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2. Kapitel Christines Flucht Hamburg, 18:00

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Zur gleichen Zeit stand Christine Vogler in Volksdorf, einen Stadtteil im Osten von Hamburg, an der Kasse des Supermarktes und packte die eingescannte Ware in den Einkaufswagen. Ihr langes, dunkel gewelltes Haar fiel ihr immer wieder vor das Gesicht, was sie mit einer kurzen ruckartigen Bewegung mit dem Kopf wieder ordnete. Ihre dunklen Augen folgten aufmerksam die herannahende Ware. Sie war klein, gerade mal 167 cm und hatte eine hübsche und betont weibliche Figur, die aber nach ihrem Befinden ein paar Pfund zu viel hatte. Man würde sie als Vollweib bezeichnen. Sie hatte schmale ebene Lippen und ihr Gesichtsausdruck wirkte ernst und nachdenklich. Das Make-up war sparsam, denn sie hatte außer ein bisschen Lidschatten kaum etwas nötig. Ihr leicht dunkler Teint und die dunklen Augenbrauen verliehen ihre eine natürliche Schönheit. Vor ein paar Wochen hatte sie gerade ihren sechsunddreißigsten Geburtstag hinter sich gebracht, den sie, wie so oft, ohne ihren Mann verbringen musste. Sie machte, so schien es, einen introvertierten Eindruck. Nur wenn sie lächelte, hellte sich ihr Gesicht auf und ließ ihre Augen strahlen. Doch diese Momente waren von kurzer Dauer. Sie wirkte meistens sehr ernst und nachdenklich. Sie trug ein anliegendes knielanges Sommerkleid mit blau ineinander bedrucktem Blumenmuster und kurzen Ärmeln, was ihre gut proportionierte Figur betonte. Passend dazu die Schuhe und die Handtasche.

"Sechsundvierzigachtzig", verkündete die Kassiererin freundlich. Christine holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche, zog die EC-Karte heraus und steckte diese in den Schlitz des Kartenlesers. Dann tippte sie zügig ihren Pin ein und wartete. Die Karte wurde nicht akzeptiert. Sie versuchte es erneut. Wieder nichts. Sich entschuldigend zog sie eine weitere Kreditkarte heraus und wiederholte den Vorgang. Wieder verweigerte der Kartenleser die Abbuchung. Verunsichert schüttelte sie den Kopf und bemerkte wie nebenbei die vielen Augenpaare, die sie anstarrten, weil sie den Einkaufsablauf störte. Hastig rieb sie die Magnetstreifenseite an ihrem Kleid und versuchte es erneut.

"Ich verstehe das nicht …", entschuldigte sich Christine und nach weiteren Versuchen wurde ihr die ganze Sache immer unangenehmer. Die wartenden Kunden an der Kasse wurden bereits ungeduldig und zeigten murmelnd ihre Verständnislosigkeit. So oft sie es auch versuchte, die Karten wurden nicht akzeptiert. Frustriert gab sie es auf und bat den Einkaufswagen stehen zulassen, um sich bei der Bank nebenan das Bargeld aus dem Automaten zu holen. Doch das Spiel wiederholte sich auch dort. Keine Auszahlung möglich, las sie auf dem Bildschirm. Da es bereits nach 18 Uhr war, hatten die Banken bereits geschlossen. Also steckte sie die Karten wieder zurück, ging zu ihren Wagen und machte sich auf dem Weg nach Hause, wo sie noch etwas Bargeld hatte. Unterwegs rief sie ihren Mann, der sich zu dieser Zeit geschäftlich in Frankreich aufhielt, auf dem Handy an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich formell mit seinem Nachnamen meldete.

"Ich bin´s!", antwortete Christine, "Roland ich wollte gerade Geld abheben, aber meine Karten sind alle gesperrt. Was ist da los?"

"Gesperrt?", fragte Roland Vogler erstaunt, "das kann nicht sein. Du hast dich mit deinem Pin vertan."

Christine hatte sich bereits an diese Standardantwort gewöhnt und es auch in diesem Fall erwartet. Denn es war typisch für ihren Mann, erst einmal an die Kompetenz seiner Frau zu zweifeln.

"Habe ich nicht. Im Supermarkt wurden meine Karten auch nicht akzeptiert. Kannst du dir vorstellen, wie peinlich mir das war?"

"Beruhige dich Christine, ich bin Sonntagabend wieder da und am Montag regele ich es mit der Bank. Sicher nur ein Computerfehler, weiter nichts", beruhigte er sie. Deutlich hörte sie an seinem Tonfall, dass er von ihrem Anruf genervt sein musste. Dass sie mal wieder nichts gebacken kriegt. Desgleichen malte sie sich aus, wie er sich wieder darüber aufregte wegen solcher Banalitäten ein teures Auslandsgespräch mit dem Handy führen zu müssen. Aber wen außer ihm hätte sie fragen sollen?

"Ich habe nicht mal Geld um etwas zu Essen zu kaufen und zum Friseur wollte ich morgen auch. Ist alles in Ordnung? Gibt es etwas, was ich wissen muss? Ich meine mit der Firma?"

Eine Frage, die sie sich hätte sparen können. Sie hatte diesbezüglich überhaupt keine Ahnung und ihr Mann beantwortete oft Fragen, die sie gar nicht gestellt hatte. Textete sie regelrecht mit Geschäfts- und Steuergesetzen so zu, dass sie am Ende genauso schlau war wie zuvor. Wenn sie dann wirklich mal den Mut aufbrachte, Dinge zu hinterfragen, würgte er das Gespräch ab, in dem er behauptete, sie verstehe sowieso nichts davon. Das waren die Momente, in denen sie sich klein und unwichtig vorkam. Wenn er es auch nie direkt aussprach, gab er ihr oft das Gefühl nichts zu sein und er derjenige war, der dafür sorgte, dass es ihr so gut ging. So waren auch ihre Selbstzweifel ständiger Lebensbegleiter.

"Mach dir keine Sorgen, es ist alles in bester Ordnung. Du wirst sehen, wenn ich wieder da bin, klärt sich alles auf. Christine, ich muss jetzt auflegen. Ich treffe mich gleich mit einem Geschäftsfreund."

"Versprich mir, dass du so schnell wie möglich nach Hamburg kommst, ja?", forderte Christine ihren Mann auf. Dabei ging es ihr eher um die geregelten Finanzen als um das Wiedersehen mit ihm. Sie verabschiedeten sich lieblos wie zwei Bekannte. Ein "Du mich auch" hätte das Gespräch auch beenden können. Als sie ihn vor 16 Jahre in Hannover heiratete, hing der Himmel noch voller Geigen. Sie aus einfachen Verhältnissen und er der erfolgreiche Geschäftsmann. Anfangs wurde sie von Freunden beneidet und hofiert. Ihr Mann zeigte sich großzügig und prahlte gern mit seinem erarbeiteten Wohlstand. Doch schon nach wenigen Monaten bemerkte sie, wie kleinlich er war. Die erste Zeit hatte sie die Sparsamkeit ihres Mannes als kleine hinnehmbare Macke gesehen und sich nichts weiter dabei gedacht. Doch so nach und nach uferte seine Sparsamkeit in krankhafte Knauserei aus. Es dauerte nicht lange, da teilte er ihr das Haushaltsgeld so ein, dass es gerade mal reichte. Sie litt unter seiner Dominanz und seiner Bevormundung, was das Finanzielle betraf. Christine glaubte an ein Leben mit ein bisschen Wohlstand und feiner Gesellschaft. Sich nicht ständig Sorgen machen zu müssen, wie sie die nächste Miete oder Versicherungsbeiträge bezahlen sollte. Nicht ständig jeden Cent zweimal umdrehen muss, um sich die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens zu gönnen zu. Sie glaubte damals, mit ihrem Mann das große Los gezogen zu haben. Doch recht bald begann die Fassade langsam zu bröckeln und ihr Heim entpuppte sich als goldener Käfig. Vogler war penetrant geizig und konnte sehr cholerisch werden, wenn ihm was nicht passte. Nur seinen Geschäftspartnern zeigte er sich tolerant, großzügig und einfühlsam. Besonders deren Gattinnen trat er gern als spendierfreudiger Charmeur auf. Überhäufte sie regelrecht mit Witzen und Komplimente. Seine Geschäftspraktiken lagen darin, Einzelhäuser zu bauen und er war darauf bedacht, den Bauherren vorzeitig das Geld abzuschwatzen, mit dem er voreilig neue Bauprojekte finanzierte oder andere Schuldenlöcher stopfte. Die unseriösen Geschäftsstrategien und die verlogene Art ihres Mannes ließen den Freundeskreis langsam schrumpfen und das Geschäft letztlich in die Insolvenz treiben. In Hannover sah er keine Perspektive mehr und entschloss diese Stadt zu verlassen. In Hamburg gründete er dann die Firma "Nordbau" und setzte Christine als Inhaberin und sich als Geschäftsführer ein. Christine fühlte sich daraufhin das erste Mal ernst genommen. Glaubte in ihrer Naivität eine führende Funktion in der Firma zu haben. Selbst etwas zum Eheleben beizutragen. Sie merkte aber sehr bald, dass sie eigentlich nur eine Statistenrolle einnahm und sie gar nichts mit dem Geschäft zu tun hatte. Ihre einzige Tätigkeit in seinem Büro, was in der Innenstadt lag, war, es zu reinigen oder die Fenster zu putzen. Dabei lernte sie auch seine Sekretärin kennen, die eher aufgedonnert und billig wirkte, als nützlich. Dass zwischen ihr und ihren Mann mehr lief als die Arbeit, verdrängte sie. Vermutlich mehr aus Angst vor den möglichen Repressalien, die sie dann hätte erleiden müssen. Also schwieg sie des Friedens wegen und verdrängte den Verdacht, dass dieses Weib sie möglicherweise sexuell ersetzte.

