Читать книгу Oliver Hell - Dämonen (Oliver Hells elfter Fall) - Michael Wagner J. - Страница 3

Samstag, 23.07.2016

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Michael Wagner

Oliver Hell

Dämonen















Thriller



Ungekürzte Ausgabe

1.Auflage

Im Dezember 2017

Copyright © 2017 Michael Wagner

Textur by Ruth West.

Frame by Freepik.

Coverfoto by Colourbox.

Covergestaltung by Michael Wagner.

Lektorat: Dr. Stephanie Heikamp


Michael Wagner

http://walaechminger.blogspot.de

@michaelwagner.autor

All rights reserved.











Für Milka.



Bonn, Venusbergkliniken

Ein Geräusch drang an sein Ohr und es manifestierte sich wie ein langsam und gefährlich aufziehender Sturm. Dazu kam ein Rattern. Gefolgt von einem Schwanken wie auf einem Boot. Oliver Hell versuchte die Augen zu öffnen. Schmerz. Sein ganzer Körper war nur Schmerz. Flatternd wie der Flügelschlag eines jungen Vogels öffnete sich sein rechtes Auge. Weißes Licht drang auf seine Netzhaut. Wieder dieser Schmerz. Was für eine Wohltat, als er das Lid wieder sinken ließ. Wo war er? Woher kamen dieses Rattern und das Schwanken? Was war passiert? Gedanken waberten schwer wie Blei durch sein Hirn. Franziska! Blut! Diese fremde Frau, die vor ihm lag und brannte. Die Erinnerung traf ihn wie ein Faustschlag. Mühsam schaffte er es beide Augen gleichzeitig zu öffnen. Wieder das grelle Licht. Er widerstand dem Impuls, die Augen zufallen zu lassen. Pulsschlag auf Anschlag. Etwas erschien in seinem Blickfeld. Etwas Grünes. Ein verschwommenes Gesicht näherte sich ihm.

Du bist nicht tot. Du bist in einem Krankenhaus, dachte er. „Franziska“, murmelte er mühsam. „Nicht bewegen, Sie sind schwer verletzt“, antwortete jemand laut.

„Franziska“, presste er noch einmal hervor. Dann zog ihn der aufbrausende Sturm dorthin zurück, wo er keine Schmerzen mehr spürte.

*

Bonn

Die Nachricht von der Explosion in der Bonner Innenstadt verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ersten Berichten zufolge kamen dabei vier Menschen ums Leben, vierzehn weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Die Sprengsätze waren in Blumenkübeln versteckt. Zum Zeitpunkt der Explosion war die Bonner Innenstadt voller Menschen, die ihren Einkäufen nachgingen. Wie nicht anders zu erwartet, wurde sehr schnell ein terroristischer Hintergrund vermutet. Der Staatschutz schaltete sich ein. Der Münsterplatz und die umliegenden Häuser und Geschäfte wurden evakuiert, die angrenzenden Straßen wurden abgesperrt. Man wollte auf Nummer sicher gehen. Spezialisten vom Kampfmittelräumdienst rückten an. Drei Spezialroboter auf Ketten rollten durch die gespenstisch leergefegten Straßen. Um halb zwei sprengten die Spezialisten einen herrenlosen Rucksack. Darin befand sich aber nur Kleidung. Diesen Rucksack hatte höchstwahrscheinlich ein Tourist auf der eiligen Flucht vergessen.

*

Asbach

Gegen halb drei schickte Kriminalhauptkommissar Jan-Phillip Wendt seinem Chef Oliver Hell eine WhatsApp-Nachricht. Er wollte ihm einen schönen Urlaub wünschen, denn Hell und seine Partnerin Dr. Franziska Leck wollten am Sonntag für ein paar Tage in Urlaub fliegen. Er hatte in der Abwesenheit des neuen Leiters des K11, zu dem Oliver Hell kurz zuvor ernannt worden war, die Leitung der Bonner Mordkommission inne. Aus dem Radio hatte er von der Explosion erfahren. Als er keine Nachricht von Hell erhielt, machte er sich noch keine Gedanken. Als aber Franziska Leck nicht auf seinen Anruf reagierte, ja sogar das Handy ausgeschaltet war, änderte sich das schlagartig. Sofort begann er nachzuforschen. Um fünfzehn Uhr erfuhr er, dass die Schwerverletzten auf verschiedene Kliniken im weiteren Raum verteilt worden waren. Sieben waren auf den Venusberg geflogen worden, drei in eine Kölner Klinik, die restlichen vier Opfer, die weniger schwere Verletzungen erlitten hatten, warteten im Beueler St. Josephs-Hospital auf ihre medizinische Versorgung. Er telefonierte die Krankenhäuser durch und erreichte eine völlig gestresste Rezeptionistin der Venusbergkliniken gegen 15:10 Uhr.

„Hier spricht Jan-Phillip Wendt von der Kriminalpolizei Bonn. Ich bin auf der Suche nach zwei Opfern der Explosion in der Bonner Innenstadt. Haben Sie eine Namensliste der Opfer, die bei Ihnen behandelt werden?“, fragte er, hörte ein Seufzen.

„Die Journalisten werden immer cleverer. Ich kann Ihnen nichts dazu sagen, tut mir leid“, antwortete die Rezeptionistin unfreundlich.

„Hören Sie, ich bin kein Journalist. Ich habe die Befürchtung, dass mein Chef unter den Opfern ist. Hören Sie, ich brauche nur einen Namensabgleich. Ich suche nach Oliver Hell und Dr. Franziska Leck. Schauen Sie bitte nach!“

„Da kann ja jeder kommen“, protestierte die Frau erneut.

„Sorry, aber ich bin nicht jeder. Ich bin Jan-Phillip Wendt von der Kriminalpolizei Bonn und Sie behindern mit Ihrer Sturheit gerade eine polizeiliche Nachforschung! Ich brauche von Ihnen nur eine Minute Ihrer kostbaren Zeit.“

Eine Weile hörte er nichts, dann ein Tippen auf einer Tastatur. Die Frau schien den Hörer daneben abgelegt zu haben. Dann hörte er ein schweres Atmen. „Hören Sie, ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie … die beiden genannten Personen sind Patienten bei uns …“, sagte sie plötzlich sehr mitfühlend. „Und?“, fuhr Wendt aufgeregt dazwischen.

„Der Mann ist im OP, die Frau ebenfalls. Bei beiden steht es kritisch, während die Frau die größeren Überlebenschancen hat.“

„Was?“, fragte Wendt bestürzt.

„Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, sorry. Sie sind kein Angehöriger. Ich habe schon gegen meine strikten Anweisungen gehandelt“, sagte sie und legte sofort auf. Wendt ließ die Hand mit dem Telefon sinken. „Was ist das denn für eine verfluchte Scheiße?“, fluchte er und warf das Telefon mit einem Schwung auf die Couch. Plötzlich bemerkte er jemanden neben sich, spürte eine sanfte Berührung an der Schulter. „Was ist denn Schatz? Ist etwas passiert?“, fragte Julia, seine Freundin. Wendt sah sie verstört an. „Der Bombenanschlag in Bonn … der Chef und Franziska Leck sind unter den Opfern. Beide sind schwer verletzt, liegen im OP. Die Frau von der Rezeption meinte, es stünde für sie besser als für ihn. Mensch, wenn denen was passiert!“, sagte er flüsternd, fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf.

„Fährst du hin? Wissen die Kollegen Bescheid?“

„Ich muss erst seinen Sohn Christoph informieren, dann die Kollegen“, antwortete er bewegt. Ließ die Hand über das Gesicht gleiten. „Irgendwann musste es uns ja hier treffen. Diese Scheiß-Salafisten … ich könnte das Pack in der Luft zerreißen!“

„Steht denn schon fest, dass es ein islamistisch motivierter Anschlag war?“, fragte Julia Deutsch.

„Wer denn sonst? Eine Einkaufspassage, eine Bombe, viele Opfer“, sagte Wendt irritiert. Sein Blick lag fragend auf dem Gesicht seiner zierlichen Partnerin.

„Solange es kein Bekennerschreiben oder was Ähnliches gibt, kann man alles in Betracht ziehen, Jan. Sicher hast du recht, wenn du sofort an Salafisten denkst. Ist momentan das Nächstliegende, wenn irgendwo eine Bombe hochgeht“, versuchte Julia eine Erklärung.

„Stimmt, ich bin total geschockt, Julia. Entschuldige bitte“, sagte er und umarmte sie.

„Kümmere dich um die Kollegen und um Hells Sohn, ich sage die Verabredung für heute Abend ab“, sagte Julia und sah ihn mitfühlend an. Wendt stützte sich auf der Couch ab, um das Telefon aufzunehmen. Von der Einsatzzentrale erfuhr er, dass Christoph Hell erst am Abend Dienst hatte. Aufgewühlt wählte er danach die Nummer von Oliver Hells Sohn.

*

Bonn, Innenstadt

Die Spezialisten vom Kampfmittelräumdienst verließen den Ort des Bombenanschlags. Ihnen folgten die Tatortermittler der Bonner KTU. Ihnen bot sich ein erschütterndes Bild. Die Schaufensterfassade der Boutique, vor der die Sprengsätze explodierten, war total zerstört. Auch die Fenster der benachbarten Geschäfte waren geborsten, das Pflaster war weiträumig aufgerissen. Die Scherben waren wie Geschosse umhergeflogen und hatten zahlreiche Menschen verletzt. Als Zeugen der Tragödie lagen blutige Kleidungsstücke, Einkaufstüten und andere Habseligkeiten der Opfer in der kleinen Straße ‚Dreieck‘ verteilt. Schweigend arbeiteten die Tatortermittler in ihren weißen Overalls, als Wendt und Klauk eintrafen. Betroffen sahen sich die beiden an.

„Mensch, kein Wunder, dass es so viele Opfer gibt, das hier ist die engste Stelle in der Gasse“, meinte Klauk und sah sich nach einem bekannten Gesicht unter den KTUlern um. Er erkannte Constanze Nimmermann, die direkt vor dem völlig zerstörten Eingang einer Boutique kniete. Die Scherben der großen Fensterscheiben häuften sich auf dem aufgerissenen Pflaster, ein Teil davon war in den Verkaufsraum geschleudert worden. Die filigranen Aluminiumprofile, die zuvor die Scheiben gehalten hatten, ragten hilflos in alle Richtungen.

„Hallo Conny, ist denn hier alles sicher?“, fragte er skeptisch und schaute an der Fassade des Hauses hinauf. Die Wucht der Explosion hatte die tragenden runden Betonsäulen, auf denen das Obergeschoss ruhte, zur Hälfte zerstört, das Stahlgerippe der Armierung ragte hervor. Die junge Frau erhob sich und nickte. Über ihr Gesicht flog ein kleines Lächeln, als sie ihn bemerkte, doch dann wurde sie wieder ernst.

„Hallo Sebi, habt ihr schon gehört? Hell und seine Frau sollen unter den Opfern sein. Wisst ihr schon was?“, wollte sie wissen.

„Sie sind im Krankenhaus, werden operiert. Nein, wir wissen noch nicht viel mehr. Jan-Phillip hat Hells Sohn angerufen, der ist sofort in die Klinik gefahren und informiert uns, wenn er etwas weiß.“

„Hoffentlich geht es ihnen gut“, sagte sie besorgt.

„Und hier? Habt ihr schon Spuren sichern können?“

Sie stieß die Luft aus. „Siehst ja das Chaos. Die Spezialisten vom Bombenräumkommando gehen von zwei Sprengsätzen aus, die genau hier platziert gewesen sein müssen.“ Sie zeigte auf das aufgerissene Pflaster zu ihren Füßen. „Jemand hat wohl berichtet, dass hier zwei Blumenkübel gestanden haben sollen. Noch habe ich aber nichts davon gefunden.“

„Würde ja passen. Man platziert die Sprengsätze darin und kann in aller Seelenruhe abwarten, bis die Straße richtig voll ist … und peng! Drecksschweine!“, stieß Klauk verärgert aus.

„Was ja bedeuten würde, dass es jemand in der Nähe gab, der die Dinger ferngezündet hat“, mischte sich Wendt in das Gespräch ein. „Habt ihr schon was gefunden, das darauf schließen lässt?“

Nimmermann schüttelte den Kopf. „Das dauert noch Stunden, bis wir hier fertig sind. Ich vermute, dass wir die ganze Nacht durcharbeiten werden. Falls es noch Reste der Sprengsätze oder der Zündvorrichtung gibt, dann können die hier überall sein“, gab sie bekümmert als Antwort. „Du denkst auch, dass jemand so kaltblütig gewesen ist, in der Nähe zu stehen und auf den Auslöser zu drücken?“, fragte Klauk seinen Kollegen. Wendt nickte mit verkniffenem Gesicht. „Da es kein Rucksackbomber war, ist das die nächstliegende Möglichkeit.“

Klauks Gesichtsausdruck verriet seine düsteren Gedanken, dennoch arbeitete sein Gehirn bereits auf Hochtouren.

