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Realitätsschock

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Als die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer drangen, dachte ich erst darüber nach, ob ich all das geträumt hätte. War dies ein entsetzlicher Albtraum? Doch befand ich mich in einem weißgetünchten Raum, der eindeutig nach einem Krankenzimmer aussah und auch den entsprechenden Geruch nach Lösungsmitteln besaß. Ich drehte mich zur Seite, dort lag immer noch der Berg an Aktenordnern, den ich am Vorabend durchforstet hatte. Ein kurzes Morgengebet mit der Bitte an Gott, dass dies nur ein Traum gewesen sein möge, blieb folgenlos. Es war nicht mein Stil, ihm die Schuld dafür zu geben, wenn die Dinge nicht so liefen, wie ich es gern hätte. Daher ließ ich mich nun auch nicht dazu verleiten, ihm Vorwürfe zu machen, dass so vieles einen ganz anderen Weg genommen hatte, als ich es mir gewünscht hatte. Im Stillen wandte ich meine Gedanken zu ihm. Bist du da? Und was ich schon immer fragen wollte: bist du ein Mann oder eine Frau? Wie immer bekam ich keine Antwort. Gott war wohl wie ein UNO-Beobachter, der zuschaute, aber niemals eingriff. Wir Menschen waren also weiter auf uns gestellt und daher musste ich selbst herausfinden, wie ich aus dieser Situation das Beste machen könnte.

»Guten Morgen!« Der Oberarzt stand ohne Vorwarnung im Zimmer, doch dies war hier wohl Sitte. Er blickte kurz auf den Stapel von Aktenordnern. »Ich sehe, Sie haben sich in die Akten vertieft. Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?«

Ein Nein wäre jetzt unhöflich gewesen. Der Mann hatte getan, was er tun konnte, auch wenn es zu nichts geführt hatte. »Nicht alles. Trotzdem Danke für Ihre Bemühungen. Ich habe alle Akten durchgesehen und mir einen Eindruck verschaffen können.«

»In Ordnung. Ich werde die Ordner wieder mitnehmen.« Etwas enttäuscht ging er auf den Stapel zu, wuchtete ihn hoch und blieb in der Tür kurz stehen. »Wenn Sie Ihr Frühstück nicht bevorzugt im Zimmer einzunehmen wünschen, empfehle ich Ihnen, sich zum Speisesaal im Erdgeschoss zu begeben. Es ist für Ihre Genesung sicher von Vorteil, wenn Sie möglichst bald wieder unter die Leute kommen.«

Als er wie ein Lastesel mit dem Aktenberg seines Weges gegangen war, zögerte ich keine Sekunde und machte mich bereit, um mich unter das Volk zu begeben. Abgesehen davon, dass ich mich vollkommen gesund fühlte, hatte er recht damit, dass die Gesellschaft von anderen genau das Richtige für mich war. Über einige Gespräche mit den Bürgern dort in der Gemeinschaft könnte ich mir mit etwas Glück die für meine Planung wichtigen Informationen beschaffen.

Ich war erkennbar früh dran, denn im Saal saß nur ein einzelner Patient. Am Buffet nahm ich mir einen Teller und legte zwei Brotscheiben darauf, Butter, Marmelade und füllte eine Tasse mit heißem Tee. Vorsichtig balancierte ich damit in Richtung eines einsamen Mannes. Wie beiläufig fragte ich, ob es ihn stören würde, wenn ich mich an seinen Tisch dazusetzen würde. Er nickte, dann schüttelte er den Kopf. Meine Frage war ungeschickt formuliert, sein Lächeln interpretierte ich jedoch als Zustimmung und nahm Platz. Mein Plan war, mit etwas Smalltalk zu beginnen und ein wenig freundliches Interesse für seine persönliche Situation zu demonstrieren. Wenn das erste Eis gebrochen wäre, würde ich vorsichtig das eine oder andere Thema anschneiden, das mich selbst interessierte.

»Sind Sie auch schon länger in dieser Einrichtung?«, fragte ich und nippte an dem heißen Tee.

»Ich-ich-iiiiiiich b-b-b-b-bibibibibbibibinbibi …«, begann er und brach ab. Oje! Er stotterte. Das würde eine große Herausforderung werden, mich seiner als Informationsquelle zu bedienen. Die Saaltür flog auf und eine Gruppe wild plaudernder Patientinnen trat ein. Nachdem sie sich am Buffet bedient hatten, besetzten sie einen Tisch sehr weit abseits von uns. Was für ein Pech! Doch meine Höflichkeit verbat es mir, den Platz zu wechseln und diesen Stotterer alleine zu lassen.