Anfangs liefen die Geschäfte ihres Mannes recht gut und sie hatten viele Freunde gefunden. Hinzu kam, dass Christine näher bei ihrer jüngeren Schwester Carola war und sie dadurch häufiger besuchen konnte. Natürlich hoffte sie auch, dass er ihr etwas mehr Haushaltsgeld gab oder sie wenigstens selbst ein kleines Gehalt bekam, um ihn nicht für jede Kleinigkeit anbetteln zu müssen. Aber ihr Gehalt tauchte in den Büchern nur als Lohn- und Gehaltskosten auf. Gesehen hatte sie davon noch keinen Cent. Aber auch hier in Hamburg zeichneten sich die Probleme seiner Geschäftspraktiken ab. Gläubiger wurden vertröstet oder mit ein paar Hundert Euro ruhiggestellt. Arbeiten auf den Baustellen ließ er überwiegend von polnischen Schwarzarbeitern verrichten, die fast jeden Monat hinter ihr Geld herlaufen mussten. Mit Scheinverträgen konnte er sich bei verschiedenen Banken Kredite sichern. Verbindlichkeiten, wie Raten und Steuern wurden erst bis kurz vor der Pfändung bezahlt. Von all diesen Sachen aber hatte Christine nur vage Vermutungen. Sie spielte eigentlich nur noch die Rolle als Ehefrau von Roland Vogler, der mit ihr prahlte und angab. Da er wusste, wie sie auf seine männlichen Geschäftsleute wirkte, erwartete er natürlich von ihr, dass sie sich zu den Geschäftsessen besonders hübsch herausputzte. Je enger und kürzer ihre Kleider, umso besser das Geschäft, war seine Devise. Für solche Auftritte und seine eigenen Bedürfnisse ließ er sich nicht lumpen. Obwohl Christine alles andere als prüde war, so kam sie sich oft billig vor. Zum großen Krach mit ihrem Mann kam es, als er von ihr ein gewisses Entgegenkommen auf die Anzüglichkeiten eines Kunden erwartete. Zudem hatte er eine Vorliebe für abartige Sexpraktiken und so kam es, dass sie sich diesbezüglich nichts mehr zu sagen hatten. Als Inhaberin seiner Firma hatte sie weder eine Ahnung davon noch wusste sie, mit was er alles sein Geld verdiente. Vogler legte ihr nur Urkunden, Verträge und Bestellungen vor, die sie blindlings unterschrieb. Alles nur eine Formsache begründete er es und ließ sie in den Glauben, dass alles rechtens ist. Geschäftspost pflegte er selbst zu öffnen und zu beantworten. Zwar brauchte sie nicht arbeiten und hätte sicher sorglos leben können. Doch Vogler kontrollierte jede Ausgabe von ihr und erwartete eine penible Haushaltsbuchführung, die es ihr nicht möglich machten ein paar Euro für sich zu haben. Als sie sich in ihrer Verzweiflung einen Putzjob suchte, flippte ihr Mann regelrecht aus. Sein Argument war: "Eine Vogler arbeitet nicht, eine Vogler lässt arbeiten."

Selbst der Wunsch nach Kindern blieb ihr unerfüllt, weil er Kinder als undankbare Kostenfaktoren ansah. Nur nach außen zeigte sich Roland Vogler als Gönner. Zu Hause aber ließ er sie spüren, dass sie ohne ihn nichts war.

Von ihren Freundinnen wurde Christine beneidet, wenn er sich ihr gegenüber spendabel zeigte. Wenn er ihr großartig Schmuck schenkte, um es ihr zu Hause wieder abnahm, weil er es vom Juwelier auslieh. Hinzu kam, dass er sich selbst keine Mühe mehr machte und sich körperlich gehen ließ. Seiner persönlichen Aufwertung ließ er nur dann zuteilwerden, wenn dieses mit Geld zu machen war. Mit Statussymbolen und Geschäftserfolge konnte er bei vielen sehr viel Eindruck machen. Hinter vorgehaltener Hand aber hielten die meisten ihn schlichtweg für einen Proleten und Aufschneider. Wo immer es ging, versuchte Christine gemeinsame Unternehmungen zu vermeiden.

Nach ein paar Minuten bog sie in den Ahrensburger Weg ein, in dem sie mit ihrem Mann ein mittelgroßes, rot geklinkertes Haus bewohnte. Der Vorgarten war großzügig angelegt und der gepflegte Rasen wurde durch die grauen Granitpflaster der Auffahrt getrennt, die direkt in die Garage führte. Eine Buchsbaumhecke umrandete das Anwesen. Vor dem Haus stand ein Großaufgebot der Polizei. Drei Streifenwagen, ein Mannschaftswagen, Lieferwagen mit Blaulicht und ein Fahrzeug des Zolls. Verwundert parkte Christine ihren Wagen vor ihrer Einfahrt und stieg aus. Vor ihrer Haustür standen ein paar Männer in Uniform und Zivil und sahen zu ihr hin, als sie sich ihnen näherte. Erstaunt sah sie sich um und versuchte dieses Treiben der Uniformierten zu deuten. Eine Ansammlung Passanten und Nachbarn beobachtete neugierig das Treiben und reckten ihre Hälse. Ein beklemmendes Gefühl der Enge überkam sie und sie hatte das Gefühl, das es kein Zurück gab. Gleichzeitig aber beruhigte sie sich damit, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln konnte, was mit wenigen Worten geklärt werden kann. Wie mechanisch, mit klopfendem Herzen ging sie den Plattenweg hinauf in Richtung Haustür.

"Frau Christine Vogler?", fragte einer der Beamten und trat auf sie zu. Unsicher bejahte sie diese Frage und sah sich verwundert um. Dann zog der Beamte seinen Dienstausweis hervor, zeigte ihn kurz und hielt ihr darauf hin ein Schriftstück vor. Sehr formell verkündete er: "Frau Vogler, Steuerfahndung. Gegen Sie und ihren Mann liegt ein Haftbefehl vor. Sie sind vorläufig festgenommen. Bitte öffnen Sie die Haustür."

Christine glaubte, sich verhört zu haben und sah sich Hilfe suchend um. Einige Beamte formierten sich gleich hinter ihr und ließen somit einen möglichen Rückzug nicht zu.

"Das, das muss ein Irrtum sein, Sie haben sich geirrt. Ich weiß nicht was das soll", stammelte sie. Doch der Beamte wiederholte formell seine Aufforderung und zeigte ihr noch einmal den Durchsuchungsbefehl, den sie sich zwar ansah, aber nicht durchlas. Nervös, mit zitternder Hand, wühlte sie die Haustürschlüssel aus der Handtasche.

"Ich verstehe das nicht", wiederholte sie erneut und schloss bereitwillig die Haustür auf. Im Nu drängten sich die Beamten an ihr vorbei ins Haus und fingen an alles zu durchsuchen. Ein kleiner untersetzter Mann gab routiniert ein paar Anweisungen und alle schienen sich zu verteilen. Selbst die im Flur hängende Garderobe wurde durchsucht. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Schränke, Schubladen und Regale durchwühlt wurden. Dabei gingen die Beamten nicht gerade zimperlich mit dem Mobiliar um. Wohin sie sich auch bewegte, immer stand der Beamte unmittelbar hinter oder neben ihr. Selbstquälerisch sah sich um und bemerkte, wie ein Beamter gereizt an einer klemmenden Schublade zog. Die ganze Schrankwand schien sich zu bewegen und die in den offenen Regalen befindlichen Porzellanfiguren drohten herunter zu fallen.

"Passen Sie doch auf!", ermahnte sie ihn erbost. Doch dieser ließ sich von seiner Arbeit nicht abringen. Mit einem kräftigen Ruck zog er die Lade auf.

"Ich muss Roland anrufen", dachte sie bei sich, "er wird wissen, was zu tun ist." Christine ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Unwirsch wurde ihr der Hörer aus der Hand genommen, worauf sie erschrocken zurückwich.

"Wen wollen Sie anrufen?", fragte der Beamte sie und hielt den Hörer fest in seiner Hand.

"Meinen Mann, er wird die ganze Sache sicherlich aufklären", antwortete sie.

"Tut mir Leid Frau Vogler, außer ihren Anwalt, dürfen Sie niemanden anrufen. Wo befindet sich ihr Mann zurzeit?"

"In Frankreich, er hat dort geschäftlich zu tun", antwortete Christine.

"Geschäftlich …", wiederholte der Beamte und sah etwas mitleidig zu seinem Kollegen hinüber, der dabei war die Schubladen des Stubenschrankes zu durchwühlen.

"Sie sind die Inhaberin der Firma Nordbau?", fragte er darauf. Christine bejahte zwar die Frage, fügte aber hinzu, dass dies nur pro forma sei und sie eigentlich nichts damit zu tun hatte. Der Beamte zog nur abfällig die Augenbrauen hoch, als sei dies die übliche Standardausrede gestellter Steuersünder. Christine wischte sich verlegen durch das Haar und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Der Anblick der uniformierten Männer, die Waffen und Handschellen an ihren Gürteln trugen, jagten ihr Angst ein. Kannte sie doch solche Szene nur aus Filmen und Büchern. Nie hätte sie gedacht, sich selbst in so einer Situation vorzufinden. Die innere Unruhe der Angst durchflutete ihren ganzen Körper. Sie fühlte die aufsteigende Hitze, die ihr Gesicht erröten ließ.

"Wo genau befindet sich ihr Mann?", fragte der Beamte weiter, ohne auf ihre vorangegangene Antwort zu reagieren.