„Vielleicht gibt es ja Touristen oder Passanten, die das Ganze gefilmt haben. Wir müssen eine entsprechende Meldung an die Presse und das Radio geben. Mit ganz viel Glück ist auf einem Video der Attentäter zu sehen … wenn einer tatsächlich hier war.“

„Mach das, Sebi“, pflichtete ihm Wendt bei. Mit einem Mal sah er über die Schulter seines Kollegen hinweg und verzog seinen Mund. „Wir bekommen Besuch. Wenn das nicht die lieben Kollegen vom Staatsschutz sind.“

*

Bonn, Venusbergkliniken

Christoph Hell erinnerte sich daran, wie er zuletzt seinen Vater im Krankenhaus besucht hatte. Das war Jahre her, fast hätte er denken können, dass es in einem anderen Leben gewesen ist. Seitdem war in seinem Leben viel passiert, er war seit ein paar Monaten als junger Polizist bei der Bonner Polizei. Als er das letzte Mal auf einem Flur saß und um das Leben seines Vaters bangte, war ihr Verhältnis nicht so berauschend, nein, eher grottenschlecht. Damals hatte er ein Drogenproblem, warf seinem Vater vor, sich nicht genug um ihn zu kümmern. Er hatte sogar versucht, das Haus seines Vaters anzuzünden. Doch in letzter Konsequenz hatte er dazu nicht den Mut gehabt. Was auf lange Sicht eine gute Entscheidung gewesen war. Er machte einen weiteren Entzug, kam wieder auf die Beine und irgendwann reifte in ihm der Entschluss, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Polizist zu werden. Nachdem er die Ausbildung auf der Polizeischule absolviert hatte, führte ihn seine erste Station nach Bonn. Dort kannte er sich aus. Böse Zungen unter seinen Kollegen warfen ihm allerdings vor, dass er sich unter die Obhut seines Vaters flüchtete. Das tat Christoph Hell nicht. Ganz im Gegenteil, er wollte sein eigenes Ding machen, ohne die Fürsorge seines erfolgreichen Vaters klarkommen.

Doch jetzt saß er auf dem Flur der Intensivstation der Venusbergklinik und rieb nervös seine Handflächen aneinander ohne es zu bemerken. Sein Vater und dessen Partnerin Dr. Franziska Leck wurden noch immer operiert. Was ihnen genau zugestoßen war, wusste er nicht. Man hatte ihm nur mitgeteilt, dass beide schwere Verletzungen davongetragen hatten. Er überlegte, was man wohl bei einer Explosion erleiden konnte. Er hatte als junger Polizist keine Ahnung von Explosionsverletzungen, doch seine Phantasie schlug wilde Kapriolen. Als sich die große Tür mit der Aufschrift ‚Intensivstation‘ öffnete, sprang er sofort auf. Ein OP-Team kam auf ihn zu. Einer der Ärzte, ein müde aussehender grauhaariger Mittvierziger kam sofort auf ihn zu. „Ich darf Ihnen die Sorge nehmen, Herr Hell, Ihrem Vater geht es den Umständen entsprechend gut. Die Operation ist gut verlaufen, aber er hat großes Glück gehabt. Wäre der Fremdkörper ein paar Zentimeter weiter in Richtung Herz eingedrungen, jede Hilfe wäre zu spät gekommen.“

Christoph Hell riss die Augen auf. „Fremdkörper? Was für ein Fremdkörper?“, stammelte er. Der Arzt wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn. „Ein Teil eines Fahrradlenkers, gottseidank nur ein verhältnismäßig kleiner Splitter aus Carbon. Er drang zwischen Speiseröhre und Herzkammer in die Brust ein. Die Lunge wurde aber nur geringfügig perforiert. Das können wir im Moment sagen, vielleicht gibt es noch weitere Verletzungen, die erst später augenscheinlich werden.“

Christoph riss die Augen auf. Er versuchte, sich die Größe des Fragments des Fahrradlenkers vorzustellen, doch dazu reichte seine Phantasie nicht aus. Was hielt der Arzt für klein genug, um keinen Schaden anzurichten? Er verscheuchte die Bilder.

„Und was ist mit Franziska? Sie ist seine Lebensgefährtin, wie geht es ihr?“

„Sind Sie verwandt?“

„Nein, natürlich nicht. Sagen Sie schon!“

Der Arzt zog die Augenbrauen zusammen. „Sie hat multiple geringfügige und eine größere Verletzung durch herumfliegende Glasscherben erlitten, keine der Verletzungen ist lebensbedrohlich, aber die Menge ist immens. Die Kollegen operieren noch immer“, antwortete er nachdenklich. „Das klingt doch nicht so schlimm“, antwortete Christoph Hell. Der Arzt atmete einmal durch.

„Haben Sie schon einmal Opfer eines Nagelbombenattentates gesehen?“, fragte er vorsichtig. Hells Sohn schluckte. Tatsächlich hatte er solche Tatort- und Opferfotos in der Ausbildung zu Gesicht bekommen. Je nachdem wo das Opfer getroffen wurde, hatte es verheerende Ausmaße, wie Schrapnelle drangen die Nägel in den Körper ein. „Dann hat sie ebenfalls Glück gehabt?“

„Kann ich unterstreichen, das hat sie.“

Christoph Hell schluckte erneut. „Wann kann ich sie sehen?“

„Ihr Vater wird noch zwei Tage auf der Intensivstation bleiben müssen. Sie können am späten Abend zu ihm.“

„Und Franziska?“

„Fragen Sie dann einfach auf der Station nach ihr.“

Christoph Hell atmete tief durch. Das Positive war: Beide hatten überlebt. Dabei war ihm jetzt schon klar, dass die Nachwehen heftig sein würden. Er bemerkte nicht, wie sich der Arzt leise von ihm verabschiedete und sich ebenso leise entfernte.

*

Bonn, Innenstadt

Für Engelbert Dausend und Thomas Grütters, zwei Beamte der Abteilung 2 – Staatsschutz – des Landeskriminalamts in Düsseldorf, lag die Vermutung sehr nah, dass es sich bei der Explosion um einen islamistisch motivierten Anschlag handelte. Daher waren sie vor Ort. Ihre Abteilung wurde bei islamistischem Terrorismus eingeschaltet. Daher fragten sie sich, was die beiden Kollegen von der Bonner Kriminalpolizei an diesem Schauplatz zu suchen hatten. Kompetenzgerangel tat keiner Ermittlung gut. Dausend trat auf die beiden Männer zu, während sein Kollege im Hintergrund blieb und die Tatortermittler kritisch betrachtete.