»Ich selbst bin schon lange hier«, versuchte ich ein neues Gespräch, »und was führt Sie in diese Einrichtung?«

»We-we-we-we-weeeege-gen - d-d-d-d-de-de-de-dem …«, begann er hilflos und gab erneut auf. Es war zwecklos. Auf diese Art war es kaum möglich, Antworten zu den Fragen zu erhalten, die mir auf den Nägeln brannten. Der Saal füllte sich weiter, doch an diesem Tisch blieb ich mit dem Stotterer allein.

»Wenig Auswahl haben die hier. Ein Fruchtsalat oder Müsli würde uns beiden gut bekommen, nicht?« Schweigend wollte ich ihm nicht gegenüber sitzen, schließlich konnte er nichts für seine Schwäche.

»Mü-mü-mü-mü-müüüüüüüüs-mümümümü …« Er brach ab. Offensichtlich wollte er mit dem Wort Müsli einen Satz beginnen, mit dem er sogleich desaströs gescheitert war.

Wie schade. Vielleicht saß in ihm der Geist eines überragenden Genies, das durch das Dilemma geplagt wurde, dass seine Gedanken stetig vorauseilten und überholten, was er in Worten hätte fassen können. Wenn ihm das Talent eines Redners zu eigen wäre, hätte er vielleicht mächtige Reden schwingen können. Wie Gabriel – nein, mein Gegenüber würde seine Vorträge wohl auch mit Inhalt füllen können. Ich stellte mir vor, wie er ohne solch ein Handicap großartige Ansprachen hätte halten können, die unauslöschlich im Gedächtnis der Menschheit geblieben wären wie die Reden eines Martin Luther King, John F. Kennedy oder die des Cicero, die selbst nach zweitausend Jahren unsere Schüler im Lateinunterricht beschäftigt hatten. Doch seine Natur hinderte ihn durch diese schwerwiegende sprachliche Hürde daran, seine Gedanken in Worte zu fassen.

»T-t-t-t-t-t-te-te-teeeeeeee?« Er zeigte auf meine Tasse. Ich nickte. Er griff nach meinem Tongefäß und ich sah ihm dabei zu, wie er zum Buffet ging und sie füllte. Langsam begannen wir uns zu verstehen. Als er zurückkehrte, kaute ich schon auf dem letzten Stück meines Brotes, nahm dankbar die Tasse entgegen und spülte die Reste der trockenen Weizenkost hinunter. Wenn nur alle Menschen, die nicht von solchen Schwierigkeiten betroffen waren und denen das Leben keine solchen Hindernisse auferlegt hatte, sich bemühen würden wie dieser Mann! Wie sehr würde es unsere Welt bereichern, wenn alle Menschen solcherlei Leistung für ihre Mitmenschen bringen würden? Wir befänden uns in einer Welt, in der nicht jeder nur an sich selbst dachte. Statt dass man nach unermesslicher Macht gierte, sich fragte, was könnte ein jeder für seinen Nächsten tun. Man musste sich einfach bewusst werden, wie viel man zu leisten imstande wäre, wenn man nicht im Größenwahn versuchen würde, mit dem Kopf durch die Decke zu stoßen, danach durch die nächste und viele weitere, bis man im obersten Stockwerk angekommen war und das Gehirn auf dem Weg derart beschädigt hatte, dass man es nur noch dazu gebrauchen konnte, sich endgültig dem Wahnsinn hinzugeben.

Dem Mann fehlte nur ein Coach, der ihm zur Seite gestellt wurde, um seine sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln. In dem Bereich mangelte es mir an Kompetenz, das musste ich mir eingestehen. Da ich nun mit meinem Frühstück fertig war, erhob ich mich und zwinkerte dem Mann freundlich zu, um ihn in seinem Selbstbewusstsein ein wenig zu bestätigen und deponierte mein Tablett auf der Geschirrablage. Vielleicht gab ihm diese kleine Ermutigung so viel Kraft, dass er eine Konfrontationstherapie wagte und seine Redehemmnisse überwinden würde. Möglicherweise sah ich ihn bald in irgendwelchen Talkshows, in denen er in brillanten Kontroversen mit seinen außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten glänzte. Falls es so etwas wie Talkshows heutzutage noch gab.