"Ich weiß nicht", log sie, "er, er sagt mir nie genau, wohin er fährt."

Christine sah keinen Sinn darin, den Beamten den genauen Aufenthaltsort zu nennen. Er wäre, so glaubte sie, der Einzige der ihr helfen oder es aufklären konnte. Sie kam sich hilflos vor und konnte immer noch nicht realisieren, was da vor sich ging. Überall liefen Uniformierte herum, wühlten alles durch und begannen einige Aktenordner in Umzugskartons zu packen. Andere jüngere Kollegen schleppten sie aus dem Haus zum Transporter, wo diese verstaut wurden. Der Gedanke, dass jene Beamten auch die Wäsche in ihrem Schlafzimmer durchwühlten, fand sie geradezu entwürdigend. Dass wildfremde Männerhände ihr Nachthemd im Bett oder die Dessous in ihrem Schrank begrapschten, widerte sie an. Sie kam sich so unendlich bloßgestellt vor. Unbeholfen stand sie da und versuchte immer noch zu realisieren, was hier vorging.

"Sie haben wirklich keine Ahnung?", fragte der Beamte und riss sie aus ihren Gedanken. Seine Frage wirkte eher mitfühlend als bedrohlich. Er schien Verständnis für ihre Lage zu haben, wodurch sie ein kleines bisschen Hoffnung darin schöpfte, dass er ihr weiterhelfen könnte. Christine schüttelte den Kopf. Der Beamte atmete tief durch und trat näher an sie heran, worauf sie instinktiv ihre Hände vor der Brust faltete.

"Frau Vogler", begann er in einem sehr ruhigem Ton, der beinahe väterliche Züge hatte, "Sie und ihr Mann stehen in dringendem Tatverdacht der Steuerhinterziehung, Veruntreuung und der Urkundenfälschung. Sie als Inhaberin der Nordbau haben sich schuldig gemacht. Ob Sie davon wussten oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Daher muss ich sie bitten, mitzukommen."

"Mitkommen?", fragte Christine, "wohin mit kommen?"

"Aufs Revier, aufgrund der Verdunklungsgefahr wird der Staatsanwalt Sie mit Sicherheit ins Untersuchungsgefängnis bringen. Sie können sich viele Unannehmlichkeiten ersparen, wenn Sie mit uns kooperieren. Sagen Sie uns, wo sich ihr Mann aufhält."

"Ich, ich sagte doch ich weiß es nicht", antwortete sie nicht gerade überzeugend und sah verängstigt auf den Boden, um dessen Blick auszuweichen. Alleine die Tatsache, dass sie in eine Gefängniszelle gesteckt wird, raubten ihr fast die Sinne. Eingesperrt zu sein, mit Dieben und Mördern auf einer Stufe zu stehen. Hinzu kam die zu erwartende Peinlichkeit vor den gaffenden Nachbarn, wenn man sie in Handschellen ins Polizeiauto setzte. An den daraus resultierenden Tratsch in der Umgebung gar nicht zu denken. Den klaren Gedanken immer noch unfähig, hoffte sie immer noch, dass sich alles aufklären wird. So langsam wurde ihr klar, weshalb die EC-Karten nicht funktionierten. Mehr und mehr realisierte sie die Möglichkeit, dass ihr Mann die Konten leergeräumt haben könnte. Sie hatte auch keine Ahnung, an welchen Anwalt sie sich hätte wenden können. Alles wurde stets von Roland Vogler abgewickelt. Flucht war ihr einziger sinnvoller Gedanke. Nur weg und irgendwo hin, wo sie niemand findet. Aber wie? Zu wem sollte sie hin? Unsicher bewegte sie sich hin und her, gefolgt von den aufmerksamen Blicken der Polizei. Raus zulaufen war ihrer Meinung wohl das Dümmste. Bei der Masse an Männer wäre sie keine fünf Meter weit gekommen. Aus irgendeinem Fenster konnte sie auch nicht, denn in nahezu jeden Raum war ein Beamter, der alle Schränke und Ecken durchsuchte. Das Herz schlug ihr mittlerweile bis zum Hals und das Atmen fiel ihr immer schwerer. Sie fühlte den sich ansammelnden Schweiß auf ihrer Stirn, hinter der sich ein stechender Schmerz verteilte. Wieder und wieder wischte sie ihre Handflächen an ihrem Kleid trocken, strich sich durchs Haar oder rieb sich den Nacken. Ununterbrochen beobachte der Beamte sie und machte sich ihrer Meinung nach seine eigenen Gedanken. Christine war zum Heulen zumute, doch riss sie sich so gut sie konnte, zusammen. Instinktiv versuchte sie verzweifelt ihre Haltung zu wahren. Trotz des Gefühls, dass jeder Einzelne sie beobachtete und als mögliche Betrügerin sah.

"Darf ich vorher noch einmal ins Bad?", fragte sie und hoffte somit ein bisschen Zeit zu gewinnen oder wenigstens mit dem Handy ihren Mann zu erreichen.

"Natürlich, die Handtasche lassen Sie bitte hier", antwortete der Beamte und hielt auffordernd die Hand hin. Bereitwillig gab sie ihm die Tasche und ging ins Bad, wo sie die Tür hinter sich verschloss. Schweigend setzte sie sich auf die Klobrille und atmete tief durch. Sie begann alle Möglichkeiten durchzuspielen, in der Hoffnung selbst eine Lösung zu finden, sich aus dieser unerträglichen Lage zu befreien. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Mann hinter ihrem Rücken die Firma derart ruinös an die Wand gefahren hatte. „Das Haus, das Auto, die Möbel, all das muss doch noch soviel Wert haben, dass alles Finanzielle geregelt werden könnte“, dachte sie verzweifelt. Auch wenn sie sie einen Kontoauszug angesehen hatte, so war sie überzeugt, dass das immer gedeckt war. Doch so sehr sie sich anstrengte, nichts fiel ihr ein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie musste die Zähne auf die Lippen pressen, um keinen Laut von sich zu geben. Ihr Körper bibberte und der Unterleib begann zu schmerzen. Sich selbst beruhigend drückte sie ihre Hand gegen den Bauch. In sich gekehrt blickte sie ins Nichts. Sie fühlte sich im Bad wie eine Gefangene und wusste, dass, wenn sie hinausgeht, man sie zum Polizeiwagen führen würde. In Handschellen, den geifernden Blicken ihrer Nachbarn ausgesetzt. Ein lautes Klopfen und der Ruf ihres Namens ließen sie zusammenschrecken.

"Ja doch!", rief sie zur Tür und betätigte die Klospülung. Da fiel ihr Blick auf das kleine Fenster, gerade mal so groß, dass man sich hindurchzwängen konnte. Eigentlich sollte dort mal ein Gitter angebracht werden, aber daraus ist nie etwas geworden. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, drehte sie den Wasserhahn auf. Vorsichtig stieg sie auf den Rand der Badewanne und öffnete das Fenster, was zum Garten zeigte. Ängstlich sah sie hinaus. Niemand schien sich dort aufzuhalten und so machte sie sich daran, aus dem Fenster zu krabbeln. Das bequeme, jedoch für solche Zwecke viel zu enge Kleid behinderten sie so sehr, dass sie beinahe kopfüber aus dem Fenster fiel. Ungelenkig hangelte sie sich herunter und blieb im Blumenbeet stehen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz lauter schlug, als die Geräusche die sie machte. Dicht an der Hauswand entlang schleichend versuchte sie das Nebengrundstück zu erreichen. Immer darauf bedacht, von dem an den Fenstern stehenden Beamten in der oberen Etage nicht entdeckt zu werden. Der Zaun zum Nachbarn war niedrig und die Hecke mit ihren weit ausladenden Zweigen, boten ihr einen recht guten Schutz. Weder der Nachbar noch sein Hund war zu diesem Zeitpunkt da und so konnte sie ungehindert den ganzen Nachbarsgarten durchqueren. Schnell erreichte sie das andere Ende und sah sich auf dem Fußweg der abzweigenden Straße kurz um. Niemand hatte sie bemerkt. Zügig, aber nicht auffällig schnell, ging sie die Straße hinunter und bog nach einhundert Meter links ab. Immer wieder blickte sie sich um. Sie hatte das Gefühl, das tausend Augen sie beobachteten. Hinter jedem Fenster und jeder Hecke vermutete sie jemanden, der plötzlich laut rufen könnte: "Da ist sie!"

Nach gut zehn Minuten erreichte sie das Mehrfamilienhaus in der Eulenkrugstraße, in der ihre Schwester Carola mit ihrem Mann und den zwei Kindern lebte. Sie war zwei Jahre jünger und führte im Gegensatz zu Christine ein recht bescheidenes Leben. Der Verdienst ihres Mannes erlaubte ihnen nur einen Kleinwagen, der mittlerweile vierzehn Jahre alt war und zur jeder bevorstehenden TÜV-Untersuchung hergerichtet wurde. Auch sonst leisteten sie sich nicht viel. Seit Christine verheiratet war, hatte sich ihr Verhältnis zur Schwester abgekühlt. Carola und ihr Mann konnten das aufschneiderische Getue von ihrem Schwager nicht ertragen und sie waren auch überzeugt, dass er Christine nur ausnutzte und sie wie ein Dummchen behandelte. Zwar hatte Christine anderen gegenüber nie vom krankhaften Geiz ihres Mannes gesprochen, doch ab und zu vertraute sie sich ihrer Schwester an und erzählte ihr, wie unglücklich sie war. Hinzu kam, dass Carola ihre Schwester ermahnte besser auf ihren Mann zu achten und sich nicht ständig bevormunden zu lassen. Genauso oft gerieten sie dann aneinander, weil Christine wiederum glaubte, dass es nur der Neid war. Aber sie war in dieser Sekunde die Einzige, die ihr helfen konnte. Alle anderen wohnten zu weit weg oder waren nicht zu erreichen. Christine stand vor der Treppenhaustür und klingelte.

