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TOORAG

Die Jack Schilt Saga

Episode 2


Michael Thiele


Roman


Deutsche Erstveröffentlichung, April 2016

Copyright © 2016 by Michael Thiele

All rights reserved


Lektorat/Korrektorat: Marlies Bhullar

Umschlaggestaltung: Michael Thiele

info@jackschilt.de


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SENTRY – Die Jack Schilt Saga (Episode 1)


Prolog


„Ich weiß nicht, ob das, was ich hier niedergeschrieben habe, jemals in die Hände anderer Menschen gelangen wird. Ich bezweifle es, denn seit vielen Jahren bin ich keinem anderen Vertreter meiner Rasse mehr begegnet. Ich überlasse es also dem Zufall, was mit meinen Aufzeichnungen, meinen Erinnerungen, geschieht. Ich würde mir sehr wünschen, dass meine Aufzeichnungen irgendwann einmal, wenn sich der dunkle Mantel des Vergessens über den Staub der Jahrhunderte gelegt hat, dazu beitragen, die Verdienste der anständigen Menschen dieser Welt zu würdigen und am Leben zu erhalten.“

Jack Schilt

Stoney Creek, Avenor

Im Frühjahr des Jahres 700


Manchmal, wenn ich die vom Zahn der Zeit mächtig angefressene Chronik meines Vaters in den Händen halte, fühle ich, wie mein Leben einen Moment innehält. In Ehrfurcht? In Traurigkeit? Ich weiß es nicht, kann es nicht mehr einordnen, zu lange liegen die Ereignisse des Jahres 700 zurück, als dass ich mich noch klar erinnern könnte. Stets stiehlt sich ein Lächeln in meine Züge, wenn ich die Datumsangabe auf der ersten Seite seiner umfangreichen Niederschrift sehe. Mein Vater hatte sich selbst zu jener Nachlässigkeit geäußert, als er leichtfertig aus Unkenntnis kurzerhand das Jahr 700 erfand. Wie hatte er noch geschrieben? „Luke wäre aufgrund meiner gleichgültigen Ungenauigkeit erzürnt gewesen. Doch da es keine Möglichkeit mehr gab, ein genaues Jahr auch nur ansatzweise zu rekonstruieren, beließ ich es bei jener groben Schätzung.“

Wie viele Male hatte ich mich schon in seinen Aufzeichnungen verloren? Ich traute es mir zu, sein Leben auswendig hersagen zu können, so oft und intensiv war ich schon in den vielen Seiten versunken gewesen. Womöglich war es auch das Wissen, sein Vermächtnis nicht für ewig erhalten, seinen Verfall nicht für alle Zeiten aufhalten zu können, welches mich dazu antrieb, jeden Satz, ja jedes Wort, zu verinnerlichen.

So auch heute.

Wieder einmal holte ich das Bündel loser Blätter aus gesiebtem Flachspapier hervor (ich hatte keine Ahnung, wie man Papier herstellte und kannte diesen Namen auch nur, weil mein Vater ihn in seiner eigenen Chronik erwähnt hatte). Ein gewisser Luke, Luke Eastley um genau zu sein, war wohl in der Lage gewesen, besagtes Papier zu fabrizieren, eine Fertigkeit, die ich gerne erlernt hätte. Von ihm stammten auch jene Seiten, auf denen mein Vater sein Leben niedergeschrieben hatte. Dem Himmel sei Dank dafür. Wäre er nicht gewesen, wüsste ich heute nicht einmal, einen Vater gehabt zu haben, geschweige denn irgendetwas über sein Leben.

Luke Eastley, ich weiß so viel über dich, du könntest mein eigener Bruder sein. In gewisser Weise fühlte ich mich ihm nahe, viel näher als Krister Bergmark, Lukes Stiefbruder, einem weiteren Protagonisten, der eine Hauptrolle im Leben meines Vaters gespielt hatte. Jener Luke war unzweifelhaft ein Naturliebhaber gewesen, von sanftem Gemüt, eher zurückhaltend und gedankenvoll als aufbrausend und impulsiv wie Krister. Ja, Luke Eastley war zweifellos meiner Natur sehr nahe gewesen.

Ohne Frage fühlte ich mich natürlich mit meinem Vater am engsten verbunden. Ihn nie kennengelernt zu haben, zähle ich noch heute, so viele Jahre später, zu einem der größten Missgeschicke meines Lebens. Denn um ein Haar wäre es so gekommen. Ein ganzes Leben lang hatte ich ihn vermisst, wusste nur aus den Erzählungen meiner Mutter wie er war, wie er aussah. Er, der am Ende der Alten Zeit in ihrem kleinen Dorf mit dem hübschen Namen Kellswater aufgetaucht war und ihr Herz gefangen nahm. Nur wenige Tage waren ihnen vergönnt gewesen. In diesem kurzen Zeitraum entstanden meine Zwillingsschwester Ylvie und ich.

„Warum ist er nicht bei dir geblieben?“ hatte ich Mutter oft gefragt. Ich konnte nicht verstehen, wieso er sie wieder verließ, sie, die ihn bis ans Ende ihrer Tage tief im Herzen aufbewahrt hatte.

„Er war auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder, deinem Onkel Rob, gewesen, hatte meine Mutter stets zur Antwort gegeben. „Er wäre geblieben, hätte er nicht geschworen, ihm zur Seite zu stehen, komme was wolle.“

„Also war die Liebe zu ihm größer als zu dir?“ wollte ich wissen.

„Es gibt keine große und kleine Liebe“, hatte Mutter geantwortet. „Wer dies behauptet, weiß nicht was wahre Liebe ist.“ Ihr Blick war dabei mitfühlend an mir haften geblieben, wusste sie doch damals schon sehr wohl, mir niemals sagen zu können, dies eines Tages selbst herauszufinden. Ylvie und ich waren die einsamsten Kinder gewesen, die man sich vorstellen konnte.

Außer uns dreien, meiner Mutter und meiner Schwester, lebten nur dreizehn weitere Menschen auf Evu, unserer Insel, die aus den unterschiedlichsten Regionen Gondwanalands stammten. Acht Frauen und fünf Männer ähnlichen Alters. Sie waren einander völlig unbekannt bis zu dem folgenschweren Tag, an dem sie sich alle, genau wie meine Mutter, auf Evu wiederfanden. Nur eines war ihnen gemein: die Erinnerung an eine leuchtende Glocke, eine pulsierende Luftblase, die sie umschlossen und aus ihrem alten Leben gerissen hatte. Auch Vater hatte jene Blase beschrieben, die ihn und seine beiden treuen Begleiter Krister Bergmark und Luke Eastley schützend umfasst und vor dem Untergang bewahrt hatte, damals am Ende der Alten Zeit. Anders als wir, waren sie nicht nach Evu gebracht worden, sondern durften in ihre alte Heimat Avenor, am nordöstlichsten Zipfel Gondwanalands, zurückkehren.

Wir wuchsen als einzige Kinder unter vierzehn Erwachsenen auf unserer kleinen Insel heran. Wenig erinnere ich mich an diese Zeit, womöglich weil sie so ewig lange zurückliegt. Sechzehn Menschen besiedelten einst Evu, wenn auch nicht für lange Zeit. In den ersten Jahren schon starben vier der fünf Männer an rätselhaften Krankheiten. Bevor Ylvie und ich unsere ersten zwanzig Lebensjahre vollendet hatten, lebten nur noch meine Mutter und zwei weitere Frauen, Linda und Maddie. Ich erinnere mich nur noch vage an die beiden, die wir als Tanten betrachtet hatten und welche im Laufe ihres kurzen Lebens je ein Kind zur Welt brachten. Totgeburten, wie wir erfuhren, grausam entstellt, mit merkwürdig geformten Gliedmaßen, die eher einem Insekt als einem Menschen glichen. Die beiden Missgeburten veränderten sowohl Maddie als auch Linda grundlegend. Aus den freundlichen, lebenslustigen jungen Frauen wurden unglückliche, gramgebeugte Wesen, die früh mit ihrem Leben abgeschlossen hatten. Zudem alterten Maddie und Linda schnell, viel schneller als unsere Mutter. Mit ihrem Tod wurde es sehr ruhig auf der Insel. Die kleine Kolonie auf Evu war früh zum Aussterben verurteilt.

Meine Schwester und ich entwickelten uns prächtig, wir strotzten nur so vor Leben, ganz anders als der Rest der kleinen Inselbevölkerung, der innerhalb weniger Jahre unwiederbringlich dahinschwand. Mit dem Ableben unserer geliebten Mutter waren wir schlussendlich alleine auf uns gestellt. Evu bestand nur noch aus mir und meiner Zwillingsschwester Ylvie.

Wenig hielt mich noch dort. Wissend, dass es da draußen Festland gab, eine riesige Landmasse namens Gondwanaland, wollte ich nur noch eines: dieses Gebiet erforschen. Irgendwo mussten sich noch Menschen aufhalten, Ylvie und ich konnten doch nicht die letzten unserer Art sein!

Mit dem Tod meiner Mutter fühlte ich mich nicht mehr an das Versprechen gebunden, niemals Gondwanaland zu betreten. Ich hatte ohnehin zu keiner Zeit verstanden, weshalb sie es mir abgerungen hatte. Doch gingen noch Monate ins Land, bis ich mit Hilfe eines selbstgebauten, klapprigen Ruderbootes die Herausforderung annahm. Ylvie weigerte sich standhaft, mitzukommen. Ihre Angst vor der Tethys, vor dem weiten, tiefen Meer, erwies sich stärker als die Verbundenheit zu mir. Ich musste ihr versprechen, so bald wie möglich wiederzukommen. So startete ich die Reise ins Ungewisse, ganz allein auf mich gestellt. Doch war ich mir in meinem jugendlichen Elan absolut sicher, in Kürze wieder vor ihr zu stehen. Der Abschied fiel schwer und ich musste mich zwingen, die lange gehegten Pläne endlich in die Tat umzusetzen. Noch heute sehe ich meine winkende Schwester mitsamt der Küste Evus am Horizont verschwinden, während ich mich auf den Weg nach Gondwanaland machte. Nie hatte ich daran gezweifelt, es nicht zu schaffen. Die Meerenge zwischen Insel und Festland, an der engsten Stelle nur knapp fünfzig Meilen breit, überwand ich in erstaunlich kurzer Zeit und stand schließlich an den Gestaden des fremden und doch eigenartig vertrauten Kontinents. Ich hatte das Festland erreicht und damit das Versprechen gebrochen, dies niemals zu tun.

Schon kurz nach Betreten des mir verbotenen Landes, spürte ich es. Ganz tief drinnen. Ich spürte die Anwesenheit anderer Menschen. Es gab sie also doch! Und ich nahm ihre Spur auf, die immer weiter ins Herz des trockenen und heißen Kontinents hineinführte.

Die viele Wochen währende Reise ins Innere Gondwanalands sollte zu einer der größten Enttäuschungen meines Lebens werden. Ja, ich traf auf andere Menschen – aber nur auf einen. Einen einzigen! Und besagter Mensch war in der Tat mein Vater gewesen, so unglaubwürdig es auch klingen mag. Nur anhand seines Tagebuches, welches er mit sich geführt hatte, gelang es mir, ihn zu identifizieren. Nur wenige Stunden bevor ich auf ihn traf, war er ums Leben gekommen, aus großer Höhe in den Tod gestürzt. Ein weiteres Opfer des Großen Barrieregebirges, welches den Kontinent Gondwanaland in zwei ungleich große Teile spaltete, in das westliche Kenorland und das östliche Fennosarmatia. Mein Vater kam aus dem Osten Gondwanalands, aus eben jenem Fennosarmatia. Dort hatten einst Menschen gelebt. Viele Menschen. Tausende. Doch dann war etwas geschehen, das ihrer Existenz ein Ende bereitet hatte. Die Ermeskul, die wahren Herrscher Gondwanas, hatten zu alter Stärke zurückgefunden und ihren Planeten bis auf wenige Ausnahmen von allen fremden Lebensformen gesäubert. So jedenfalls hatte es Vater in seinem Journal niedergeschrieben.

Zu diesen wenigen Ausnahmen zählten die sechzehn Einwohner Evus. Warum sie weiterleben durften, Tausende andere Menschen aber nicht, entzog sich lange Jahre meiner Kenntnis. Erst als das Tagebuch meines Vaters auf so mysteriöse Weise in meinen Besitz kam, lüftete sich der Vorhang ein wenig, lernte ich, wer ich war und woher ich kam.

Wir Menschen waren Eindringlinge, Fremde, Außerirdische. Unsere Vorfahren stammten von einem Planeten namens Vestan, einem unvorstellbar weit entfernten Staubpartikel in der ebenso unvorstellbar weiten Wüste des Alls. Einige hundert Jahre lang hatten sie hier auf Gondwana gesiedelt, jene Vestanier, bevor die Ermeskul ihnen die Erlaubnis wieder entzogen.

Die Bezeichnung „Ermeskul“ sagte mir erst etwas, seit mir Vaters Leben in die Hände gefallen war. Vorher hatte ich nie ein Sterbenswort davon gehört. Jetzt, aus der Retrospektive, war mir klar, mit ihm war der letzte Mensch von Gondwana gegangen, der davon wissen konnte. Und wohl auch mehr gewusst hatte, als ihm lieb sein konnte. Hätte Vater darauf verzichtet, sein Leben niederzuschreiben, wüsste auch ich nichts davon – und damit wäre dieses Geheimnis wieder eines geworden. Lange fragte ich mich, warum die Ermeskul die Existenz dieses Zeugnisses zugelassen hatten. Doch die Antwort lag eigentlich auf der Hand. Nur hatte ich mich lange geweigert, sie sehen zu wollen.

Mein Vater hatte seinen Körper mit einem jener Ermeskul geteilt, einem sogenannten Sentry, um genau zu sein. Diese elementare Tatsache zu verstehen, zu kapieren, was dies überhaupt bedeutete, hatte Jahre in Anspruch genommen. Eine Verbindung zu mir herzustellen, noch viele weitere zusätzlich. Klar wurde es erst, als mein eigener Sentry, mein „Bruder“, wie Jezzie ihn stets nannte (und wie ich ihn heute noch manchmal selbst nenne) in Kontakt zu mir trat. Von diesem Moment an verlief mein Leben in anderen Bahnen. Die Feststellung machte ich nicht von heute auf morgen, nein, dieser Prozess nahm viel Zeit in Anspruch. Doch schließlich und endlich konnte ich die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen. Auch in mir existierte ein Sentry und damit befand ich mich in einer Linie mit meinem Vater. Sein Leben war plötzlich zu meinem geworden, ich führte es quasi fort, so absurd es klingen mochte.

Die Erkenntnis, in mir ein mehr oder weniger unbekanntes Wesen zu beherbergen, bestürzte mich natürlich zutiefst. Wer würde nicht in Angst und Schrecken verfallen, fände er heraus, seinen Körper mit einer anderen Kreatur zu teilen, welcher es urplötzlich in den Sinn kam, sich bemerkbar zu machen. Doch man gewöhnt sich daran, so wie man irgendwann wahrscheinlich eine unheilbare Krankheit akzeptiert… und einfach weiterlebt. Mit dem Unterschied, dass „mein“ Sentry, mein „Bruder“, nichts Böses im Schilde führte, wie ich dankenswerterweise zur Kenntnis nehmen durfte. Im Gegenteil. Er sollte mir im Lauf des Lebens noch oft zur Seite stehen.

Richtig intensiv wurde unser Kontakt aber erst zu jener Zeit, als ich mich völlig unfreiwillig aus meinem bisherigen Leben herausgerissen sah. Zu jener Zeit, als mein mehr oder weniger unbekümmertes Dasein auf Evu ein so abruptes Ende nahm.

Zu jener Zeit beginnt diese Geschichte.

Die Geschichte meines Lebens…


1

Abduktion


Ich rannte. Ich rannte um mein Leben.

Aus dem Nichts war er aufgetaucht, das Ziel im Visier. Riesig in seinen Ausmaßen, mit nichts zu vergleichen, was ich jemals gesehen hatte, senkte sich der gewaltige Schatten lautlos auf mich herab und blendete das Licht der Xyn aus. Die Umgebung erkaltete spürbar. Von nun an löste er sich nicht mehr von mir, übermittelte die unmissverständliche Botschaft, nicht mehr entkommen zu können. Er war direkt über mir, er hatte mich. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was im Augenblick geschah, spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben wahre Todesangst.

Und das war auch angebracht.

Zu allem Unglück befand ich mich zu diesem Moment inmitten einer weiten Ebene, nicht die kleinsten Versteckmöglichkeiten boten sich. Ich saß im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Präsentierteller. Kein Ausweg in Sicht. Dennoch rannte ich. Ich rannte drauflos, wissend um die Sinnlosigkeit meines Handelns. Mir war überraschend klar, meinem Verfolger nicht entkommen zu können. Selbst als der Schatten mich eingehüllt hatte, ich die Gefahr direkt über mir wusste, blieb ich nicht stehen.

Einen Haken schlagend, wich ich nach Osten in Richtung See aus. Der Schatten löste sich keine Sekunde. Dann machte ich kehrt, flitzte zurück in die Richtung, aus der ich kam.

Der Schatten über mir blieb.

Was auch immer ich tat, er schien genauestens zu ahnen, was ich vorhatte. Er folgte mir unbeirrt, blieb wie ein Magnet an mir haften.

Der ganze Vorgang konnte nicht sehr lange gedauert haben, eine halbe Minute vielleicht. Unvorstellbar! Noch vor wenigen Momenten war mein Leben in geordneten Bahnen verlaufen, hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, was sich wenige Wimpernschläge später über mir zusammenbrauen sollte. Und nun das! Aus heiterem Himmel schlug das Schicksal zu. So interpretierte ich es allerdings erst sehr viel später.

Dann stürzte ich. Schwer atmend kam ich zu liegen, rollte mich auf den Rücken und blickte nach oben. Obwohl ich noch nie etwas auch nur ansatzweise Ähnliches erblickt hatte, beherrschte nur noch ein einziges Wort, ein einziger Name, meine Gedanken:

„Britannic“!

So hieß das Sternenschiff, welches vor Hunderten von Jahren die ersten Kolonisten nach Gondwana gebracht hatte. Unzählige Male war ich in den vergangenen Jahrzehnten die Aufzeichnungen meines Vaters durchgegangen, konnte ganze Passagen auswendig hersagen, erinnerte mich jedes Namens, jedes Ortes, jeder vielleicht noch so nebensächlichen Kleinigkeit.

Und ich erinnerte mich der Britannic.

Natürlich konnte sie es nicht sein, lagen ihre Trümmer doch Tausende von Meilen entfernt auf der anderen Seite des Großen Barrieregebirges, in Gondwanaland, nahe der Ruinen Hyperions. Dort war mein Vater vor einer Ewigkeit auf ihr Wrack gestoßen, zu einer Zeit, als es noch zahlreiche Menschen auf diesem Planeten gegeben hatte.