„Hallo, meine Herren, mein Name ist Hauptkommissar Engelbert Dausend vom LKA in Düsseldorf, Abteilung 2 Staatsschutz. Wir sind damit beauftragt, diesen Tatort zu untersuchen. Darf ich fragen, was Sie hier tun?“

„Hallo Kollegen, ich bin Jan-Phillip Wendt vom K11 in Bonn, mein Kollege Sebastian Klauk“, stellte Wendt sich und seinen Kollegen vor. Er reichte Dausend die Hand, der Düsseldorfer schlug nach einem kurzen Zögern ein. Der kräftige Mann hatte einen dazu passenden Händedruck. Nicht ganz so hochgewachsen wie Wendt und Klauk musste er zu den beiden hinaufsehen. Sein blondes Haar zeigte schon eine deutliche Tendenz zur Glatzenbildung und sein Dreitagebart wirkte eher ungepflegt als cool.

„Damit eins direkt klar ist: Das LKA leitet die Ermittlungen. Das sollte man Ihnen aber schon mitgeteilt haben“, entgegnete Dausend kühl. Wendt blieb trotz der unfreundlichen Ansprache höflich. „Wir ermitteln nicht. Wir schauen uns nur den Ort des Anschlags an.“

„Für Terrortourismus ist das hier aber nicht der richtige Ort“, mischte sich jetzt Thomas Grütters in das Gespräch ein. Er trat neben seinen Kollegen. Im Gegensatz zu Dausend war er schlank und sah aus wie ein Kettenraucher, blass und mit eingefallenen Wangen. Sein Blick hing schwer wie Blei auf den Gesichtern der beiden Bonner Kriminalbeamten. Klauk fragte sich, ob die Beschäftigung mit Terror einen dazu brachte, jeden Menschen mit Argwohn zu betrachten.

Wendt hob eine Augenbraue. „Terrortourismus? Haben Sie oft damit zu tun? Die Faszination des Grauens. Nein, der sind wir nicht erlegen. Unsere Beweggründe sind anderer Natur. Dazu müssen Sie wissen, dass unser Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Oliver Hell, und seine Lebensgefährtin Dr. Franziska Leck bei der Explosion verletzt wurden. Für uns ist es Ehrensache, dass wir unsere Kollegen von der KTU bei ihren Ermittlungen unterstützen“, erklärte Wendt auf diese Nachfrage.

Die beiden Düsseldorfer sahen sich an. Dausend war es, der schließlich etwas sagte. „Das tut mir leid. Wie geht es Ihrem Kollegen?“

„Wissen wir noch nicht, beide sind noch im OP. Das ist unser letzter Kenntnisstand.“

„Wenn wir erste Erkenntnisse haben, werden wir Ihnen Bescheid geben“, meinte Grütters. Wendt hatte das Gefühl, er wolle sie so schnell wie möglich abwimmeln. „Ist es für Sie schon sicher, dass es sich hier um einen Terroranschlag handelt?“, fragte Klauk nach.

„Wonach sieht es denn für Sie aus, Kollegen?“, entgegnete Grütters scharf und kam einen Schritt auf Klauk zu. Er breitete die Arme aus und ließ die Kinnlade fallen. „Kindergeburtstag?“

„Sicher nicht, wir haben vier Tote und vierzehn zum Teil Schwerverletzte. Da ist kein Platz für Sarkasmus, lieber Kollege“, antwortete Klauk jetzt scharf. Grütters funkelte ihn böse an. Dausend schob seinen rachitischen Kollegen zur Seite und raunte ihm etwas zu. Dann wandte er sich an Wendt und Klauk.

„Unsere Kollegen vom Kriminaltechnischen Institut werden in einer halben Stunde hier sein und die Untersuchungen übernehmen. Die Bonner Kollegen übergeben ihnen dann alle bisher gesicherten Spuren. Vielen Dank und guten Tag, meine Herren.“

„Sicher, wir werden nichts tun, um Ihre Ermittlungen zu behindern. Sollte sich allerdings herausstellen, dass es sich um keinen Terroranschlag handelt, wer leitet dann die weiteren Ermittlungen? Ich meine, so wichtige Ermittler wie Sie beide haben doch dann sicher andere Dinge zu tun, oder?“, fragte Klauk, der noch immer nicht mit dem unverschämten Verhalten des Düsseldorfers fertig zu sein schien. Grütters drängte sich jetzt wieder an Dausend vorbei und hob drohend den Zeigefinger.

„Es stimmt offensichtlich, dass Bonn mittlerweile tiefste Provinz geworden ist, nachdem die meisten Ministerien nach Berlin abgewandert sind. Mann, Ihre Naivität möchte ich haben. Nur für einen Tag, dann würde ich sicher noch glauben, dass der Terror die Provinz bei seinen Anschlägen ausklammert. Willkommen in der Realität, Sie Amateur!“

Klauk stieß wütend die Luft aus, Wendt sah sich genötigt, seinen Freund auszubremsen, denn sein Blick sprühte bereits Feuer. „Sebi, komm, lass ihn in Frieden“, sagte er beschwichtigend und an Dausend gewandt fragte er: „Was ist, wenn mein Kollegen recht hat und kein Terrorangriff vorliegt?“

Grütters schüttelte vehement mit dem Kopf, drehte sich herum und entfernte sich ein paar Meter, zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an. Gierig saugte er an dem Glimmstängel, warf den Kopf in den Nacken und pustete den Rauch aus.

„Die Frage stellt sich mir nicht. Aber sollte es sich herausstellen, dass Ihr Kollege die bessere Nase hat, dann dürfen Sie gerne ermitteln. Bis dahin halten Sie sich heraus! Kapiert?“

Wendt setzte ein falsches Grinsen auf. „Selbstverständlich.“

Ohne sich von Constanze Nimmermann und den anderen Kollegen von der Bonner KTU zu verabschieden, gingen Wendt und Klauk in Richtung Münsterplatz davon, ihnen folgten die Blicke der beiden LKA-Beamten.

„Was war das denn für ein aufgeblasener Affe? Meint, weil er ein bisschen Terroraufklärung betreibt, ist er gleich ein Bulle der Extraklasse?“, schnaubte Klauk.

„Möchtest du deren Job machen, Sebi?“, fragte Wendt, der die Entrüstung Klauks teilte. „Bist du auf deren Seite?“, fragte Klauk empört und blieb stehen.

„Quatsch, nein. Aber die haben die größere Erfahrung. Möchtest du dich mit unseren Salafisten hier anlegen? Möchtest du bei den Rauschebärten ermitteln? Viel Spaß! Lass die das mal schön machen. Ich bin dankbar, dass ich mit denen nichts zu haben muss.“

„Aber die haben doch Scheuklappen. Was, wenn die jetzt nur in eine Richtung denken? Nur in eine Richtung ermitteln und Spuren übersehen, die vielleicht wichtig sind?“, protestierte Klauk und hielt sich die Hände seitlich an den Kopf.

„Nur weil es Idioten sind, heißt es doch nicht, dass sie unfähig sind, Sebi.“

„Aha. Und wenn doch?“, meinte Klauk, dessen Wut langsam abebbte.