"Mach schon", zischte sie ungeduldig und presste sich gegen die Tür. Dabei kontrollierte sie immer wieder die Straße zu beiden Seiten. Jedes sich näherndes Fahrzeug ließ ihr einen Schreck durch die Glieder fahren. Der Summer erklang und sie trat ein. Hastig lief sie die Stufen zum ersten Stock hinauf, wo ihre Schwester in der geöffneten Tür stand.

"Was ist passiert?", fragte Carola überrascht, als sie Christine erblickte, die sichtlich außer Atem war.

"Du musst mir helfen Caro!", sagte sie und drängte sich an ihrer Schwester vorbei in die Wohnung. Carola sah noch einmal ins Treppenhaus und schloss die Haustür. Erst jetzt bemerkte sie, dass Christine nicht einmal ihre Handtasche dabei hatte, auf die sie nie im Leben hätte verzichten können. Sie nahm sie am Arm und führte sie in die Küche, wo Christin sich auf einen Stuhl setzte. Verstört sah sie zu ihrer Schwester auf, die sich ebenfalls setzte und fragte: "Was ist los?"

Verunsichert wippte Christine auf dem Stuhl hin und her, versuchte ihren vor Aufregung zitternden Körper zu beruhigen. Carola wiederholte ihre Frage ungeduldig.

"Die, die Polizei ist bei uns", begann Christine stockend, "sie durchsuchen das ganze Haus und mich wollten sie verhaften. Mein Gott war mir das peinlich vor den ganzen Nachbarn."

"Verhaften?", wiederholte Carola erstaunt und stabilisierte ihre Sitzhaltung. Christine fing zu weinen an und rieb sich eine Träne von der Wange.

"Ich, ich weiß nicht, was Roland da angestellt hat. Er wird ebenfalls gesucht und ich musste fliehen. Wie eine Diebin bin ich aus dem Toilettenfenster geschlichen. Ich weiß nicht was ich machen soll. Carola, alles ist wie ein schlechter Traum. Ich habe eine Scheißangst. Ich, ich …"

Schluchzend brach sie ihren Satz ab und heulte drauflos.

"Aber was hast du damit zu?", fragte Carola fassungslos, wobei sie ihr ein Taschentuch reichte. Christines Schluchzen ließ keine verständliche Antwort zu und Carola fragte noch einmal nach, wobei sie sich näher zu ihrer Schwester beugte.

"Ich meine, es ist doch seine Firma und er ist dafür verantwortlich, oder?"

Christine putzte sich die Nase und antwortete: "Ich bin als Inhaberin eingetragen und somit haftbar. So hat es mir wenigstens der Beamte erklärt. Ich hatte doch von alledem keine Ahnung."

"Und wo ist Roland?", fragte Carola skeptisch nach.

"In Frankreich, geschäftlich, wie er sagte."

"Geschäftlich", wiederholte Carola genauso spöttisch wie der Beamte zuvor und schüttelte ungläubig den Kopf, "ausnutzen tut er dich. Ich habe dir immer gesagt, dass mit deinem Mann was nicht stimmt. Aber du …"

"Danke!", fluchte Christine, "deine Vorwürfe kann ich gerade gut gebrauchen."

Dabei musste sie sich mittlerweile selber eingestehen, in was für eine Lage ihr Mann sie gebracht hatte. Carola biss sich auf die Lippe und sah ein, dass die Vorwürfe gegen ihre Schwester auch nicht weiter halfen. Doch bestätigten sich alle ihre Vermutungen, die sie bei ihrem Schwager annahm. Sie begann, ihn ebenfalls zu hassen. Erinnerte sich an Rolands mitleidigen Blick, als sie eine Steuerrückzahlung von 1400 Euro bekamen. So etwas hätte in der Portokasse, lachte er sie damals aus.

"Du könntest für ein paar Tage hier bleiben und dann würden wir …"

"Vergiss es", unterbrach Christine sie, "hier wird die Polizei doch als Erstes nach mir suchen und ich will euch da nicht mit hineinziehen ziehen. Ich muss weg, irgendwo hin."

"Rufe Roland doch einfach an. Er wird sich ja wohl was einfallen lassen", schlug Carola vor und reichte ihrer Schwester das Handy. Christine nickte, nahm das Handy und tippte mit zitterndem Zeigefinger die Nummer ein. Kurz danach sprang seine Mailbox an. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, drückte sie die Verbindung weg und versuchte es erneut. Wieder und wieder drückte sie die Wiederholungstaste und fluchte in das Handy. Aber außer der Mailboxansage kam nichts heraus. Mit zusammengepressten Lippen sah sie ihre Schwester an und gab ihr das Handy zurück.

"Hast du keine Freundin, bei der du unterkommen kannst?", fragte Carola.

Christine dachte einen Augenblick nach. Freundinnen hatte sie schon, aber die Bindung war nicht so eng, dass sie die hätte fragen können. Hinzu kam, dass ihr die ganze Angelegenheit hochgradig peinlich war. Ohne dass sie antwortete, verstand Carola auch so, dass ihre Schwester im Grunde genommen niemanden hatte. All die weiblichen "Bussybekanntsschaften", die Christine kannte, konnte sie nicht gerade als Freundinnen betiteln. Diese pikierten Damen hätten allenfalls dafür gesorgt, dass Christines Schicksal mit heuchlerischem Mitgefühl ausgeschlachtet und verbreitet wurde.

"Und wenn du dich einfach stellst? Ich meine, mehr als ein Geständnis ablegen kannst du ja nicht", schlug Carola ihr vor.

"Was soll ich denn gestehen? Ich habe doch von alledem keine Ahnung! Die stecken mich ins Gefängnis und wer weiß, wann ich da wieder herauskomme!", weinte Christine. Ihr war auch klar, dass sie somit von der Außenwelt abgeschirmt war. Die einzige Möglichkeit in ihrer Lage war, ihren Mann aufzusuchen. Er war der einzige Mensch, der eine eventuelle Lösung hatte oder sie zumindest irgendwo unterbringen konnte.

"Ich muss zu ihm", sagte Christine mehr zu sich und putzte sich erneut die Nase.

"Weißt du denn, wo genau er ist?", fragte Carola nach.

"Roche, glaube ich. Liegt in Frankreich. Er hatte oft dort zu tun", antwortete Christine, wobei sie darüber nachdachte, wo genau dieser Ort sein könnte.

"Und wo da? Ich meine, hast du eine genaue Adresse?"

Unsicher hob Christine die Schultern. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wo ihr Mann sich aufhielt. Genauso wenig über das Was und welche Geschäfte dort abliefen. Nur der Ort Roche tauchte schriftlich immer wieder mal auf und an ein Hotel Namens "Mirage" konnte sie sich auch erinnern, dass ihr Mann wohl schon häufig gebucht hatte.

"Komme mal mit", sagte Carola und stand auf. Sie gingen ins Wohnzimmer, wo der eingeschaltete Computer stand. Über Google Maps suchte Carola den besagten Ort und wurde in wenigen Sekunden fündig. Christine sah ihr über die Schulter und suchte die nächste größere Stadt.

"Das ist in der Nähe von La Rochelle", bemerkte sie und überlegte, wie sie da hinkommen sollte. Erst jetzt wurde ihr langsam klar, dass sie gar keine Möglichkeit hatte. Sie hatte kein Geld, keinen Pass und kein Auto. Nichts, außer was sie am Leib trug. Sie wischte sich ihre feuchten Hände an ihrem Kleid ab und sah sich um, als befände sich im Raum die Lösung ihrer Probleme. Sie brauchte auf jedem Fall Geld, soviel stand schon mal fest. Ohne Geld hätte sie sich nicht einen Meter bewegen können. Christine zögerte eine ganze Weile, ihre Schwester um Geld zu bitten. Hatte Carola sie doch schon oft beneidet, dass ihre Schwester sich keine finanziellen Sorgen machen musste. Und jetzt saß sie da, mittellos und auf die Hilfe anderer angewiesen. Dann fasste Christine allen Mut zusammen und fragte kleinlaut: "Kannst du mir etwas Geld leihen, hundert Euro vielleicht?",

"So viel habe ich nicht im Haus, ich müsste zum Bankautomaten. Was hast du denn jetzt vor?"

"Zu Roland fahren. Was anderes bleibt mir doch nicht übrig."

"Du willst allen Ernstes nach Frankreich? Alleine und ohne zu wissen, wo genau er sich befindet?", fragte Carola ungläubig. Sie kannte ihre Schwester und wusste, wie hilflos sie in einigen Situationen war.

"Er ist bestimmt in Roche, da bin ich mir fast sicher. Ich muss dahin!", antwortete Christine beinahe trotzig. Doch musste sie sich selber eingestehen, dass sie eine so lange und weite Autofahrt noch nie allein unternommen hatte. Ihr Reiseradius mit dem Auto beschränkte sich allenfalls in der näheren Umgebung oder in die Stadt hinein. Wenn längere Fahrten anstanden, fuhr immer ihr Mann. Nur die Rückfahrten durfte sie fahren, weil er sich mit dem Alkohol nicht zurückhalten konnte. Außerdem hätte sie gar nicht zu ihrem Wagen gekonnt, der ja noch immer vor der Einfahrt ihres Hauses stand. Selbst wenn sie ihre Schwester geschickt hätte, um den Wagen zu holen, hätten die Beamten es verhindert und sie möglicherweise gleich mitgenommen.