Meine Gedanken jagten einander. Unzweifelhaft handelte es sich um ein Raumschiff dieser Kategorie, doch was suchte es hier? Wer auch immer sich darin befand, er schien großes Interesse an meiner Person zu haben.

Ich rührte mich keinen Millimeter von der Stelle. Der riesige Schatten tat es mir gleich. Lautlos verharrte er schätzungsweise zehn Körperlängen über mir, nicht das kleinste Geräusch abgebend. Gut, jetzt wo ich etwas von meiner anfänglichen Furcht verlor, vernahm ich dunkles Sirren, ein unterschwellig drohendes Summen, nicht unähnlich dem eines schwärmenden Kapravolkes auf der Suche nach einem geeigneten Unterschlupf, um einen neuen Insektenstaat zu gründen.

Da sich weiterhin nichts tat, schöpfte ich neuen Mut und richtete mich vorsichtig auf. Nichts geschah, man ließ mich gewähren.

„Was willst du?“ schrie ich dem Schatten herausfordernd entgegen. Ich erwartete keine Antwort und wurde dementsprechend auch wenig enttäuscht. Kühner geworden gewahrte ich einen faustgroßen Kiesel vor mir, nahm ihn auf und schleuderte ihn meinem Verfolger entgegen.

Ohne jedes Geräusch verschwand er inmitten des Schattens. Ich hatte unzweifelhaft getroffen. Nun ja, keine Meisterleistung, das monströse Ding zu verfehlen war schier unmöglich. Interessanterweise war der Stein regelrecht verschluckt worden, er kehrte nicht mehr auf den Erdboden zurück. Diese Tatsache jagte mir erneut einen Schreck ein. Das Wissen, mich unterhalb eines wie auch immer gearteten Objekts zu befinden, welches in der Lage war, Steine zu verschlingen, löste neue Fluchtimpulse aus.

Doch so weit kam es nicht mehr. Blassgrünes Licht hüllte mich ganz plötzlich ein. Meine Augen tränten. Das Leuchten drang zweifellos aus dem Innern des gewaltigen Gefährts und blendete die Umgebung komplett aus. Nun war ich ein Teil von ihm, spürte seine Macht, seine Kraft. Die Schwerelosigkeit schien aufgehoben, mein Körper hob von der Oberfläche ab, sacht und sanft, beinahe unmerklich. Als meine Beine den Bodenkontakt verloren, geriet ich für einen Moment in Panik und versuchte zappelnd und strampelnd wie ein Fisch auf dem Trockenen zurück in mein Element zu finden. Zu spät! Es ging aufwärts, immer weiter, unerbittlich. Einem gefangenen Insekt im Netz der Spinne gleich, gab ich jeden Widerstand auf und harrte der Dinge, die jetzt unweigerlich kommen sollten.

Näher und näher saugte mich das Licht in den direkten Einflussbereich des Gefährts. Die nun hell erleuchtete Unterseite gab erste Einzelheiten preis. Ich schätzte seinen Durchmesser auf gut und gerne vierzig bis fünfzig Meter, wenn nicht mehr. An den Rändern pulsierte jenes blassgrüne Licht und raste in einem Affenzahn im Kreis umher. Je näher es mich anzog, desto schneller blinkte und flitzte es um die eigene Achse. Mir wurde schwindlig beim bloßen Anblick.

Endlich nahm ich die kreisrunde Öffnung wahr, ein gähnendes, tiefschwarzes Loch, auf welches ich in immer noch moderatem Tempo zustrebte. Mein Blick blieb magisch daran haften. Dorthin sollte also die Reise gehen, zweifelsohne in das Innere des Schattens. Merkwürdig gelassen blieb ich. Angst und Schrecken fielen von mir, als erlebte ich jeden Tag Ähnliches, als wäre es das Normalste von der Welt, von einem fliegenden Objekt dieser Größe eingesaugt zu werden.

Und dann war ich drin!

Die letzten paar Meter verliefen ruckartiger, nicht mehr so glatt und geschmeidig wie noch zuvor. Das grüne Leuchten erstarb, der Boden unter mir schloss sich.

Der Schatten hatte mich verschluckt.

In seinem Innern herrschte tiefste Dunkelheit. Nicht die geringste Einzelheit bot sich meinen suchenden Augen. Ganz eindeutig stand ich auf eigenen zitternden Beinen. Jetzt wo ich rein gar nichts mehr sah, kehrte die Angst zurück. Vehementer als zuvor. Ich schämte mich der Schreie nicht, die ich in die Dunkelheit entließ. Kein Echo, kein Schall, nichts. Die Hände schützend über den Kopf gelegt, ging ich in die Knie und ließ mich ergeben auf den Boden sinken. Meine gehetzten Atemzüge klangen merkwürdig dumpf, als befände ich mich in einem winzig kleinen Raum.

Lange Zeit geschah nichts. In meiner Position verharrend, wagte ich irgendwann, aufzublicken. Ein schwaches Leuchten in unmittelbarer Nähe. Violettes Licht weit über meinem Kopf. Ich sah wieder, wenn auch nicht unbedingt viel. Durchscheinende Wände, welche mich zu allen Seiten umgaben. Meine fremdartig violett schimmernden Hände berührten kühles, durchscheinendes Material zu allen Seiten, als hätte man mir ein Glas über den gesamten Körper gestülpt.

Ich war gefangen in einer gläsernen Hülse!

Merkwürdig gelassen erhob ich mich, ertastete die Größe meines transparenten Gefängnisses. Einen Moment lang war mir so, als erblickte ich die verschwommenen Umrisse weiterer Behälter in der näheren Umgebung. Doch blieb nicht genug Zeit, das Gesehene zu verifizieren. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich das brausende Geräusch, das von oben zu mir drang, als fielen Dutzende zischender Schlangen auf mich herab. Reflexartig wollte ich die Arme über den Kopf werfen, doch kollidierten sie augenblicklich mit den Wänden der schlagartig eiskalten Hülle. Unmittelbar danach ging ein Sturmwind zischend durch die Kapsel.

Augenblicklich froren meine Sinne ein.


Grüne Wiesen, durchzogen mit Bändern schneeweißer und flachsfarbener Blüten, die sacht im Wind nickten.

Die blaue, ruhige See.

Gleißendes Sonnenlicht.

Barbarische Kälte.

Ich fror. Ich fror gotterbärmlich. Die Umgebung weckte Erinnerungen und kam mir doch fremdartig vor. Eine Hütte. Direkt an der Küstenlinie. Ich strich durch das Blütenmeer, auf die Holzhütte zu, in der Hoffnung, dort etwas Wärmendes zu finden. Eine Decke vielleicht. Trotzdem die Xyn, die gute alte Sonne, von einem wolkenlosen Himmel brannte, zitterte ich am ganzen Körper. Mit jedem Schritt verlor ich mehr und mehr Energie, befürchtete gar, die Hütte nicht mehr zu erreichen. Alle Kraft zusammennehmend, stürzte ich auf sie zu, warf mich gegen die angelehnte Tür.

Endlich war ich drinnen.

Und ich war nicht allein.

Ein unbekleidetes Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren saß im Schneidersitz auf dem blanken Boden, die Arme auf den schneeweißen Oberschenkeln ruhend, die Augen geschlossen.

Meine Schwester Ylvie!

„Ylvie?“ rief ich. Keine Reaktion. Bewegungslos verharrte sie, als hätte sie mich nicht gehört. Eine weitere Person trat aus dem dunklen Hintergrund der plötzlich um ein Vielfaches angewachsenen Hütte. Aus stahlblauen Augen fixierte sie mich. Spätestens jetzt war mir klar, zu träumen.

„Mutter?“ fragte ich dennoch. „Bist du nicht mehr tot?“

Ihr unerwartetes Lächeln ließ mich die Eiseskälte vergessen. „Jack, mein Liebling“, sagte sie. Wie viele Jahre hatte ich ihre Stimme nicht mehr vernommen. Fünfzig? Mehr?

„Mutter!“ Mein Blick verschwamm.

Dann löste sich ein weiterer Schatten aus dem Hintergrund. Ein Mann. Einen guten Kopf größer als meine Mutter. Er lächelte. Lächelte gütig. Mir war, als blickte ich in einen Spiegel. Und doch wusste ich, nicht meine Person zu sehen. Nein, dieses seltsam vertraute Gesicht stellte nicht meines dar. Noch nie hatte ich es allerdings lächeln sehen. Warum in aller Welt hielt er die Augen geschlossen?

„Vater!“ Oh, welch schöner Traum.

„Jack, mein Sohn.“ Der Mann legte den Arm liebevoll um meine Mutter. Zum ersten Mal erlebte ich sie zusammen, vereint. Welch unerwartet ergreifender Anblick! Wie oft hatte ich mir gewünscht, beide um mich zu haben, wenn auch nur für einen Moment. Dieser Moment war endlich gekommen!

„Vater, wo warst du?“ Tränen lagen in meiner Stimme.

„Ich war nie fort“, kam die rätselhafte Antwort. „Ich bin immer bei dir. In jeder Sekunde deines Lebens bin ich bei dir. Erschrick jetzt nicht!“ Noch als ich mich fragte, warum er mich warnte, verstand ich den Grund. In dieser Sekunde öffnete er die Augen. Das gleiche stechende Blau. Und doch war alles anders.

Ich blickte in die Facettenaugen eines Insekts!

Mein schöner Traum verwandelte sich in einen Alptraum!

„Was ist mit deinen Augen?“ rief ich bestürzt. Mir fiel ein, ihn nie lebend gekannt zu haben. Als ich ihn vor vielen Jahren tot aufgefunden hatte, waren seine Lider geschlossen gewesen. Nun blickte ich zum ersten Mal in seine wahren Augen. Was ich sah, gefiel mir nicht.

Mein Vater spürte meine Zurückhaltung. Er legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete mir, näherzutreten. „Komm zu mir, mein Sohn! Hab Vertrauen!“

Entgegen aller Überzeugung machte ich einen Schritt nach vorn. Mit geöffneten Armen stand meine Mutter vor mir, bereit, mich zu empfangen. Da gab es kein Halten mehr. Wie ein verängstigtes Kind floh ich in ihre Umarmung. In diesem Moment war ich wieder ihr kleiner Junge. Alle Ängste fielen von mir ab. Wie sicher ich mich fühlte, behütet und geborgen, als könnte mir nichts auf der Welt etwas anhaben! Viele Jahrzehnte waren vergangen, seit ich sie zum letzten Mal berührt hatte.

Eine tiefblaue Träne löste sich aus ihrem linken Augenwinkel. Sie seufzte: „Wie lange ist es her! Wie lange!“

Aus großen, bewundernden Augen sah ich sie an. „Viel zu lange!“

Ich sah zu meinem Vater hoch, wollte ihn in diesen einzigartigen Moment mit einbeziehen, bevor der Traum ein Ende fand. Der dunkle Hintergrund der Hütte verwandelte sich in eine spiegelnde Fläche, unvermittelt sah ich mich vor meinen eigenen Eltern stehen, die Mutter weiterhin umarmt haltend. Aus himmelblau leuchtenden Facettenaugen erblickte ich mein eigenes Spiegelbild.

Ich hatte die Augen meines Vaters angenommen!

Entsetzt schlug ich beide Hände vors Gesicht, glaubte, den Anblick nicht ertragen zu können. „Was ist mit mir?“ stöhnte ich fassungslos. Ich war zu einem Monster mutiert!

„Vergiss niemals, wer du bist!“ hörte ich meinen Vater mahnen. „Sieh uns an! Sieh uns genau an!“ Zu dritt betrachteten wir einander im Spiegel. Die Augen meiner Mutter waren die einzigen, die noch denen eines Menschen ähnelten. Am liebsten wäre ich diesem Alptraum entflohen. Doch war er noch nicht gänzlich beendet.

„Wer bin ich?“ stellte ich die alles entscheidende Frage.

Mein Vater sah mich ernst an und nickte. Es wirkte anerkennend. Plötzlich erschienen mir seine Facettenaugen gar nicht mehr abscheulich. Eine Antwort auf meine Frage gab er allerdings nicht.

„Weshalb hat Ylvie deine Augen, Mutter, und ich die Augen von Vater?“ Ich versuchte es bei ihr, doch auch sie nickte nur wohlwollend. Es genügte mir. Ihre Arme um mich zu wissen, war alles, was ich augenblicklich wollte.

Dann war das Traumbild vorbei. Weiterhin verständnisvoll lächelnd, lösten sich meine Eltern wie Geistererscheinungen vor mir auf. Mit ihnen verschwand auch Ylvie, die kein einziges Wort gesagt hatte, verschwand die Hütte, verschwanden das Meer und die grünen Wiesen.

Nur eines blieb.

Die Grabeskälte.

Beißender als je zuvor.


Während der Zeit meiner Gefangenschaft mochte ich vieles zusammenfantasiert haben, doch nur die Erinnerung an diesen einen Traum blieb mir im Gedächtnis haften. Dies und die immerwährende, qualvolle Kälte. Mein Erwachen erschien mir wie die zögerliche Rückkehr aus einer anderen Dimension. Die frostigen Temperaturen waren fort, dennoch fühlte sich mein ausgekühlter Körper an wie der sprichwörtliche Eiszapfen. Einmal war ich überzeugt, zu ersticken, hörte mich selbst röcheln, doch verging diese unangenehme Empfindung zügig. Ich atmete, ganz eindeutig. Merkwürdig, sich über die normalste aller Körperfunktionen derart Gedanken zu machen. Die unbeschreibliche Ahnung, für lange Zeit nicht geatmet zu haben, jagte mir beispiellose Angst ein. Wie kam ich darauf? Absurd!

Als nächstes kehrte mein Sehvermögen zurück, überaus zaghaft, als traute es seiner eigenen Wahrnehmung nicht über den Weg. Schlieren violetten Nebels. Eine Sinnestäuschung, sicherlich. Wo war ich? Anfangs hatte ich das Gefühl, wie leblos in einem indigofarbenen Meer zu treiben, alles um mich herum ruhte in sanfter, wellenartiger Bewegung. Nach und nach gewann mein Augenlicht an Schärfe. Die Erinnerung kehrte zurück. Ich steckte weiterhin in jener gläsernen Hülse, welche jedoch ihre Transparenz weitgehend verloren hatte. Von außen drang violettes Licht ein wie durch einen Nebelschleier. Dann erst realisierte ich die mit Wasserdampf beschlagenen Wände. Und – oh Wunder – mein Körper gehorchte mir wieder. Zwar wirkten meine Bewegungen noch abgehackt, doch gelang es mir unter Aufbietung beträchtlicher Willenskraft den rechten Arm zu heben und die Außenwand meines Gefängnisses zu berühren. Mit dem Zeigefinger malte ich einen Sichtschlitz durch die Nebelwand. Grelles Licht stach mir daraufhin in die Augen, sodass ich sie schützend schloss und so schnell nicht wieder öffnen wollte.

Erst als warme Luft von oben auf mich herabfiel, schlug ich sie wieder auf und blickte hoch. Nichts zu sehen. Zwar schmerzte das grelle Licht weiterhin, doch ignorierte ich den Schmerz, die Lider eisern geöffnet haltend. Irgendetwas ging vor sich, und ich wollte wissen, was.

Binnen kurzem löste sich das Kondenswasser im Innern der Hülle in Nichts auf und ich konnte ungehindert nach draußen blicken. Fassungslos blickte ich auf Dutzende weiterer Glashülsen, in Reih und Glied aufgestellt, eine an der anderen. Doch das war es nicht, was mich derart erschauern ließ.

In jeder Hülse steckte ein gefangener Mensch!


Ich benötigte Zeit, das Gesehene wirken zu lassen. Noch nie in meinem bisherigen Leben war ich anderen Menschen begegnet, die wenigen Ausnahmen in der Kindheit ausgenommen. Nach dem Tod meiner Mutter gab es nur noch mich und meine Schwester Ylvie, niemanden sonst. Jahrzehntelang hatten wir zu zweit in Abgeschiedenheit mehr oder weniger dahinvegetiert, stets davon überzeugt, die letzten unserer Art zu sein. Bestätigt sah ich mich in dieser Annahme, als ich in den Besitz des Tagebuchs meines Vaters gelangte. Gondwana, meine Heimat, einst von Tausenden Menschen besiedelt, war nach dem Sieg meines Vaters – dem (damals) letzten Sentry – über die Ar-Nhim, wieder befreit von allem fremden Leben. Lange Zeit hatte ich gerätselt, wieso ausgerechnet meiner kleinen Familie und einigen wenigen anderen ein Überleben auf Evu gestattet worden war. Erst als ich realisiert hatte, genau wie mein Vater einen Ermeskul – auch Sentry genannt – in mir zu tragen, flutete Licht in das dunkle Geheimnis. Ohne jemals mit ihm kommuniziert zu haben, vermittelte er mir die Wahrheit. Ich wusste bereits, dass skrupellose Menschen, sogenannte Wissenschaftler, schwere Schuld auf sich geladen hatten, als sie Genmaterial der Ermeskul in menschliche Versuchskaninchen schleusten. Das Experiment verlief unbefriedigend und war irgendwann ergebnislos abgebrochen worden. Niemand konnte jedoch ahnen, wie viele Generationen es benötigte, um die fremden Gene zu aktivieren.

Erst Jahrhunderte später ging die Saat auf!

Mit unerwartetem Effekt!

Wie viele Menschen sich den Testreihen unterziehen mussten, kann wohl niemand mehr genau sagen. Einer meiner Vorfahren musste jedoch zweifellos unter ihnen gewesen sein. Er gab die Gene an die folgende Generation weiter, und der an die nächste, bis sie bei meinem Vater ankamen und dort erstmals skurrile Früchte trugen. Jack Schilt, mein Vater, war der erste gewesen, in dem ein Ermeskul, ein Sentry, erwachte. Und wie es aussah, auch der einzige auf dem ganzen verfluchten Planeten, dem dies widerfuhr. Die anderen unfreiwilligen Erben, jene acht Frauen und fünf Männer, die mehr oder weniger lang mit uns auf Evu lebten, zählten zu den letzten Nachkommen derer, an denen ebenfalls Versuche vorgenommen worden waren. Auch über sie hielten die Ermeskul ihre schützende Hand. Sie durften nach dem Ende der Menschheit auf Gondwana bleiben und ihr Leben auf Evu aushauchen. Welche ermeskulartigen Fragmente auch immer in ihnen gehaust hatten, es musste Grund genug gewesen sein, ihr Leben zu schonen. Lediglich meine Mutter hatte mit alldem nichts zu tun. Sie war der einzige ursprüngliche Mensch auf Evu gewesen. Die Tatsache, mit mir einen weiteren Sentry geboren zu haben, verhalf ihr wohl zu diesem zweifelhaften Privileg. Sie war gestorben, ohne je zu ahnen, welches Monster sie in die Welt gesetzt hatte.