Mittlerweile war ich bereit, meine neue Situation zu akzeptieren und mich den neuen Umständen anzupassen. Das Werbeblatt für das Parteitreffen dieser Tierschutzpartei nicht spontan zu entsorgen, war die richtige Entscheidung. Dies wurde mir bewusst, nachdem sich herausgestellt hatte, dass es wesentlich schwieriger war, an Informationen zu gelangen, als ich mir das vorgestellt hatte. Bevor ich mich jedoch wieder in die Untiefen der Politik wagte, nahm ich mir vor, diese langersehnte Freizeit, die sich mir so unverhofft darbot, endlich zu nutzen. Am Empfang stöberte ich in den herumliegenden Flyern mit Ausflugstipps nach etwas, das ich auch ganz alleine unternehmen könnte. Ohne Führer. Und vor allem ohne Reporter oder Kameras. Eine Wanderung zur Zugspitze versprach mit malerischen Fotos eine idyllische Tour. Ich werde sicher nicht die ganzen dreitausend Meter hochklettern. Mit einem Teil des Weges, einfach ein paar Stunden in der Natur zu verbringen, wäre ich vollkommen zufrieden.

Der erste Anstieg zeigte mir deutlich: um meine Kondition stand es nicht zum Besten. Doch bald stellte sich heraus, dass die Mühe es wert war, als der Weg mich durch den Partnachklamm führte. Ein reißender Bach donnerte neben einem schmalen Pfad vorbei, von oben prasselte Wasser über mächtige Wasserfälle in die Tiefe. Mikroskopisch kleine Wassertropfen schwebten in der Grotte. Ich ließ die kühle und unglaublich erfrischende Luft tief in meine Lungen strömen, wodurch mein Geist sich langsam unbeschwerter fühlte. Die Klamm endete und ich fand mich wieder in der freien Natur. Endlich alleine. Diese atemberaubende Landschaft übte eine intensive Sogwirkung auf mich aus, die Bergwanderung weit weg von Photographen, Politikern oder irgendwelchen Wichtigtuern aus der Wirtschaft gab mir ein Gefühl, als wäre ich nach langer Gefangenschaft plötzlich frei. Keine aufdringlichen Paparazzi weit und breit, die sich hinter irgendeinem Baum versteckten. Wie gut sie mir tat, diese Freiheit! Die man nur in wenigen Staaten, fast nur in meinem Land kannte. Außer, man war Kanzlerin. Das war jedoch mittlerweile nicht mehr ich, seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Ich fühlte, wie eine unglaubliche Last von meinen Schultern gefallen war. Nun war ich eine einfache Bundesbürgerin. Tief atmete ich die Bergluft ein. Unglaublich, dieses Gefühl der Unabhängigkeit. Ohne Aufgaben, ohne Pflichten frei atmen zu dürfen. Meine Hüfte meldete sich wieder. Ich spürte einmal wieder die unangenehmen Nachwirkungen meines Sturzes beim Skifahren. Zudem war kein Mensch von jungen Jahren mehr, sondern hatte das stolze Alter von 95 Jahren erreicht und war körperlich auch noch nicht ganz in Form. Ich durfte meinen Körper nicht überfordern. Es war Zeit, mich auf den Rückweg zu machen.

Als ich durch die Grotte in die Zivilisation zurückkehrte, begannen sich schon die ersten Schatten der Dämmerung auf das Tal zu legen. Abends fand die Parteiveranstaltung dieser Tierfreunde statt und ich war nun fest entschlossen, an ihrer Sitzung teilzunehmen. Zum glücklichen Schaf, las ich. Ein vegetarisches Restaurant. Hier war ich richtig. Auf ein leckeres Schnitzel oder die zünftig bayrische Schlachtplatte musste ich wohl verzichten. Es würde einen schlechten Eindruck bei dieser alternativen Bürgergruppe machen, wenn ich die Knochen von Tieren abnagte, während sie daneben über die grausame Tierhaltung diskutierten und Salat aus Brunnenkresse und Gänseblümchen futterten.

