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Das Kind

Ludwigshafen/Rh, Mai 1970

Michael hatte andere darüber reden hören, dass dieser Weiher 30 Meter tief sein soll. ›Das reicht‹, denkt er. Er fährt von zu Hause mit seinem Fahrrad an den See. Die Sonne scheint und es ist angenehm warm. Er ist acht Jahre alt. Er war als Säugling schon anstrengend, weil er nie Ruhe gab. Keuchhusten, Windpocken, Küche in Brand gesteckt. Ständig Blessuren am ganzen Körper und zerrissene Kleider wegen der ständigen Raufereien machten das Leben seiner alleinerziehenden Mutter nicht gerade leichter. Ein schmächtiger, aufgedrehter Junge, Michael. Neugierig und in der Schule ein unruhiger Geselle, der von den anderen Schülern als auch von den Lehrern als störend empfunden wird. Schon in der ersten Klasse. Er wurde kurz nach seinem sechsten Geburtstag eingeschult. Damals gehörten schon fünfjährige zu Straßenbanden, und die gingen auch schon Mal mit Messern und Steinen aufeinander los. Er weiß noch: Er war gerade sechs Wochen in der Schule gewesen und spielte alleine im Sandkasten auf dem Schulhof. Die anderen Schüler hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon ausgegrenzt. Er saß also so da, als sich plötzlich ein Arm um ihn legte und ihm den Hals zudrückte. Er bekam keine Luft und so riss er in Panik seinen rechten Arm nach hinten und packte den Jungen, der ihn angriff, bei den Haaren. Michael zog so heftig er konnte an diesem Schopf, sodass der Angreifer ihn unter lautem Schmerzensgeheul losließ. Michael jedoch ließ nicht los. Er zog diesen Drecksack über seinen Kopf und warf ihn in den Sandkasten. Dann packte er ihn am Hals und drückte zu. »Na, du scheiß Jugo. Wie gefällt dir das, hä? Scheiße, wenn man keine Luft mehr kriegt.« Die anderen Burschen, die vor wenigen Sekunden noch über die Attacke ihres Bandenmitgliedes gelacht hatten, fingen an zu schreien. »Lass ihn los, du scheiß Deutsche.« Michael merkte, wie ihn jemand von dem Drecksack wegziehen wollte. Der lief mittlerweile blau an und seine Zunge kam langsam raus. Plötzlich spürte er einen fürchterlichen Schlag an den Kopf und es wurde dunkel. Als er wieder aufwachte, war er alleine. Das Essensgeld, das er immer von seiner Tante mitbekam, war weg, er hatte Schmerzen am ganzen Körper, blaue Flecke und seine Kleider waren zerrissen.

Die Sonne schien. Es war ein warmer Tag, die Schule war aus und keine Kinder mehr auf dem Schulhof.

Es war Sommer 1967.

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Doch heute sollte sich alles ändern. Schon seit Jahren wurde er in der Schule gemoppt, weil er zu den wirklich armen Menschen im Viertel gehörte. Er trug Kleider aus den Säcken, die von anderen Leuten auf die Straße gestellt wurden. Doch nach dem damaligen Vorfall hatte er wenigstens seine Ruhe.

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In seinem Rucksack befindet sich ein Seil. Bei der Stelle des Sees, an der die Hobbyfischer sich vor langer Zeit schon einen Steg gebaut hatten, um ihre Ruderboote festzumachen legt er sein Fahrrad ab und geht zu den Kähnen. Er schaut bei jedem einzelnen Boot nach. Manche Fischer freuen sich so sehr über einen guten Fang, dass sie vergessen, ihr Boot zu sichern. Im dritten liegt die Eisenkette, welche mit einem Vorhängeschloss an einen Stahlring im Steg verschlossen wird, unter der Ruderbank.

»Klasse«, murmelt er vor sich hin. Er wirft seinen Rucksack an Bord und wuchtet einen großen, weißen Stein, den er direkt neben den Steg findet, hinein.