Mich!


Das Wissen, mich im Beisein vieler anderer Menschen zu befinden, trug etwas merkwürdig Beruhigendes in sich. Ich war nicht allein! Mit jeder Minute, die verging, löste sich dieses trügerische Gefühl jedoch auf und schlug ins Gegenteil um. Wir Gefangenen blickten einander aus weit aufgerissenen Augen an, von einer abgeschotteten Glaskapsel zur anderen. Panik, Entsetzen und Todesangst lag auf den Gesichtern meiner Mitgefangenen. Soweit ich sehen konnte, handelte es sich um Männer jeden Alters, junge, ergraute, greise. Woher kamen sie? Was hatten sie angestellt, um hier an Bord dieses teuflischen Schiffes zu geraten?

Weit über unseren Köpfen, abseits des violetten Lichts, machte ich eine Bewegung aus, die meine ganze Konzentration erforderte. Für einen Moment erhaschte ich den Anblick eines menschenähnlichen Wesens, einen Schatten von der Farbe junger Frühlingstriebe. Zwei Arme, zwei Beine, ein proportional zu groß geratener Schädel. Eine Sekunde später war er auch schon wieder verschwunden.

Was war das gewesen?

Aus Vaters Tagebuch wusste ich um die Existenz fremder Lebensformen. Meine Vorfahren selbst waren Eindringlinge auf Gondwana gewesen, Angehörige einer exotischen Spezies, die sich Menschen nannten und in der Lage gewesen waren, durch die Weiten des Weltraums zu reisen. Hatte ich soeben den Vertreter einer weiteren Kategorie von Lebewesen gesehen, die zu Ähnlichem imstande war? Und als ob die fremdartige Kreatur meine Gedanken lesen könnte, zeigte sie sich für wenige Sekunden ein weiteres Mal, nur einen Steinwurf von ihrer vorherigen Position entfernt. Oder handelte es sich am Ende um einen weiteren Vertreter ihrer Gattung? Ich musste diese Möglichkeit in Betracht ziehen.

Bislang hatte ich angenommen, von Menschen, von Meinesgleichen, entführt worden zu sein. Was lag näher als diese Vermutung? Doch sah ich mich gezwungen, sie zu revidieren. Die Menschen an Bord dieses Gefährts – einschließlich meiner Person – schienen allesamt Gefangene zu sein. Am Ende die Gefangenen jenes merkwürdigen Wesens?

Ein dumpfes, pochendes Geräusch drang an meine Ohren und lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine der mich umgebenden Glashülsen. In ihrem Innern stand aufrecht ein hochgewachsener, wie ich ähnlich spärlich bekleideter, junger Mann, nur eben deutlich jünger, fast noch ein Knabe. Ein Knabe mit kahlgeschorenem Schädel. Unterarm und Handballen in Kopfhöhe gegen das beschlagene Glas drückend, stand er stumm da, die Stirn gegen das Handgelenk gepresst. Mit einer Faust klopfte er rhythmisch gegen die Wand seines Gefängnisses. Unsere Blicke trafen sich. In seinen Augen las ich mehr Wissbegier als Furcht.

Ein fremder Mensch versuchte, mit mir in Kontakt zu treten! Noch vor kurzem hätte ich wer weiß was gegeben, einem einzigen Vertreter meiner Art auch nur zu begegnen. Nun war ich von zahlreichen umgeben, so nah und doch so unerreichbar. Ich nickte dem Jungen aufmunternd zu, zeigte ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Seine Lippen formten Worte, die zu begreifen ich nicht in der Lage war. Mit einer hilflosen Geste machte ich ihm klar, nicht zu verstehen. Er wiederholte sie, diesmal langsamer und deutlicher. Wieder musste ich ihn enttäuschen.

Ein schwaches, entschuldigendes Lächeln umspielte noch die Mundwinkel, als sich der Boden unter seinen Füßen öffnete. Helles Licht schoss wie ein gleißender Speer durch die kreisrunde Öffnung, dann verschwand der Junge vor meinen entsetzten Augen und stürzte in die Tiefe, direkt in das einfallende Licht hinein. Ein Ruck ging durch die gesamte Plattform, auf der die Glaskapseln mit ihrer menschlichen Fracht ruhten. Jede einzelne von ihnen zeigte sich plötzlich hell erleuchtet, als sich der Vorgang dutzendfach wiederholte. Schlagartig verschwanden alle Menschen, leerten sich die Hülsen. Auf alles gefasst, sah ich an den Beinen hinab auf den eigenen noch festen Boden unter mir, während meine Hände verzweifelt Halt entlang des kühlen, feuchten Glases suchten. Jeden Augenblick würde auch ich in die Tiefe stürzen, daran gab es keinen Zweifel.

Doch die Klappe unter meinem Gefängnis rührte sich nicht.

Minuten vergingen. Minuten quälender Unsicherheit. Endlich wagte ich es, aufzusehen. Der Anblick Dutzender leerer Hüllen, ihres kostbaren Inhalts entledigt, schmerzte. Sie waren alle fort! Kein einziger mehr zu sehen. Dann schlossen sich die Böden wieder, nicht einer nach dem andern, sondern abrupt, ruckartig. Das Licht ging aus. Wie eine Welle schwarzen Wassers schwappte die Dunkelheit über mich hinweg. Das ewige violette Leuchten war bereits vorher erloschen, ich hatte es nicht einmal mitbekommen. Urplötzlich sah ich nichts mehr, nur noch das Trugbild weiterhin hell glühender Hülsen im Widerschein meines Augenhintergrunds. Es verschwamm schnell. Die mich verschlingende Schwärze löste eine Panikattacke aus. Unwillkürlich kauerte ich mich zu einem Ball zusammen, die Arme schützend um den Kopf gelegt. Das winselnde Rasseln der eigenen Atemzüge wirkte dabei überraschend beruhigend.

Ich kam wieder zur Ruhe, verharrte aber weiterhin in sitzender Position. Alle Körperfunktionen bereiteten sich vor, wieder auf normal hochzufahren. Schon als ich es nicht mehr annahm, zu akzeptieren begann, wieder völlig allein zu sein, geschah es doch noch. Ein scharrendes Geräusch, ein greller Lichtfinger, der gierig nach mir griff – und schon stürzte ich in die Tiefe.

Kurz war der Fall, schmerzhaft der erste Kontakt. Instinktiv hatte ich mich zu einer Kugel zusammengerollt, in annähernd derselben Position wie noch im Innern der Hülse. Als der Boden auf mich zugerast kam, fuhr ich die Beine wie ein Fahrgestell aus und landete tatsächlich auf den eigenen Füßen. Von der Wucht des Aufpralls getragen, blieb ich freilich nicht lange auf ihnen stehen und überschlug mich mehrere Male. In einer Staubwolke kam ich schließlich langgestreckt auf dem Rücken zur Ruhe.

Ich war angekommen.

Nur, wo…?


2

Dämmerschein


Von Anfang an war mir überraschend klar, nicht mehr auf Evu zu weilen. Zwar unterschied sich die Landschaft nicht sonderlich von dem, was ich von meiner Insel kannte, doch war es das ungewöhnliche Licht, welches verriet, fern der Heimat zu sein. Welchen Namen auch immer das Zentralgestirn trug, das seine einsamen Bahnen über den fremdartig schwefelfarbenen Himmel zog, es handelte sich mit Sicherheit nicht um die gute alte Xyn. Mir wurde bewusst, nicht nur verschleppt worden zu sein. Ich befand mich zudem in einer unbekannten Welt.

Wohin hatte mich das verfluchte Raumschiff transportiert?

Und aus welchem Grund?

Mein Atem ging weitgehend normal. Es gab also ausreichend Sauerstoff in der Atmosphäre dieses fremden Planeten. Immerhin etwas, so war ich nicht dazu verdammt, innerhalb weniger Minuten qualvoll zu ersticken. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, mich den weiten Weg hierher zu entführen und dann sang- und klanglos verrecken zu lassen. Zudem herrschten angenehme Temperaturen, kein Vergleich zu der üblen Grabeskälte in der Glaskapsel! Fühlte sich in etwa so an, wie Frühling auf Evu.

Aufmerksam sah ich mich um. Heidekrautähnlicher Niederwuchs soweit das Auge reichte. Die bis an den Horizont reichende, sanfte Hügellandschaft erinnerte ein Stück weit an die karge Westküste Evus. Bei genauerem Hinsehen stellte ich jedoch fest, Pflanzenwuchs dieser Art noch nie gesehen zu haben.

Ein weiterer Beweis für meinen ungeheuerlichen Verdacht!

Wo waren all die anderen mit mir gereisten Menschen? Sie mussten sich doch in der Nähe aufhalten! Weit und breit nichts von ihnen zu sehen. Sie blieben verschollen, genau wie das geheimnisvolle Raumschiff. Keine Spur mehr von ihm zu entdecken, so sehr ich das blassgelbe Firmament auch absuchte.

Dieser Himmel!

Je länger ich ihn betrachtete, desto fremdartiger kam er mir vor. Hohe Wolkenformationen zogen durch, womöglich waren sie es auch, die ihm jene unnatürliche Färbung verliehen. Schmerzlich vermisste ich das grenzenlose Himmelblau meiner Heimat. Mit diesem Farbton würde ich mich niemals anfreunden können, so viel stand fest.

Das leicht überschaubare Gebiet wies nur wenige Versteckmöglichkeiten auf, weswegen mich das Verschwinden der anderen Menschen doppelt beschäftigte. Fort, als hätte die Erde sie verschluckt. Unschlüssig blieb ich stehen, drehte mich im Kreis, versuchte, mich zu orientieren. Doch glich alles um mich herum wie ein Ei dem anderen, egal in welche Richtung ich mich wandte.

Erst nach und nach sickerte die Erkenntnis durch, wurden mir die Konsequenzen der Entführung klar. Der Dämmerschein meiner Ahnungen warf zwar nur schwaches Licht, doch reichte er bei weitem aus, einen vagen Schimmer ins Dunkel meiner Unwissenheit zu bringen. Nie im Leben hätte ich erwartet, meinen Fuß jemals auf einen anderen Planeten zu setzen. Und doch war es jetzt so gekommen, daran gab es wenig Zweifel. Erschreckend und bewegend gleichermaßen, wobei die Faszination augenblicklich die Oberhand besaß. Aus Vaters Tagebuch wusste ich um die Existenz ferner, fremder Welten. Gestirne, die einst von Menschen besiedelt und wieder aufgegeben worden waren. Vestan, um nur einen zu nennen. Von Vestan waren vor langer Zeit jene Siedler aufgebrochen, die Gondwana, meine Heimat, erreicht und kolonisiert hatten. Befand ich mich womöglich nun auf Vestan? War ich zu meinen Wurzeln zurückgekehrt? Eine naheliegende Annahme.

Mir fiel das ungewöhnliche Lebewesen wieder ein, welches ich an Bord des Raumschiffes gesehen hatte. Unzweifelhaft gesehen hatte! Das war kein Mensch gewesen! Ganz gewiss nicht! Es hatte sich frei bewegt, während wir Menschen wie Vieh zusammengepfercht in diesen Glashülsen steckten. Die Rollenverteilung war damit klar: Meinesgleichen befand sich nicht wirklich in tonangebender Position. Nein, den Ton hatte unmissverständlich jenes bizarre Geschöpf angegeben, eine mir unbekannte Lebensform, von denen es, wie ich aus Vaters Tagebuch wusste, im grenzenlosen Universum nur so wimmeln dürfte. Wir Menschen waren nur ein winziger Teil des immens großen Ganzen. Und dennoch war es uns innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit (was bedeuten schon einige wenige Jahrhunderte im Vergleich mit der Ewigkeit?) gelungen, mit ihnen in Konflikt zu geraten. Zumindest auf Gondwana. Keine Ahnung, wie es meiner Rasse anderswo ergangen war. Die Tatsache, von einem Vertreter einer mir fremdartigen Zivilisation sang- und klanglos verschleppt worden zu sein, stärkte mein Vertrauen in die Autorität der Menschen nicht unbedingt. In dieser Welt hier herrschten jedenfalls andere. Wenn es sich also um Vestan handelte, hatte der Mensch offensichtlich nicht mehr viel zu sagen, führten andere das Kommando. Keine angenehme Vorstellung. Das Ausmaß all dessen, was mir soeben widerfuhr, ließ sich nicht einmal ansatzweise erahnen.

Von plötzlichem Schwindelgefühl erfasst, sank ich in die Knie, die Augen ein weiteres Mal hilfesuchend nach oben gerichtet. Was erwartete ich zu sehen? Das Raumschiff etwa? Wahrscheinlich. Ich hoffte, es würde zurückkehren, mich wieder aufnehmen und nach Hause bringen.

Die milchige, totenblasse Scheibe eines riesigen Mondes spitzte zwischen den rapide dahinziehenden Wolken hindurch. Kein Zweifel, der für einen Wimpernschlag fahlrot aufleuchtende Himmelskörper lieferte den letzten Beweis, den ich benötigte. Dies war nicht mehr Gondwana. Wo auch immer man mich abgeliefert hatte, mit meinem Heimatplaneten hatte es nichts mehr zu tun.

Mutlos verharrte ich in demütiger Pose, völlig ratlos ob des weiteren Vorgehens. Die anfängliche Faszination schlug in Schwermut um. Wenn das kein böser Traum war! Keine Chance. So sehr ich mich auch an diese Hoffnung klammerte, noch war ich in der Lage, Realität und Wunschdenken auseinanderzuhalten. Und all das hier fühlte sich verdammt real an.

Was hätte Vater an meiner Stelle getan? Ich rief mir die zahllosen Abenteuer auf seiner Reise durch Gondwanaland ins Gedächtnis, welche ich mir in ebenso zahllosen Momenten in den schillerndsten Farben ausgemalt hatte. Sein Tagebuch, die Erzählung eines langen Lebens, war stets ein Quell der Inspiration gewesen, ein Ansporn, niemals aufzugeben, auch nicht in den dunkelsten Momenten zerstörerischer Selbstzweifel. Ob ich es ohne sein Vorbild geschafft hätte? Wohl kaum. Er lehrte mich, ohne ihn jemals kennengelernt zu haben, wie mit Isolation, Abgeschiedenheit und Einsamkeit umzugehen war. Meine ganze Existenz fußte praktisch darauf, so war ich aufgewachsen, nichts anderes kannte ich. Die Sehnsucht nach Meinesgleichen zog sich wie ein roter Faden durch die Tiefen meiner Existenz. Zu wissen, dass es ihm Zeit seines Lebens ähnlich ergangen war und er zu keiner Zeit aufgegeben und losgelassen hatte, sondern unermüdlich bis zum letzten Atemzug weiterkämpfte, hatte mich stets tief bewegt. Nun sah ich mich mit einer Situation konfrontiert, die er sich vermutlich immer gewünscht hatte und die doch nie eingetreten war: die Aussicht, auf andere Menschen zu treffen. Er war mutterseelenallein gestorben, abgeschnitten von den Seinen, denen er bis zuletzt unermüdlich nachgespürt hatte.

Diese Perspektive stimmte mich die entscheidende Spur zuversichtlicher. Zuversichtlich genug, um wieder aufzustehen. Vater, was hättest du jetzt gemacht? Du wärst bestimmt nicht angstvoll zusammengesunken dagesessen und hättest dich und dein Schicksal bedauert! Ganz sicher nicht! Beinahe trotzig, ja herausfordernd, blickte ich hoch. Wenn ich schon dazu verdammt worden war, auf diesem Planeten zu verweilen, dann mit der nötigen Portion Vertrauen in meine Fähigkeiten. Hier zu überleben, konnte sich nicht sonderlich von Gondwana unterscheiden.

Wie gewaltig ich mich doch irren sollte!

Dann fingen meine suchenden Augen ein spannendes Bild ein. Ich konnte mich täuschen, doch wusste ich nach wie vor, wie ein Pfad aussah. Und die dunkle Schneise, welche sich in einiger Entfernung durch die Vegetation schlängelte, erinnerte verteufelt daran.

In der Tat, ein Weg! Eher ein Trampelpfad. Angelegt und benutzt von wem? Das ließe sich herausfinden. Und schon stand die Entscheidung fest, wo es langgehen sollte. Irgendwohin musste er führen, höchstwahrscheinlich zu anderen Menschen, von deren Anwesenheit ich ja wusste. Und zu ihnen wollte ich. An Ort und Stelle Wurzeln zu schlagen, machte keinen Sinn.

Mit gebotener Vorsicht bahnte ich mir einen Weg durch den krautigen Niederwuchs, jeden Schritt mit Bedacht wählend, die fremde Sonne im Nacken. Wenigstens ihre Strahlen wärmten ebenso beruhigend wie zuhause. So vieles erinnerte an daheim. Befand ich mich am Ende doch noch auf Gondwana? Allmählich wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte.

Der festgebackene, staubtrockene Pfad, gute anderthalb Meter breit, stimmte mächtig zuversichtlich. Seine pure Anwesenheit vermittelte das tröstende Gefühl, in absehbarer Zeit an ein Ziel zu gelangen, wie dieses Ziel auch immer aussehen mochte. Immerhin erlöste es von der quälenden Vorstellung, orientierungslos durch fremdes Land zu stapfen. Hoffnung keimte auf. Sicherlich hatte man mich hier nicht ohne Grund abgeworfen. Irgendein Plan musste dahinterstecken!

Stunden vergingen. Unermüdlich setzte ich einen Fuß vor den anderen, in der festen Überzeugung, irgendwann irgendwo anzukommen. Hunger und Durst stellten sich ein, doch ignorierte ich beides geflissentlich. Mir fiel auf, bisher noch nicht das kleinste Bächlein ausfindig gemacht zu haben. Wasser musste es aber geben, die Vegetation sah jedenfalls so aus, als stünde sie gut im Saft.

Die Landschaft änderte sich nun. Das allgegenwärtige Heidekraut zog sich zurück und machte höher wachsendem Buschwerk Platz, hinter dem sich allerhand Bedrohungen verbergen konnten. Meine wenig geschärften Sinne mahnten zur Vorsicht. Auf Gondwana gab es keine Raubtiere, die einem Menschen hätten gefährlich werden können. Ich durfte nicht darauf vertrauen, dass es sich hier ähnlich verhielt.

Als ich die Menschen sah, schlug mein Herz höher. Endlich hatte ich sie gefunden! Automatisch ging ich davon aus, es hatten welche zu sein, die mit mir hier angekommen waren. Andere Möglichkeiten zog ich gar nicht erst in Betracht. Es mussten Freunde sein, letztlich befanden wir uns alle im selben Boot!

Also beschleunigte ich die Schritte, marschierte mit wild klopfendem Herzen auf die kleine Gruppe zu. Sechs Individuen! Zum ersten Mal seit so vielen Jahren stand mir etwas bevor, wovon ich Ewigkeiten lang nicht mehr zu träumen gewagt hatte.

