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Vorwort – Antike und Gegenwart

Wer über Vergangenheit sprechen will, muß an die Zukunft denken. Dann entsteht Geschichte – der Blick auf Vergangenheit aus der Gegenwart und für sie. Jede Gegenwart, auch die unsere, bleibt stets offen für die Zukunft. Und diese tanzt keineswegs nach der Pfeife eines vermeintlichen Fortschritts. Wohin unsere modernen Gesellschaften und Gemeinwesen sich in den nächsten Generationen entwickeln werden und vielleicht entwickeln müssen, wenn sie noch eine Zukunft haben wollen, ergibt sich nicht einfach aus dem immer weiteren Ausziehen der bekannten Entwicklungslinien der Moderne. Vielmehr täten wir gut daran, uns empfänglich und bereit zu halten für Erneuerung und Alternativen, um aus den Sackgassen der Moderne herauszufinden.

Für das Beschreiten neuer Wege in dem sich ankündigenden epochalen Umbruch bedürfen wir jedoch – wie schon an früheren historischen Wendepunkten – des Blicks auf den gesamten Bestand der europäischen Geschichte. Dann können wir über den unüberwindbar scheinenden Bruch zwischen Moderne und Vormoderne hinweg eben diese wieder als notwendigen und zukunftsweisenden Teil unseres Geschichtsbewußtseins zurückgewinnen. Das bedeutet weder Flucht in eine idealisierte Vergangenheit noch die unreflektierte Affirmation scheinbarer historischer Vorbilder. Ein „neuer Humanismus“ befähigt vielmehr zu produktiver Kritik an offensichtlich in die Irre führenden modernen Strukturen und zu innovativen Entwürfen für das Ziel einer weiterentwickelten, anderen Moderne.

Die antike Vergangenheit in Perspektiven der Gegenwart hereinholen – was kann das heißen? Es heißt nicht, Phänomene der Antike auf einer vordergründigen Ebene zu aktualisieren und etwa Modernes in ein äußerlich antikes Gewand zu hüllen – wie z.B. bei manchen Inszenierungen bei den Olympischen Spielen oder der Verarbeitung der Antike im Film oder in der Werbung. Genauso wenig kann es umgekehrt heißen, im Antiken das Moderne im Verhältnis eins zu eins wiederzufinden. Perspektivierung des historischen Blicks zielt auch nicht darauf, die Antike als absolut gesetztes Vorbild wiederholen zu wollen. Das Ergebnis wäre in ästhetischer Hinsicht Kitsch und in der Aussage unverbindlich, weil nicht einlösbar. Die Ausfertigung von Patentrezepten ist nicht statthaft, und einfach übertragbare Lehren sind nicht zu haben.

Die Antwort lautet vielmehr: Die aus der Gegenwart gewonnenen Perspektiven auf die Antike fördern an ihr etwas zutage, das auf einer dritten Ebene, einem tertium comparationis liegt. Über die Epochenbrüche hinweg kann man auf dieser Vergleichsebene beiden Zeiten gemeinsame Probleme und Aufgaben identifizieren. Ziel ist die bewußte und reflektierte Wiederaneignung von antiker Vergangenheit als Teil unserer Geschichte. Ganz ähnlich sah dies schon vor etwa 200 Jahren der große Humanist und Klassizist Karl Friedrich Schinkel:

„Historisch ist nicht, das Alte (…) festzuhalten oder zu wiederholen, dadurch würde die Historie zugrunde gehen. Historisch Handeln ist das, welches das Neue herbeiführt und wodurch die Geschichte fortgesetzt wird.“

Nur eine echte Revitalisierung der vormodernen Vergangenheit für unsere Gegenwart und Zukunft kann ein privilegiertes öffentliches Interesse an ihr begründen. Ich habe dies in meinem Buch „Botschaften des Schönen“ (Stuttgart 2008) an zwölf Beispielen aus der antiken Kultur zu zeigen versucht. Die hier vorgelegten Vorlesungen sind als eine thematische Fortsetzung und Ergänzung dazu zu verstehen, ohne daß damit nunmehr ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben würde – im Gegenteil: Der Bau neuer Brücken in die antike Vergangenheit hat gerade erst begonnen.

Wie stellt sich das vor dem Hintergrund der heutigen Wissenschaft dar? In der Altertumswissenschaft gibt heute mehrheitlich eine zu meinem Ansatz fundamental gegensätzliche Strömung den Ton an: die Antike möglichst weit von uns wegzurücken, damit wir erkennen können, wie für uns fremd es in ihr bei den Alten zuging. Und deshalb hätten wir Modernen nichts mehr mit ihnen zu tun. Wenn das richtig wäre, liefe es in der Tat darauf hinaus, daß die Erinnerung an Griechen und Römer für uns keinen Deut wichtiger sein müßte, als die an die Vergangenheit von Indern, Chinesen oder Südseeinsulanern. Das interessierte Publikum fragt sich dann allerdings, warum es sich denn mit einer angeblich so gleich gültigen und damit gleichgültigen Vergangenheit noch beschäftigen sollte und warum von Seiten der öffentlichen Sachwalter der Antike häufig keine Mühen und Kosten gescheut werden, eben diese Antike so opulent wie möglich zu präsentieren – in Museen oder teilweise großartigen Ausstellungen. Und die dortigen Besucher, zumeist nicht gering an Zahl, empfinden sich keineswegs naiv und unaufgeklärt, wenn sie von der Schönheit eines antiken Kunstwerks einfach überwältigt werden und überhaupt den Eindruck mitnehmen, das Gezeigte ginge sie und ihre Zeitgenossen doch etwas an.