"Und wie willst du da hinkommen? Per Anhalterin?", fragte Carola beinahe abfällig. Auch sie wusste, dass Christine ohne Ausweis kein Flugzeug betreten konnte und mit der Bahn hätte man sie bei einer Kontrolle möglicherweise festgenommen. Carola zog es sogar in Erwägung, Christine zu begleiten. Doch konnte sie ihre Familie nicht so halsüberkopf verlassen.

Christine zuckte mit den Schultern und zögerte lange, sie nach ihrem Auto zu fragen, in der Hoffnung ihre Schwester würde von selber darauf kommen. Doch nichts tat sich und Christine schlug schüchtern vor: "Euer Auto, vielleicht?"

Carola verzog das Gesicht. Zwar war sie auf das Auto nicht so sehr angewiesen, aber eine solche Strecke, davon war sie überzeugt, würde es nicht überstehen. Außerdem hätte sie mit ihrem Mann darüber sprechen müssen und der kam erst spät nach Hause.

"Bitte Caro", bettelte Christine, "ich bringe euch das Auto wieder zurück. Ich habe doch keine andere Möglichkeit."

Carola verdrehte die Augen und sah ihre Schwester belehrend an. Um das Auto machte sie sich weniger Sorgen. Kopfzerbrechen bereiteten ihr, was ihre Schwester da unten in Frankreich erwarten wird. Ihr Schwager, da war sie sich sicher, würde Christine nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Wenn er sich überhaupt in diesem Ort aufhielt.

"Was glaubst du denn, was du da unten erreichst? Weiß du überhaupt, was Roland da unten treibt?", fragte sie, womit sie klar zum Ausdruck brachte, was eigentlich alle dachten, nämlich dass er sich dort mit anderen Frauen begnügte. Wie immer durchzog Christine ein stechender Schmerz, wenn solche Anspielungsfragen gestellt wurden. In ihrem Kopf hämmerte der Puls und sie wusste nicht, vor was sie sich mehr fürchtete. Vor der Wahrheit und der Zukunft oder der Bloßstellung ihrer Person im Familien- und Freundeskreis. Obwohl Letzteres ja ohnehin schon angelaufen war und es nur eine Frage der Zeit war, bis auch das letzte Familienmitglied davon wusste.

"Was soll er da treiben?", fragte Christine gespielt scheinheilig, "Er kümmert sich um die Geschäfte. Was glaubst du denn?"

Doch sie selbst glaubte nicht an das, was sie da von sich gab. Sie kam sich langsam klein und lächerlich vor. Wieder drückten sich die Tränen aus ihren Augen und das Schlucken fiel ihr schwer. Carola zögerte und begriff die Naivität ihrer Schwester nicht. Dass sie nicht gerade glücklich war, konnte sie ihrer Schwester nicht verheimlichen. Und dass Roland hinter jeden Rock her war, war in der ganzen Familie bekannt. Doch Christine stellte sich blind, wie es nur eine Frau tun kann.

"Ich werde Jan mal kurz anrufen", schlug Carola vor und nahm sich das Handy. Vorsorglich ging sie in den Flur, um Christine an einer möglichen Diskussion mit ihrem Mann nicht teilhaben zu lassen. Christine nickte und putzte sich die Nase. Sie versuchte das Gespräch zu belauschen, bekam aber nur Wortfetzen mit, mit denen sie nichts anfangen konnte. Nach einer Weile trat Carola in das Wohnzimmer und sagte kurz: "Geht klar, du kannst das Auto nehmen."

"Das ist so lieb von euch, danke", sagte Christine, stand auf und herzte ihre Schwester.

"Betankt ist er. Achte aber darauf, dass du nicht zu schnell fährst. Die Maschine, Jan meint, dass sie dir sonst verreckt."

"Ist was mit der Maschine?"

"Der Motor ist eigentlich okay. Jan meinte nur, dass der Wagen solche Strecke nicht gewohnt ist."

Christine sah ihre Schwester ungläubig an und verstand nicht, wie man von einem Auto sprach, als sei es ein Lebewesen, was aus seiner Gewohnheit gebracht wurde.

Sie versprach aber trotzdem, darauf zu achten und umarmte sie erneut. Dann machte sich Carola auf dem Weg zur Bank, während sich Christine die Route am PC ausarbeitete, um sie dann ausdrucken zu können. Nach ein paar Minuten kam Carola zurück und setzte sich neben Christine auf die Armlehne an den PC.

"Hast du die Route errechnet?", fragte sie, als sie das Summen des Druckers hörte.

"Es sind fast 1400 KM, 14 Stunden Fahrzeit. Wenn ich jetzt losfahre, müsste ich um gegen 9 Uhr …"

"Christine", unterbrach Carola sie streng, "du willst doch nicht etwa nonstop durchfahren, oder was?"

Christine druckste herum und sah ein, dass eine solche Strecke nicht so einfach zu bewältigen war. Carola griff in ihre Tasche und holte vier Euroscheine heraus.

"Ich gebe dir vorsichtshalber 200 Euro. Du kannst zwischendurch übernachten und tanken. Denke daran, dass die Autobahnen in Frankreich mautpflichtig sind."

Dankbar nahm Christine das Geld an sich und stopfte es in ihre Kleidtasche. Doch dann stutzte sie und sah ihre Schwester fragend an.

"Ich, ich habe keinen Pass, nicht einmal meinen Ausweis. Ich meine, in einem Hotel wird doch der Ausweis verlangt, oder nicht."

"Das stimmt …", sagte Carola nachdenklich. Doch diesbezüglich konnte sie ihre Schwester auch nicht weiterhelfen.

"Notfalls muss ich im Auto schlafen, was soll's", sagte Christine mehr zu sich. Es hörte sich eher trotzig an und beunruhigte Carola. Sie kannte ihre Schwester gut genug und wusste, dass sie ohne Hotel, Bett und Dusche gar nicht hätte leben können. Vermutlich wäre sie nicht einmal in den, ihr zur Verfügung gestellten Fiesta, eingestiegen. Was das anging, war sie in ihrer Ehe mit Roland verwöhnt.

"Versprich mir vorsichtig zu sein, Christine. Fahre auf einen Rastplatz und nicht irgendeinen dunklen Parkplatz, versprich mir das", forderte Carola mit Nachdruck. Christine nickte, umarmte sie noch einmal und nahm sich die Routenplanung aus dem Drucker. Gemeinsam gingen sie dann hinaus zum Wagen. Vorsichtshalber kontrollierte Carola noch einmal, ob sich kein Streifenwagen in der Nähe aufhielt, und winkte Christine dann zu sich. Eilig gingen sie zum Wagen, einen roten Ford Fiesta, dessen Farbe recht matt war. Ein paar stümperhafte Ausbesserungen und Schrammen zierten den Lack. Die Antenne wurde durch einen umgeformten Drahtbügel ersetzt. Christine stieg ein, schob den Sitz in die richtige Position und startete den Motor, der auf Anhieb ansprang. Eine blaue Rauchsäule kringelte sich aus dem Auspuff, was Christine aber nicht bemerkte. Sie legte sich die ausgedruckten Blätter ihrer Route auf den Beifahrersitz.

"Pass auf dich auf!", rief Carola und klopfte kurz auf das Autodach. Langsam setzte sich der altersschwache Wagen in Bewegung und fuhr die schmale Straße hinauf in Richtung der Bundesstraße 75, die zu dem Autobahnzubringer der A1 führte. Nervös beobachtete Christine durch den Rückspiegel den hinteren Verkehr und achtete auf die abführenden Straßen, ob nicht irgendwo ein Polizeifahrzeug zu sehen war. Nach knapp zehn Minuten fuhr sie auf die A1 in Richtung Bremen. Immer darauf bedach, nicht zu schnell zu fahren. Einmal dem Motor zuliebe und vor allem, um nicht aufzufallen.

Carola stand noch eine Weile mit verschränkten Armen da und sah die Straße hinunter. Sie tat ihr Leid. Früher war Christine unbekümmerter. Camping mit Zelt und Isomatte. Jeans und Armeehemd. Turnschuh und Palästinensertuch. Fertiggericht aus der Dose am offenen Feuer. Waschen im See. Bis sie ihren vermeintlichen Prinzen traf, Roland Vogler. Lackierte Nägel, modisch gekleidet und stets von verwöhnten Bussybussyweibern umgeben. Carola hatte sich zwischen ihnen nie wohlgefühlt.


Um diese Zeit war die Rushhour zwar fast beendet. Doch auf der A1 wälzte sich immer noch eine Blechlawine durch die Monate andauernde Baustelle zwischen dem Kreuz Ost und den Süderelbbrücken in Richtung Maschen. Wochenendausflügler und Pendler schoben sich langsam gen Süden. Erst jetzt bemerkte Christine, dass sie nicht einmal ein Handy bei sich hatte und im Notfall, was bei dem Wagen beinahe vorprogrammiert war, den Pannendienst hätte ordern können. Genauso ärgerte sie sich darüber, sich von ihrer Schwester nicht eine Jacke oder Pulli ausgeliehen zu haben. Nicht einmal an Unterwäsche zum Wechseln hatte sie gedacht. Im Radio spielten sie gerade ihr Lieblingslied "Voyage Voyage", was irrwitzigerweise zu ihrem angestrebten Reiseziel passte. Normalerweise hätte sie die Musik mitgesummt, doch in ihrer jetzigen Verfassung war ihr nicht nach guter Laune zumute.