Andere Menschen!

Meine Gedanken jagten einander. Wer waren sie? Welche Sprache würden sie sprechen? Von wo kamen sie her? Kannten sie am Ende den Grund, weswegen sie hierher gebracht wurden?

Nur mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, ihnen schon von Weitem zuzurufen. Endlich bemerkten sie mich, der ich eiligen Schrittes auf sie zu stolperte. Atemlos blieb ich stehen, um mir nur keine Einzelheit dieses kostbaren Moments entgehen zu lassen. Wir beäugten uns aus der Entfernung. Wie klein sie waren! Eine Sinnestäuschung, zweifellos!

Ich hob die Hand zum Gruß, winkte ihnen zu. Eine entsprechende Reaktion blieb aus, was mich verwunderte, jedoch bei weitem noch nicht zu so etwas wie Misstrauen veranlasste. Bewegungslos verharrten sie weiterhin an Ort und Stelle, rührten sich nicht vom Fleck, gafften mir aber nach wie vor entgegen. Unerschütterlich ging ich felsenfest davon aus, Bundesgenossen in ihnen zu finden. Also lief ich weiter auf sie zu, ein breites Lächeln der Vorfreude auf dem Gesicht. Erst als der Abstand merklich schrumpfte, kam Bewegung in die kleine Gruppe. Sie teilte sich auf. Die eine Hälfte schlug sich links des Pfades in die Büsche, die andere rechts davon.

Überrascht hielt ich erneut inne. Eine derartige Reaktion hatte ich beileibe nicht erwartet. Erstmals entfaltete sich der vage Verdacht, am Ende doch auf mir wenig wohlgesinnte Vertreter meiner Spezies zu treffen. Mir wollte jedoch nicht in den Schädel, was diese Menschen gegen mich im Schilde führen konnten. Noch nie war ich Meinesgleichen begegnet, auf Gondwana hatte es nur noch mich und meine Schwester gegeben. Nun traf ich zum ersten Mal auf andere Menschen – und sie zogen sich vor mir zurück! Hatten sie am Ende Angst? Ja, so musste es ein! Weswegen sonst sollten sie Schutz in irgendwelchen Verstecken suchen?

Dennoch warnte eine innere Stimme hartnäckig vor ihnen, was mich dazu veranlasste, meine Schritte abermals zu verlangsamen. Womöglich wäre es klüger gewesen, umzudrehen oder wenigstens nach einer Schlagwaffe Ausschau zu halten, doch wollte ich den anderen keinerlei Veranlassung geben, in mir eine Gefahr zu sehen. Verdammt nochmal, ich stand bedingungslos auf ihrer Seite, sehnte mich so schmerzhaft wie noch nie zuvor nach Kontakt, einem Austausch welcher Informationen auch immer, nach einer anderen Stimme, die zu mir sprach. All dies lag nur noch einen Steinwurf entfernt, die Erfüllung künstlich unter Verschluss gehaltener Träume zum Greifen nahe.

Und doch fühlte es sich anders an, als jemals gedacht. Zu keiner Zeit hatte ich jemals auch nur vermutet, in anderen Menschen so etwas wie eine Bedrohung zu sehen. Dies von einer Sekunde auf die andere in Betracht ziehen zu müssen, brachte mich vollends aus der Fassung.

„Hey!“ Wider alle Überzeugung schrie ich plötzlich los, der Stelle entgegen, wo ich sie bis zuletzt gesehen hatte. „Lauft nicht weg! Bleibt hier! Bitte, bleibt!“

Niemand kehrte zurück. Der Platz blieb leer. Auf der Suche nach Antworten fand ich nur eine einzig plausible: sie verstanden meine Sprache nicht, werteten mein Gebrüll vermutlich als Aggression. Am Ende war es mir wohl doch gelungen, sie endgültig zu verjagen.

Nur aus diesem Grund, der Angst, einen falschen Eindruck erweckt zu haben, nahm ich wieder Fahrt auf und rannte, jedwede Vorsicht außer Acht lassend, weiter.

Da waren sie plötzlich wieder. Zunächst sah ich nur drei von ihnen vor mir aus den Büschen herauskommen. Der Rest tauchte gänzlich unerwartet in meinem Rücken auf. Ihre ungeschlachten Bewegungen machten keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Vielmehr ging von ihnen jene Art Bedrohung aus, die ich schon von Weitem gespürt und so geflissentlich ignoriert hatte. Wenn sie zu irgendeinem Zeitpunkt in der Tat so etwas wie Furcht vor mir empfunden hatten (wovon ich nicht mehr ausging), schienen sie sie auf jeden Fall spätestens jetzt überwunden zu haben.

Zu dumm!

Jetzt war ich ihnen zu nahe gekommen, um den Rückzug anzutreten.


3

Kincaid


Von allen Seiten umzingelt, drehte ich mich bedächtig im Kreis und blickte in sechs entschlossene Gesichter. Auf zwei älteren Fratzen lag undefinierbares Grinsen, ein gieriges Gaffen, welches mir am Wenigsten zusagte. Was auch immer sie wollten, sie würden es sich nehmen. Und es konnte nicht mehr lange dauern. Jedem der sechs war ich zwar körperlich bei weitem überlegen – doch ihre Überzahl glich dieses Manko bestens aus. Meine Chancen standen schlecht.

In unverständlicher Sprache schleuderte mir einer etwas entgegen, was sich nach komplettem Blödsinn anhörte. Unwillig schüttelte ich den Kopf. „Ich verstehe kein Wort von dem was du sagst!“ hielt ich ihm scharf entgegen. „Was zum Teufel wollt ihr überhaupt?“ Ich ging nicht davon aus, verstanden zu werden. Nach allem was ich wusste, existierten Tausende verschiedener Sprachen und Dialekte unter den Menschen, es wäre vermessen gewesen, anzunehmen, jemand würde kapieren, was ich von mir gab.

„Ingarihi!“ sagte einer hinter mir, es klang triumphierend. „Schon wieder! Die fallen jetzt alle Tage vom Himmel!“

Dreckiges Gelächter. Schlagartig wurde ich mir endlich meines Fehlers bewusst. Die sechs Gestalten waren nie und nimmer mit mir zusammen hier angekommen. Nein, sie gehörten hierher, befanden sich aller Wahrscheinlichkeit nach bereits Zeit ihres Lebens auf diesem Planeten.

„Gib auf, mein Junge, es gibt kein Entkommen!“ rief mir der Erste wieder zu, allem Anschein nach der Anführer. Ich stand weiterhin da wie vom Donner gerührt.

Sie verstanden mich!

Der Typ war augenscheinlich der Älteste dieser merkwürdigen Truppe. Ich schätzte ihn auf Ende fünfzig. Sein Gesicht, übersät mit pockenartigen Narben aller Größen und Formen, sah übel aus. Der dicke Hautwulst an der Nasenwurzel trug wenig dazu bei, ihn sympathischer erscheinen zu lassen. Noch weniger der kahl rasierte Schädel, der an zwei Stellen im Stirnbereich zwei ungleiche Vertiefungen aufwies, wohl der Beweis früherer Bekanntschaft mit welcher auch immer gearteten Schlagwaffe. Die unnatürlich weit auseinanderstehenden Augen (eines blau, das andere braun oder vielleicht auch grün) nahmen ihm den letzten Rest Menschlichkeit. Mir schauderte bei seinem Anblick. Das Wurfnetz, welches er in schaufelartigen Händen hielt, bereitete mir jedoch die meisten Sorgen. Was sie damit vorhatten, konnte ich mir lebhaft ausmalen. Wenn ich mich erst einmal darin verfangen hatte, würden sie leichtes Spiel haben. Soweit wollte ich es allerdings nicht kommen lassen und beschloss, auf unbeeindruckt zu machen.

„Aufgeben? Vor wem? Vor euch?“

„Hört euch den an!“ Pockengesicht lachte dreckig. „Das nennt man dann wohl Galgenhumor. War wohl mal ein Komiker, bevor ihn die Toorags am Arsch hatten!“

„Was wollt ihr? Ich habe nichts, wie ihr ja wohl deutlich sehen könnt. Also macht, dass ihr wegkommt und lasst mich in Frieden!“

„Ich rate dir, keinen Widerstand zu leisten. Wäre doch schade um dich, wenn du uns zwingst, Gewalt anzuwenden. Unverletzt kriegen wir dich viel besser los. Also, du hast die Wahl!“

Worauf zielte er ab? Wo planten sie, mich loszuwerden? Ich verstand kein Wort. Noch nicht. „Ihr könnt’s ja mal versuchen.“ Ich hoffte, mein verächtliches Grinsen wirkte überlegen genug. Tat es aber nicht. Mit einer beinahe unmerklichen Bewegung aus dem Handgelenk heraus schnellte das Netz in die Höhe und auf mich zu. Beide Arme hochreißend, versuchte ich es aufzuhalten, irgendwie abzuwehren, doch gelang es nicht. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war ich darin gefangen. Nicht nur das Netz zog sich damit zu, sondern auch der Ring meiner Gegner. Sie fielen gleichzeitig über mich her, von allen Seiten. Einem, dem weitaus Jüngsten, gelang es mir trotz des einengenden Netzes einen Fausthieb in die Visage zu verpassen, bevor ich unter dem Gewicht von fünf Körpern in die Knie ging. Mit einem Wutschrei bäumte ich mich jedoch wieder auf und schüttelte zwei Widersacher ab. Jedoch bedeutete dies nur einen kleinen Aufschub. Vielleicht hätte ich ohne Netz eine Chance gehabt. So aber war ich zu sehr behindert, um einen wirkungsvollen Gegenangriff zu starten. Schon hingen sie wieder tonnenschwer an mir und zerrten mich unnachgiebig zu Boden. Bemerkenswerterweise schlugen sie nicht auf mich ein, sie versuchten vielmehr, mich unter ihrem Gewicht kampfunfähig zu machen. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen und schleuderte noch einmal einen von mir herunter, bevor meine Verteidigung zusammenbrach und ich mich heillos in diesem verfluchten Netz verstrickte.

„Ja, kämpfe nur dagegen an, das nützt dir zwar nichts, aber es wird deinen Preis steigern.“ Die keuchende Stimme des Alten direkt an meinem rechten Ohr vernahm ich zwar laut und deutlich, verstand aber den Sinn hinter seinen Worten nicht. Von welchem Preis faselte er da? Als ich ihre Anstrengungen bemerkte, mir durch das Netz hindurch die Arme zusammenbinden zu wollen, warf ich mich ein weiteres Mal wie wild hin und her, schrie und tobte, und erreichte doch gar nichts. Schwer atmend lag ich begraben unter sechs Körpern und hätte vor Wut und Hilflosigkeit heulen mögen. Sie durften mich nicht kampfunfähig machen, durften mir nicht die Arme oder Beine fesseln, ich musste…

Völlig überraschend kam wieder Bewegung in die Sache. Ich vernahm das dumpfe Klatschen roher Fäuste, Schmerzensschreie und Kampfgetümmel. Das erdrückende Gewicht auf mir nahm spürbar ab. Diesen Umstand ausnutzend, begehrte ich erneut auf, kam auf die Füße, stürzte noch immer im Netz gefangen gegen zwei meiner Gegner und riss sie mit zu Boden. Noch im Fallen begriffen, bearbeitete ich sie mit den Fäusten, schlug hemmungslos auf sie ein, hörte mich dabei wie ein wildes Raubtier brüllen.

Dann war es vorbei. Noch während ich damit beschäftigt war, aus dem Netz herauszufinden, sah ich meine Kontrahenten Hals über Kopf in alle Himmelsrichtungen fliehen. Nur noch einer stand in unmittelbarer Nähe, doch konnte er mir nicht mehr sonderlich gefährlich werden. Ich war das Netz los, schleuderte es achtlos fort, bereit, den letzten verbliebenen Gegner zu attackieren. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Person vor mir nicht Teil der Räuberbande gewesen war.

Vor mir stand ein Fremdling, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Er trug eine fellartige, zottige Jacke über dem ansonsten nackten Oberkörper, die mit der ebenso zottigen Mähne verwachsen zu sein schien, die ihm unkontrolliert aus der Kopfhaut wuchs. Auch die Beine steckten in einer der Jacke ähnlichen Fellhose von jedoch dunklerer Färbung.

Wir sahen einander an. Warum auch immer er sich für mich eingesetzt hatte, entzog sich meiner Kenntnis. Er hatte durchaus sein Leben aufs Spiel gesetzt, dessen war ich mir unzweifelhaft bewusst. Ein gewagtes Spiel. Trotz der geringen Größe strahlte er eine Entschlossenheit aus, die jeden körperlich Überlegenen zweimal nachdenken ließ, bevor er den Kampf aufnahm.

„Ich danke dir“, sagte ich und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Jack. Jack Schilt.“

Ohne ein Wort ergriff er sie und drückte zu. Einen derart kräftigen Händedruck hätte ich ihm niemals zugetraut. „Du kannst mich Kincaid nennen“, stellte er sich schließlich vor. Unsere Hände lösten sich wieder. „Und ich rate dir, solche Begegnungen wie eben künftig zu vermeiden. Ich kann dir nicht immer zur Seite stehen, wenn es haarig wird.“ Und um es zu unterstreichen, strich er seine prächtige Haarmähne nach hinten und knöpfte danach die im Kampf aufgerissene Jacke wieder zu.

Ich lächelte unsicher. „Wie kommt es, dass du meine Sprache sprichst?“

„Viele hier sprechen Ingarihi. Dein Akzent ist mir jedoch neu. Woher kommst du?“

„Von Gondwana.“

Blanker Gesichtsausdruck. „Nie gehört. Wo ist das?“

Nun war es an mir, dümmlich zu gucken. Ja, wo lag Gondwana eigentlich? Ich erinnerte mich einer Passage aus dem Tagebuch meines Vaters. „Im Pagodennebel?“

„Aber sicher bist du dir nicht“, meinte Kincaid skeptisch.

„Da hast du nicht ganz unrecht. Gondwana muss einer der entferntesten Außenposten menschlicher Besiedlungsträume gewesen sein. Ich bin einer der letzten Nachfahren einer Expedition, die vor knapp tausend Jahren von Vestan aus aufgebrochen ist.“

„Von Vestan? Nicht ungewöhnlich. Viele hier sind ehemalige Vestaner. Du bist also ein echter Exot. Kommst aus einer Kolonie, von der ich noch nie etwas hörte. Sieht aus, als wäre dort Riesenwuchs üblich.“ Ganz klar, Kincaid glaubte kein Wort. Es war mir herzlich egal. „Ich rate dir, dich künftig etwas unauffälliger zu… naja, sagen wir zu kleiden.“ Sein geringschätziger Blick wanderte an meinem wenig bedeckten Körper herunter. „So wie du rumläufst, weckst du zweifelhafte Begierden, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.“

Ich verstand nicht.

„Hier herrscht akuter Frauenmangel“, eröffnete Kincaid und erwartete allem Anschein, dass mir nun ein Licht aufginge. Als dies offensichtlich nicht der Fall war, legte er nach. „Not macht erfinderisch, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Ein junger Kerl wie du, mit deiner Größe, deinem Körperbau und deinem dümmlichen Jungengesicht gerät hier schnell unter die Räder, noch dazu wenn er beinahe nackt herumspaziert. Drücke ich mich klar genug aus?“

„Wen nennst du einen dümmlichen Jungen?“ Den Ausdruck nahm ich ihm übel. Doch schien er den Grund des Überfalls zu ahnen, welcher mich brennend interessierte. Trug ich am Ende wohl doch selbst schuld daran?

„Na dich, oder siehst du sonst noch jemanden, auf den diese Beschreibung passt? Pass auf, ich sag es dir nur einmal: Frisches Fleisch ist auf Sahul heiß begehrt. Da es so gut wie keine Frauen gibt, stehen junge Kerle wie du hoch im Kurs. Noch dazu wenn sie Buangan, also rechtlos, sind.“

Sahul?

„Du meinst…? Du meinst diese Typen waren… waren hinter meinem Körper her?“ Was um alles in der Welt gab es damit anzufangen? Arglos wie ich damals noch war, wollte mir beim besten Willen nicht einfallen, welche Gefahren auf diesem fremden Planeten lauerten. Kein Wunder. Ich hatte schlicht und einfach nicht die geringste Ahnung. Wenn ich heute zurückblicke auf diese erste Zeit auf Sahul, war es ein kleines Wunder, noch am Leben gewesen zu sein.

„Die vielleicht nicht, aber sie wussten eventuell, wo sie einen Fang wie dich in bare Münze verwandeln können.“

Münze… Ein anderes Wort für Zahlungsmittel, wie ich mir ins Gedächtnis rief. Auf Gondwana hatte es einst Münzen gegeben, soviel wusste ich aus Vaters Tagebuch. Dieser Kincaid schien der Auffassung zu sein, dass ich, würde ich in die Gewalt jener Tagediebe geraten sein, für Geld auf die eine oder andere Art weiterverschoben worden wäre.

„Ich sehe, du begreifst die Zusammenhänge.“

„Nicht wirklich.“ Ich musste ihn so unterbelichtet angesehen haben, ich fühlte mich augenblicklich wie der dümmliche Junge, der ich soeben genannt worden war. Etwas in mir verlangte dringend nach einem Themenwechsel. „Aber sag, was verschlägt dich hierher? Nach Sahul? Von dieser Welt habe ich genauso wenig gehört wie du von meiner.“

„Ist das wahr?“ Kincaid lächelte spöttisch. Ich war mir nicht klar, wie ich es auszulegen hatte. „Wenn du die Wahrheit sprichst, bist du nicht nur ein stupider Exot sondern auch noch ein Ignorant dazu. Diese Mischung ist bei den Buangan nicht sehr beliebt.“

„Buangan?“ Wieder dieses Wort. Ich zuckte mit den Achseln.

„Du hast echt keinen Schimmer, richtig? Lass dir das nicht anmerken. Du bist hier schon Bodensatz. Aber niemand möchte noch tiefer sinken als Bodensatz. Nun ja, deine körperliche Größe wird dich fürs Erste schützen. Fürs Erste!“

„Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber gibt es hier nur Zwerge? Ich komme mir wirklich langsam wie ein Exot vor.“

Kincaid grinste. „Es wäre für dich besser, zu den Zwergen zu gehören. Sie stellen auf Sahul die krasse Mehrheit. Somit bist du derjenige, der aus dem Rahmen fällt. Und alles was aus dem Rahmen fällt, hat es nicht unbedingt leichter. Wie lange bist du schon hier? Lange kann es jedenfalls nicht sein.“

„Ein paar Stunden vielleicht.“

„Haben sie also mal wieder welche gefunden. Irgendwann müssen sie doch endlich alle zusammenhaben.“

Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte, entnahm den Worten jedoch, dass sein Wissen dem meinem weit voraus war. Zielsicher ging ich davon aus, in ihm ebenfalls jemanden gefunden zu haben, der sich ebenso wenig freiwillig hier aufhielt.