„Dann vermasseln sie das und nicht wir. Bist du ehrlich scharf auf eine Terrorermittlung? Ich nicht, ganz ehrlich!“

Klauk atmete tief durch.

„Ich auch nicht. Ich will wissen, wer Hell und Franziska das angetan hat. Sonst nichts!“

„Da sind wir ja schon zwei. Lass uns ins Präsidium fahren und dort auf einen Anruf von Hells Sohn warten. Dann schauen wir weiter. Vielleicht hat uns Oberstaatsanwältin Hansen etwas Erhellendes zu berichten. Komm wieder runter, Sebi“, sagte er Wendt und legte ihm den Arm auf die Schulter.

„Ich habe nur eine Scheißangst um den Chef“, gab Klauk zu, blickte mit traurigen Augen zu Wendt herüber. „Ich auch, Sebi. Ich auch.“

*

Bonn, Universitätskliniken

Christoph Hell saß wie auf heißen Kohlen, rein bildlich gesprochen. Als er mitbekommen hatte, dass er alleine auf dem Flur vor der Intensivstation stand, überlegte er, was er jetzt alles zu erledigen hatte. Sofort fiel ihm etwas siedendheiß ein: Bond. Der Hund seines Vaters. Sie hatten ihn sicherlich daheimgelassen und das arme Tier war jetzt schon seit Stunden alleine zu Hause. Bond war ein sehr genügsamer Hund, aber wie jeder Vierbeiner hatte er mehrmals am Tag seine Bedürfnisse. Christoph Hell beeilte sich, zu seinem Auto zu laufen, das er weit draußen auf dem Parkplatz der Kliniken abgestellt hatte. Zwanzig Minuten später schloss er die Tür zum Haus seines Vaters auf, Bond eilte ihm schon in der Diele entgegen. Schnurstracks rannte der Malinois-Rüde an ihm vorbei, über die kleine Holzbrücke im Vorgarten und verschwand nach links hinter dem Carport in Richtung Straße. Eine halbe Minute später kam er zurück und ließ sich erst einmal kräftig von Christoph kraulen. Der kniete sich neben das Tier, umfasste dessen Hals und vergrub seinen Mund in Bonds dichtem Fell.

„Wir müssen jetzt ganz doll beten, dass es Herrchen und Frauchen bald wieder besser geht, hörst du?“, presste er hervor. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, rollten ihm heiße Tränen über die Wangen.

*

Bonn, Präsidium

Gegen 17:30 Uhr war das Team komplett im Besprechungsraum des K11 versammelt. Lea Rosin und Christina Meinhold saßen mit betroffenen Mienen am Tisch. Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen und Staatsanwalt Pavel Retzar waren ebenfalls anwesend. Es herrschte ein bedrücktes Schweigen, weil man noch keine Neuigkeit aus der Bonner Klinik erhalten hatte. Die vom LKA befohlene Tatenlosigkeit ließ die Gedanken der vier Teammitglieder um den Gesundheitszustand ihres Chefs kreisen. Wendt versuchte, sich abzulenken. „Haben wir die Liste mit den Namen der Opfer?“

„Du willst trotzdem ermitteln?“, fragte Klauk.

„Ich will nicht ermitteln, ich will wissen, wer die Toten sind. Diese Tatenlosigkeit geht mir aufs Gemüt. Außerdem hätte ich gerne den Namen des Boutique-Besitzers, vor dessen Laden die Bombe hochging.“

„Ein paar Informationen. Das kann uns auch das LKA nicht verbieten, oder Frau Hansen?“, hakte Rosin nach.

Brigitta Hansen stand mit dem Rücken zum Fenster. „Solange wir keine offizielle Ermittlung anleiern, können wir in unserem Dezernat tun, was wir wollen. Wir dürfen nur den Kollegen vom LKA nicht auf die Füße treten.“

Sofort setzten sich Klauk, Rosin und Meinhold an ihre Rechner. „Ich übernehme die Opferliste“, informierte Meinhold ihre Kollegen.

„Und ich klopfe die Boutique-Besitzerin ab. Ihr Name ist Luana Oliveira, das klingt für mich südamerikanisch“, teilte Rosin mit, deren Finger schon über die Tastatur flogen.

„Warum nicht, wir sind doch eine internationale Stadt, Lea!“

„Was machen wir beiden?“, fragte Klauk.

„Ich würde vorschlagen, wir schauen, wo in der Nähe Überwachungskameras montiert sind. Was denkst du?“, fragte Wendt mit einem Seitenblick auf Retzar und Hansen. Die Staatsanwälte sahen sich fragend an.

„Wir haben nichts gehört von Ihrem Gespräch“, sagte Hansen und gab Retzar einen Wink. „Kommen Sie, wir haben sicher etwas zu tun und können unsere Kollegen hier in Ruhe arbeiten lassen.“ Retzar nickte. „Wenn Sie etwas über den Gesundheitszustand unseres Kollegen erfahren, bitte melden Sie sich sofort.“

Schweigend verließen sie das Büro des K11.

„Selten, dass die zwei einmal einer Meinung sind. Nehmen wir es so hin“, sagte Wendt und nahm den Hörer in die Hand.

„Wen rufst du an?“, fragte Klauk.

„Matze, wen sonst. Wenn einer inkognito und unter dem Schirm des LKA ermitteln kann, dann ist es doch unser kleiner Hacker, oder?“

„Richtig! Wer sonst“, stimmte ihm Klauk zu. So etwas wie ein kleines Lächeln flog über sein Gesicht. Das war sicherlich das Beste, was sie in dieser Situation tun konnten. Wenn sie sich nicht von Dausend und Grütters erwischen ließen. Immerhin war es schon bezeichnend, wenn die Bonner Staatsanwaltschaft wegschaute. Dennoch mussten sie vorsichtig sein.