3. Kapitel >Rückfahrt nach Roche

Gegen 23 Uhr machten sich Vincent und Clara Bellier auf dem Weg nach Roche. Für sie wurde es Zeit, denn einige der Männer begannen, sich bei den Gesprächen mehr auf ihr Privatleben zu konzentrieren: warum sie nicht verheiratet und wer ihr Freund war. Clara Bellier sprach dezent von einer Fernbeziehung und achtete darauf, keine Personifizierung auszusprechen. Trotz der modernen und weltoffenen Zeit waren die Ansichten bei den meisten Menschen eher intolerant verwurzelt. Konservative Stammtischmeinungen überwogen immer noch die Gesetze der Gleichheit. Mehr als einmal lenkte Vincent das Gespräch in eine ganz andere Richtung und befreite sie so aus der Rechtfertigungssituation. Das wiederum bestätigte ihr, dass niemand in der Firma von ihrer Neigung wusste.

Vorsichtig und verunsichert lenkte sie den Wagen aus der Stadt auf den Zubringer zur Route National, immer darauf bedacht, die Geschwindigkeit nicht zu übertreten.

"Monsieur", begann Clara Bellier, " das Geschenk, was Sie mir heute überreichten, hat mich sehr irritiert. Ich meine …"

"Sollten Sie es nicht erst zu Hause öffnen?", erinnerte Vincent sie und sah sie gespielt streng an.

"Ich, ich habe es nicht ausgehalten. Was haben Sie denn erwartet? Frauen sind nun mal neugierig."

"Hat es ihnen wenigstens gefallen?", fragte Vincent, obwohl ihm klar war, dass seiner Mitarbeiterin jedes Geschenk von ihm gefiel. Selbst ein Frustkauf eines kleinen Blumenstraußes von der Tankstelle hätte sie beglückt.

"Ob es mir gefallen hat?", fragte sie entrüstet, "Sie schenken mir eine einwöchige Kreuzfahrt für zwei Personen "all inklusiv" und fragen ob, es mir gefällt? Ich meine, so etwas ist doch nicht gerade billig, oder?"

"Nein, war es nicht. Aber das sind Sie mir wert und jetzt treten sie mal das Gaspedal, damit wir heute noch ankommen", antwortete Vincent augenzwinkernd.

"Auf jeden Fall möchte ich mich dafür ganz herzlich bedanken. Sie haben mich damit richtig in Verlegenheit gebracht, Monsieur", bedankte sich Clara Bellier und beschleunigte den Wagen auf knapp über die erlaubten 70 Km/h. Auffällig sah Vincent zur Tachonadel und forderte erneut, den Wagen zu beschleunigen.

"Hier sind 70 erlaubt, Monsieur", erinnerte sie ihn.

"Doch nicht um diese Zeit. Hier können Sie getrost 100 fahren. Kaum Kurven, kein Verkehr und alles gut ausgebaut."

Entgegen ihrer Gewohnheit ließ Clara Bellier sich darauf ein und erhöhte ihre Geschwindigkeit. Dass sie das nicht gewohnt war, zeigten ihre verkrampften Hände, die das Lenkrad hielten. Erwartungsgemäß meldete sich auch das Navi und warnte ununterbrochen. Vincent schaltete es ab, um seine Fahrerin nicht unnötig zu belasten. Es dauerte nicht lange, als sich hinter ihnen ein Wagen näherte und extrem dicht auffuhr. Nervös korrigierte sie ihre Sitzhaltung und ihr Blick wechselte ständig zwischen Rückspiegel, Tacho und Frontscheibe. Auch Vincent bemerkte den Verfolger und drehte sich um. Die Scheinwerfer des Wagens ließen aber keinen Einblick zu.

"Entweder ist der kurzsichtig oder er will uns ein Kind machen", kommentierte Vincent lakonisch und zeigte dem Hintermann mit einer kreisenden Hand vor der Stirn, dass jener nicht alle Tassen im Schrank hatte..

"Monsieur bitte!", ermahnte ihn Clara Bellier und schüttelte verständnislos den Kopf. Sie konnte es nicht leiden, wenn er sich als Beifahrer auch noch wie ein Flegel aufführte und sie damit indirekt mit hineinzog. Verunsichert verringerte sie ihre Geschwindigkeit. Zum einen, dem hinteren Fahrzeug die Möglichkeit zu geben, zu überholen. Zum anderen, sich auf eine korrekte Fahrweise berufen zu können. Unbeirrt folgte das andere Fahrzeug. Auch wenn sie Vincent neben sich wusste, so behagte ihr das Gefühl, verfolgt zu werden, überhaupt nicht. Immer wieder blinzelte sie in den Rückspiegel und verstand nicht, weshalb der Verfolger nicht überholte. Der Straßenabschnitt wies keine Kurven auf und Gegenverkehr war nicht zu erkennen.

"Sie sollten etwas schneller fahren, sonst fährt uns der Typ noch hinten drauf", forderte Vincent sie auf. Clara Bellier vermutete, dass ihr Chef sich mehr Sorgen um seinen Wagen machte, als die Gefahr eines Überfalls. Vorsichtig trat sie das Gaspedal hinunter und die Tachonadel begann, erneut zu steigen. Je schneller sie fuhr, umso nervöser wurde sie. Bei über achtzig Km/h kam ihr sogar ein leiser Fluch über die Lippen. Der Verfolger schien regelrecht an ihr zu kleben. Obwohl die Straße immer noch frei und übersichtlich war, machte er keine Anstalten sie zu überholen.

"Der Wagen macht locker über 180, glauben Sie, dass er mithalten kann?", fragte Vincent und drehte sich noch einmal um.

"Ich habe nicht vor hier auf der Route National ein Rennen zu fahren, Monsieur!", schimpfte Clara Bellier und versuchte sich auf das Fahren zu konzentrieren.

Plötzlich leuchtete ein Blaulicht auf dem Dach des hinteren Wagens auf und eine Sirene wurde eingeschaltet.

"Ups …", sagte Vincent und grinste sie von der Seite an. Das Polizeiauto überholte und setzte sich vor sie. Der Beifahrer winkte mit der Kelle aus dem Beifahrerfenster und bremste sie aus. Langsam kamen beide Fahrzeuge am Straßenrand zum Stehen.

"Na toll Monsieur, das haben wir ja wieder gut hin bekommen", erboste sich Clara Bellier und beobachtete die beiden Polizeibeamten, die zeitgleich ausstiegen und auf sie zugingen. Hastig, aber überflüssig, ordnete sie ihre Jacke und strich noch einmal ihren Rock glatt. Eine Angewohnheit, so meinte Vincent, die wohl jede Frau hatte. In jeder Situation noch einen guten Eindruck machen. Er lehnte sich zu ihr und fragte: "Soll ich mal mit den Polizisten reden?"

"Nein!", antwortete sie entrüstet. Denn sie wusste genau, dass bei seiner Art von Humor nichts Gutes herauskommen würde. "Er würde sicher alles nur verschlimmern", dachte sie bei sich und bat ihn sich etwas zurück zuhalten.

Während sich der eine Polizist den Wagen besah, trat der andere an die Fahrertür heran und leuchtete mit der Taschenlampe ins Innere. Clara Bellier kniff leicht geblendet die Augen zusammen, ließ das elektrische Fenster herunter und begrüßte den Beamten sehr freundlich. Dieser musterte sie finster und dann das Fahrzeug. Verlegen strich Clara Bellier sich durch das Haar und tat, als wüsste sie nicht, weshalb sie angehalten wurde. Mit überzeugender Unschuldsmiene sah sie den Beamten an.

"Die Fahrzeugpapiere und ihren Führerschein bitte, Madame."

Hastig fingerte sie ihren Führerschein aus der Handtasche, während Vincent ihr die Fahrzeugpapiere reichte. Beides übergab sie dem Beamten durch das Fenster, der diese entgegen nahm. Schweigend kontrollierte er die Papiere.

"Sie sind nicht die Halterin?", stellte der Beamte fest, ohne sie dabei anzusehen.

"Nein, es ist das Auto meines Beifahrers", antwortet Clara Bellier und zeigte mit der Hand zu Vincent. Der Polizist beugte sich hinunter und leuchtete ihn ins Gesicht.

"Und Sie sind?", fragte der Beamte kurz.

"Vincent Dupont, Antiaggressionstrainer von Mademoiselle Bellier", antwortete Vincent trocken. Der Beamte richtete sich wieder auf, nickte kurz und sah Clara Bellier prüfend an. Vermutlich stellte er sich gerade vor, wie es wohl aussehen wird, wenn diese Frau aggressiv wurde. Sie quälte sich ein mitleidiges Lächeln heraus, womit sie versuchte die Peinlichkeit ein wenig herunterzuspielen. Der andere Polizist beleuchtete den Wagen von allen Seiten und schien sehr beeindruckt zu sein. Schon der Klang der Auspuffanlage schien sein Interesse zu wecken.

"Bitte Madame doch mal, das Gaspedal zu betätigen!", rief der Beamte hinter dem Wagen seinem Kollegen zu. Der kontrollierende Beamte gab diese Aufforderung an Clara Bellier weiter. Diese sah Vincent fragend an und verstand nicht, warum sie Gas geben sollte.

"Geben Sie einfach Gas", forderte Vincent sie auf, "der Typ fährt auf den coolen Sound der Auspuffanlage ab."

"Der fährt auf den Auspuff eines Autos ab?" wiederholte Clara Bellier und dachte sich, nur noch, von Idioten umgeben zu sein.

"Das hier ist kein Auto", belehrte Vincent sie, "das ist ein 68er-Ford Mustang V8 mit einer 6,4-Liter-Maschine und 325 PS."

Clara Bellier verstand zwar gar nichts mehr und gab ein paar Mal Gas. Als sie dann auch noch schwach den Kommentar des Polizisten hinter dem Wagen vernahm, der den Klang "obergeil" fand, fiel ihr nichts mehr dazu ein.

