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1. Kapitel Lisa

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"Mein Gott, Lisa!", rief Maren Bergmann entsetzt, als ihre Tochter Lisa samt Schulranzen die Treppe hinunter stürzte. Dabei leerte sich der Ranzen und der gesamte Inhalt verteilte sich auf den Stufen. Unten angekommen sprang sie auf und rief: "Nichts passiert! Hat nicht wehgetan!"

Hastig nahm Maren ihre Tochter in den Arm und tastete vorsorglich Lisas Kopf ab.

"Ist dir wirklich nichts passiert?", fragte sie dennoch. Durch Marens Schrei kam auch Lisas Vater Robin aus der Stube und fragte: "Was ist denn jetzt schon wieder?"

Die Frage zeigte deutlich genug, dass Lisas Missgeschicke zum Alltag der Bergmanns gehörte. Der Blick auf die Treppe, auf dessen Stufen die ganzen Schulsachen verstreut herumlagen, beantwortete seine Frage. Ihm fiel die Socke auf, die auf einer der obersten Stufen lag. Die Vermutung lag also nahe, dass Lisa auf eben dieser Socke ausgerutscht war. Eine Socke, die wahrscheinlich aus dem Wäschekorb gefallen war, als Maren diesen nach unten trug. Robin ging in die Hocke und sah Lisa mitleidig an. Wie es aussah, hatte sie sich nicht verletzt und sie blickte recht munter drein.

"Geht es dir wirklich gut, Schatz?", fragte er fürsorglich.

"Hatte mir zwar den Kopf an der Wand gestoßen, aber zum Glück lag da das Kissen aus dem Wohnzimmer", antwortete Lisa und rieb sich den Hinterkopf. Die Eltern sahen sich verblüfft an. Beide konnten sich nicht erklären, wie das Kissen hier herkommen konnte. Denn keiner der beiden hatte es vom Sofa genommen und auch Lisa war die ganze Zeit über oben in ihrem Zimmer gewesen.

"Schon merkwürdig", wunderte sich Robin, "wie damals im Garten, als sie von der Leiter fiel. Genau auf die Karre mit Rasenschnitt. Dabei war ich mir sicher, dass ich diese hinter dem Schuppen abgestellt hatte."

Dass Lisa häufig auch Glück im Unglück hatte, bezog ihre Mutter darauf, dass ihre Tochter einen fleißigen Schutzengel dabei hatte. Eine Meinung, die ihr Mann ganz und gar nicht mit ihr teilte.

"Sie muss wirklich einen Schutzengel haben", bemerkte Maren mehr für sich und drückte Lisa fest an sich. Prustend erhob Robin sich aus der Hocke und belächelte seine Frau.

"Schutzengel", spottete er, "Schutzengel sind Fabelwesen oder Märchenfiguren. Die laufen doch nicht mit der Schubkarre durch die Gegend und fangen fallende Mädchen auf. Lass das bloß keinen hören!"

Lachend ging er wieder hinaus und Maren hörte noch, wie er spöttisch ihre Vermutungen wiederholte. Sie dagegen glaubte schon daran. Wenigstens versuchte sie es. Schon wegen ihrer Tochter Lisa.

Lisa war ein zehnjähriges Mädchen und lebte mit ihren Eltern in einem Reihenhaus in Hamburg. Sie war ein ruhiges Kind mit langen blonden Haaren und braunen Augen. Für ihre Eltern war sie der kleine Sonnenschein. Aber gleichzeitig auch ein Sorgenkind. Denn seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte sie nur noch Pech. Wenn sie gerade mal nicht krank war, passierten ihr andere Missgeschicke. Sie stolperte, stieß ständig irgendwo an oder verursachte Unfälle. Das nahegelegene Kinderkrankenhaus Wilhelmsstift in der der Lilienkronstraße kannten Lisa. Knochenbrüche, leichte Verbrennungen, Gehirnerschütterungen und andere, zum Glück, nur leichte Verletzungen, füllten ihre Krankenakte. In der Notaufnahme begrüßten die Krankenschwestern sie schon beim Vornamen. Daraufhin erfolgte ein kurzes Telefonat mit dem diensthabenden Arzt mit den Worten: "Lisa ist wieder da."