»Du hast dich tatsächlich entschieden, heute zu kommen!« Euphorisch sprang der Mann vom Kiosk von seinem Stuhl auf, als ich die Tür geöffnet hatte. Er lief mir entgegen und schloss mich freudig in die Arme. »Ist das Okay? Wir duzen uns alle in der Gruppe.« Er löste sich und hielt mir seine rechte Hand hin. »Jürgen!«

»Angela.« Ich schüttelte sie und nickte.

»Darf ich vorstellen: Penelope, Odin und Kassandra.« Ich betrachtete die kleine Gruppe, die an einem Sechsertisch saßen. Es waren viel jüngere Menschen als dieser Jürgen. Sie hatten meiner Einschätzung nach die Dreißig noch nicht überschritten. Mit Sicherheit erinnerten sie sich an keine Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dies war mir sogar recht, denn so bestand nicht die Gefahr, dass sie mich anbettelten, ein Selfie mit mir aufnehmen zu dürfen. Interessant fand ich ihre Namen. Der Phase der Marvins, Kevins und Ashleys hat sich wohl eine Renaissance antiker Vornamen angeschlossen. Zumindest schien diese Vorliebe auf Eltern alternativ eingestellter Menschen zuzutreffen. Ich schüttelte nacheinander die Hände von allen Dreien und nahm Platz.

»Unsere Ortsgruppe ist vollzählig«, verkündete mein langhaariger Freund. Ich schluckte einen kurzen Moment der Enttäuschung herunter, da ich mir wesentlich mehr Parteimitglieder erhofft hatte. Denn zu fünft war es eine Herausforderung, etwas wirklich Großes in der Weltpolitik zu bewegen. Jürgen pries mich bei seinen Parteigenossen und Genossinnen nun in höchsten Worten. »Auf den ersten Blick war ich sicher, dass Angela ein Mensch wäre, der sehr gut zu unserer Gruppe passen würde. Sie hat großes Interesse an Politik, auch wenn sie es anfangs nicht gleich zugeben wollte.«

Vier Augenpaare waren nun auf mich gerichtet. Sie musterten mich und lächelten. Meine Befürchtung war, ich passte zu ihrer Gruppe vor allem wegen meiner Erscheinung. Das Jackett war immer noch ungebügelt und ich hatte mir noch nicht die Zeit genommen, einen Frisör aufzusuchen. Bevor ich erneut in die wirklich große Politik einstieg, musste ich mein Äußeres so in Form bringen, wie es sich für eine mit wichtigen repräsentativen Funktionen betraute Amtsperson geziemte. Für diese kleine Gruppe mochte es vorerst ausreichen, die sahen alle recht unsortiert aus. Die zwei Frauen waren sich ein wenig ähnlich. Beide besaßen einen Teint in der Farbe von Milchkaffee, der auf italienische Wurzeln schließen ließ. Im Gegensatz zu Kassandra, deren wilde Mähne vermutlich lange keinen Kamm mehr gesehen hatte, trug Penelope mittellanges Haar, welches gerade noch ihre Ohren bedeckte. Odin besaß ein Piercing in seinem linken Ohr und hatte kurzes hellbraunes Haar mit Ausnahme eines geflochtenen Zopfes, an dem er permanent nestelte. Jürgen war der Althippie in der Runde. Äußerlichkeiten waren im Moment jedoch eine Nebensächlichkeit. Wir mussten nicht frisch frisiert und geschminkt auftreten. Keine Kamera war auf uns gerichtet, wir diskutierten nicht in aller Öffentlichkeit, genauso wenig wurde unsere Sitzung live im Fernsehen übertragen. Eine Kellnerin trat an unseren Tisch und zückte einen Notizblock. Der Kioskbetreiber Jürgen wandte sich an mich.

»Was willst du trinken? Ein Bier, Sekt oder vielleicht einen Wein? Ich kann den Rübezahler Eselstritt empfehlen …«

»Nur ein stilles Wasser.« Ich trank bei politischen Veranstalten grundsätzlich nie etwas Alkoholisches. Diese Einstellung hatte mich in meiner Karriere jederzeit davor bewahrt, etwas Unüberlegtes zu tun. Enthaltsamkeit sollte sich auch jeder andere Volksvertreter zu eigen machen. Immer wieder erinnere ich mich daran, dass die Nichtbeachtung solcher Prinzipien meinen Vorgänger Schröder sogar sein Kanzleramt gekostet hatte. Damals, als er bei unserem Kopf-an-Kopf-Rennen knapp unterlegen war, sich jedoch als Sieger präsentiert hatte. Im alles entscheidenden Augenblick war ihm diese Mischung von Übermut und Sekt wohl zu Kopf gestiegen. Mit Sicherheit wird er zuvor auf einer der Wahlpartys an dem einen oder anderen Glas Schaumwein mit dessen berauschender Wirkung genippt haben … oder an einem Eselstritt, der seine Wirkung nicht verfehlt hatte.