Michael zieht seine Schuhe aus, wirft sie dazu. Dann springt er selbst hinein. Er rudert bis zur Mitte des Sees. Der Junge wickelt ein Ende des Seils um den Kiesel und mit dem anderen Ende knüpft er eine Schlinge und legt sie sich um die Fesseln. Michael setzt sich auf einer Seite des Kahns auf den Rand. Seine Füße baumeln im Wasser. Er wuchtet den Stein hoch, legt ihn neben sich ab. »Los geht’s«, sagt er zu sich selbst. Er gibt dem Stein einen Schubs und nimmt noch mal ordentlich Luft. Dann ist es auch schon soweit. Der Brocken fällt. Das Seil spannt sich. Es gibt einen Ruck. Michael plumpst ins Wasser und wird von dem Gewicht dieses Monstrums nach unten gezogen. Dass der Ruck so heftig ist, damit hat Michael nicht gerechnet. Das Boot neigt sich sehr stark zur Seite. Der Junge verliert das Gleichgewicht und kippt nach hinten. Als er schon bis zur Hüfte im Wasser ist schlägt das Boot wieder hoch und Michael stößt sich den Hinterkopf am Rand. Ein starker Schmerz durchzuckte seinen Schädel, während er am Seil nach unten gezogen wird. ›Scheiße, tut das weh. Naja, is’ gleich vorbei.‹ Michael schaut nach oben und sieht… nichts. Um ihn herum ist alles schwarz wie im Arsch eines Bären. Es ist nicht das Geringste zu erkennen. Er dreht den Kopf von rechts nach links, schaut nach oben und unten, während ihn der Stein unablässig in die Tiefe zieht. Ein irrsinniger Druck auf die Ohren entsteht, doch er hat gelernt, wie man dem begegnen kann. Er nimmt seine rechte Hand hoch und hält sich die Nase zu. Er pustet durch und kann so den stechenden Schmerz in den Ohren etwas entkräften. ›Bin ich immer noch nicht unten?‹, denkt er. Ein Anflug von Panik macht sich in ihm breit, denn die Luft geht ihm aus. Er hat keine Ahnung, wie tief er schon gesunken ist. Er zieht sein Taschenmesser aus seiner Hosentasche und schneidet die Schlinge an seinen Füßen durch. Er stellt fest, dass er keinen Auftrieb hat. Sein Zustand kommt völliger Schwerelosigkeit gleich, aber da es stockdunkel ist, weiß er weder, wo oben noch unten ist. Er macht zwei, drei Schwimmzüge, bekommt aber nichts zu packen. Es ist eiskalt hier unten, aber Michael merkt, dass er am ganzen Körper schwitzt. Nochmal ein paar Schwimmzüge. ›Da war was. Linke Hand. Mich hat was gestreift. War es ein Fisch. Noch mal zurück mit der Hand. Ja, da ist was. Bisschen weiter nach unten greifen. Ich glaube, das ist Schilf.‹ Michael greift nun auch mit der rechten Hand nach diesen Grashalmen. Er bekommt sie zu fassen und kriegt eine Idee. Er zieht sich an dem Gras bis auf den Grund und geht in die Hocke. Der Boden ist ganz weich und ein wenig matschig. ›Bitte, lieber Gott. Hilf mir, dass ich richtigliege.‹ Er stößt sich mit aller Kraft vom Boden ab und macht kräftige Schwimmstöße in die Richtung, in die er geschleudert wird. Seine Lungen wollen sich mit Luft füllen, aber hier unten gibt es keine. Michael versucht sich mit Schluckbewegungen daran zu hindern, danach zu schnappen. Er schaut um sich. Blickt in alle Richtungen und sieht plötzlich links von sich ein kleines Licht, wie von einer Taschenlampe. ›Das muss oben sein.‹ Er ändert die Richtung, taucht dem Geflimmer entgegen. Die Panik wird größer, denn obwohl die Leuchtkraft stärker wird, scheint es immer noch unglaublich weit weg zu sein. ›Ich hab’ keinen Sauerstoff mehr.‹ Michael zittert an Armen und Beinen, sein Kopf dröhnt und er merkt, wie ihm die Sinne schwinden. Da taucht etwas vor ihm auf und schaut ihn an. Zwei große Augen sind es, ja genau.

Was ist das?

Das ist ein Drache, kein Fisch. Er kann den Kopf dieses Geschöpfes sehen. Wieso? Hier ist es doch stockdunkel. Der Drache dreht den Kopf und die hellen Lichtstrahlen aus seinen Augen zeigen Michael den Weg nach oben. Michael sieht in diese Richtung und bewegt sich mehr zappelnd als vorschriftsmäßig tauchend in die gezeigte Richtung. Er spürt nicht mehr, wie das Wasser wärmer wird. Es kommt ihm vor, als sehe er direkt in die Sonne. Immer größer wird sie und dann explodiet sie in seinem Kopf.