„Erzähl von dir!“ ermunterte ich ihn. „Was verschlägt dich hierher?“

Wenn er denn misstrauisch war, ließ sich Kincaid wenig anmerken. Bereitwillig gab er Auskunft. „Ich war auf Kalaipa im Widerstand und geriet dort in Gefangenschaft der Toorags, die mich hierher verschleppten. Dir wird es kaum anders ergangen sein, sonst wärst du nicht hier. Seit über einem Jahr bin ich nun wieder auf diesem Scheißplaneten, auf dem ich einst geboren wurde. Lang, lang ist’s her.“

Toorags?

„Du stammst von hier?“ fragte ich, verzweifelt versuchend, eins und eins zusammenzuzählen. „Diese Welt, ihr nennt sie Sahul, richtig?“

Kincaid nickte.

„Sahul ist demnach von Menschen besiedelt gewesen, bevor jene Toorags die Macht übernahmen?“

Kincaid beäugte mich einen Moment argwöhnisch, bevor er beschloss, mir endgültig den Status eines Vollidioten einzuräumen. „Sahul, oder ‚Selao‘, wie ihn die Toorags nennen, war einst das Zentrum der menschlichen Zivilisation, wenn du diesen Begriff gestattest. Menschen haben mit Zivilisation ja nur noch wenig zu schaffen. Jedenfalls seit sie beschlossen hatten, Eroberer zu spielen. Nun ja, sieh‘ selbst wohin dies geführt hat. Wir haben alles verloren, die Toorags alles gewonnen.“

„Die Menschen haben alles verloren? Wie darf ich das verstehen?“

„Genauso, wie ich es sagte. Die Toorags sind die Herren, wir der Abschaum, den sie nach Belieben treten. Und nicht unverdient. Immerhin haben wir alles getan, damit sie uns bis in alle Ewigkeit hassen.“

„Was ist mit Vestan? Vestan muss auch einmal von Menschen besiedelt gewesen sein. Sitzen dort auch diese Toorags?“

„Sie sitzen überall. Hier, auf Vestan, auf Orwin, Kalaipa, auf Siankai und so weiter. Sie sind überall.“

„Seit neuestem sind sie offensichtlich auch auf Gondwana. Sonst wäre ich nicht hier.“

„Gondwana im Pagodennebel?“ Kincaid lachte, nicht unsympathisch wie ich fand.

„Ja, genau. Du glaubst mir nicht, oder?“

Kincaid grinste und zog die Schultern hoch. „Was für einen Unterschied macht es, ob ich dir glaube oder nicht? Wir sitzen im selben Boot, egal ob du von Gondwana oder aus Wolkenkuckucksheim kommst. Du siehst jedenfalls fremdartig genug aus, um von deinem Gondwana zu stammen. Wie viele von euch gab es denn noch, bevor die Toorags eingefallen sind?“

Ich sah keinen Grund, ihm etwas zu verheimlichen. „Nur noch zwei.“

„Zwei? Woher weißt du das so genau? Bist du so eine Art beschissener Hellseher?“

„Ich weiß es. Es gibt nur noch einen einzigen weiteren Menschen auf Gondwana. Falls die Toorags sie dort gelassen haben. Meine Schwester.“

„Du hast eine Schwester?“ Kincaids Augen fielen fast aus den Höhlen. „Dann hoffe ich für dich, die Toorags haben sie nicht auch in ihre schmierigen Finger bekommen.“

„Wie meinst du das?“ Die Angst um Ylvie erhielt neue Nahrung.

„Frauen sind mehr als nur Mangelware. Nicht nur hier, soviel ich weiß. Deswegen solltest du meinen Rat befolgen und dich entsprechend bedecken. Deine Muskeln schützen dich vielleicht vor weiteren Überfällen, aber sie sind auch gleichzeitig dein Schwachpunkt. Sie derart zur Schau zu stellen, ist mehr als leichtsinnig. Das wäre genauso, als würde eine Frau mit nackten Brüsten hier umherziehen. Die käme nicht weit. Okay, ich gebe zu, sie käme auch hochgeschlossen gekleidet nicht sehr weit.“

Mir dämmerte etwas. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht einschätzen, wie ich auf andere Menschen wirkte. Kein Wunder, ich hatte Jahrzehnte ohne Meinesgleichen verbracht. Es gab also Menschen, die mich aufgrund meiner äußerlichen Erscheinung in ihre Gewalt bringen wollten – aber um was mit mir zu tun? Ich begriff es nicht. Sexuelles Handeln war noch ein Fremdwort für mich, meine sexuelle Identität komplett unterentwickelt. Heute schreibe ich meinen damaligen Zustand dem Sentry zu. Wozu hätte ich auf einem entvölkerten Planeten wie Gondwana Sexualität entwickeln sollen? Es war mir ohne sie besser ergangen. Doch jetzt befand ich mich in einer Welt voller Menschen. Die Voraussetzungen hatten sich ganz und gar verändert. Und mit ihnen veränderte ich mich. Bald sollte auch mein Verlangen erwachen – und den weiteren Verlauf meines Lebens entscheidend beeinflussen.

„Warum gibt es hier keine Frauen?“ fragte ich so harmlos wie möglich.

„Die Toorags haben kein Interesse am Fortbestand der menschlichen Rasse. Auf Sahul gibt es meines Wissens nur wenige Frauen. Man vermutet, sie haben die meisten nach Rantao gebracht.“

„Rantao? Wo ist das denn?“

Kincaid lachte laut auf. „Okay, jetzt glaube ich dir. Du bist wirklich der dümmste Mensch, der mir je untergekommen ist. Das kann keiner vortäuschen und ich würde es nicht merken. Du siehst nicht nur wie ein bescheuerter Außerirdischer aus, du…“

„Nun mal langsam!“ unterbrach ich ihn. „Kein Grund, beleidigend zu werden! Dein Zwergenwuchs allein ist kein Anlass, dir nicht eine zu scheuern.“

Einen Moment lang sah es so aus, als kippte Kincaids Stimmung. Auch wenn meine Bemerkung eher scherzhafter Natur war, sie schien ihm nicht zu schmecken. Lag es daran, dass ich in seiner Schuld stand? Ließ ich es an Respekt mangeln? Doch entspannte er sich schnell wieder, nicht jedoch ohne eine weitere Warnung auszusprechen.

„Dein loses Mundwerk wirst du hier schnell gestopft bekommen, kannst es wohl kaum erwarten, wie?“

„Beruhig dich einfach wieder“, schlug ich augenzwinkernd vor. „Erzähl mir mehr von hier, von Sahul. Wer sind diese Buangan, von denen du sprachst?“

Kincaid betrachtete mich abschätzend. Meine freundlichen Gesten ließen ihn kalt. „Glaubst du, ich bin von der Heilsarmee?“

„Hey, du wirst doch einen bescheuerten Außerirdischen nicht unwissend sterben lassen wollen? Ich bin erst wenige Stunden hier und kann einen Freund gebrauchen.“

„Wie kommst du darauf, du seist ein Freund von mir? Nur weil ich soeben deinen Arsch gerettet habe?“

„Ein wenig schon. Oder rettest du einfach so jedermanns Arsch?“ Ich grinste ihn an. Er war der erste Mensch seit Jahrzehnten, mit dem ich ein vernünftiges Gespräch führte. Ich konnte es immer noch nicht glauben! Es war wie ein Wunder, auch wenn die Umstände unseres Zusammentreffens wenig erfreulich waren.

Kincaids aggressive Fassade bröckelte, wie ich freudig zur Kenntnis nahm. „Was willst du wissen?“ Er wusste, wie sträflich unwissend ich war, welche Informationen ich benötigte, um auf Sahul nicht sofort „unter die Räder zu kommen“, wie er es genannt hatte.

Ich zuckte hilflos mit den Achseln. „Alles. Ich weiß nichts von hier. Bis eben wusste ich nicht einmal, auf welchem Planeten ich verfrachtet worden bin.“

„Ist mir noch gar nicht aufgefallen“, spottete Kincaid, doch lag keine Ablehnung mehr in seiner Stimme. „Himmel, auf was habe ich mich da nur eingelassen? Warum musste ich mich einmischen? Womöglich wäre dir die harte Schule besser bekommen.“ Mein verständnisloser Blick gab ihm den Rest. Noch einen Moment haderte er mit sich selbst, dann fasste er einen Entschluss. „Okay, du stupider Exot, jetzt pass mal auf: Wenn du mir gleichgültig wärst, würde ich dich eiskalt stehenlassen, ja, eiskalt hörst du, und keine weitere Sekunde mehr an dich denken. Aber irgendwie – und frag mich bloß nicht warum – bist du mir eben nicht völlig gleichgültig. Ich muss verrückt sein. Komplett derangiert.“

Nachdenklich geworden kratzte er sich am Hinterkopf und betrachtete mich kopfschüttelnd. Noch einmal zögerte er, biss sich wie abwesend auf die Unterlippe und setzte dann einen Gesichtsausdruck auf, der wohl Entschlossenheit demonstrieren sollte.

„Komm mit! In ein paar Stunden wird es dunkel sein. Hier sind weder du noch ich sicher.“ Er wandte sich ohne ein weiteres Wort um und marschierte eiligen Schrittes vondannen.

Noch war ich nicht überzeugt davon, ihm folgen zu wollen. „Wohin gehst du?“ rief ich ihm hinterher, ohne mich von der Stelle zu rühren.

„Nach Stohal. Komm jetzt, du Sohn eines schwachsinnigen Esels, bevor ich es mir überlege, oder willst du die Nacht allein hier draußen verbringen? Nun ja, allein wirst du nicht lange bleiben, es laufen genug Schacherer herum, die nur darauf warten, einen grünen Bengel wie dich zu Geld zu machen. Willst du das? Willst du herausfinden, was es bedeutet, in ihre Hände zu fallen? Wenn du Glück hast, verscheuern sie dich, ohne vorher eine Kostprobe von dir zu nehmen. Kann ich mir aber nicht vorstellen. Du bist einfach zu sehr die Idealvorstellung von Frischfleisch. Und wie sehr sie es genießen werden, dir weh zu tun. Sie werden geradezu danach lechzen.“

Ein Schauer lief meinen Rücken hinunter. Kannibalismus, schoss es mir durch den Kopf. Das ist es also, um was es ging. Automatisch setzte ich mich in Bewegung, zumal ich mir nun in den schlimmsten Farben ausmalte, was mich erwartete, fiele ich tatsächlich in „deren“ Hände. Noch immer hatte ich keinen Schimmer davon, was Kincaid wirklich meinte. Ich war grüner als der grünste Bengel, dem er je begegnet war.


4

Stohal


Stohal war die dreckigste, heruntergekommenste Siedlung, die ich je betreten sollte. Zu dieser Zeit verfügte ich über wenig Ahnung, wie andere Orte auf Sahul aussahen und sah mich zunächst außerstande, eine Wertung abzugeben. Umso vernichtender fällt mein Urteil im Rückblick aus. Einige Dutzend aus Brettern und Wellblech zusammengezimmerte Verschläge, die sie hier Hütten nannten, bildeten den Kern der sogenannten Siedlung. Sie standen Wand an Wand, eines am anderen, als wären sie alle aneinander genagelt. Bevor wir die Siedlung auch nur annähernd erreichten, fiel mir etwas anderes auf: beißender, schier unerträglicher Geruch, der von den Buden herüber wehte. Der Gestank menschlicher Ausscheidungen, ein Mief, der mich verfolgte, seit ich Sahul so unfreiwillig betreten hatte.

„Willkommen in Stohal“, sagte Kincaid trocken, als er mein grimmiges Gesicht sah. „Es riecht nicht wie April in Paris, aber das ist nicht wichtig.“

Paris? Der Name eines weiteren, mir unbekannten Planeten, wie ich vermutete. Es musste geradezu von ihnen wimmeln!

„Wichtiger ist der Zusammenhalt, den du hier findest“, fuhr Kincaid unbeeindruckt meines angewiderten Gesichtsausdrucks fort. „Wir sind hier knapp eintausend Menschen, Männer, um genau zu sein. Frauen gibt es nicht. Und wenn es eine gäbe… nun ja, es gäbe sie wohl nicht lange. Wie dem auch sei, wir überleben, weil wir zusammenhalten. Auf Buangan gibt es viele solcher Siedlungen wie die unsere.“

„Sehen die anderen auch so übel aus?“ Ich konnte meinen Missmut nicht unterdrücken.

„Ja, ähnlich“, räumte Kincaid ein. „Kein Vergleich zu früher, als diese verfluchte Insel noch Xamana hieß und Teil der Republik Stromstad war. Das ist ein paar Jahrzehnte her. Als die Toorags durch waren, stand kein Stein mehr auf dem anderen. Jetzt benutzen sie unsere Insel als Abladeplatz für Neuankömmlinge wie zum Beispiel dich. Was immer sie draußen in den Weiten des Alls an menschlichem Müll aufgabeln, schließlich und endlich landet er hier auf unserer Insel.“

Interessant. In einem Satz schimpfte er Buangan eine verfluchte Insel und dann gleich danach nannte er sie beinahe liebevoll „unsere“ Insel. Der Widerspruch darin machte deutlich, wie wenig ich noch von Buangan und seinen Bewohnern wusste.

„Und wieso ausgerechnet hier? Gibt es…“ Ich sah mich gezwungen, mitten im Satz abzubrechen und mir die Nase zuzuhalten. Wir standen an einem schmalen Kanal, vielleicht einen halben Meter breit, der direkt aus der Siedlung zu kommen schien. Ich musste nicht hineinblicken, um zu wissen, was ich vor mir hatte. Es stank bestialisch.

„Daran gewöhnst du dich schnell.“ Kincaid klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Sei froh, dass wir so etwas haben. In andern Dörfern gibt es keine Latrinen, was denkst du, wie es da aussieht? Es wird gleich besser werden, wir haben vorherrschend Nordwinde, der Wind bläst den Duft von Stohal fort.“

Und so war es auch. Nachdem wir den Kanal überquert hatten, roch es wieder erträglich. Die zwei schwarzen Tierkadaver, die wir passierten, von denen einer bereits mumifiziert aussah, schienen geruchsbedingt das Latrinenstadium bereits weit hinter sich zu haben.

„Was für Tiere waren das?“ fragte ich auf das Aas deutend.

„Ziegen“, antwortete Kincaid.

„Noch nie gehört. Sind die essbar?“

„Klar. Von welchen Viechern habt ihr euch denn auf eurem Gondwana ernährt?“

„Na, von Golbats, Skirrets, Kaptagavas oder auch gelegentlich mal einem Moa. Die waren jedoch sehr selten und immer wenn ich mal einen erlegt hatte, überkam mich das Gefühl, den letzten seiner Art zu Fall gebracht zu haben.“ Der Gedanke an Zuhause schmerzte. Wie sehr ich mir wünschte, wieder auf Evu zu sein, meiner Insel, die immer weniger Gemeinsamkeiten mit Buangan aufwies. Heimweh erwachte. Dabei befand ich mich erst seit ein paar lächerlichen Stunden auf Sahul.

„Fabelwesen“, murmelte Kincaid verächtlich. „Hier haben wir nur Ziegen und Schweine. Ein paar Kühe auch, aber die werden immer weniger, verenden an merkwürdigen Krankheiten. Wir wagen es schon gar nicht mehr, ihre Milch zu trinken. Bald wird es keine mehr geben.“

Wir näherten uns den ersten Verschlägen, aus denen hier und da Augen zwischen notdürftig vernagelten Brettern hervor lugten. Vorsichtig, beinahe ängstlich, blickten mir die ersten Bewohner Stohals entgegen. Zu Gesicht bekam ich sie jedoch nicht, sie hielten sich zurück. Schreckte sie meine Größe oder verhielten sie sich stets so bedächtig? Kincaid bemerkte meinen angespannten Blick und lächelte beruhigend.

„Keine Angst, das sind auch Neuankömmlinge wie du, die fürs Erste Unterschlupf suchen. Wer neu ist, findet, wenn überhaupt, nur an den Rändern der Siedlung Platz. Hier ist naturgemäß die Gefahr am größten, wenn Jäger oder Schacherer mal wieder die Gegend unsicher machen. Dann sind die Außenposten die ersten, die mit ihnen in Kontakt kommen. Da kann es schon mal Tote geben. Aber Stohal ist zu klein, um wirklich interessant zu sein. Da gibt es lohnendere Ziele. Neuankömmlinge genießen wenige Rechte und haben auch keinen Zugang zum Zentrum der Siedlung.“

Ich ging nicht weiter darauf ein, warum hier hin und wieder jene Jäger einfielen. Wahrscheinlich waren sie auch hinter den Körpern anderer Menschen her, so wie diejenigen, die mich vor kurzem angegriffen hatten. Mir lag eine andere Frage auf der Zunge.

„Wenn Neuankömmlinge keinen Zugang zum Zentrum haben, wieso dann ich?“ Zweifellos befanden wir uns auf dem Weg dorthin. Ein gut und gern zwei Körperlängen hoher Zaun aus unzähligen zusammengenagelten Brettern oder Teilen davon versperrte schließlich den Weiterweg. Er zog sich wie ein schützender Ring um das komplette Innere Stohals, wie ich noch erfahren sollte. Nur an wenigen Stellen gab es Durchlässe, die den Weiterweg in den Siedlungskern ermöglichten. Dort hielten verbissen dreinblickende junge Männer Wache. Zwei davon traten uns entgegen. Sie konnten nicht älter als zwanzig sein. In den Händen hielten sie hölzerne Speere. Lächerliche Waffen, wie ich fand. Als sie mich sahen, fielen ihnen beinahe die Augen aus dem Kopf.

„Weil du in meiner Begleitung bist, als mein Gast. Das geht für eine gewisse Zeit in Ordnung“, gab Kincaid knapp zur Antwort. Wir passierten die beiden Wachen. Sie machten keine Anstalten, mich zu attackieren, wirkten aber, als würden sie keine Sekunde zögern, sollte ich ihnen Anlass dazu geben. Was sie getan hätten, wäre Kincaid nicht an meiner Seite gewesen, konnte ich mir lebhaft vorstellen.

„Du kommst hier rein, weil ich für dich bürge“, sagte Kincaid mit nur leicht kaschiertem Stolz in der Stimme. Er wog etwas in dieser Gemeinschaft, so viel stand fest. Ich stand unter seinem Schutz, auch wenn es mir unangenehm war. Doch beschloss ich, diesen glücklichen Umstand zunächst widerspruchslos hinzunehmen. Kurz darauf war ich mir ob dieses Umstands nicht mehr ganz so sicher.