*

Bonn, Innenstadt

Joussa Khamsine bog gerade aus der Georgstraße in die Michaelstraße ab. In Gedanken war er bei dem Sprengstoffanschlag in der Innenstadt. Wer hatte diese Bombe gezündet? Gab es außer ihrer Gruppe in Bonn noch eine weitere Gemeinschaft, die die Ungläubigen strafen wollte? Er fühlte sich unsicher. Es kamen ständig neue Glaubensbrüder hinzu, nicht zuletzt, seitdem die Grenzen aus Osteuropa geöffnet waren. Aber nicht alle verfolgten dieselben Ziele wie ihre Gruppe. Ihre Planungen waren bereits sehr weit, doch jetzt konnten sie noch nicht zuschlagen. Joussa sah sich um, denn ständig musste er auf der Hut sein vor den Fahndern des Staatsschutzes und den Beamten des LKA. Ihre Gruppe stand unter Beobachtung. Das war auch ein Grund, weshalb sie mit ihren Planungen noch nicht so weit waren wie gewünscht. Jederzeit mussten sie damit rechnen, dass die Moschee überwacht wurde, die Handys bespitzelt und ihre Telefonate abgehört wurden. Daher war größte Vorsicht geboten. Im Moment jedoch fühlte er sich sicher. Niemand folgte ihm. Langsam schlenderte er die Straße entlang. In einer halben Stunde würden sie sich treffen. Youssef, ihr Anführer und Vordenker, hatte sie zu einer Unterredung zusammengerufen. Vielleicht wusste er schon mehr über diejenigen, die den Anschlag verübt hatten. Über die, die ihnen zuvor gekommen waren. Viel zu spät bemerkte er, wie sich von hinten ein großer abgedunkelter Van näherte. Ehe er sich versah, wurde die Tür aufgerissen, zwei Männer packten ihn und zogen ihn mit kraftvollem Griff in das Fahrzeug. Man presste ihn auf die Sitzbank, fesselte seine Hände mit einem Kabelbinder. Einer der Männer warf ihm seinen Fez auf den Schoß, den er bei dem Handgemenge verloren hatte. Diese Kopfbedeckung war so etwas wie sein Markenzeichen. Die Seitentür fuhr mit einem Krachen zu und der Van schoss nach vorne. Joussa musste achtgeben, nicht zu straucheln, mit gefesselten Händen konnte er sich nicht festhalten. Nachdem er sich gefangen hatte, bemerkte er eine weitere Person in dem Van. Ihm gegenüber saß ein Mann in Uniform, der ihn mit zusammengekniffenen Augen fixierte.

„Guten Tag, Sie sind Joussa Khamsine?“, fragte der Uniformierte mit einer bellenden Stimme, doch Joussa antwortete nicht sofort. Ohne Zweifel befand er sich in der Hand der Polizei. Doch dieses Vorgehen war er nicht gewohnt. Sonst kamen sie vorbei und stellten höfliche Fragen. Dies hier sah aber eher nach einer Entführung aus.

„Wer will das wissen?“, fragte er in seinem fast akzentfreien Deutsch.

„Der deutsche Staatsschutz! Sind Sie Joussa Khamsine?“

„Der Staatsschutz sollte schon wissen, wen er auf der Straße kidnappt, oder?“, antwortete Joussa frech.

„Lassen Sie die Spielchen, Khamsine. Stecken Sie hinter dem Anschlag vom heutigen Tag?“, fragte der Polizist mit knarrender Stimme.

„Nein, damit habe ich nichts zu tun. Ich war auf dem Weg in die Stadt, um ein paar Besorgungen zu machen. Mit Terrorismus habe ich nichts zu tun“, behauptete Joussa. Ihm war schon klar, warum sie auf ihn kamen. Immerhin hatte er fünf Semester Chemie studiert an der Bonner Universität. Das machte ihn in deren Augen zu einem hochgefährlichen potentiellen Attentäter.

„Das glaube ich Ihnen nicht“, stieß der Polizist hervor, „reden Sie!“

„Was Sie glauben und was der Realität entspricht, das sind offenbar zwei Paar Schuhe. Ist das übrigens legal, Menschen von der Straße zu entführen, sie zu fesseln und zu verhören? Ich dachte eigentlich, ich würde in einem freien Land leben und nicht dort, von wo ich damals geflohen bin.“

„Ihren Zynismus und Ihre Lügen werden wir Ihnen schon austreiben, Khamsine“, bellte der Mann.

„Ich werde ab jetzt nur noch mit Ihren Vorgesetzten sprechen!“, sagte Joussa Khamsine und wandte seinen Blick nach links aus dem verdunkelten Fenster. Die Besprechung würde er verpassen, doch, was viel Schlimmer war, die Gruppe würde schmerzlich seine Fähigkeiten vermissen. Denn er war derjenige, der die Sprengsätze bauen konnte.

*

Bonn, Innenstadt

Auf den weißen Overalls der Düsseldorfer Tatortermittler stand KTI. Einem zufällig vorbeikommenden Passanten wäre der Unterschied sicher nicht aufgefallen. Auffällig war allerdings, dass es zahlenmäßig sehr viel mehr Beamte waren als zuvor. Zwei von ihnen arbeiteten in der Boutique, zwei weitere in dem Laden gegenüber. Drei Düsseldorfer untersuchten die Asservatenbeutel, die ihnen von den Bonner Kollegen übergeben worden waren. Unter einem großen Pavillon hatten sie vier Tische aufgebaut, auf denen mehrere Asservatenkisten standen. Mitten in den Ermittlungen der Kollegen standen Dausend und Grütters herum wie Falschgeld. Links von ihnen arbeitete ein weißgekleideter Ermittler und untersuchte die Spuren, die die Sprengsätze auf dem Boden hinterlassen hatten. Wie bei einem Brand in einem Wohnhaus konnte man anhand der Explosionsspuren ermitteln, wo ein Sprengsatz gezündet wurde und in welche Richtung sich seine größte Zerstörungskraft richtete. Der Mann war Spezialist für Sprengstoffe der Sondereinsatzgruppe des LKA. Er nahm Fotos auf mit seiner Digitalkamera, die er sofort kontrollierte. Dausend beobachtete, wie er sich auf zwei verschiedene Spuren konzentrierte, einmal auf dem Straßenpflaster und ebenfalls auf den teilweise zerstörten Fliesen der Boutique. Er schulterte die Kamera und nahm eine Taschenlampe zur Hand. Damit leuchtete er langsam den Verkaufsraum ab. Der Lichtkegel erhellte die verbrannten Schaufensterpuppen, glitt über verkohlte Präsentationstische und leuchtete anschließend die Wand ab, vor der die Verkaufstheke stand. Innerhalb eines bestimmten Radius war die Zerstörung größer als außerhalb davon. Obwohl das Feuer vieles danach zerstört hatte, konnte man die Schneise, die die Detonation gerissen hatte, noch immer gut ausmachen. Der Spezialist dokumentierte dies jetzt mit der Kamera. Nach zehn Minuten war er damit fertig. Er ging hinüber zu einem Tisch und legte die Kamera dort ab, für Dausend die Gelegenheit, ihn anzusprechen.

„Kannst du uns schon etwas sagen, Felix?“, fragte er neugierig.