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Michael wird wach. Er liegt hustend im Sand. Neben ihm kniet ein kräftiger Mann in völlig durchnässten Sachen. Er schaut Michael besorgt an. »Na Buu, wie geht s der? Bischt auß’m Boot g’falle.« Michael schüttelt den Kopf, aber er sagt nur »Isch tauch’ jo gern, awwer Apnoe tauche is nix fa misch.«

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Der Junge hatte im Fernsehen einen Bericht über Apnoe tauchen gesehen, und weil ihm das Tauchen schon immer Spaß machte, dachte er ›Das probier’ ich mal aus, und wenn ich da richtig gut werde, dann respektieren mich die anderen.‹ Und so machte er sich an diesem schönen Tage auf um seine Grenzen zu testen. Das wäre fast ins Auge gegangen.

Er denkt: ›Der Drache hat mich überleben lassen. Warum?‹

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Ludwigshafen/Rh, Juni 1970: Michael steht kurz vor seinem neunten Geburtstag. Es ist nicht mehr lange hin bis zu den Sommerferien und die große Pause hatte vor 10 Minuten begonnen. Er wartete diese Zeitspanne immer ab, bevor er in den Milchladen an der Ecke gegenüber der Grundschule ging. Dann hatten die anderen Kinder ihre Einkäufe getätigt und das Geschäft war wieder so gut wie leer. Er läuft also hin, geht die drei Treppen zur Eingangstüre hoch und öffnet sie. Die kleine Glocke über der Tür bimmelte und kündigt sein Kommen an. Im Laden stehen zwei Frauen mit ihren Milchkannen an und unterhalten sich mit der Verkäuferin. Michael stellt sich brav als dritter in die Reihe und wartet geduldig, bis er dran ist. Die erste Frau in ihrer kurzen Warteschlange stellt ihre Kanne auf die Ladentheke und die Verkäuferin, Frau Schneider heißt sie, füllt sie mit Milch aus einem sehr großen Behälter, indem sie einen langen Hebel immer wieder von oben nach unten bewegt. Bei jedem Druck nach unten spritzt ein Schwall Milch aus dem Hahn und so füllt sich die Kanne der Frau langsam. Die Damen schwatzen und schwatzen. Michael wird ungeduldig. Er tritt von einem Bein auf das andere und sieht aus dem Schaufenster auf die Straße. ›War die Pause schon zu Ende?‹ denkt er bei sich. Als Achtjähriger hat man nicht unbedingt ein besonders ausgeprägtes Zeitgefühl. Nun, während er so vor sich hin grübelt, wird er von jemandem angesprochen. Er bekam es erst nicht mit, aber dann hört er seinen Namen. »Michael, was möchtest du denn haben? Wie immer einen Becher Milch und eine Capri-Sonne?«

»Ja. Danke Frau Schneider, sie wissen immer schon, was ich haben möchte. Das ist toll.« Frau Schneider lächelt über diese Worte, die sie schon öfter von Kunden gehört hat. Irgendwie denken und sprechen Menschen immer das Gleiche, obwohl doch jeder ein ganz eigenes Leben hat. Michael bezahlt seine Sachen als es bimmelt und ein Mann um die sechzig hereinkommt. Er sagt: »Guten Tag«, und schaut sich im Laden um. Frau Schneider hebt den Kopf, nachdem sie das Geld des Jungen in die Kasse gezählt hat und sieht in die Richtung des Mannes. Michael schaut den Herrn an, der gerade hereingekommen war, und reißt erstaunt die Augen auf.

Er denkt: ›Was ist das denn?‹, und beobachtet die Szene, die sich nun abspielt mit immer größer werdendem Staunen. Der Mann drehte sich in Richtung der Verkäuferin und als sich ihre Blicke treffen, weiten sich auch seine Augen. Er wird blass und es bilden sich in atemberaubender Geschwindigkeit Schweißperlen auf seiner Stirn. Er taumelt und muss sich festhalten. Michael stürzt zu ihm und hält ihn fest, damit er nicht umfällt. Das ist nicht leicht, aber der Mann ist nicht sehr groß , etwa 165cm und auch nicht dick, daher gelingt es ihm glücklicherweise, ihn aufrecht zu halten. »Danke«, sagt der Alte, »ich muss hier sofort raus.« Er geht unsicheren Schrittes zur Tür und verlässt den Laden. Michael sieht Frau Schneider verständnislos an, doch die zuckt nur mit den Schultern und so verlässt auch er das Milchgeschäft.

