schachtel mit der Kerze entgegen. Er würde wissen, wo er sie aufzustellen hatte.

Während die kleine Hochzeitsgesellschaft der alten Frau die Treppe hinauffolgte, nahm Dr. Fried seine Tochter bei beiden Händen, der zarte Brautstrauß zwischen ihnen wie eine verbindende Brücke.

»Nun ist es also so weit«, sagte Dr. Fried und atmete schwer aus.

Er fühlte sich gut und er wusste, seiner Tochter ging es ebenso. Er drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange, als ein Rufen in seinem Rücken ertönte.

»Sind wir zu spät? Ihr habt doch noch nicht angefangen!« Es war Dr. Fried, Albert, der Notar, im Schlepptau seine Frau Victoria und sein Sohn Wilhelm. Er hatte ihn mit dem zweiten Vornamen seines Bruders benannt. Eines der wenigen Zeichen, dass zwischen ihnen beiden eine engere Verbindung bestand, als sie sich einzugestehen bereit waren.

Wilhelm war ein Nachzügler in der Familie Albert Fried. In Kürze würde er fünfzehn werden und hatte optisch wie charakterlich das meiste von seiner Mutter mitbekommen.

»Rauf mit dir!«, rief Dr. Otto Fried dem Neffen zu. Er war als Ministrant vorgesehen und Pater Anzelm wartete sicher schon auf ihn.

»Wir wollten deutlich früher hier sein«, entschuldigte sich Albert Fried und reichte seinem Bruder die Hand.

Der wandte sich zuerst Frau Dr. Albert Fried zu, begrüßte sie mit einem Handkuss und Küsschen links und rechts auf die Wange, dann griff er nach der kräftigen Hand seines Bruders. Sie blickten sich bei dem langen und festen Händedruck tief in die Augen, als ob jeder sich in der dahinterliegenden Seele des anderen wiedererkennen würde.

Wilhelm stürmte die Stufen hinauf, während die beiden Frieds und Amalia unten innehielten.

»Ich freue mich für dich«, wandte sich Dr. Albert Fried an seine Nichte.

Diese sah ihn mit einem milden Gesichtsausdruck an. Es war dem Verhältnis der beiden Männer zu verdanken, dass sie ihrem Onkel nicht oft im Leben begegnet war. Aber jedes Mal hatte er sich als ihr sehr zugewandter Mensch erwiesen.

»Dein Mann – dein zukünftiger Mann«, er grinste und blickte aus den Augenwinkeln zu Dr. Otto Fried hinüber, »ist ein großartiger Mensch. Als ich ihn damals bei eurer Verlobung kennenlernen durfte, war mir das sofort klar. Du hast eine gute Wahl getroffen, meine Kleine, und er noch viel mehr!«

Amalia ließ sich von ihrem Onkel in den Arm nehmen. Er roch nach Seife und einem dezenten Eau de Toilette.

»Es ist so weit!«, rief Wilhelm keuchend, der mit lauten Schritten die Stufen heruntergetrampelt kam.

Er trug den Talar und das strahlend weiße Rochett des Ministranten. Wild gestikulierend bedeutete er den dreien, ihm zu folgen.

»Na dann …«, sagte Dr. Albert Fried, nickte seinem Bruder zu, zwinkerte in Richtung Amalia.

Er folgte Wilhelm hinauf in die Kapelle. Dr. Fried und Amalia machten sich bereit, würdig und feierlich die Stufen hinaufzusteigen. Es waren die letzten Minuten, die letzten Sekunden, in denen Dr. Frieds Leben noch das alte war. So kann man den Wandel in Zahlen fassen, dachte er sich, als sie am Fuß der Treppe Position bezogen, fünfzehn Stufen, zehn Stufen, noch fünf Stufen – zehn Sekunden, neun, acht … Amalia hatte sich bei ihm eingehakt, diesmal befand sich das Brautsträußchen zwischen ihnen wie ein verbindender großer Knopf.

Schwerer Atem war plötzlich draußen vor dem Haustor zu hören. Dr. Fried wollte gerade die erste Stufe mit seiner Tochter nehmen, als sich ein schmaler Kopf und ein schweißglänzendes Gesicht zur Tür hereinschoben. Der Mann trug einen abgewetzten Filzzylinder, sein festlicher Anzug wirkte, als wäre er ihm wenigstens eine Nummer zu groß.