Die zwei Damen Penelope und Kassandra hatten diese Weisheit wohl verinnerlicht, bei politischen Angelegenheiten nüchtern zu bleiben. Sie bestellten Tee. Odin orderte ein Bier und Jürgen seinen Eselstritt … Männer! Ich gönnte es ihnen, solange wir in dieser kleinen Runde blieben und noch nicht im Licht der Öffentlichkeit standen. Falls sie jedoch in einer schwierigen Fernsehdebatte herausgefordert würden, unsere Politik gegen rhetorisch geschulte Gegner der Opposition zu verteidigen, dann würde ich mir die Beiden rechtzeitig zur Brust nehmen. Sie bestellten eine Postion Haferkrapfen dazu. Plötzlich ging es los und eine hitzige Diskussion entbrannte.

»Wir müssen diesen Massenmord an Tieren mit allen Mitteln bekämpfen«, forderte die junge Dame Kassandra neben mir schrill. »Wir könnten einem der Fleischfresser die Kehle aufschlitzen und wenn er in einer Lache von Blut liegt, ihm ein Schild umhängen mit der Aufschrift was ihr den Tieren antut, das werden wir euch allen antun!« Jetzt war ich wirklich froh, keine Schlachtplatte bestellt zu haben.

»Peace, Kassandra!«, reagierte Jürgen besonnen auf diesen fundamentalistischen Vorschlag. »Dann wären wir auch nicht besser als sie. Mord sollte man nicht mit Mord vergelten.«

»Aber wir dürfen ja nicht einfach dasitzen und tun, als ginge uns das alles nichts an. Unsere Informationskampagnen haben keinen Effekt«, warf Penelope ein. »Das Morden geht weiter, unsere Öffentlichkeitsarbeit war bisher völlig wirkungslos. Bis auf den Laden, der ausgebrannt ist, nachdem wir …« Ich fühlte mich an die Anti-Raucher-Kampagne erinnert, bei der Rauchen tötet genauso wenig zur Abschreckung geführt hatte wie danach der Versuch mit den ekligen Bildchen auf den Verpackungen.

Odin stoppte die Rede mit einem donnernden Faustschlag auf den Tisch. »Genaugenommen waren wir das gar nicht!« Er zischelte leise. »Das Feuer sucht sich doch seine Opfer selbst. Wenn versehentlich irgendwo irgendetwas irgendwohin fliegt, darauf haben wir ja nur eingeschränkten Einfluss.«

Mit künstlich aufgesetztem Lächeln starrten mich vier Augenpaare an. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Was ich gerade erfahren hatte, hätte für eine Anzeige gereicht. Vielleicht war es Zufall, die Schuld der Schwerkraft, dass etwas wie ein Molotow-Cocktail eine Flugbahn vollzog, die irgendwo endete und zufälligerweise Schaden anrichtete. Jetzt musste ich mir etwas vorlügen. Keiner konnte etwas dafür, was Schwerkraft anrichtete. Nicht derjenige der ein Glas fallen ließ war schuld, dass es in tausend Scherben zersprang. Es war die Gravitation. Und nicht derjenige, der jemanden vom Hochhaus stieß war der Mörder, sondern die Schwerkraft war es, die das Opfer letztendlich zu Boden zog. Sie war eben schwer zu fassen, diese Schwerkraft. Man konnte sie nicht einfach einsperren, auch wenn sie den Tod brachte.

Als die Haferkrapfen serviert wurden, atmete ich erleichtert auf. Man musste einfach die Fähigkeit besitzen, seine Gedanken in die passende Richtung zu lenken.

»Worum ging es eigentlich gerade?«, fragte ich, als hätte ich nichts von all dem verstanden.