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Er geht gerade die drei Stufen runter, als er den Mann mitten auf der Straße stehen sieht. Ein Auto fährt auf ihn zu und der Fahrer scheint den Mann überhaupt nicht zu sehen. Michael lässt seine Einkäufe fallen und rennt los. Er springt auf den Mann zu und schubst ihn so stark an, dass dieser nach vorne stolpert und auf dem gegenüberliegenden Gehweg zu Fall kommt. Der stürzt schwer hin und schlägt sich den Kopf an der Stange eines Straßenschildes blutig. Er fällt hin und bleibt liegen. Der Fahrer des Autos legt eine Vollbremsung hin, Reifen kreischen und der Geruch von verbranntem Gummi liegt in der Luft. Doch für Michael kommt die Reaktion zu spät. Er wird von dem Fahrzeug erfasst und über die Straße geschleudert. Der Junge überschlägt sich mehrmals und bleibt blutüberströmt regungslos liegen.

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Dunkelheit umgiebt ihn, aber er ist bei Bewusstsein. Der Kopf schmerzt, als wolle er zerplatzen. Sein ganze Körper tut weh. Er schlägt die Augen auf und lässt seinen Blick durch den Raum gleiten. ›Ich bin in einem Krankenhaus, okay. Was war das bloß heute Morgen, diese Frau in dem Laden. Scheiße, das hab’ ich doch erst vor ein paar Tagen geträumt und dachte, das ist der Vorbote des Todes und dann steht mir dieses Geschöpf direkt gegenüber. Wenn dieser Junge nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt tatsächlich tot.‹ Noch in Gedanken hört er ein leises Stöhnen und es wird ihm klar, dass er nicht alleine in diesem Zimmer liegt. Die Geräusche kamen von rechts und so versucht er, seinen Kopf in diese Richtung zu drehen. Es geht nicht, sein Kopf wurde durch eine Halskrause fixiert und macht jedwede Bewegung unmöglich. Schon allein der Versuch tut sauweh und so lässt er es bleiben.

Jemand kommt ins Zimmer und er kriegt einen Schweißausbruch. ›Holt mich jetzt der Teufel?‹, denkt er, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Dann hört er mehrere Stimmen und jemand tritt in sein Blickfeld. »Guten Morgen. Ich bin Oberarzt Dr. Reichelt und das sind die Schwestern Fr. Mayer und Fr. Beisel. Die beiden werden sich in den nächsten Tagen um Sie kümmern. Die Nachtschwestern werden sich ihnen vorstellen, wenn ihr Dienst beginnt.«

»Wo bin ich? Ich weiß nur noch, dass ich einen Stoß abbekommen habe und das war’s.«

»Sie liegen auf der Ambulanzstation des städtischen Krankenhauses Ludwigshafen. Sie haben eine Gehirnerschütterung und ein HWS-Syndrom. Ich werde Sie die nächsten drei Tage über unter Beobachtung halten und wenn nichts nachkommt, können Sie bis zum Wochenende wieder zu Hause sein. Den Stoß haben Sie übrigens laut Zeugenaussagen von einem Jungen bekommen.«

»Oh, wie geht es dem Jungen? Ich möchte mich bei ihm bedanken.«

»Na ja, ihn hat es auch erwischt. Er wurde von dem Auto getroffen und durch die Luft geschleudert, aber Sie können sich mit ihm unterhalten sobald er wach ist. Er liegt neben ihnen.«

Der Arzt veranlasste eine Zusammenlegung der Beiden wegen der besonderen Umstände dieses Unfalles.

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Michael schlägt die Augen auf.

»Ah, der junge Mann ist wieder bei uns. Na, wie geht’s uns denn?«, fragt Dr. Reichelt. »Wie es Ihnen geht, weiß ich nicht. Mir jedenfalls tut alles weh.«

»Wenn er zu solchen Späßen aufgelegt ist, geht es ihm schon wieder besser«, antwortet Michaels Tante Eva.

Sie wurde verständigt, denn Michael wohnt bei ihr und die Wohnung von Tante Eva befindet sich auch gerade um die Ecke des Schuleingangs.