Als Lisa mal gegen einen Laternenpfahl lief, zog sie sich eine Gehirnerschütterung zu und wurde mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht. Beim Ausladen fiel sie den Sanitätern von der Trage und im Krankenzimmer stieß sie gegen einen Kleiderständer, der unglücklicherweise gegen den Feueralarmknopf fiel und somit einen Alarm auslöste. Der Chefarzt der Kinderklinik riet den Eltern, Lisa besser mit nach Hause zu nehmen. Vermutlich hatte er Angst, dass Lisa noch mehr Unheil anrichten würde und seine Klinik in Schutt und Asche legen könnte.

Auch in der Schule lief es nicht so, wie es sich die Eltern wünschten. Zwar hatte Lisa keine Schwierigkeiten beim Lernen, doch gab es da immer wieder Spannungen zwischen ein paar Mädchen und ihr. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Lisa einen Streich zu spielen oder sich über ihre Missgeschicke zu amüsieren. Auf Nachfragen hin aber wich Lisa aus und wollte einfach nicht darüber reden. Auch ihre Klassenlehrerin, Frau Knickbusch, tat es als allgemeine Hackordnung unter Mädchen ab. Ihre Mutter hatte aber die Angewohnheit, alles zu hinterfragen und gab sich mit einer oberflächlichen Aussage nie zufrieden. Das wiederum empfand Lisa schrecklich anstrengend und oberpeinlich dazu. Hinzu kamen die Nörgeleien und ständigen Ermahnungen ihrer Mutter, die nicht gerade zu einem friedlichen Alltagsleben verhalfen.

Es war ein ganz normaler Montag. Lisa hatte, bis auf den Treppensturz, das Wochenende ohne nennenswerte Schwierigkeiten überstanden. Die Nacht zum Montag hatte sie stets Schwierigkeiten einzuschlafen. Denn es sollte wieder eine Woche der Schikane und Demütigungen eingeläutet werden. Nicht nur die Klassenzicke Tabea, sondern auch deren Freundinnen, Marina und Pia, setzten ihr oft genug zu. Keiner in der ganzen Klasse wagte es, Lisa zu beschützen oder ihr in irgendeiner Weise zu helfen. Denn alle hatten Angst, selbst Opfer zu werden. Nicht einmal die Jungen trauten sich. Tabea war für ihr Alter sehr kräftig. Marina hatte einen großen Bruder und Pia kannte Jungen, die in einer anderen Schule ihr Unwesen trieben. Lisa dagegen hatte niemand und so wurde sie mehr oder weniger als Einzelgängerin abgestempelt. Erschwerend war natürlich ihre Tollpatschigkeit, die für Lästereien und Belustigungen sorgten. Häufig waren es auch die Streiche jener, die versuchten, sich bei Tabea anzuschmeicheln. Je gemeiner sie waren, umso größer war die Chance, von ihr respektiert zu werden. Ob man Lisa eine tote Maus in die Jackentasche schmuggelte oder Saft in den Ranzen schüttete. Der Schultag endete oft mit Tränen der Verzweiflung. Nur ganz selten vertraute sich Lisa ihrer Mutter an. Zwar wurde sie immer wieder ermuntert sich auszusprechen, aber wirklich geholfen hatte es nicht. Wenn es dann wirklich mal zu einem Gespräch zwischen Eltern und Lehrern kam, wurde es von Tabea und ihren beiden Freundinnen abgestritten oder heruntergespielt. Andere Kinder wollten sich plötzlich nicht mehr daran erinnern oder behaupteten, dass Lisa lügt und sie eine blühende Fantasie hätte. Was dann folgte, waren erneute Attacken, die Lisa über sich ergehen lassen musste. Also zog sie es vor, gar nicht erst darüber zu reden.

So sollte auch dieser Montag mit den gewohnten Hänseleien enden und Lisa mit einer nassen Jacke nach Hause gehen lassen. Irgendjemand hatte die Jacke in einem, mit Wasser gefüllten, Waschbecken getaucht und die wieder an den Haken gehängt.

"Was ist denn mit deiner Jacke passiert?", fragte ihre Mutter besorgt, als Lisa das Haus betrat.

"Die, die ist mir in eine Pfütze gefallen", log Lisa schulterzuckend. Maren zog die Stirn kraus, denn es hatte tagelang nicht geregnet und sie konnte sich nicht daran erinnern, dass auf dem Schulweg eine Pfütze war. Aber, so vermutete sie, Lisa hatte ja ohnehin das Pech, in ein Unglück zu laufen, wo es hätte gar nicht passieren können. Eigentlich hätte diese Antwort aus Lisas Sicht reichen müssen. Maren aber gab nicht nach und wollte genau wissen, wo denn diese genannte Pfütze war und wieso denn überhaupt eine vorhanden war.