»Nun …« Jürgen wischte sich plötzlich austretenden Schweiß aus der Stirn. »Da ist kürzlich ein China-Imbiss abgebrannt. Das Frittieröl soll sich zu stark erhitzt haben, daher hatte es angefangen zu brennen. Das war die Diagnose der Feuerwehr.«

»Einige verstoßen ja gegen Hygienebedingungen genauso wie gegen die behördlich verordneten Sicherheitsmaßnahmen.« Ich griff nach einem der Kringel. Der schmeckte gar nicht schlecht – offenbar hatte es in der Zwischenzeit einige Fortschritte bei vegetarischen Rezepten gegeben.

»Hast du mal bei irgendwelchen politischen Aktionen mitgemacht, Angela?« fragte Penelope und zwirbelte in ihrer Mähne an einem Strang Haare. Sie zeigte echtes Interesse für meine politische Erfahrung. Was für eine seltsame Frage für die am längsten amtierende Bundeskanzlerin Deutschlands! Ich merkte gerade, wie das Philosophieren über die Gravitation mich etwas aus dem Konzept gebracht hatte. Wie dem auch sei. Noch nie hatte es mir geschadet, wenn ich ein wenig mit Bescheidenheit glänzte.

»Ja! Ich habe an mancher politischen Entscheidung mitgewirkt.« Das war sogar ziemlich ehrlich, denn ich konnte leider nur Gesetze vorschlagen. Letztendlich musste das Parlament jedes Mal darüber entscheiden. Es hatte sich damals bewährt, die wichtigen Abstimmungen auf Freitagabend zu legen. Die meisten Parlamentsmitglieder waren zu der Zeit schon ins Wochenende getürmt. Nicht so jedoch die treuesten meiner Parteifreunde. Auf deren Stimme konnte ich immer zählen.

»Und hast du immer richtig abgestimmt? Hast du dich für den Schutz der Tiere eingesetzt?«

Jetzt bereute ich meine letzten Worte und fühlte mich in die Ecke gedrängt. Hätte ich doch einfach behauptet, ich hätte von Politik nicht die leiseste Ahnung und hätte zeit meines Lebens ausschließlich als Hartz4-Empfängerin gelebt, dabei den ganzen Tag Talksendungen im Fernsehen verfolgt, in denen sich die Frauen gegenseitig anschrien und die eine mit dem Mann der anderen geflirtet haben soll. Oder solche Talkshows, in denen Nazis konfrontiert wurden mit linksradikalen Aktivisten, oder ein Arbeitsloser seinem ehemaligen Arbeitgeber vorwarf, er hätte ihn deswegen aus der Firma gemobbt, weil er auf seine Frau scharf gewesen wäre, während dieser entgegenwarf, dass er zur Kündigung gezwungen gewesen wäre, da sein Angestellter in seinem ständig betrunkenen Zustand irgendwann mit dem Gabelstapler einen Kollegen zu Tode gefahren hätte. Als verantwortungsvoller Arbeitgeber hätte er dafür haften müssen, und bevor er deswegen im Knast gelandet wäre, hätte er die Reißleine ziehen und ihn aus dem Betrieb werfen müssen.

Ich hätte den ganzen Tag diesen Unsinn verfolgen können, aber das entsprach nicht meinem Charakter. Immer fühlte ich mich verpflichtet, etwas für andere zu tun, mich für mein Land einzusetzen zu müssen. Meine langjährige Zeit als Bundeskanzlerin wollte ich in dieser Runde jedoch nicht thematisieren. Ich warf einen ratlosen Blick zu Jürgen. Doch der zuckte mit den Schultern.