»Also gut, junger Mann. Dein linkes Schienbein ist gebrochen. Du hast eine Gehirnerschütterung und ein paar Abschürfungen. Ansonsten bist du noch an einem Stück.«

Dr. Reichelt versucht, ein bisschen Humor in die Aufzählung von Michaels Verletzungen zu bringen. Er will ihn nicht ängstigen, doch Michael sagt nur mit schmerz verzogenem Gesicht: »Keine Bange, Doc. Ich werd’s überleben.« Nun müssen wirklich alle im Raum lachen, inklusive des Mannes, dessen Leben Michael gerettet hatte. »Diese Aussage hat er bestimmt im Fernsehen schon mal gesehen«, Tante Eva schmunzelt. »Gut.« Doktor Reichelt öffnet die Tür: »Lassen wir die Herren nun alleine.« Michaels Tante sagt noch Tschüss. Dann verlassen alle das Krankenzimmer. Nun bleiben die beiden für eine Weile alleine. Da weder Michael noch der Alte in der Lage sind, den Kopf zu drehen, müssen sie sich gegen die Decke starrend unterhalten. Der Mann sagt zu Michael: »Danke Junge, dass du mir das Leben gerettet hast. Mein Name ist übrigens Fritz, Fritz Rau. Nun habe ich noch sechs Monate bis zur Rente, und hätte die fast nicht mehr erreicht. Durch dich schaffe ich das jetzt vielleicht noch. Wie ist eigentlich dein Name?«

»Ich heiße Michael, bin acht Jahre alt und besuche die dritte Klasse Grundschule, nach den Ferien komme ich in die vierte Klasse«, gibt Michael zur Antwort. »Du scheinst ein cleverer Junge zu sein. In deinem Alter fremden Menschen das Leben retten. Das sieht man nicht alle Tage.«

»Ich hab’ das einfach gemacht. Ich hab’ gar nicht darüber nachgedacht.« Michael starrt weiter an die Decke und überlegt sich, was da eigentlich alles passiert war. »Sagen Sie mal Herr Rau. Wieso sind Sie so erschrocken, als Sie in Frau Schneiders Laden waren? Ich meine, ich habe Sie noch nie dort gesehen. Waren Sie das erste Mal da?«

»Ja. Ich wohne in einem ganz anderen Teil der Stadt und bin zufällig an dem Milchgeschäft vorbeigefahren. Ich hatte Hunger und wollte mir eigentlich nur ein Käsebrötchen kaufen. Ach übrigens, du kannst ruhig Fritz zu mir sagen, Michael.« Fritz denkt nach. Was war denn eigentlich geschehen? Er versucht, seine Gedanken zu ordnen. Dann beginnt er zu reden: »Weißt du Michael. Ich denke, meine Geschichte ist nicht unbedingt etwas für kleine Jungen, aber du bist anders und deshalb erzähle ich dir davon. Ich habe vor ein paar Tagen einen furchtbaren Albtraum gehabt. Ich träumte vom Tod, vom Sterben. Nun, das ist in meinem Alter nichts Ungewöhnliches. Ich hatte das auch schon öfter, aber nie erschien mir das so real.«