Die Begegnungen mit anderen Bewohnern des Zentrums nahmen nun zu. Sie sahen alle mehr oder weniger verwahrlost aus, armselig, schmutzig, viele nur in Lumpen gehüllt. Ich trug auch nicht viel mehr am Körper als sie, doch stach ich heraus wie der sprichwörtliche Schwan unter Enten. Ausnahmslos alle gafften mich an, als könnten sie nicht glauben, was sie sahen. Wie musste ich auf sie wirken? Bedrohlich? Ich überragte alle bei weitem, kam mir vor wie ein Riese unter Zwergen. Doch es war nicht nur das. Im Gegensatz zu ihnen sah ich gesund und kräftig aus, lebendig und voller Energie. Zu meinem Entsetzen begegneten mir welche mit Beinen so dick wie ihre Körper. Sie konnten kaum laufen und stützten sich gegenseitig. In ihren aschfahlen Gesichtern hatten sie dunkle, bösartig aussehende Flecken. Sie wirkten nicht nur todkrank, sie mussten es auch sein. Kincaid schien in meinen Gedanken wie in einem offenen Buch zu lesen.

„Üble Krankheit, sie heißt Mastodiase“, erklärte er. „Wir wissen nicht genau, wie sie entsteht, vermutlich aber durch Fadenwürmer, wahrscheinlich von den Toorags eingeschleppt. Immerhin ist es nicht ansteckend, sonst wären diese Typen längst nicht mehr unter uns.“

„Wie sieht das Endstadium dieser Krankheit aus?“ erkundigte ich mich, den bestürzten Blick immer noch an die monströsen Beine geheftet.

„Das ist bereits das Endstadium. Die leben nicht mehr lange. Ja, wir sind ein übler Haufen“, sagte er ohne mich anzublicken. „Dort vorne ist meine bescheidene Hütte.“

Viel hatte ich nicht erwartet und wurde auch nicht enttäuscht. Kincaids „Hütte“ sah keinen Deut besser aus als die anderen Stallungen, die diese Siedlung bildeten. Ein mottenzerfressenes Tierfell hing vor dem Eingang. Er schob es zur Seite. Augenblicklich sprang ein schwarzbehaartes Tier mit Hörnern auf dem dreieckig geformten Kopf heraus. Zwei weitere folgten sogleich. Die Ziegen fühlten sich allem Anschein nach in ihrer Ruhe gestört und meckerten unzufrieden. Kincaid versetzte einer davon einen Tritt in den Hintern. Daraufhin flohen alle drei im Galopp, eine Staubwolke hinter sich herziehend.

„Mistviecher“, schimpfte Kincaid. „Irgendwie schaffen sie es doch immer. Tagsüber lassen wir die Tiere draußen. Nachts allerdings nicht. Da ist es sicherer in der Hütte.“

Ich kannte keine Tierhaltung, auf Evu erlegte und erntete ich, was ich für den täglichen Bedarf benötigte. Hier liefen die Uhren offenbar anders. Ich fragte nicht nach, warum es für das Vieh nachts draußen nicht sicher war. Auf Fragen wie diese würde ich bestimmt bei Gelegenheit noch Antworten bekommen.

Von innen sah Kincaids bescheidenes Heim auch nicht vielversprechender aus. In der hinteren Ecke, am weitesten vom Eingang entfernt, befand sich seine Bettstatt. Sie bestand lediglich aus ein paar alten, höchstwahr-scheinlich mit Stroh gefüllten Säcken. Davor stand ein niedriger Tisch, der bei näherer Betrachtung fein gearbeitet aussah und nicht in diese Umgebung passte. Ein Hocker. Daneben eine Art Truhe. Auf dem blanken Lehmboden verteilt lagen wahllos die unterschiedlichsten Dinge, welche ich mich auf den ersten Blick nicht zu identifizieren in der Lage sah. Kincaid grinste, als er mein kritisches Gesicht sah.

„Der Herr ist wohl Besseres gewohnt“, spottete er und ging hinein. Ich folgte. Das Tierfell fiel wieder an seinen Platz. Im schattigen Halbdunkel sah ich Kincaids Zähne blitzen. „Heute Nacht wirst du froh sein, nicht da draußen irgendwo im Busch pennen zu müssen, das kannst du mir glauben. Aber gewöhne dich nicht daran! Meine Gastfreundschaft ist begrenzt. Morgen musst du dich selbst nach einer Bleibe umsehen oder weiterziehen.“

Ich nickte. Mein Verlangen, mich in Stohal niederzulassen, war ohnehin gering. Ich ließ noch einen Moment verstreichen und nahm dann im Schneidersitz auf dem festgetretenen Boden Platz. „Gut, jetzt sind wir hier. Lass uns reden.“

„Einen Augenblick! Du bist mein Gast, ja? Ich, als dein Gastgeber, habe gewisse Pflichten, okay?“

Ich sah ihn blank an.

Er schüttelte den Kopf ob meiner Begriffsstutzigkeit. „Mann, du bist echt das unterbelichtetste Exemplar Mensch, das mir je unter die Augen getreten ist. Durst? Hunger?“

Ich zuckte unsicher mit den Achseln. „Wenn du mich so fragst, ich sterbe vor Hunger.“

„Na dann.“ Kincaid klappte den Deckel der Truhe zurück. Darin befanden sich offensichtlich seine Nahrungsvorräte, denn im nächsten Moment hielt er mir einen Napf unter die Nase. „Riech mal! Gibt’s hier nicht oft.“

Ich schnupperte. Eindeutig Fleisch. Der Geruch allerdings verwirrte mich. Es roch nach verkohltem Holz. Egal. Mein Magen knurrte zu sehr, um wählerisch zu sein.

„Kitzfleisch“, verkündete Kincaid gönnerhaft. „Heißgeräuchert. Brüderlich geteilt.“ Mit den Fingern riss er das Stück in zwei Teile und hielt mir meinen Anteil, das eindeutig kleinere Stück, hin. Wann hatte ich zuletzt Nahrung aufgenommen? Ich beobachtete meinen Gastgeber einen Augenblick lang. Er versenkte seine Zähne in das helle Fleisch, riss wie ein Raubtier ein großes Stück heraus und kaute genüsslich. Dann sah er mich an.

„Iss schon!“ forderte er mich kauend auf. „So groß kann dein Hunger gar nicht sein.“

„Du hast keine Ahnung.“ Mein Appetit war riesig. Und der kleine Brocken bei weitem zu wenig, um ihn zu stillen. Endlich biss ich hinein. In der Tat konnte ich mich nicht an den Tag erinnern, an dem mir etwas Schmackhafteres zuteil geworden war. Das würzige Aroma des feinfaserigen Fleisches ließ mein Herz höher schlagen. Ich nickte Kincaid anerkennend zu, der wissend grinste. „Dein Stohal wird mir langsam sympathisch. Was für Fleisch ist das? Und wie bereitest du es zu?“

„Junge Ziege“, antwortete Kincaid bereitwillig. „Ich glaube allerdings nicht, dass wir hier zusammensitzen, um Kochrezepte auszutauschen, habe ich recht?“

Mein Lächeln fiel sehr breit aus. „Darauf kannst du wetten.“

„Also, frag mich! Noch bin ich in Laune. Was willst du wissen?“

Mir brannten tausende Fragen auf den Lippen. Aber wo anfangen? „Wer oder was genau sind die Buangan?“ Wie es aussah, war ich jetzt ein Teil von ihnen. Also wollte ich genauer wissen, was es damit auf sich hatte.

Kincaid ließ sich mit der Antwort Zeit und kaute erst einmal weiter. „Alle Neuankömmlinge sind zunächst Buangan“, eröffnete er mit endlich. „Das ist ein anderes Wort für Ausschuss, Abfall, Dreck. Die Toorags finden offensichtlich Gefallen daran, ihre Umsiedler ausnahmslos hier abzulassen. Ergo sind alle erst einmal Buangan. Darauf kann man stolz sein oder nicht.“ Er lachte sarkastisch. „Deine Startchancen sind nicht die besten. Entweder du dienst dich nach oben oder bleibst ganz unten. Die meisten bleiben ganz unten. Alt wirst du dann jedenfalls nicht.“

Ich betrachtete ihn mit neutralem Gesichtsausdruck. Wollte er mir Angst machen? „Ich bin also jetzt ganz unten. Gut, damit kann ich leben. Wie dient man sich denn nach oben?“

Kincaid lächelte unergründlich. „Du möchtest also nach oben?“

Wieder zuckte ich mit den Achseln. „Wenn es mir nützt?“

„Also pass auf!“ Kincaid beendete seine Mahlzeit, schob den leeren Napf von sich und rieb die fettigen Finger an den nackten Oberschenkeln. „Hier auf Sahul ist Mensch nicht gleich Mensch. Wohlgemerkt, das ist nicht immer so gewesen. Noch vor hundert Jahren, wie ich bereits sagte, war dieser Planet das Zentrum der menschlichen Zivilisation. Eine durchaus friedliche Welt, der es immerhin gelungen war, beinahe zweihundert Jahre ohne Kriege auszukommen. Der letzte vorangegangene Waffengang war heilsam gewesen, die Menschen hätten einander um ein Haar selbst ausgelöscht. Eines der Ergebnisse des letzten Krieges war die Gleichrangigkeit, alle Menschen waren nun gleich, hatten die gleichen Rechte, die gleichen Pflichten, die gleichen Möglichkeiten. So etwas war vorher undenkbar gewesen. Die einzelnen Staaten lösten sich auf und bildeten ein Ganzes. So etwas Unerhörtes gab es noch nie. Heute sind wir davon wieder ewig weit entfernt.“

„Staaten?“ fragte ich. „Was genau ist das?“

Kincaid bedachte mich despektierlich. „Wenn du mich verarschen willst…“ begann er.

Ich hob sofort die Arme und präsentierte ihm beide Handflächen. „Ganz gewiss nicht. Erzähl weiter!“

„Du weißt nicht, was Staaten sind?“

„Ich kann es mir denken. Insekten bilden Staaten. Warum nicht Menschen? Auf Gondwana gab es so etwas nicht.“

„Langsam kaufe ich dir deine Gondwanageschichten sogar ab. Ja, der Vergleich mit Insekten ist gar nicht mal so weit hergeholt. Vor dem letzten Krieg gab es auf Sahul sechs Staaten. Die zwei mächtigsten davon bestanden aus mehreren ehemals unabhängigen Ländern, man nannte sie die Föderation von Nordland – oder einfach nur Nordland – und das Antarische Reich. Die anderen fünf waren Nordin, Thorn, das Reich der Schattenküste und der Inselstaat Tesonia. Streng genommen gab es noch ein siebtes Land, das aus zwei Inseln bestand, welche jedoch von keinem der großen sechs Staaten jemals anerkannt worden war. Man nannte es Stromstad, die östlichere der beiden Inseln heißt heute Buangan, das Land der Recht- und Besitzlosen.“ Kincaid hielt inne und betrachtete mich prüfend. „Alles klar soweit?“

Eigentlich nicht, doch wollte ich ihn nicht verärgern und nickte stattdessen eifrig.

„Ein Buangan kann in seiner eigenen Heimat eigentlich nichts werden, er muss sein Glück auf dem Festland versuchen. Viele Buangan zieht es nach Nordland oder ins Antarische Reich, wo sie sich ein menschenwürdigeres Leben versprechen. Bin mal gespannt, wohin du aufbrechen wirst.“

„Vielleicht bleibe ich“, warf ich unbestimmt dazwischen.

„Das glaube ich nicht. Ich gedenke auch nicht, für alle Zeiten hier zu bleiben. Wie dem auch sei, das ist eine andere Geschichte. Nach dem letzten Krieg, den die Menschen gegeneinander führten, lösten sich alle sieben oder vielmehr sechs Staaten auf und bildeten eine Einheit. Wohlgemerkt, eine staatliche Einheit, keine soziale. Die Unterschiede blieben weitgehend gewahrt, auch wenn alle Menschen plötzlich vor dem Gesetz einander gleichgestellt waren. Von dieser neuen Situation profitierten die wenigsten, sie kam vor allem den oberen Zehntausend zugute. Doch mit der Einheit zog neue Gefahr auf, eine, die die wenigsten auf der Rechnung hatten.“ Er sah mich einen Moment an. „Kannst du mir bis hierher folgen?“

Ich nickte. „Von welcher Gefahr sprichst du?“

„Was passiert deiner Meinung nach, wenn du keinen Gegner mehr hast, wenn plötzlich um dich herum alles friedlich ist, du nicht mehr fürchten musst, in den Krieg geschickt zu werden?“

Einigermaßen ratlos sah ich ihn an. „Klingt für mich wie ein Ideal-zustand.“

Kincaid lachte spöttisch. „Du kennst die Menschen schlecht. Nein, das ist kein Idealzustand. Im Gegenteil. Der Mensch braucht ein Feindbild, etwas, wovor er sich fürchtet. Nimm ihm die Angst und du nimmst ihm den Sinn.“

Die Skepsis in meinem Blick entschuldigte er mit der Tatsache, einen Eremiten vor sich zu haben. „Du kommst aus einer Welt, in der es nicht gerade viele Menschen gab, richtig? Du kannst nicht verstehen, wie solltest du.“

Er mochte damit recht haben, ohne Frage. Allerdings war ich nicht ganz so dumm wie er annahm. Das Tagebuch meines Vaters hatte mir eine Welt vor Augen geführt, welche komplett anders geartet war als die, in der ich aufwuchs. Eine Welt, die so gewesen sein muss, wie Kincaid sie gerade beschrieb. Eine Welt, die vor meiner Geburt untergegangen war und zu der ich auch niemals irgendeinen Kontakt wünschte. Ironischerweise schien ich mich nun in einer solchen zu befinden.

Die wenigen Menschen auf Evu, der kleinen Insel am Südwestrand des Großkontinents Gondwanaland, waren meine Welt gewesen. Dort war ich aufgewachsen. Dort hatte ich zusammen mit meiner Schwester Ylvie eine behütete Kindheit verbracht. Viele Menschen gab es nicht. Ich fragte mich immer, warum. Eine Antwort vermutete ich in Gondwanaland, dem verbotenen Kontinent. Nach Mutters Tod fühlte ich mich nicht länger an das Versprechen gebunden, welches sie mir früh abgerungen hatte, jenes Gelöbnis, Gondwanaland niemals zu betreten. Schon kurz nach ihrem Ableben traf ich den folgenreichen Entschluss, die Tethys zu überwinden, jenes tiefblaue Meer, welches sie uns fürchten lehrte und das ich doch immer geliebt hatte. Zu keiner Zeit hatte ich Angst vor ihr verspürt, ein Erbe meines Vaters, wie ich herausfinden sollte. Heute kenne ich die ganze Wahrheit und weiß, warum die Menschen um mich herum so früh starben und am Ende nur Ylvie und ich übrig waren.

„Doch, ich kann dich verstehen. Zwar kenne ich außer Sahul keine Welt, in der viele Menschen leben. Aber Gondwana war einst auch von Menschen besiedelt. Auch dort gab es Kriege, so wie es sie hier gegeben hat.“ Zumindest wusste ich von einem Krieg. Immerhin.

„Und wieder gibt“, fügte Kincaid trocken hinzu. „Die Menschen Sahuls waren auf wirklich gutem Weg. Doch wie ich bereits sagte, Menschen brauchen Feinde, um glücklich zu sein. Und ein neuer Feind fand sich. Nicht hier. Woanders. Auf einem anderen Planeten.“

„Die Toorags?“ mutmaßte ich sachlich.

„Genau die. Nachdem auf Sahul 192 Jahre Frieden geherrscht hatte, dürsteten die Machthaber regelrecht nach Krieg. Endlich bekamen sie ihn. Auf Rantao war es zu einem Zwischenfall gekommen, eine Handvoll Siedler, Menschen wie du und ich, waren von Toorags grauenvoll verstümmelt worden. Auf Rantao, dem Heimatplaneten der Toorags! Die Signalwirkung war verheerend. Von heute auf morgen mutierten sie zu Monstern, widerlichen Tieren, Bestien. Aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar, dass sie uns einst erlaubt haben, in ihren Reihen zu siedeln.“

„Ach, war das so?“

„Genauso. Menschen und Toorags sind einander schon vor Jahrhunderten begegnet. Bereits auf Vestan gab es offizielle Kontakte. Unglaublich, nicht wahr? Die Menschen waren damals untereinander derartig verfeindet, sie versuchten sogar, die Toorags auf ihre jeweilige Seite zu ziehen.“

„Und? Waren sie damit erfolgreich?“

„Nicht im geringsten. Die Krötenfressen sind viel zu scharfsinnig, um sich auf so etwas einzulassen. Sie zogen sogar ihre Vertretungen ab, um nicht in den Konflikt hineingezogen zu werden.“

„Intelligent sind sie jedenfalls“, kommentierte ich knapp.

„Keiner behauptet, sie wären es nicht. Damals waren sie Freunde, keine Frage. Und sie wären es heute noch. Nur der Dummheit der Menschen ist es zuzuschreiben, dass sie jetzt unsere Todfeinde sind.“

„Wie konnte es so weit kommen?“

„Das kann ich dir in wenigen Sätzen sagen. Die Kriegslust, der Eroberungsdrang der Menschen, ist schuld daran, nenne es wie du willst. Rantao geriet ins Visier der Falken, so nannte man die Kriegstreiber in den Reihen der Weltregierung.“ Das letzte Wort spie Kincaid verächtlich aus. „So wie es auf Rantao Siedlungen der Menschen gab, existierten auch hier welche der Toorags. Nur deutlich weniger. Wie auch immer, als die Nachricht über das Blutbad auf Rantao hier eintraf, schlug sie ein wie ein Meteor. Die Menschen beklagten dreiundzwanzig Tote. Ihre Antwort darauf war verheerend. In nur einer Woche wurden alle Siedlungen der Toorags auf Sahul dem Erdboden gleichgemacht. Für jeden getöteten Menschen auf Rantao wurden hundert Toorags abgeschlachtet.“

„Was hat das alles mit der Kriegslust der Menschen zu tun?“ fragte ich in meiner damaligen Unschuld. „Wenn es stimmt, was du sagst, fingen die Toorags den Konflikt an, oder nicht?“

„Ja, so sah es damals aus, als ganz Sahul nach Vergeltung schrie. Die Falken reagierten auch verdächtig schnell. Sie sandten die Kriegsflotte aus, um unsere Siedlungen auf Rantao zu schützen.“

„Nachvollziehbar.“ Ich stand voll und ganz auf der Seite der Menschen. So wie ich die Toorags erlebt hatte, konnten sie von mir kein Mitleid erwarten.

„Ja, nicht wahr?“ Kincaid lächelte höhnisch. „So dachte man damals auf Sahul auch. Nur wusste man damals noch nicht, dass die Falken kaltblütig alle Menschen auf Rantao über die Klinge springen ließen. Sie waren lediglich Mittel zum Zweck, lieferten nur die Legitimation für den Angriff auf Rantao.“

„Willst du damit sagen…?“

„Ja, genau das will ich sagen. Das Blutbad auf Rantao war von Menschen verübt und den Toorags in die Schuhe geschoben worden. Du kannst dir sicher vorstellen, was mit unseren Siedlungen auf Rantao geschehen ist.“

Ich nickte langsam.