„Ja, das kann ich. Nichts Genaues, jedenfalls nicht, was den benutzten Sprengstoff angeht. Aber eins kann ich euch jedenfalls schon sagen: Es gab zwei Sprengsätze mit unterschiedlicher Ausrichtung.“

„Wie meinst du das?“

„Die Kollegen haben mir erzählt, dass zwei Blumenkübel rechts und links vom Eingang standen. Dort waren die Sprengsätze aller Wahrscheinlichkeit nach versteckt. Und jetzt kommt’s: Die Täter waren offensichtlich geschult, denn sie konnten die Detonationsrichtung zur Straße lenken, mindestens 10 Meter weit. Also haben sie die Ladung in die Gegenrichtung verdämmt. Ebenso sind sie bei dem zweiten Sprengsatz verfahren. Der war auf den Innenraum der Boutique gerichtet, man kann es genau ausmachen.“

Grütters, der mittlerweile neben seinem Kollegen angekommen war, machte große Augen. „Was ist der Sinn dahinter?“

„Es sollte ein Sprengsatz die Straße treffen, der andere den Laden“, antwortete Felix Neumeister.

„Ja, das habe ich verstanden. Aber warum? Haben die etwas falsch gemacht? Bist du sicher?“

Felix Neumeister verzog den Mund zu einem Lächeln. „Hast du schon einmal gesehen, dass ich mich geirrt habe?“

„Nein, aber das würde bedeuten, dass die zweite Bombe, die auf den Laden gerichtet war, genau diesen treffen sollte.“

Neumeister nickte mit halb geschlossenen Augen. „Sprengsatz, es heißt Sprengsatz. Wäre es eine Bombe gewesen, dann stünden wir in einem großen Krater. Das ist es, was die Spuren eindeutig ergeben. Ihr müsst herausfinden, warum es so ist. Ich liefere euch nur die Fakten, ermitteln müsst ihr zwei.“

Er drehte sich weg und ging mit einem Tatortkoffer zurück in die Boutique.

„Kapierst du das, Engelbert? Wenn sie doch maximale Zerstörung mit vielen Verletzten erreichen wollten, dann macht es doch keinen Sinn, einen Sprengsatz in die falsche Richtung auszurichten, oder?“

Dausend warf genervt den Kopf hin und her und blies die Backen auf. „Weiß ich, vielleicht wurde der Kerl, der die Sprengsätze in den Kübeln platziert hat, gestört oder er hatte keine Ahnung. Ist doch alles denkbar, Thomas.“

Grütters verzog nachdenklich den Mund. „Ja, alles ist denkbar. Dann ist aber auch denkbar, dass der Sprengsatz, der auf die Straße gerichtet war, falsch platziert wurde und die Boutique das eigentliche Ziel war. Wenn alles denkbar ist, kann ich auch das annehmen …“, stieß er hervor und steckte sich eilig eine Zigarette in den Mund. Blies kurz drauf den Rauch mit einer schnellen Bewegung am Kopf seines Kollegen vorbei, wartete auf eine Reaktion.

„Sicher, das kann man denken. Aber macht es Sinn? Gehen wir von einem islamistisch motivierten Anschlag aus? Ja oder nein?“

„Ja.“

„Dann werden wir, um uns abzusichern, die Boutique und deren Mitarbeiter durchleuchten und wenn es nichts ergibt, dann konzentrieren wir uns auf die Ergebnisse der Überwachungen der Kollegen vom Verfassungsschutz. Die wissen, ob sich einer der Gefährder hier in der Gegend herumgetrieben hat oder ob etwas anderes in Zusammenhang mit der Boutique auffällig geworden ist. Klar?“

Grütters saugte angestrengt an seiner Zigarette, Qualm drang aus seinen Nasenlöchern. „In Ordnung. So machen wir es“, sagte Grütters nach einem weiteren tiefen Zug aus dem Glimmstängel.

*

Bonn, Präsidium

Matthias Seltge, von allen Mitarbeitern im Präsidium nur Matze genannt, saß vor seinem Rechner und klopfte im Stakkato mit dem Bleistift auf die Tischkante. „Ich lege mich ungern mit denen vom Staatsschutz an und erst recht nicht mit dem Verfassungsschutz“, wiederholte er seine Worte noch einmal, mit denen er zuerst seine Mitarbeit verweigert hatte. „Ihr kennt diese Typen nicht. Erinnert euch mal an Heinrich Bölls ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘. Machst nix und zack biste im Visier von denen. Und wenn du tatsächlich was machst, dann erst recht!“

Matze fühlte sich unwohl in seiner Haut und er konnte sich ohrfeigen, schließlich doch klein beigegeben zu haben. Wendt und Klauk waren bei ihm aufgetaucht und hatten ihm von der Explosion berichtet und dass Oliver Hell ein Opfer dieses Anschlags geworden sei. Gut, es hatte ihn getroffen, dass einer aus dem Präsidium verletzt worden war. Aber er hatte mit Hell nicht so große Schnittmengen, dass er es als Katastrophe angesehen hatte. Aber die beiden Kollegen ließen die Köpfe hängen, nachdem er ihnen abermals bestätigt hatte, dass er nichts Illegales tun würde, was sich gegen die genannten staatlichen Stellen richten würde.

Jetzt saß er vor seinem Schreibtisch und sein Herzschlag beschleunigte. Er hatte sich in die Datenbank der Bonner Überwachungskameras eingeschlichen. Natürlich hatte er seine IP-Adresse geschickt verborgen. Für die Mitarbeiter der Bonner Stadt kam das Signal aus dem nördlichen Kaukasus. Auf ihn würde niemand kommen. Dennoch machte er sich Gedanken.

„Was sagt ihr, wann war die Explosion?“, murmelte er vor sich hin.

„Gegen halb zwölf in etwa“, antwortete Klauk und holte sich einen Sessel herbei. Er kickte ein paar Pizzaverpackungen beiseite, um sich einen Weg an den Schreibtisch zu bahnen. „Du könntest mal langsam einen Container bestellen für deinen Müll, den du hier hortest“, maulte er Seltge an.

„Ist ja nicht dein Arbeitsplatz, Sebi!“

Mit ein paar Klicks hatte Matze den Timecode auf 11:30 Uhr eingestellt. Es gab keine Kamera, die direkt den Ort des Geschehens einsehen konnte. Eine Kamera deckte den Platz vor dem Brunnen ab, eine weitere war am Ende der Straße angebracht, doch ihr Sichtbereich lag in Richtung Bottlerplatz. Matze ließ die Aufzeichnung langsam vorwärtslaufen. Eine Weile sahen sie nur viele Menschen und eine asiatische Touristengruppe, die Fotos machte.

„Da, da sind Hell und Franziska“, sagte Wendt und musste schlucken. Er hätte nie gedacht, dass er einmal seinen Chef als Observationsobjekt auf einem Bildschirm betrachten würde. Hell und Franziska trennten sich und der Kommissar näherte sich dem Brunnen. Sie verschwand in einem Kosmetikgeschäft.