Der Wissenschaftsbetrieb allerdings ist weithin geprägt von interesseloser Gleichgültigkeit. Man möchte nicht wahrhaben, daß die These der vollkommenen Andersartigkeit oder Alterität der Antike in der Sache falsch ist. Denn die Prägekraft der antiken Tradition für die europäische Kultur bis in die Gegenwart ist trotz aller angeblichen Mythenzerstörung nicht ernsthaft zu leugnen. In vielen Bereichen unseres Lebens – von unserer urbanen Lebensweise bis zu den Grundbegriffen der Kunst und Philosophie, von Politik, Recht, Verwaltung und Religion bis zur technischen Formung der natürlichen Lebenswelt – stehen wir, ob wir es zustimmend zur Kenntnis nehmen oder nicht, nach wie vor auf den Schultern der antiken Welt.

Die Alteritätsthese ist im übrigen auch theoretisch falsch: das gesamte, nicht erst neuzeitliche Geschichtsdenken hat seit jeher als unabdingbare Grundlage für Geschichte die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit erkannt. Der Gedanke der Alterität gründet sich hingegen auf die Vorstellung der Einzigartigkeit der Moderne mit ihren beiden Grundpfeilern Fortschritt und Emanzipation, und das heißt eben auch Befreiung von überkommenen Bindungen und Verpflichtungen. Mit der permanenten Zerstörung von Tradition werden die Brücken zwischen Gegenwart und Vergangenheit eingerissen, und das Vollgefühl des modernen Singularitäts- und Befreiungsbewußtseins entzieht auch dem Historiker die Geschäftsgrundlage: den Neu-, Um- und Weiterbau jener Brücken, die das Heute mit dem Gestern und Vorgestern verbinden.

Das aber bedeutet den Verlust von Geschichte und damit den Rückfall in vorhochkulturelle Verhältnisse. Wir sind möglicherweise nicht sehr weit davon entfernt und sehen zugleich, wie zahlreiche Entwicklungslinien der Moderne zunehmend fragwürdig werden.

Wenn hier der in der modernen Geschichtswissenschaft häufig anzutreffenden Methodik der Dekonstruktion aufs Heftigste widersprochen wird, so folgt daraus jedoch nicht, hinter die Errungenschaften der wissenschaftlich verfahrenden Geschichtsschreibung zurückgehen zu wollen. Denn sie sichern die Geltungskraft von Aussagen über die Vergangenheit auf besonders überzeugende Weise. Man mag daher auf das wissenschaftliche Instrumentarium heute so wenig verzichten wie auf die Spritze beim Zahnarzt. Selbstverständlich liegt daher den folgenden Kapiteln eine methodisch-wissenschaftliche Vorgehensweise zugrunde. Wer sich mit den Themen in diesem Sinne vertiefend befassen möchte, findet in den beigefügten Literaturhinweisen genügend Ansatzpunkte. Für den Weg zur Geschichte ist Wissenschaft als Methode aber nicht ausschlaggebend, ja es gilt das Gegenteil: Wer sich auf die Handhabung – wie virtuos auch immer – eines wissenschaftlichen Methodeninstrumentariums beschränken zu können glaubt, wird die Geschichte sogar zerstören.

Im Titel dieses Buches sind zwei für die Antike grundlegende Leitbegriffe genannt: Polis und Imperium. Die griechische Polis und die aus ihr hervorgegangene, für die Dauer der gesamten Antike weiterlebende Stadtgemeinde sowie das Weltreich der römischen Kaiserzeit sind die für die Antike selbst wichtigsten prägenden Formen ihrer Lebenswelt. Dabei bildet die Kultur des Imperium Romanum, das die antike Welt politisch geeint hat und gleichzeitig aus den unzähligen Städten vom Atlantik bis nach Indien und von der Sahara bis nach Schottland bestand, gleichsam den Unterlauf und das Mündungsdelta des gesamten antiken Kulturflusses.

Die folgenden, je für sich stehenden Kapitel behandeln nur auf den ersten Blick disparat erscheinende Themen. Was sie verbindet, darauf verweist der Untertitel: „Kultur und Politik“. Diese beiden Lebensbereiche waren so elementar aufeinander bezogen wie angewiesen. Das können wir durch die ganze Antike hindurch kontinuierlich verfolgen. Kultur als das Leben im Geiste und der Schönheit ist nicht zu trennen vom Leben der Gemeinschaft. Literatur, Religion, Philosophie oder Bildkunst sind weder beliebig schmückende Dekoration einer ansonsten harten, wenig Trost bereithaltenden Lebenswirklichkeit noch Theaterkulisse zur Verschleierung extremer sozialer und politischer Machtgefälle. Natürlich ist nicht zu leugnen, daß Trostlosigkeit und Macht das antike Leben auch zuweilen bestimmt haben. Aber eine Menschheitsepoche, die annähernd 1500 Jahre Bestand hatte, kann nicht dauerhaft im Zeichen von Leid, Unterdrückung und Unmenschlichkeit gestanden haben. In den bis heute vielfach unübertroffenen Manifestationen des antiken Geistes finden vielmehr die antiken Lebensordnungen zu einem positiven Bewußtsein ihrer selbst. Schon ihre mehr als tausendjährige Dauer zeugt von ihrem weitgehenden Gelingen. Die antike Kultur, aus der hier fünf Streiflichter präsentiert werden, beglaubigt die antiken Ordnungen von Gesellschaft und Gemeinschaft vor dem Richterstuhl der Geschichte. Deshalb sendet sie ihre Botschaften auch noch an uns. Wir müssen sie nur zum Sprechen bringen und wieder auf sie hören.

Polis und Imperium

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