»Ich habe mein Bestes versucht«, wich ich Kassandras Frage aus, die mich aus weiten Augen anstarrte, als überlegte sie, mir um den Hals zu fallen oder ob sie diesen mit einem Messer durchtrennen sollte. »Ich habe aber nicht wirklich viel bewirken können.« Ich durchforstete mein Gedächtnis nach etwas, was ihr gefallen, zumindest auf ihr Verständnis treffen würde. Wenn ich dieses TTIP-Abkommen nennen würde, dann würde sie mir hier und jetzt den Kopf abreißen, wenn ich es befürwortete. Damals wurde das Thema in alternativen Kreisen derart aufgebauscht, dass Tierschützer bereit waren, zu töten. Zudem weiß ich nicht, wie sich die Flüchtlingspolitik in den vergangenen Jahren entwickelt hatte. Bei dem Thema sollte man äußerst vorsichtig sein, denn es hatte sowohl das Land, als auch die Unionsparteien gespalten und sogar die Europäische Union. Wie wäre es mit der Rettung Griechenlands? Nein. Das Land gehörte jetzt zur Türkei, wie ich schmerzlich erfahren hatte. Vor meiner Zeit als Bundeskanzlerin, in meinem Amt als Umweltministerin hatte ich das Dosenpfand eingeführt. Gehässige Leute hatten mir häufig auf die Schulter geklopft und gesagt, es wäre meine größte politische Leistung gewesen, viel besser als die Riesterrente. Denn während kaum ein Rentner von dem Machwerk der Schröder-Regierung profitierte, außer manch ein dubioser Versicherungskonzern, hätten die Rentner durch Sammeln von Einwegpfand ihre karge Rente deutlich aufbessern können. Sie hätten damit ein halbwegs würdevolles Leben führen können, ohne sich von Pizza Tonno, Pizzaresten aus der Mülltonne, ernähren zu müssen. »Ich hatte immer mein Bestes versucht«, wiederholte ich, »und werde nicht aufgeben.« Da fiel mir etwas Wichtiges ein. Es war ein Thema, das - musste ich zugeben - von den Grünen geklaut war. »Für den Atomausstieg habe ich mich eingesetzt.«

»Das ist doch die umweltfreundlichste Technologie.« Odin lächelte. »Dagegen verstehe ich gar nicht, warum diese alten Braunkohlekraftwerke noch laufen müssen, die Unmengen von krebserregenden Abgasen in die Luft blasen.«

»Bei der Atomenergie besteht eben ein gewisses Restrisiko …«, warf ich ein und fragte mich, warum hatte sich alles in die vollkommen gegensätzliche Richtung entwickelt und völlig anders, als es von der Mehrheit damals gewünscht wurde?

»In den letzten dreißig Jahren so gut wie nichts passiert.« Odin schwelgte geradezu in seiner geliebten Atomenergie. »Es werden keine Treibhausgase produziert. Und Uran gibt es überall, in fast in unbegrenzter Menge. Bis auf Braunkohle sind alle fossilen Rohstoffe hingegen fast aufgebraucht.«

So musste ich mir eingestehen, dass meine Politik des endgültigen Atomausstiegs nicht den durchschlagenden Erfolg gebracht hatte. Doch ich musste zugeben: ganz überzeugt war ich niemals davon. Nur diese schrottreifen Kraftwerke in der Ukraine und die gigantischen Energiefabriken unserer französischen Freunde, die waren tatsächlich gefährlich und hätten bei einem ernsthaften GAU dazu geführt, dass der gesamte europäische Kontinent unbewohnbar geworden wäre. Deswegen mussten wir vorangehen, auch wenn wir diese Technik wirklich beherrschten. Wir mussten ein Zeichen setzen, beim Ausstieg aus der Kernenergie vorauseilen und hoffen, dass unsere Nachbarstaaten folgten. Wenn es nur um unsere deutschen Kraftwerke gegangen wäre: ich hätte mich dagegen gewehrt, dass diese abgeschaltet wurden. Hoch angereichertes Uran war eben kein Spielzeug. Nichts für Kleinkinder, genauso wenig für unsere französischen Nachbarn geeignet, die Stäbe aus angereichertem Uran und Kugeln aus waffenfähigem Plutonium so leichtsinnig einsetzten wie ihre Bowle-Kugeln, die sie so weit wie möglich zusammenbringen mussten. Die kritische Masse bei dem Spiel wurde jedoch auch bei einer Gruppe übergewichtiger Spieler nicht erreicht.

»Was ist mit Solarenergie und Kernfusion?«

»Ich hatte mich intensiv mit dem Thema Alternative Energien beschäftigt.« Odin wirkte, als wäre er stolz, mitreden zu können. »Es gab ein Forschungsprojekt zur Kernfusion. Das wurde jedoch aufgegeben. Als nicht realisierbare Idee von Träumern wurde es vor einigen Jahren endgültig abgeschossen. Um die Energie der Sonne zu nutzen, wurden viele Versuche unternommen, doch für Photovoltaik beispielsweise fehlten ausreichend Rohstoffe, um die benötigten gewaltigen Mengen an Elektrizität zu erzeugen. Wenigstens funktioniert die thermische Nutzung. Unser Schwimmbad wird auf diese Art beheizt.«