„Dabei muss ich fairerweise anmerken, die Toorags hatten anfangs noch versucht, die Katastrophe zu verhindern und den Vorfall aufzuklären. Allerdings fanden sie die Wahrheit schnell heraus, und als dann auch noch die erste und zweite taktische Raumflotte vor ihrer Haustür auftauchte und der Beschuss begann, war Schluss mit ihrer bis dahin scheinbar grenzenlosen Gutmütigkeit.“

Langsam aber sicher sah ich mich gezwungen, das Bild meiner Entführer aus anderem Blickwinkel zu betrachten. Wenn Kincaid die Wahrheit sprach – und ich zweifelte nicht daran – waren es die Menschen gewesen, welche die Toorags zu Monstern hatten mutieren lassen und nicht umgekehrt.


5

Starthilfe


„Und wie ging es weiter?“

„Auch schnell erzählt. Mit dem Überraschungsmoment auf unserer Seite verbuchten wir beachtliche Anfangserfolge. Will heißen, das erste Kriegs-jahr verlief blendend. Zwei der drei Kontinente Rantaos, Tarsis und Argyria, befanden sich bereits in unserer Hand. Und mit ihnen auch die Hauptstadt, Vodiniopol. Im zweiten Kriegsjahr machten wir uns an die Eroberung Kalvarias, des dritten Kontinents, auf den sich die Toorags zurückgezogen hatten und von dem aus sie einen Guerillakrieg erster Sahne starteten. Die Nadelstiche, die sie uns beibrachten, reizten die Falken bis zur Weißglut. Nun musst du wissen, Rantao verfügt über deutlich kühleres Klima als Sahul. Die Jahresdurchschnittstemperatur hier liegt bei ziemlich genau 292 Kelvin. Auf Rantao jedoch…“ Er stutzte, sah wohl das Unverständnis in meinem Gesicht. Kelvin war mir wohl ein Begriff, doch nicht als Maßeinheit für die Temperatur. Nein, auf Gondwana hatte es einst eine Stadt mit diesem Namen gegeben… und ganz in der Nähe dieser Stadt hatte meine Mutter einen Großteil ihres Lebens verbracht…

„292 Kelvin. Der Hitze da draußen zufolge ein hoher Wert, nehme ich an.“ Ich drängte die Erinnerungen zurück, musste aufnahmefähig bleiben. Alles was Kincaid zu berichten wusste, konnte entscheidend für mein Weiterleben sein. Also schüttelte ich einen Moment den Kopf und mit ihm die augenblickliche Unachtsamkeit ab.

Kincaid kniff die Augen zusammen. „Angenehm warm, würde ich sagen. Zumindest in den Sommermonaten. Ist alles klar?“

„Völlig. Die Messgröße Kelvin ist mir nur unbekannt. Bei uns sagten sie immer nur ‚Grad‘. Wenn es heiß war, meinte Mutter immer, es hätte bestimmt 30 Grad.“

„Klingt nach Celsius, einer völlig veralteten Maßeinheit“, meinte Kincaid interessiert. „Dein Gondwana liegt echt hinterm Mond, was?“

Ich sah ihn verständnislos an. „Hinter welchem Mond? Gondwana hat zwei davon.“

Er grinste. „Vergiss es einfach! Lass mich sehen, in Celsius müsste die Durchschnittstemperatur hier ungefähr bei zwanzig Grad liegen, falls du damit mehr anfangen kannst. Angenehm, wie ich finde. Auf Rantao jedoch frierst du dir den Arsch ab, wenn du so rumläufst.“ Mit verächtlicher Geste erinnerte er mich meiner dürftigen Bekleidung. „Da ist jeden Tag Winter. Temperaturen um 250 Kelvin sind da an der Tagesordnung.“

Ich zog eine zweifelnde Grimasse. „Ist das kalt?“

„Arschkalt!“ Noch einmal ließ er sich dazu herab, sich mit der ‚völlig veralteten‘ Maßeinheit Celsius zu beschäftigen. „Müssten so um die -25 Grad Celsius sein. Kalt genug?“

„Oh ja“, gab ich zu. „Saukalt.“

„Also, auf Rantao ist es also deutlich kälter als hier. Es gab nur noch einen Kontinent in den Händen der Toorags, den ganz im Norden. Die anderen beiden von uns eroberten befinden sich in gemäßigteren Breiten. Immer noch kalt dort, aber wenigstens etwas lebensfreundlicher. Die Falken, bis aufs Blut gereizt von den Partisanenangriffen, entschlossen sich zu einer tollkühnen Offensive, sie wollen mit aller Macht die Entscheidung erzwingen. Sie gerieten ohnehin in Zugzwang, denn das Eingreifen der interstellaren Kolonialflotte der Toorags stand bevor. Und einen Zweifrontenkrieg galt es unbedingt zu vermeiden.“ Kincaid legte seufzend eine nachdenkliche Pause ein. „Es ging aber nicht nach Plan“, fuhr er dann fort. „Zwar gab es auch in Kalvaria ermutigende Anfangserfolge, aber die Offensive blieb stecken. Den Toorags gelang die Rückeroberung der Lufthoheit in einer sensiblen Phase der Offensive, was zur Katastrophe führte. Die Evakuierung war unausweichlich, fand jedoch nicht mehr statt, denn besagter Zweifrontenkrieg begann. Alle zur Verfügung stehenden Kräfte wurden abgezogen, um die in Stellung gegangene Raumflotte der Toorags an einer Landung auf Rantao zu hindern. Nun ja, das ging gehörig in die Hose. Innerhalb weniger Wochen vertauschten sich die Rollen, die Jäger wurden zu Gejagten. Und wie! Die Toorags gingen nicht zimperlich vor, sie waren stinksauer.“

„Verständlicherweise“, warf ich dazwischen. Kincaid betrachtete mich skeptisch, doch sah ich keinen Grund, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Immerhin wart ihr es, die sie angegriffen haben. Sie hatten jedes Recht, sich auf alle erdenkliche Weise zu verteidigen.“

„Komm mir jetzt bloß nicht damit! Okay, die Menschen hatten den Krieg angefangen, daran gibt es keinen Zweifel. Nicht alle standen dahinter, wohlgemerkt, aber viele. Wir hatten ihn eben, diesen verfluchten Krieg, und mussten damit umgehen lernen. Anfangs ergriff uns alle, auch die Kriegsgegner, ungeahnte Euphorie. Ich war damals noch nicht geboren, doch mein Vater hatte mir immer und immer wieder davon erzählt.“ Einen Moment geriet sein Redefluss ins Taumeln. Ich spürte, wie sehr Kincaid seinen Vater vermisste. Wie gut ich es nachvollziehen konnte! „Wie auch immer, als uns das Glück verließ und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis der Krieg nach Sahul kommen würde, brach Panik aus. Viele flüchteten, zogen sich, so es ihnen möglich war, auf andere Planeten zurück. Meine Eltern machten keine Ausnahme, sie gelangten auf eines der letzten zivilen Schiffe, die Sahul unbehelligt verlassen konnten, mit Kurs auf Kalaipa. Nur wenige Tage später ging es los. Die Schlacht um Sahul dauerte drei Jahre, die Menschen kämpften verbissen und unter hohen Verlusten um jede Stadt und jedes Dorf, am Ende um jedes Haus. Niemand wollte glauben, dass es tatsächlich so ausgehen sollte, nicht nach all den Erfolgen, nicht, nachdem wir so kurz vor dem Sieg gestanden hatten. Doch der Widerstand brach schlussendlich zusammen. Die Toorags siegten. Und nicht nur auf Sahul. So wie wir sie auslöschen wollten, taten sie es jetzt mit uns. Jeder noch in der Hand der Menschen befindliche Planet fiel, wenn auch nicht sofort. Es sollte beinahe dreißig Jahre dauern, bis sie nach Kalaipa kamen, manche hatten schon gedacht, wir wären dort sicher.“ Kincaid biss sich auf die Unterlippe. „Wir waren es nicht.“

Die Geschichte erinnerte mich ein wenig an den Krieg der Menschen gegen die Opreju, wie mein Vater ihn in seiner Chronik beschrieben hatte. Wohlweislich erwähnte ich jedoch gegenüber Kincaid nichts davon. Je weniger er über Gondwana wusste, umso besser.

„Jetzt weiß ich, wie du hierhergekommen bist“, sagte ich stattdessen.

„Zusammen mit Tausenden Gefangenen von Kalaipa. Alle wurden wir auf Buangan abgesetzt.“

„Das verstehe ich nicht. Wieso ließen euch die Toorags am Leben? Ich dachte, sie wollen die Menschheit vernichten, auslöschen.“

„Das haben sie im Prinzip ja schon. Hier auf diesem Mickerplaneten, halb so groß wie Vestan, haben sie alle zusammengepfercht. Ja, du hast richtig gehört. Die Reste der grandiosen Menschheit befinden sich auf Sahul. Sie müssen uns nicht ausrotten. Das besorgen wir schon selbst, und die Toorags wissen das ganz genau.“

„Wieso sollten sich die Menschen selbst ausrotten? Das gibt keinen Sinn.“

Kincaid atmete hörbar aus. „Du hast wirklich null Ahnung von den Menschen, obwohl du selbst so offensichtlich einer bist. Deine Isolation hat etwas Besonderes aus dir gemacht. Vielleicht täte das den Menschen gar nicht mal so schlecht, sie alle in kleinen Gruppen über das All zu verteilen. So können sie keinen Schaden anrichten.“

„Wieso sprichst du so schlecht über Deinesgleichen?“

„Weil Meinesgleichen der letzte Dreck ist. Ja, schau mich nicht so angewidert an, ich verfüge über keine hohe Meinung mehr von Meinesgleichen. Sieh, was sie getan haben, und aus welchen Gründen. Man sollte meinen, wir lernen dazu, nicht wahr? Tun wir aber nicht. Nach all den Erfahrungen aus dem Tooragkrieg sollte man davon ausgehen, wir hätten irgendetwas daraus gelernt, oder nicht?“ Kincaid war unversehens laut geworden. „Aber sie tun es schon wieder.“

„Was tun sie schon wieder?“

„Sich gegenseitig bekriegen. Die Antarier zum Beispiel. Sie halten sich für etwas Besseres und haben nur einen Wunsch, das Reich der Schattenküste zu unterwerfen. Schon wieder Mensch gegen Mensch, dabei sollten doch die Toorags unser gemeinsamer Feind sein.“

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff. Dann rief ich entsetzt aus: „Du meinst, auf Sahul führen die Menschen Krieg gegeneinander?“

„Nicht unbedingt ein Krieg im landläufigen Sinne“, wiegelte Kincaid ein Stück ab. „Hier gehen keine riesigen Armeen von Soldaten aufeinander los und schlachten sich ab, bis ein Sieger feststeht. Nach den letzten Erfolgen darf man die Antarier aber gut und gerne als allen anderen überlegen bezeichnen. Sie verfügen über Waffen, genügend Reittiere, ja sogar domestizierte Strigul. Leider kann den arroganten Haufen keiner leiden, weswegen sie ziemlich isoliert dastehen.“

„Strigul?“ fragte ich. Eigentlich hätte ich den dummen August mimen können und auch erstaunt nach den Reittieren fragen können, doch war mir dieser Begriff einigermaßen geläufig. Pferde hatte es wohl auch einst auf Gondwana gegeben, zumindest durfte mein Vater mit diesen Tieren noch in Berührung gekommen sein. Jedenfalls stand es so in seinen Aufzeich-nungen.

„Ein weiteres Geschenk von Rantao“, erläuterte Kincaid grimmig. „Strigul wurden von den Toorags auf Sahul ausgesetzt, genau genommen in Thuria, einem Gebiet im Nordwesten, welches heute zur Schattenküste gehört. War früher mal ein Teil Nordlands. Dort finden sich die sauberen Herren einmal im Jahr zu einer groß angelegten Striguljagd zusammen. Ein herrliches Blutbad, wie man sagt. Ich selbst habe diesem zweifelhaften Ereignis noch nicht beigewohnt, aber ein paar hier in Stohal können ein Lied davon singen.“

Meine Augen verengten sich. „Soll das bedeuten, die Toorags haben hier fremde Lebensformen angesiedelt?“

„Aus deinem Mund klingt das irgendwie hochgradig harmlos.“ Kincaid lachte trocken und schöpfte Wasser aus einem hölzernen Bottich in ebenso hölzerne Becher. „Durst?“

Ich nickte und nahm dankbar an. Nach dem salzigen Fleisch verspürte ich in der Tat Verlangen nach einem kräftigen Schluck frischen, kühlen Wassers. Die pisswarme Brühe schmeckte jedoch nur entfernt danach, allerdings dafür mit unerfreulich erdigem Nachgeschmack. Ich glaubte auch so etwas wie Algen in dem Bottich treiben zu sehen, weigerte mich aber, dies genauer zu überprüfen.

„Wasser hole ich nur alle paar Tage, wird wohl mal wieder Zeit.“ Mein angewiderter Blick veranlasste ihn wohl zu so etwas wie einer Ent-schuldigung.

„Ich habe schon Schlimmeres getrunken“, log ich. „Los, erzähl‘ weiter! Was hat es mit diesen Strigul auf sich?“

Kincaid trank den Becher bis zur Neige und verzog keine Miene. Er war offensichtlich einiges mehr gewohnt als ich. „Strigul… das sind Fabelwesen, Monster, Ungeheuer aus einer anderen Welt, die sich hier erstaunlich gut eingewöhnt haben. Bedenke, sie kommen aus deutlich kälterem Milieu, vom Eisplaneten Rantao. Man sollte annehmen, sie würden auf Sahul eingehen wie Primeln.“

Primeln?

„Tun sie aber nicht. Im Gegenteil. Sie gedeihen prächtig, als hätten sie nur darauf gewartet, hierher verpflanzt zu werden.“

„Und jene Strigul treiben sich jetzt auf Sahul herum? Sind sie der Grund, warum ihr euch nachts verbarrikadiert?“

Kincaid schüttelte den Kopf. „Nein, gewiss nicht. Auf Buangan musst du nur den Menschen fürchten. Die gesamte Insel ist strigulfrei. Jedenfalls noch. Die Viecher breiten sich allerdings auf dem Festland aus und werden dort zu einer regelrechten Plage. Einer ungemein gefährlichen Plage. Die Jagd auf sie ist ausschließlich den Toorags vorbehalten, doch sehen sich die Menschen drüben an der Schattenküste mehr und mehr von ihnen in die Enge getrieben.“

„Verstehe ich das richtig, die Toorags finden sich in regelmäßigen Abständen auf Sahul ein, um diese Strigul zu jagen?“

„Korrekt verstanden. Sie sollten es allerdings noch viel öfter tun. Aber womöglich wollen sie das gar nicht, vielleicht ist es ihr Plan, aus Sahul einen Strigulzoo zu machen. Möglich ist alles.“

„Wie sehen Strigul aus? Woran erkenne ich einen?“

„Glaube mir, wenn du einen siehst, wirst du es wissen. Sie werden mächtig groß, bis zu vier Meter und wiegen eine gute Tonne.“ Mein Unterkiefer klappte nach unten. Kincaid setzte sofort nach und verpasste mir eine Beschreibung, der ich wenig Glauben schenken konnte. „Gibt es auf deinem Gondwana Vögel?“

„Recht große sogar“, gab ich zur Antwort und wunderte mich über den Anflug von Stolz, der in meiner Stimme mitschwang. „Wir nennen sie Moas. Sie erreichen aber bei weitem nicht die Ausmaße, von denen du sprichst.“

„Schon mal ein totes Küken gefunden, das aus dem Nest gefallen ist? Ja? Okay, dann weißt du ungefähr, wie Strigul aussehen. Wie ein aus dem Nest gefallenes totes Vogelküken. Nur sehr viel größer. Und verdammt lebendig. Einmal pro Jahr findet sich auf Sahul die crème de la crème Rantaos ein und veranstaltet eine Hetzjagd. Dann finden Dutzende Strigul ihr Ende. Viel zu wenige, wenn du mich fragst. Aber sie kriegen nicht mehr, die Viecher werden mit jeder neuen Generation gerissener. So jedenfalls ist es mir zu Ohren gekommen.“

Ich stellte mir ein totes Vogelküken vor und konnte durchaus nichts Erschreckendes damit verbinden. Eher so etwas wie Mitleid. Kincaids geringschätziger Blick drang zielgenau wie ein Pfeil ins Innerste meiner Gedankenwelt vor.

„Wenn du Pech hast, stehst du irgendwann vor so einer Kreatur, und dann wirst du meine Worte nicht mehr in Zweifel ziehen. Aber nachvollziehbar. Ich wusste nicht einmal von ihrer Existenz, bevor ich drüben in Longyearbyan eines vor die Augen bekam. Tot natürlich, oder eher dem Himmel sei Dank. Bis nach Thorn sind sie schon vorgedrungen. Übel.“

„Thorn befindet sich...?“ stellte ich die Frage in den Raum.

„Auf dem Festland, genau südlich von Buangan. Es gibt eine Fährverbindung von Vardo rüber nach Longyearbyan.“ Er bemerkte meinen fragenden Blick. „Das ist eine Stadt in Thorn. Okay, die Reste einer Stadt. Hat kräftig gelitten im Krieg.“

„Du warst also schon einmal auf dem Festland?“

„Einmal? Mehrmals. Zumindest anfangs. Jetzt nicht mehr. Ich habe aufgegeben. Die Chancen für einen Buangan, auf dem Festland Fuß zu fassen, sind gering. Du hättest vielleicht mehr Erfolg. Die suchen immer großgewachsene, kräftige Kerle für ihre diversen Scharmützel. Kinderkacke!“ Er winkte ab, verspürte offensichtlich keine übermäßige Lust, sich diesem Thema zu widmen. „Warum von hier fortgehen? Vielleicht finden wir uns bald in einer ganz anderen Situation wieder. Unsere Insellage ist ein Vorteil. Strigul kommen jedenfalls nicht ohne Nachhilfe hier herüber. Mal sehen, wie sich das weiter entwickelt. Womöglich treiben die Strigul die ganzen Festländer bald auf unsere Insel.“

„Weil sie dort sicher vor diesen Viechern sind? Gehe ich richtig in der Annahme, dass Strigul dem Menschen gefährlich werden? So richtig gefährlich?“

Kincaid lachte trocken. „Gut ausgedrückt. Richtig gefährlich. Tödlich gefährlich. Eine Gefahr, die mehr und mehr außer Kontrolle gerät.“

„Dann frage ich mich, warum sich die Menschen nicht zusammentun und gegen die Strigul vorgehen, als sich gegenseitig das Leben schwer zu machen.“

Wieder lachte Kincaid. Nur klang es jetzt eine Spur trauriger. „Wie ich schon sagte, Jack, du kennst die Menschen schlecht.“ Mir entging nicht, wie er mich zum ersten Mal bei meinem Namen nannte. „Je mehr die Schattenküstler in Konflikt mit den Strigul geraten, umso besser. Jedenfalls aus Sicht der Antarier, verstehst du? Die Strigul schwächen die Schattenküste, was gleichzeitig die Stellung der Antarier stärkt. In nicht allzu ferner Zeit werden sie wohl eine neue Invasion wagen und die Schattenküste von der Landkarte fegen.“

„Wozu?“ Mensch gegen Mensch. Ich verstand nicht. Ich wollte nicht verstehen. „Welchen Nutzen ziehen die Antarier daraus? Sie sind doch Menschen, oder nicht?“ Kincaid nickte, wenn auch sein verächtlicher Blick verriet, wie widerwillig er ihnen diesen Status zusprach. „Die ganze Auseinandersetzung schwächt nur die Menschheit Sahuls, also im Endeffekt auch die Antarier.“

„Klug gesprochen. Doch im Antarischen Reich wünscht man sich nichts so sehr wie die Eroberung der Schattenküste. Sie dürsten regelrecht danach, sich dieses Gebiet anzueignen und dort alle zu töten oder zu versklaven oder was auch immer.“

„Was nützt es den Antariern, sich ein Gebiet anzueignen, das von Strigul verseucht ist“, warf ich kopfschüttelnd ein. „Sie schneiden sich damit nur ins eigene Fleisch.“

„Korrekt.“ Es klang resigniert.