"Oh Mama", sagte Lisa genervt, "es ist doch egal, wo sich die Pfütze befindet und ob es draußen trocken ist. Meine Jacke ist nass und gut ist es!"

Maren war sofort klar, dass Lisa wieder Opfer einer Schikane war und beharrte auf eine ehrliche Antwort.

"Das sehe ich nicht so", widersprach sie energisch, "entweder lügst du mich an oder du verheimlichst mir etwas. Und höre gefälligst auf, mit den Augen zu rollen. Ich mache mir eben Sorgen."

Lisa prustete aus und wiederholte ihre Aussage noch einmal, mit dem Hinweis, dass sie sich keine Sorgen machen brauchte. Sie hatte einfach keine Lust, mit ihrer Mutter über ihre nasse Jacke zu reden. Maren gab es für diese Minute auf und sagte: "Gut, aber jetzt gehst du bitte auf dein Zimmer, räumst deine Sachen weg und wäscht dir anschließend die Hände. Wirf die Jacke in die Badewanne. Ich wasche sie noch heute durch. Wir essen in zehn Minuten. Und vergiss nicht, deinen Ranzen auszupacken und die Blumen auf deiner Fensterbank zu gießen. Bei der Gelegenheit kannst du …"

"Mama!", unterbrach Lisa ihre Mutter, "Ich bin kein Baby mehr!"

"Anscheinend doch!", widersprach Maren streng, "Wenn ich nicht ständig hinterher bin, passiert da oben gar nichts!"

Noch bevor Maren den Satz beendete, drehte sich Lisa gleichgültig um und wollte auf ihr Zimmer.

"Drehe mir gefälligst nicht den Rücken zu, wenn ich mit dir rede!", herrschte sie ihre Tochter an.

"Ich dachte, du bist fertig!", verteidigte sich Lisa. Da ihre Mutter nichts mehr darauf antwortete, fragte Lisa in einem unwirschen Ton: "Darf ich jetzt rauf?"

Maren nickte und griff sich wütend einen Lappen, den sie über die Tischkante wischte. Eine Angewohnheit, die sie bei Streitereien mit Lisa oder ihren Mann Robin hatte. Lisa vermutete, dass ihre Mutter sich damit abreagierte.

Auf ihrem Zimmer warf Lisa wie gewohnt den Ranzen gleichgültig auf den Boden und die nasse Jacke ließ sie achtlos daneben fallen. Beleidig ließ sie sich rücklings auf das Bett fallen und starrte die Zimmerdecke an.

"Tu dies, mach das, denke daran. Mäg, mäg, mäg. Immer dasselbe Theater", fluchte sie leise vor sich hin, "warum muss ich so eine Nervensäge als Mutter haben? Kann sie nicht einmal ihren Mund halten? Ständig macht sie Stress."

Es waren noch nicht einmal fünf Minuten vergangen, da stand Maren im Zimmer. Zum einem, um Lisa zum Essen zu holen und zum anderen, sich wieder über ihre Tochter aufzuregen. Der Ranzen und die nasse Jacke lagen auf dem Boden, die Blumen waren nicht gegossen und überhaupt sah das Zimmer wieder unmöglich aus. Sie konnte Lisas Gleichgültigkeit nicht verstehen. Wie immer kümmerte sie sich letztlich selbst darum und gab entsprechende Kommentare ab. Ein ganz normaler Tag für Lisa. Alles war blöd. Die Schule, die Lehrer, die Hausaufgaben, die Mutter, die Pflichten. Eben einfach alles. Lisa war sogar überzeugt, dass es anderen Kindern besser erging. Tolle Eltern, die sich um alles kümmerten und ihren Kindern nicht ständig blöde Aufgaben verpassten. Tag ein Tag aus immer der gleiche Ärger.

"Was für ein schreckliches Leben ich doch habe", dachte Lisa voller Selbstmitleid, "warum haben sie mich denn geboren, wenn sie Kinder nicht mögen?"

Lieb waren ihre Eltern immer dann, so glaubte Lisa, wenn sie sich verletzte. Dann wurde alles getan, damit es ihr wieder gut geht

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