Immerhin etwas. Doch sehr wenig. Ob es der Menschheit mittlerweile gelungen war, zum Mars zu fliegen, ob dort Kolonien errichtet wurden und man auf dem roten Planeten reichlich vorhandene Rohstoffe nutzen konnte, um ferne Planeten zu erkunden? - diese Frage hatte sich wohl erübrigt, wenn ich aus Stillstand bei der technischen Entwicklung beim Thema Energie auf die sonstigen Fortschritte schloss. Werden wir einst eine höhere Zivilisationsstufe erreichen, oder sind wir für den endgültigen Niedergang prädestiniert? Diese Fragen schwebten wie ein Damoklesschwert über mir, doch ich konnte sie nicht beantworten. Ich fragte mich: gab es nicht irgendetwas, das sich zum Positiven gewendet hatte? Es waren sicher keine allzu revolutionären Entdeckungen möglich, wie man Windenergie effizient nutzen könnte.

»Wie ist der Stand bei Gezeitenkraftwerken oder Erdwärme?«

Alle schwiegen und schüttelten ratlos den Kopf. Ich hatte übersehen, dass dieses Land Bayern isoliert war und keinen Zugang zum Meer besaß. Mit dem zweiten Thema konnten sie wohl auch nichts anfangen. Ich fühlte, das es an der Zeit war, aufzugeben.

»Nur mit der Kernenergie ist es möglich, den benötigten Strom für die fast 60 Millionen Menschen im Land zu produzieren.« Langsam war ich mir absolut sicher, dass Odin wie ich Physik studiert hatte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass die Bevölkerung über die Jahre schrumpfen würde«, wunderte ich mich laut. »Weniger Energie für weniger Bürger – dann sollte das Thema eigentlich kein größeres Problem darstellen.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.« Bisher war Penelope wenig gesprächig gewesen, jetzt schaute mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. »Jedes Jahr kommen über eine Million Zuwanderer. Natürlich heißen wir alle willkommen, die in unser Land wollen. Die meisten kommen aus dem westlichen Teil, der sogenannten Republik, die eher eine Diktatur ist. Aus dem Bunker dagegen kam seit Jahrzehnten kein einziger Mensch mehr.«

»Bunker nennen wir … bekanntermaßen ja dieses Nationaldeutschland. Bayern hat mittlerweile fast sechzig Millionen Einwohner.« Jürgen zwinkerte mir kurz zu und wandte sich zu seinen Parteigenossen, die mich gerade anstarrten, als wären sie langsam so verwirrt wie ich, die von diesen vielen Informationen fast überfordert wurde. »Angela war lange Zeit bewusstlos. Nehmt darauf Rücksicht.« Gerade im passenden Moment hatte er genau das Richtige gesagt. Jeder, der mich kurz zuvor ungläubig angestarrt hatte, sah mich nun verständnisvoll an.

»Vielleicht trinke ich doch etwas. Ich würde jetzt sogar eine Runde Schnaps ausgeben.« Ich hatte noch einige Schweizer Franken, so könnte ich problemlos bezahlen. Etwas Alkoholisches brauchte ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten in genau diesem Moment. Jetzt sahen sie mich noch mitleidiger an.

»Destillierter Alkohol ist verboten.« Jürgen gab der Kellnerin einen Wink. »Ich bestelle fünfmal Sekt. Dafür geht die Runde an mich.«

Alle schauten stumm in die Ferne, bis die Gläser serviert wurden. Die angeregte Diskussion war weitgehend verstummt. Nun versuchte wohl jeder zu vermeiden, etwas Falsches zu sagen. Genauso wie ich. Die Rolle als weitgehend politisch unbedarfte Bürgerin erschien mir deutlich besser, als stolz zu verkünden, dass ich die ehemalige Bundeskanzlerin der ehemaligen Bundesrepublik in einem einst geeinten Europa war. Ich wollte jetzt keine Selfies, nicht in diesem Zustand.

Die Klinik hatte einen 24-Stunden Service. Zwar musterte mich der Pförtner kritisch, da die zwei Gläser Sekt nach den vielen Jahren völliger Abstinenz eine nachteilige Wirkung auf meine Fortbewegung hatten, die mit einem deutlichen Stabilitätsverlust einherging. Aber er ließ mich ein. Kaum lag ich auf meinem Bett, riss mich sofortiger Schlaf an sich.

Sie ist wieder da

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