"Sehen Sie", lachte Vincent vergnügt, "den haben wir gerade sehr glücklich gemacht."

Clara Bellier nahm es kommentarlos hin. Ihr nachsichtiger Gesichtsausdruck aber verriet, wie einfach es doch ist, einen Mann in den mittleren Jahren zu erfreuen. Mit dem Klang des Auspuffrohres eines 68er-Ford Mustangs. Ihr lag es auf der Zunge zu fragen, wie alt die Herrschaften eigentlich sind. Dann widmete sie sich wieder dem Beamten zu, der noch immer die Papiere in der Hand hielt.

"Wissen Sie, warum wir Sie anhalten, Madame?", fragte er höflich und beugte sich erneut zu ihr herunter, um auch Vincent in Augenschein zu nehmen. Dieser konnte es nicht lassen und eilte ihr mit der Antwort voraus.

"Lassen Sie uns raten, Sie haben Langeweile?"

Clara Bellier's Arm stieß unsanft gegen seinen Arm, womit sie deutlich machte, dass er sich gefälligst zurückhalten sollte, um jede unnötige Konfrontation zu vermeiden.

"Monsieur bitte!", zischte sie und sah den Polizisten entschuldigend an.

"Ich, ich weiß nicht …", antwortete sie gespielt verwundert und hoffte inständig, dass Vincent ausnahmsweise mal für ein paar Minuten den Mund halten würde.

"Sie waren über 30 Km/h zu schnell, Madame", belehrte sie der Polizist streng und fragte beinahe fürsorglich: "Haben Sie denn das Schild nicht gesehen?"

"Das Schild schon ", antwortete Vincent vorlaut, "aber Sie nicht!"

Clara Bellier wäre am liebsten in den Erdboden versunken. Sie konnte mit solchen Situationen einfach nicht umgehen und bat inständig für sich, dass Vincent endlich den Mund hielt. Der Polizisten schmunzelte leicht, was Clara Bellier ein wenig hoffen ließ.

"Ihr Mitfahrer scheint ja viel Humor zu haben Madame, aber wenigstens ist er ehrlich", sagte der Polizist und sah Vincent belustigend an.

"Er, er bewahrt sich in jeder Situation die gute Laune, Monsieur. Sie dürfen ihn nicht ernst nehmen. Es tut mir wirklich sehr leid. Ich verspreche, dass ich …"

"Schon gut, Madame", winkte der Polizist ab und reichte ihr die Papiere zurück. „Fahren Sie weiter und achten Sie bitte mehr auf die Schilder."

Mit einer kurzen Ehrenbezeigung winkte er sie am Polizeiwagen vorbei. Langsam fuhr sie an und war sehr darauf bedacht, jetzt nicht noch irgendeinen Fahrfehler zu begehen. Im Rückspiegel glaubte sie zwei verträumte Augenpaare zu erkennen, die schmachtend dem Klang der Auspuffanlage hinterher blickten. Vorsichtig, den Tacho im Blick, beschleunigte sie den Wagen auf exakt 70 Km/h. Dabei murmelte sie etwas Unverständliches vor sich hin. Sie hatte noch immer Schwierigkeiten sich mit seinem Humor anzufreunden und fragte sich oft, ob er den Ernst der Lage überhaupt erkannte. Am meisten störten sie die bezahlten Strafen für ihren Chef. Geld, was sinnlos zum Fenster hinausgeworfen wurde, weil Monsieur Dupont mal wieder nicht den Mund halten konnte oder frech in die Kamera eines Blitzers grinste.

"Haben Sie was gesagt?", fragte Vincent. Sich kurz räuspernd antwortete sie: "Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, Monsieur Dupont, aber Sie sollten sich in solchen Situationen wirklich mehr zurückhalten."

Dann machte sie eine kleine Pause und fügte hinzu: "Seit ich Sie kenne, musste ich feststellen, dass mein Leben langweilig war."

Vincent lachte kurz auf und lobte ihren eher sehr selten aufkommenden Humor. Ungeachtet seiner Äußerung setzten sie ihre Fahrt schweigend fort, während sich Vincent nach ein paar Minuten einige CDs aus dem Handschuhfach holte und sich die ansah, die er abspielen wollte. Es verging eine ganze Weile, bis auch Clara Bellier über die Situation und Vincents Humor schmunzeln musste. Fast unbemerkt beobachte sie ihn dabei aus den Augenwinkeln. Clara Bellier konnte mit seiner seltsamen Musikrichtung nie etwas anfangen. Vincent entschied sich je nach Laune mal für Hardrock, mal für weichen Soul bis hin zum Chanson. Sie bekam mit, dass er sich die Gruppe A. C. D. C. ausgesucht hatte, eine Musik, die sie ganz und gar nicht ertragen konnte. Sie sagte ruhig, aber bestimmend: "Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese CD nicht abspielen."

"Wieso, was haben Sie gegen A. C. D. C?"

"Das Geschrei würde meine Fahrkonzentration beeinträchtigen", antwortete sie kühl.

"Sie nennen den Gesang dieser Gruppe Geschrei?"

"Bitte Monsieur!", antwortete sie mit Nachdruck. Denn sie hatte keine Lust mit ihm über den Geschmack von Musik zu diskutieren. Gespielt beleidigt legte Vincent die CD in die Hülle zurück, verschränkte die Arme und lehnte sich weit zurück.

"Sie sind eine Kulturbanausin", maulte er leise, "eine Kulturbanausin und ein Verkehrsrüpel."

Clara Bellier antwortete nicht darauf und lächelte zufrieden vor sich hin. "Gut, dass wir das geklärt haben", dachte sie bei sich. Wenigstens hatte sie die Gewissheit, ruhig und entspannt in Roche anzukommen. Die weitere Fahrt über schwiegen sie vor sich hin und Vincent übermannte die Müdigkeit. Die Lehne noch etwas weiter nach hinten geneigt, schloss er die Augen. Sein gleichmäßiger Atem signalisierte ihr, dass er eingeschlafen war. "So ist es Recht", dachte sie, "dann macht er wenigstens keine Dummheiten."

Sie schaltete das Radio ein und ließ leise das Lied "Quelqu un ma dit" von Carla Bruni spielen. Eigentlich hatte sie von Vincent einen unqualifizierten Kommentar erwartet, doch er schien tatsächlich zu schlafen.

Nach einer guten halben Stunde bog sie in die Rue Pasteur ein, wo Vincent sein Apartment hatte. Eine schmale Straße, parallel laufende zum Ortskern. Eingebettet von alten zweistöckigen Häusern. Bis auf wenige Häuser, die in den letzten zehn Jahren eine Renovierung erfuhren, war der Rest teils windschief und recht marode. Der Asphalt wies zahlreiche Schlaglöcher auf, die sich nach dem letzten Winter gebildet hatten. Daher konnte man die Straße nur im Schritttempo befahren. Der leichte Ruck ließ ihn die Augen öffnen. Er stellte die Rückenlehne wieder aufrecht und sah Clara Bellier etwas müde an. Sie bemerkte aber, dass ihm irgendetwas auf der Zunge lag. Dafür kannte sie ihn zu gut. Nach ein paar Sekunden des Schweigens forderte sie ihn auf auszusprechen, was ihn beschäftigte.

"Ich nehme an, Sie möchten mir etwas sagen, Monsieur."

"Fragen", verbesserte Vincent sie, "ich wollte Sie etwas fragen."

"Bitte?"

"Nun, die Frage ist rein hypothetisch und ich möchte nicht, dass Sie es falsch verstehen." leitete er seine Frage ein. Clara Bellier begann neugierig zu werden und forderte erneut, doch einfach seine Frage zu stellen. Vincent zögerte einen Augenblick.

"Mademoiselle, angenommen Sie wären nicht lesbisch und angenommen ich wäre nicht ihr Chef. Würden Sie eine Einladung, bis zum Frühstück zu bleiben, annehmen?", fragte er und fügte eilig hinzu: "Rein hypothetisch, versteht sich."

Clara Bellier's Gesicht lief hochrot an und sie wusste vor Verlegenheit nicht, wo sie hinsehen sollte. Mit einer solchen Frage hatte sie nicht gerechnet und sie befürchtete beinahe, dass Vincent einen erneuten Versuch unternahm, sie zu etwas zu nötigen, was sie weder konnte noch wollte. Immerhin hatte er sie kurz zuvor noch großzügig beschenkt, was ihr ihrerseits eine gewisse Dankverpflichtung auferlegte. Sie kannte ihn aber wiederum gut genug, dass er niemals einen unmoralischen Gegenzug erwartete. Zwar mochte sie ihn sehr und glaubte zuweilen auch für ihn etwas zu empfinden, doch genauso schnell verflog dieses Gefühl auch wieder. Ein konsequentes "Nein" erschien ihr etwas plump und unhöflich.

"Monsieur ich, ich bin, ich meine ich würde, also das wäre …", stotterte sie und klammerte nervös ihre Hände um das Lenkrad, als wolle sie sich daran festhalten.

"War nur eine dumme Frage", sagte Vincent und erlöste sie so von ihrer unbeholfenen Rechtfertigung, "Es war nur mal so ein Gedanke. Ich weiß auch nicht, warum ich Sie das fragte. Danke für die Heimfahrt und fahren Sie vorsichtig. Gute Nacht."

Der letzte Satz hörte sich für Clara Bellier nicht sehr überzeugend an und in ihr nagte ein wenig das schlechte Gewissen. Sie wurde das Gefühl nicht los, ihn enttäuscht zu haben, sich undankbar zu zeigen.

"Sind Sie jetzt böse auf mich?", fragte sie vorsichtig und sah ihn recht besorgt an.