„Das ist alles? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“

„Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Aber…“

Kincaid hob die rechte Hand und bedeutete mir zu schweigen. „Lass gut sein, Jack! Geh rüber aufs Festland und mach dir dein eigenes Bild. Nur so viel vorab: ich bin dir ein Jahr voraus. Verschwende nicht deine Zeit damit, etwas herausfinden zu wollen, was du jetzt schon von mir weißt. Die Ignoranz der Menschen ist bodenlos. Ihre Kurzsichtigkeit beschämend. Deswegen bin ich nach Buangan zurückgekehrt. Auf dieser verfluchten Insel widmen sich alle nur einem Ziel: den nächsten Tag zu überleben. Das ist weiß Gott ehrlicher als all das andere Zeug, das sie drüben auf dem Festland treiben.“

Ich beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen, was diese Thematik anbelangte. Also ging ich nahtlos zu etwas anderem über. „Du sagtest vorhin, es gäbe hier wenige oder gar keine Frauen. Was hat das auf sich?“

Kincaid zeigte sich ob meines abrupten Themenwechsels wenig erstaunt, was mich zu der Vermutung veranlasste, ohnehin keine Antworten mehr darauf zu bekommen. Umso bereitwilliger ging er dafür jetzt auf mich ein. „Genau das, was ich sagte. Wahrscheinlich eine fiese Idee der Toorags. Sie lassen uns nur wenige Frauen. Über kurz oder lang werden die Menschen auf Sahul aussterben. Vielleicht ist das sogar ihr Plan, wer weiß.“

„Und die Frauen, die es gibt? Was geschieht mit ihnen?“

Kincaid lächelte grimmig. „Die haben kein leichtes Leben. Die gehen zu Höchstpreisen weg. Vergiss es gleich wieder! Du wirst an keine rankommen. Schon gar nicht als Buangan. Nicht in tausend Jahren könntest du dir eine kaufen, selbst wenn du Geld in Hülle und Fülle hättest.“

Ich sah ihn bestürzt an. Die Begriffe „kaufen“ und „verkaufen“ waren mir zwar selbst fremd, aber ich hatte in Vaters Tagebuch darüber gelesen. Auch auf Gondwana hatte es wohl einst so etwas wie Zahlungsmittel gegeben. „Soll das heißen, Frauen sind hier eine Art Handelsware?“

„Ziemlich genau das heißt es. Der Wert einer Frau ist beträchtlich. Vor allem wenn sie jung ist und gut aussieht.“

Der harte Glanz in seinen Augen verriet den Gewissenskonflikt. Ich spürte, wie sehr sich Kincaid nach einer Frau sehnte. Ich spürte aber auch, wie er die herrschenden Verhältnisse ablehnte. Eine Frau käuflich zu erwerben, käme für ihn nicht in Frage, dessen war ich merkwürdigerweise ziemlich sicher. Und was war mit mir? Sehnte ich mich nach einer Frau? Auf Gondwana hatte sich die Frage nie gestellt. Vielleicht war ich auch schon zu sehr Ermeskul, um so etwas wie Verlangen nach einer Gefährtin zu verspüren. Die Einsamkeit, welche das Leben eines Ermeskul ausmachte, hatte schon lange von mir Besitz ergriffen. Doch seit ich Gondwana verlassen hatte, nahm ich eine Veränderung wahr. Der Dialog mit meinem zweiten Ich, meinem suksarman, wie Vater es einst niedergeschrieben hatte, war weniger geworden. Womöglich bildete ich mir das aber auch nur ein.

„Ich sehe, diese Vorstellung behagt dir ebenso wenig wie mir.“

Ich sah auf und nickte. „Was für eine Welt ist das hier?“

„Keine, in der es sich zu leben lohnt. Die Toorags wissen genau, wie sie uns quälen können. Ihre Strafe ist barbarisch. Hier auf diesem gottverfluchten Planeten eingesperrt zu sein, ohne Aussicht, ihm jemals zu entfliehen, ohne Aussicht auf Besserung… nun ja, du wirst es selbst erleben.“

„Ich verstehe nicht, warum das niemand ändert. Gibt es nicht genug Menschen, um einen Aufstand zu wagen? Wenn die Situation so uner-träglich ist, wie du sagst, muss es doch Wege geben, sie zu ändern.“

„Doch, es gibt genug Menschen auf Sahul, zehn Millionen, vielleicht sogar zwanzig. Genau weiß das sowieso keiner.“

„Ist nicht wahr!“ Ich sah ihn aus großen Augen an.

„Für jemanden, der behauptet von einem Planeten zu kommen, auf dem es nur noch zwei Menschen gegeben hat, muss das in der Tat utopisch klingen. Aber mach dir keine Hoffnungen! Hier wird niemand die Hand gegen die Toorags erheben. Niemand. Solange die Menschen derart uneins sind, gibt es nicht die geringsten Aussichten auf irgendeinen Erfolg.“

„Möchtest du zurück nach Kalaipa?“ fragte ich und ließ es beiläufig klingen.

Kincaid reagierte einigermaßen aggressiv darauf. „Was soll diese blöde Frage? Natürlich will ich. Du willst doch auch wieder nach Hause, oder etwa nicht?“

„Wenn ich nur wüsste, wie…“

„Willkommen an Bord.“

„Es muss einen Weg geben. Irgendeinen.“

„Sicher gibt es den. Du musst nur einen Raumtransporter kapern, der hier immer wieder mal auftaucht und neue armselige Kreaturen, wie zum Beispiel dich, abwirft. Wenn du nett und freundlich bittest, bringen dich die Toorags dann vielleicht auch zurück nach deinem Gondwana.“ Der Spott in seiner Stimme verriet, wie intensiv er sich bereits selbst mit diesem Thema beschäftigt hatte und zu keiner Lösung gekommen war.

„Keine allzu schlechte Idee. Wenigstens wissen wir schon mal, auf welchem Weg man von hier wegkommt. Ohne die Toorags auf jeden Fall nicht.“

„Klug erkannt.“

„Wie oft statten sie Sahul einen Besuch ab? Gibt es da gewisse Regelmäßigkeiten? Du bist mir ja, wie du bereits bemerktest, ein Jahr voraus, irgendwas wirst du vielleicht beobachtet haben? Und wenn nicht du, dann womöglich jemand anders.“

Kincaid rollte mit den Augen, ein weiteres Zeichen für mich, auf verlorenes Gebiet vorgestoßen zu sein. „Du kapierst es nicht, oder? Du kommst hier nicht mehr weg! Aber um dir die Freude zu machen: Nein, es gibt keine Regelmäßigkeiten, die Transporter tauchen in völlig unregelmäßigen Abständen auf, meistes merken wir es gar nicht. Wir bekommen es nur mit, wenn wieder ein Haufen Neulinge in der Nähe herumlungern, die alle mehr oder weniger die gleichen dummen Fragen stellen wie du. Und alle wollen sie zurück, logisch. Irgendwann geben sie es dann auf. Auch du wirst es eines Tages einsehen. Hast ja noch Zeit.“

„Und diese Striguljagden? Finden die in gewissen Abständen statt? Vielleicht an festen Tagen?“

„Mann, du wechselt das Thema schneller als jedes Frauenzimmer. Ich weiß es nicht. Selbst wenn, auf was willst du hinaus?“

„Ich sehe nur eine Chance, von hier wegzukommen. An Bord eines dieser Schiffe. Also muss ich unbemerkt irgendwie in eines gelangen. Dazu müsste ich natürlich wissen, wann und wo sie auftauchen. Würde doch Sinn machen, oder?“

Kincaid winkte sofort ab. „Klingt raffiniert, dein Plan. Versuch es! Versuch doch, dich an Bord eines Tooragkreuzers zu schleichen. Wenn es dir gelingt, was ich sehr bezweifle, bist du noch lange nicht runter von Sahul. Und selbst wenn, wirst du wahrscheinlich auf Rantao landen und dir wünschen, wieder auf Sahul zu sein. Freunde dich mit dem Gedanken an, den Rest deines Lebens hier zu verbringen, je eher desto besser.“

Ich schickte mich an, etwas zu erwidern, aber Kincaid gab mir mit einer weiteren unwirschen Handbewegung zu verstehen, kein übersteigertes Interesse mehr an unserer Konversation zu verspüren. „Nein, jetzt ist Schluss damit. Ich bin müde. Du kannst über Nacht hierbleiben. Morgen früh endet meine Gastfreundschaft. Morgen früh wirst du gehen müssen und dir irgendwo anders eine Bleibe suchen.“

Ich nickte. Bleiben zu dürfen, wenn auch nur für eine Nacht, war mehr als ich erwartete. „Ich danke dir, Kincaid. Sieh es wie du willst, aber ich betrachte dich als Freund. Und ich stehe in der Tat in deiner Schuld. Vielleicht kann ich es eines Tages wiedergutmachen.“

Er lachte zum wiederholten Male sein trockenes Lachen, welches mir mehr und mehr gefiel. „Der Dank eines Buangan ist leider wenig wert. Aber er ist besser als nichts.“

Dann schwiegen wir uns eine Zeitlang an. Da ich keine Fragen mehr stellen wollte, wusste ich auch nichts zu sagen. Aus diesem Grund erhob ich mich schließlich und deutete nach draußen. „Ich glaube, ich brauche ein wenig frische Luft. Den Kopf freikriegen.“

Kincaid nickte kurz. „Klar. Geh aber nicht raus aus dem Kral. Sie lassen dich dann womöglich nicht mehr rein.“

„Verstanden.“ Ich schob das Tierfell ein Stück zur Seite und zwängte mich hinaus. Es war inzwischen dunkel geworden. Flackernder Lichtschein lag über Stohal, Licht, welches von den vielen Lagerfeuern herrührte, die die Menschen entzündet hatten. Der Geruch von gebratenem Fleisch zog an mir vorüber, doch verspürte ich keinen Appetit mehr. Gedämpfte Stimmen hier und da. Mein Blick fand den Sternenhimmel und blieb einen Moment dort haften. Flackernde Lichtpunkte überall. Am östlichen Horizont zog die helle Scheibe eines Mondes auf, dessen Namen ich nicht kannte. Wie wenig ich über diese Welt wusste, auf der ich mich seit einem Tag befand und von der ich bis vor kurzem nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gab!

Meine Gedanken wanderten nach Gondwana, zu Ylvie. Wie mochte es ihr ergangen sein? Befand sie sich noch auf Evu oder auch irgendwo hier? Weder noch, wenn ich Kincaids Geschichte Glauben schenkte. Aber sicher sein durfte ich mir nicht. Sie konnte durchaus hier sein, es musste auf Sahul einfach Frauen geben, wenn auch wohl nur wenige. Durchaus möglich, dass sich Ylvie unter ihnen befand. Ich musste sie finden oder wenigstens Klarheit darüber bekommen, wo sie sich aufhielt. Hoffentlich noch auf Evu… doch meine Zweifel saßen tief. Einiges sprach dafür, dass sie sich auf Rantao befand, auf dem Eisplaneten, der Heimat der Toorags.

Tief in Gedanken zog ich ziellos weiter, schlich mich mehr oder weniger heimlich am Zaun entlang, der das Innere der Siedlung umgab. Hin und wieder spürte ich die Blicke aus den Hütten, welche mir nachstellten. Zunächst schenkte ich ihnen wenig Beachtung, versuchte sie zu ignorieren. Klar, als Fremder, noch dazu mit meiner ungewöhnlichen Körpergröße, musste ich die Aufmerksamkeit magisch anziehen. Wandte ich mich um, machte ich hier und da huschende Schatten aus, die sich in die Schwärze ihrer Behausungen zurückzogen. Der Gedanke, verfolgt zu werden, aus welchen Gründen auch immer, wurde mir mehr und mehr unangenehm. Es war wohl an der Zeit, zu Kaincaids Hütte zurückzukehren und wenigstens etwas Schlaf zu finden. Morgen musste ich selbst sehen, wie und wo es weiterging. In diesem Rattenloch zu bleiben, behagte mir jedenfalls nicht. Mein Gefühl signalisierte, schleunigst von dieser Insel verschwinden zu wollen.

So sollte es auch kommen.

Allerdings ein wenig anders, als ich es mir gerade vorstellte.


6

Vardo


Kurz vor Sonnenaufgang rissen mich gellende Schreie aus ohnehin seichtem Schlaf. Zunächst klangen sie weit entfernt, brandeten jedoch wie eine Welle heran und schwappten schließlich über die Hütte hinweg. Von allen Seiten wurde das Geschrei schrill erwidert. Eine Gänsehaut lief mir über den gesamten Körper. Ich hörte Kincaid fluchen und auch schon nach draußen stürzen. Mit wild klopfendem Herzen folgte ich ihm.

Was ging vor sich?

Zu sehen gab es in den ersten Momenten wenig, es war noch nicht hell genug. Im tiefblauen Zwielicht flackerten hier und da noch weit heruntergebrannte Lagerfeuer, zwischen denen aufgeregte Menschen im Halbschlaf wie orientierungslos hin und her eilten. Schnell gingen jedoch überall weitere Lichter an. Der südliche Teil der Siedlung leuchtete in rötlichem Schein, als brannte dort alles lichterloh. Kincaid stürmte in die Hütte, kehrte mit einer Armvoll Fackeln zurück und warf sie mir vor die Füße.

„Mach sie an!“ rief er und verschwand erneut im Innern. Unser Lagerfeuer war bereits erloschen, also rannte ich zur Nachbarhütte, wo noch Feuer brannte. Drei halbnackte junge Männer hatten sich dort versammelt und entzündeten sichtlich verstört ebenfalls Fackeln. Als sie mich heraneilen sahen, schrie einer entsetzt auf, woraufhin alle drei Hals über Kopf flohen. Ich kümmerte mich nicht um sie, erfüllte Kincaids Anordnung und kehrte mit zwei lodernden Fackeln zurück. Ich staunte nicht schlecht, als ich seiner Rechten ein massives Stahlschwert blitzen sah, dessen Klinge im frühmorgendlichen Dämmerlicht gefährlich violett schimmerte.

„Was geht hier vor?“ fragte ich und warf ihm eine Fackel zu, die er mit der Linken auffing.

„Sklavenjäger!“ kam die grimmige Antwort. „Sie versuchen es mal wieder!“

„Versuchen was?“ wollte ich wissen.

„Sklaven zu rekrutieren“, erklärte Kincaid aufgebracht. „Wir müssen den Zaun verteidigen. Komm mit!“

Wir nahmen in Begleitung anderer bewaffneter Männer, die aus allen Richtungen herbeiströmten, Kurs Zaun. Je weiter wir vorankamen, desto heilloser wurde das Durcheinander. Verwundete stürzten uns klagend entgegen, manche mit garstigen Verletzungen am gesamten Körper oder fehlenden Gliedmaßen, andere mit aus den Augenhöhlen ragenden Pfeilen. Erst jetzt wurde mir bewusst, waffenlos zu sein. Lediglich meine Fäuste standen zur Verfügung. Gemessen an den Wunden, welche so manchem armen Hund geschlagen worden waren, keine schlagkräftigen Vertei-digungswaffen. Mein Selbsterhaltungstrieb bedeutete mir, genau die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, doch hielt ich mich nahe bei Kincaid. Ich schuldete ihm was. Vielleicht ließ sich diese Schuld jetzt begleichen.

Es war das erste Mal, dass ich Pferde sah. Zwar wusste ich von ihnen aus Vaters Tagebuch, doch war mir nicht klar gewesen, wie groß sie waren. Ich war beileibe kein Winzling, hatte zuhause auf Gondwana noch jeden Moa überragt, und traf hier auf Sahul auf ein Landlebewesen, dessen Ausmaße mich regelrecht einschüchtern. Zweieinhalb Meter Schulterhöhe, so mutmaßte ich. Massige Leiber, die nicht so aussahen, als wären sie auf Schnelligkeit ausgelegt, bewegten sich dennoch in atemberaubendem Tempo. Viel Zeit für Ehrfurcht blieb nicht, denn eine ganze Herde von ihnen stürmte durch den an vielen Stellen umgerissenen Zaun, der das Innere Stohals schützen sollte. Die Tiere selbst lösten eher Respekt als Furcht aus. Die auf ihnen reitenden, schwarz gekleideten und schwer bewaffneten Männer jedoch beunruhigten mich zutiefst. Schon rasten die ersten Pfeile auf uns zu, abgefeuert aus komfortabler Höhe.

„Deckung!“ rief Kincaid und warf sich der Länge nach hin. Ich tat es ihm gleich. Links und rechts von uns ging ein Pfeilregen nieder. Schmerzensschreie von allen Seiten. Immer mehr berittene Pferde drängten mit schwingenden Schwertern durch die Bresche. Ich schätzte ihre Anzahl auf drei Dutzend. Der Widerstand, auf den sie trafen, war zwar energisch, doch die haushohe Überlegenheit der Angreifer ließ ihn schnell armselig aussehen. Hier gab es nichts mehr zu holen, der Feind, wer immer er war, befand sich bereits im Zentrum der Siedlung. Was gab es noch zu verteidigen, als das nackte Leben?

„Es sind wahnsinnig viele, noch dazu bis an die Zähne bewaffnet“, rief mir Kincaid schwer atmend zu. „Einen Überfall dieses Ausmaßes habe ich noch nie erlebt.“

„Wir müssen die Pferde ausschalten. Nur Mann gegen Mann haben wir eine Chance!“

Toorag - Die Jack Schilt Saga

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