»Tut mir leid, ich bin wohl zu spät«, sagte der Mann schweratmend.

Amalia fiel ihm um den Hals, während er aus dem Hosensack ein weißes Taschentuch hervorfingerte und sich umständlich das Gesicht abwischte.

»Onkel Novi!«, rief Amalia freudig aus.

»Tut mir leid, Herr Doktor«, flüsterte der Novak in Richtung Dr. Fried, während die junge Frau seinen Hals umklammerte.

»Gehen S’ schnell rauf, Novak«, wies ihn Dr. Fried freundlich an. »Suchen S’ sich einen Platz, es geht gleich los.«

Wie als Kommando erklang die Orgel von oben herunter und spielte etwas unsicher den Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Der Novak stieg schnell die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und verschwand um die Ecke. Dr. Fried war verwundert, dass sein Assistent die Treppe auf so sportliche Weise bewältigte, aber ihm war in der letzten Zeit schon aufgefallen, dass dessen beeinträchtigtes Knie sich stärker belasten ließ als früher. Nun würde er also gleich schnellen Schrittes in die Kapelle hineinstürmen. Die Hochzeitsgäste würden sich wundern, dass er es war, der zu den musikalischen Klängen in die Kapelle trat, dachte sich Dr. Fried. Ja, er fühlte sich heiter und leicht.

»Gehen wir!«, forderte er seine Tochter auf und sie hakte sich erneut bei ihm unter.

Mendelssohn-Bartholdy beflügelte ihn. Er konnte sich nicht mehr erinnern, in welcher Stimmung er damals gewesen war, als er seine Frau diese Stufen nach oben geführt hatte. Sicher nicht so locker wie heute. Dabei veränderte auch dieser Tag sein Leben grundlegend, so wie es damals gewesen war. Die Stanislauskapelle schien ein Ort zu sein, der immer wieder massiv in seinen Lebenslauf eingriff.

Maximilian Ritter von Becker stand vor dem Altar, der weit geöffneten schmalen Tür zugewandt, durch die Dr. Fried und Fräulein Dr. Amalia Wilhelmina Fried vor die Festgäste und vor Gott traten. Dr. Fried übergab seine Tochter dem jungen Mann, nickte ihm ernsthaft zu und gesellte sich zu den anderen, die sich in verschiedenen Reihen platziert hatten. Der Novak saß ganz hinten, alleine in der letzten Reihe, schüchtern und in sich zusammengesunken, immer noch das Gesicht mit dem Taschentuch wischend, vor der mobilen Orgel, deren Pfeifen ihm ziemlich laut in die Ohren bliesen. Seinen abgelebten Zylinder hatte er auf den Stuhl neben sich abgelegt.

Dr. Fried nahm in der ersten Reihe Platz, neben der Bräutigammutter, der die Rührung des Augenblicks anzusehen und am schniefenden Atem anzuhören war. Die Brautjungfern saßen am äußersten Ende der Reihe. Und dann trat Pater Anzelm auf.

Es war wirklich ein Auftritt. Er hatte ein prachtvolles Ornat angelegt, viele Goldfäden waren hier eingearbeitet worden. Er kam durch einen kleinen Durchgang rechts neben dem Altarbereich, der von der restlichen Gemeinde durch eine hüfthohe schmiedeeiserne Begrenzung abgetrennt war. Das doppelflügelige Türchen in der Mitte stand offen, davor zwei gepolsterte Stühle und die Gebetsbank für die zu Trauenden. Wilhelm folgte als Ministrant dem Priester und vermied jeden Blickkontakt mit den Hochzeitsgästen. Dr. Fried bemerkte die alte Frau in dem Raum hinter der Kapelle, der als Sakristei diente. Schnell schloss sie die Tür und die Hochzeitsgesellschaft war für sich allein, konzentriert auf das Geschehen vorne vor dem Altar.

Pater Anzelm machte das Zeichen, dass alle sich erheben mögen, und sprach in die Bekreuzigungen der Gäste hinein die ersten Worte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Wiener Hochzeitsmord

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