"Nein", antwortete Vincent ruhig, "ich habe kein Recht Ihnen solche blöden Fragen zu stellen. Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen."

Er hob seine Hand, legte sie sanft an ihre rechte Wange, wobei er ihr Gesicht zu sich drehte und küsste die linke Wangenhälfte. Im gleichen Moment streichelte sie seinen Unterarm und wünschte ihm eine gute Nacht. Dann stieg er aus, schlug die Tür zu und ging auf seinen Hauseingang zu, wobei er den Haustürschlüssel aus der Tasche zog. Clara Bellier beobachtete ihn dabei. "Sag etwas Nettes", dachte sie, "irgendetwas Nettes, was von Herzen kommt."

Dann ließ sie das elektrische Fenster der Beifahrertür herunter und rief im halblauten Ton: "Monsieur Dupont!"

Vincent blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Allen Mut zusammengefasst sagte sie: "Ich würde keine Sekunde zögern."

Vincent trat wieder an das Auto heran, legte seine Hand auf das Dach und beugte sich herunter. Clara Bellier hielt die Luft an und dachte, dass sie ihm jetzt etwas Unmögliches gesagt hatte und er es als Aufforderung verstehen würde.

"Rein hypothetisch …" versuchte sie die Situation zu entschärfen. Vincent lächelte und nickte zustimmend.

"Mademoiselle, Sie haben mir soeben mein Selbstwertgefühl zurückgegeben. Ich werde heute Nacht stolz einschlafen. Und jetzt sollten Sie verschwinden, bevor mich mein niedriger Instinkt dazu bringt, über sie herzufallen", sagte er breit grinsend und schlug kurz auf das Dach. Dann drehte er sich um, ging zur Haustür und blickte noch einmal kurz zurück. Mit wackelnden Fingern und einem Lachen verabschiedete sich Clara Bellier und fuhr davon. Sie war selbst von sich überrascht, dass sie den Mut aufbrachte, ihm eine solche Antwort zu geben. Aber vielleicht lag es daran, dass sie ihm vertraute und er es nicht gerade als Aufforderung verstand. Für ein paar Sekunden verspürte sie sogar ein Kribbeln im Bauch. Wenn es einen Mann in meinem Leben geben würde“, dachte sie, „dann wäre es er …“

Vincent sah ihr noch eine Weile nach, bis sie nach rechts abbog.

"Was für eine Frau …", dachte er bei sich und wünschte doch sich insgeheim, gemeinsam die Nacht mit ihr zu verbringen. Aber die Natur ihrerseits hatte es nun mal nicht vorgesehen.


Ungefähr zu diesem Zeitpunkt überkam Christine eine bleischwere Müdigkeit und sie entschloss sich, von der N40 bei Philippeville abzufahren. Nach wenigen Hundert Metern fand sie ein kleines Motel in der Rue d´ Hemptinne. Sie parkte den Wagen auf einen kleinen beleuchteten Parkplatz und betrat das Motel. An der Rezeption erfragte sie sich ein Zimmer, in der Hoffnung nicht nach ihrem Ausweis gefragt zu werden. Als Name gab sie ihren Mädchennamen "Christine Cheverre" an, da er ihre französische Herkunft zeigte. Wie erwartet fragte die Dame am Empfang wie nebenbei nach dem Ausweis.

"Oh", entschuldigte sich Christine, "den habe ich noch im Auto. Ich hole ihn sofort."

Sie drehte sich um und verweilte kurz. Natürlich hoffte sie, dass die Empfangsdame doch noch darauf verzichten würde, aber sie schien sich nicht darauf einzulassen. Frustriert ging Christine zum Wagen zurück, stieg ein und setzte ihre Fahrt fort.

Die ersten Kilometer fühlte sie sich noch recht frisch, was vermutlich der kurze Gang zum Motel bewirkte. Doch so nach kurzer Zeit kehrte die Müdigkeit zurück. Sie hatte Mühe die Hinweisschilder zu lesen und musste regelrecht die Augen schließen, wenn die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge blendeten. Immer wieder kurbelte sie das Seitenfenster herunter oder korrigierte ihre Sitzposition. Erleichtert nahm sie die ersten Hinweisschilder einer Raststätte wahr und zählte die Kilometer hinunter bis zum Ziel.

Nach gerade mal 35 Kilometer stoppte sie an einer Raststätte an der A34, in der Nähe von Reims und ließ sich mit zurückgestellter Rückenlehne nach hinten fallen. Doch schon nach ein paar Minuten zwang sie der Harndrang dazu, doch auszusteigen. In der Dunkelheit der parkenden Lastzüge hockte sie sich hin und verrichtete eilig ihr Geschäft. Sie hätte zwar auf die Toilette der nahe gelegenen Gebäude gehen können, doch sie fror so entsetzlich, dass sie es auf die einfachere und vor allem schnellere Art bevorzugte. Genauso schnell eilte sie wieder zu ihrem Wagen zurück und genoss die wohltuende Innenwärme. Es dauerte nur wenige Sekunden und sie schlief tief und fest ein. Sie bemerkte nicht einmal die nächtliche Kälte, die sich im Wagen breitmachte.

Nach noch nicht einmal einer Stunde wurde sie durch diese kriechende Kälte wieder wach. Sie überlegte, ob sie den Motor laufen lassen sollte. Dachte sich aber, dass das möglicherweise die schlafenden Lkw-Fahrer stören könnte oder sie auffallen würde. Schlimmer noch, dass ein Polizeiwagen sie bemerkte und kontrollierte. Mit nichts in der Hand hätte man sie auch hier in Frankreich mitgenommen.

Christine stieg aus und sah im Kofferraum nach, ob sich dort nicht etwas zum Anziehen fand. Außer einer abgewetzten Decke und allerlei Krimskrams lag da nichts. Wenigstens die Decke, die sie sich um die Schultern legte, schützte sie ein bisschen vor der Kälte der Nacht. Der Nachteil war, dass die Decke nach Öl roch und Christine vermutete, dass ihr Schwager die Decke als Unterlage bei seinen zahlreichen Autoreparaturen auf der Straße benutzte.


Früh am Morgen wurde sie durch das Starten einiger LKWs aufgeschreckt. Die Scheiben waren von innen beschlagen und es war eisigkalt. Die Decke fühlte sich kalt und klamm an. Fröstelnd rieb sie sich die nackten Arme und startete sofort ihren Motor. Sie hatte nicht nur Hunger und Durst, sondern auch noch eine volle Blase. Die Tanknadel zeigte auch nicht mehr sonderlich viel an. Vor Kälte zitternd stieg sie aus und reinigte die Frontscheibe mit einem alten Tuch, was zwischen den Sitzen lag. Der Himmel war klar und die kalte Luft mischte sich mit den Abgasen der laufenden Dieselmotoren der Fernzüge. An einem der Wagen stand ein Mann und urinierte ungeniert gegen seinen Reifen. Als wenn das nicht reichte, drückte er sich mit angehobenem Bein erleichternd einen lauten Furz heraus. Dass Christine nur wenige Meter von ihm entfernt stand, schien ihm nicht weiter zu stören. Sie setzte sich wieder in ihr Auto und fuhr zur Tankstelle, wo sie den Wagen betankte. Anschließend verschwand sie eiligen Schrittes in die Waschräume des Rastplatzes. Nach einer kleinen Katzenwäsche fühlte sie sich wesentlich frischer, strich sich mit gespreizten Fingern noch ein paar Mal durch das Haar. Danach suchte sie das Restaurant auf und genoss die Wärme des Raumes. Außer ihr waren nur zwei weitere Pärchen und ein älterer Mann im Restaurant, dessen Kleidung der einen Truckers glich. Er verleibte sich gerade ein Spiegelei auf Toast und schlürfte zwischendurch lautstark seinen Kaffee. Dabei bemerkte sie, dass er immer wieder zu ihr hinüber sah. Kein Lächeln, kein freundliches Nicken. Christine befürchtete sogar, dass es sich um einen Polizisten in Zivil handeln könnte, der sie verfolgen würde. Sie versuchte so ausgeglichen, wie möglich zu erscheinen. Unauffällig beobachtete sie ihn. Seine Essmanieren ließen zu wünschen übrig. Er sog die an den Zähnen haftenden Essenreste lautstark ein, wische sich zwischendurch mit dem Ärmel über den Mund und benutzte die Serviette als Taschentuch. Als er fertig war, nahm er sich erneut die Serviette, hielt sie vor den Mund und rülpste, wenn auch leise, hinein. Dann wischte er sich wieder den Mund sauber und stand auf. Noch einmal kreuzten sich ihre Blicke und der Mann verschwand in Richtung Parkplatz. Minuten später fuhr ein schwerer LKW einer spanischen Spedition am Rasthaus vorbei und Christine glaubte, den Mann hinter dem Steuer zu erkennen. "Also doch kein Polizist", dachte sie erleichtert. Nach einem ausgiebigen Frühstück setzte sie ihre Fahrt nach Roche fort. Der wolkenlose Himmel kündigte ein schönes Wetter an und die Sonne wärmte den Wagen auf, sodass sie die Heizung wieder herunterdrehen konnte. Immer wieder kontrollierte sie ihre Reiseroute und rechnete sich die Ankunftszeit aus. Auch versuchte sie sich vorzustellen, wie der Ort wohl aussehen mag und wie das Treffen mit ihrem Mann vonstattengehen wird. Der Gedanke, dass sie ihn mit einer anderen Frau treffen würde, bereitete ihr ein unruhiges Gefühl. Schlimmer noch aber wäre, wenn sie ihn nicht antreffen würde. Sie wagte nicht einmal daran zu denken, was danach passieren könnte.










VINCENT

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