»Ja, aber was hat das denn mit dem Laden zu tun?«

»Weißt du, in meinem Traum wurde ich auf der Straße überfallen. Es war dunkel und plötzlich stand da ein Mann vor mir. Mit einem Messer in der Hand.« Fritz runzelt die Stirn, um sich zu konzentrieren, dann spricht er weiter: »Ich erschrak, doch dann drehte ich mich um und wollte davonlaufen, aber ich konnte so schnell rennen, wie ich wollte. Ich kam nicht von der Stelle. Im nächsten Augenblick aber war ich auf einem Balkon oder einer Feuertreppe, so wie man sie aus den amerikanischen Spielfilmen kennt. Ich stand mit dem Rücken zum Geländer und konnte nicht mehr weg. Der Mann mit seinem Messer stand direkt vor mir und dann stieß er zu. Das Messer traf mich in den Bauch, aber ich spürte überhaupt keine Schmerzen. Ich sah Ihn an und da löste er sich vor meinen Augen auf. Ein Engel mit einer leuchtenden Aura um sich herum schwebte plötzlich vor mir und dieser Engel streckte mir lächelnd seine Hand entgegen. Ich nahm seine Hand in die meine und …« Die Tür ging auf und Schwester Beisel kam herein. »So, ihr beiden. Es ist 17:00 Uhr. Was wollt ihr denn zum Abendbrot? Es gibt Brot mit Wurst und Käse oder weißen Käs’ mit Brot. Dazu Tee oder Wasser. Wer möchte was haben?« Auch die zweite Schwester, Fr. Mayer, kommt mit einem Tablett in das Zimmer. Auf diesem Tablett stehen mehrere Klarsichtbecher, in denen eine Menge bunte Tabletten liegen. »Einer für den Herrn Rau und einer für unseren jungen Mann hier.« Mit diesen Worten stellt sie je einen Becher auf die Nachttischchen neben den Betten der beiden. »Das sind je eine Schmerztablette und eine Schlaftablette. Die Schmerztablette nehmt ihr bitte direkt nach dem Abendbrot und die Schlaftablette so gegen 20:00 Uhr. Du, Michael, nimmst diese Schlaftablette schon um 19:00 Uhr.« Michael guckt erstaunt. »Eine Schlaftablette?« Er hatte bisher noch nie Tabletten genommen. »Keine Angst, kleiner Mann. Deine Tabletten sind extra für Kinder und entsprechend schwächer als die für Erwachsene.« Die beiden bestellen weißen Käs’ mit Brot und eine schöne heiße Tasse Pfefferminztee dazu. Die Schwester nickt ihnen zu und verlässt das Zimmer, auch Schwester Mayer geht, nachdem sie die Tabletten verteilt hat. Als die Pflegerinnen draußen sind, fragt Michael neugierig: »Und? Wie ging’s dann weiter?« Fritz antwortet: »Ja. Der Engel streckte mir seine Hand entgegen. Ich nahm sie in meine und in dem Augenblick war alles nur noch helles Licht. Dann wachte ich schweißgebadet auf.« Michael denkt nach. »Aber das war doch eigentlich ein schönes Ende dieses am Anfang bösen Traumes, oder?«

»Nun … das kann man sehen, wie man will. Für mich bedeutete das, dass ich wohl bald sterben werde.«

»Och, das wäre aber sehr traurig. Jetzt, wo wir uns grad kennen gelernt haben.« Michael runzelt die Stirn. »Aber was hat das mit heute Morgen zu tun?«

»Das kann ich dir sagen, mein Junge. Als ich in diesen Laden kam, stand dieser Engel mit der Aura von Licht hinter dem Tresen.« Michael reißt die Augen auf. »Was? Die Frau Schneider?«

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Michael und Fritz essen still ihr Abendbrot und schauen noch ein wenig fern. Michael hatte seine Schlaftablette genommen, und während der Fernseher läuft, fallen ihm die Augen zu.

Er bekommt nicht mit, was mit Fritz geschieht. Es ist etwa 22:00 Uhr, als die Sauerstoffmessung an Fritz’ Finger Alarm schlägt. Die Nachtschwester kommt herein und stellt fest, dass Fritz nicht mehr atmet. Sie rennt hinaus, um den nachtdiensthabenden Arzt zu rufen. Der Arzt kommt in das Zimmer gestürmt, gefolgt von zwei Pflegern und der Nachtschwester. Der Arzt wirft einen kurzen Blick

auf Fritz und schreit die Pfleger an: »Atemstillstand! Bringt ihn sofort auf die Intensivstation und bereitet alles für eine Wiederbelebung vor.« Die Pfleger ziehen das Bett aus dem Zimmer und bringen es weg, gefolgt von dem Arzt. Die Nachtschwester sieht noch einmal nach Michael, der friedlich schläft. Das Mittel tut seine Wirkung. Sie geht hinaus und schließt leise die Tür.

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Michael wird von Schwester Beisel um 6:00 Uhr geweckt. Nach dem Frühstück, bestehend aus zwei halben Marmeladebrötchen und einer warmen Schokolade, bemerkt Michael, dass er alleine ist. Er kann seinen Kopf immer noch nicht drehen, muss sogar die Schokolade mit einem Strohhalm trinken, um sie nicht überall im Bett zu verschütten. Er fragt Schwester Beisel, als sie dabei ist, das Geschirr wegzuräumen: »Ist Fritz nicht mehr hier? Ich höre ihn gar nicht und Frühstück für ihn haben Sie auch nicht gebracht.«

»Es tut mir leid, Michael, aber Herr Rau wurde heute Nacht auf die Intensivstation gebracht.« Mehr Auskunft gibt sie nicht.

Der Junge bekommt Angst. Wurde der Traum, von dem ihm sein neuer Freund erzählt hatte, Wirklichkeit? Michael liegt noch eine Woche lang im Krankenhaus und wird dann entlassen.

Seinen neuen Freund, den Fritz, sieht er nie wieder.

Fritz ist tot, gestorben am plötzlichen Herztod.

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Engel?

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