„Typisch, so wäre es bei mir und Julia auch. Ich habe je kein Faible für Kosmetik und so ‘n Zeug“, sagte er, um sich ein wenig abzulenken. Ein paar Minuten lang passierte nichts, dann kam Franziska wieder auf Hell zu und man konnte sehen, wie die beiden in Richtung der Gasse davongingen.

„Hättet ihr keinen anderen Weg nehmen können?“, sagte Klauk mit belegter Stimme. Wendt seufzte. Hell und Franziska verschwanden ganz aus dem Blickfeld des Objektivs. Plötzlich tauchte eine riesige Staubwolke auf, Steine und Metallteile flogen wie Geschosse umher, Menschen flohen in Panik aus der Straße. Gespenstisch. Ohne Ton. Die graue Wolke legte sich wie ein Deckel auf das Geschehen. Wie ein Lebewesen kroch das tödliche Grau weiter. Der Staub machte eine genauere Betrachtung unmöglich. Atemlos betrachteten die drei den Bildschirm. Der Platz vor dem Brunnen war menschenleer. Wo sich noch Sekunden vorher fast einhundert Personen aufgehalten hatten, herrschte gespenstische Leere.

„Der da hat‘s aber nicht eilig“, sagte Klauk und deutete auf eine Gestalt, die sich aus der Wolke löste, und sich nach rechts in die Acherstraße hinter dem Brunnen fortbewegte.

„Kriegst du den schärfer rein?“, fragte Wendt aufgeregt. „Keine Chance, das ist eine starre Kamera, kein Zoom.“

„Und digital? Kannst du das kopieren?“

„Ja, kann ich. Aber ich kann euch jetzt schon sagen, dass sich da nur eine graue Pixelsuppe zeigt. Die Stadt gibt ‘ne Menge Geld für Sicherheit aus, aber diese Kameras sind noch von vor dem Gipskrieg“, bestätigte er ernüchtert.

„Jedenfalls haben wir einen Typen, der seelenruhig wegspaziert, während alle anderen in voller Panik davonrennen. Ist das unser Attentäter?“, fragte Klauk und nahm aufgeregt seine Brille von der Nase, steckte den rechten Bügel in den Mund und sah abwechselnd zu Wendt und Seltge hinüber.

„Möglich, Sebi. Aber sicher ist es nicht. Manche Menschen reagieren seltsam, wenn sie in solch eine Situation geraten.“

„Hör mal, da geht eine Bombe hoch und der spaziert weiter, als würde er über einen Flohmarkt schlendern? Das kannste mir nicht verkaufen. Das ist unser Attentäter! Verdammter Mist! Wieso haben wir nur so ein Scheiß-Bild? Gibt es am Ende dieser Straße noch eine Kamera?“

Seltge rieb sich das Kinn. „Nein, leider nicht!“

*

Bonn, Venusbergkliniken

Diesen Geruch kannte er sehr gut. Dennoch sollte er ihn für den Rest seines Lebens in der Nase haben. Es roch nach Desinfektionsmittel und frischem Verbandsmaterial. Im Hintergrund vernahm er ein gleichmäßiges Piepen. Langsam öffnete Oliver Hell seine Augen. Sofort spürte er einen Druck an seinem rechten Handgelenk.

„Da sind Sie ja wieder, Herr Kommissar“, hörte er eine fremde Stimme sagen. Wie in Zeitlupe stellten seine Sehnerven eine Gestalt neben ihm scharf. Ein blonder Engel.

Du bist jetzt im Himmel, dachte er. Doch wusste man im Himmel, dass er Polizist war? Eher nicht. Die Polizei war irdisches Machwerk, deren Tun man im Himmel nicht benötigte. Da war er sicher.

„Wo bin ich?“, stieß Hell beinahe winselnd hervor. Räusperte sich und ein stechender Schmerz fuhr durch seine Brust.

„Sie sind noch auf der Intensivstation und Sie müssen vorsichtig sein, die frisch vernähte Wunde könnte sonst wieder aufreißen.“

Ihr zarter Griff ließ sein Handgelenk wieder los. Hell versuchte, sich zu entspannen, doch der Würgereiz in seinem Hals blieb. Es fühlte sich an, als befände sich ein Fremdkörper in seiner Speiseröhre.

„Was ist mit meiner Lebensgefährtin, Franziska Leck?“, war seine zweite Frage. Seine Stimme klang dünn und zweifelnd.

„Sie lebt“, antwortete der blonde Engel.

„Wissen Sie mehr?“

„Nein, Sie müssen sich jetzt auf sich konzentrieren, Kommissar Hell. Man verabreicht Ihnen mit der Infusion ein Schmerz-, und ein Schlafmittel.“ Erst jetzt bemerkte er den Infusionsständer links von seinem Bett und die Infusionsnadel in seinem linken Arm.

Hell wollte eine weitere Frage stellen, doch dann bemerkte er, dass er schon wieder auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit war. Er spürte noch, wie die Fingerkuppen seiner rechten Hand die Bettdecke berührten. Dann glitt er zurück.

*

Bonn, Präsidium

Jetzt war Wendt nicht viel schlauer als zuvor. Die Informationen, die Christoph Hell ihm am Telefon übermittelt hatte, waren sehr dürftig. Aber er machte ihm sehr deutlich, dass er selbst nicht viel mehr wusste. Hell und Doktor Leck waren am Leben, es ging ihnen den Umständen entsprechend gut. Christoph war jetzt auf dem Weg in das Haus seines Vaters, denn dort wartete Bond seit Stunden auf die Rückkehr seines Herrchens. Vergebens. Er würde den Hund für die kommende Woche bei sich aufnehmen. Dafür musste er allerdings bei seinem Vorgesetzten Urlaub einreichen, er hoffte, den auch adhoc genehmigt zu bekommen. Dienstpläne waren oft sehr unflexibel und reagierten nicht wohlwollend auf familiäre Katastrophen. Christoph Hell versprach Wendt, sich wieder zu melden, sobald er etwas Neues erfahren würde.

*

Bonn, Präsidium

Auf dem Weg ins Büro des K11 ging Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen in Gedanken die spärlichen Informationen durch, die ihr der Mann vom Bonner Verfassungsschutz am Telefon gegeben hatte. Sie hatte sich gewundert, dass sich die Dienststelle mit ihr in Verbindung setzte, lag die Ermittlungsarbeit in diesem Fall doch auf den Schultern der Düsseldorfer. Dennoch hatte er auf einem Informationsaustausch bestanden. In Kürze würden zwei Kollegen auftauchen. Als sie den langen Gang entlangschritt, war die wohlbekannte Stimme von Kriminaloberkommissar Jan-Phillip Wendt bereits zu hören. Die andere Stimme, die ebenfalls laut zu hören war, kannte sie dagegen nicht. Sie schienen sich zu streiten. Die Glastür zum großen hellen Besprechungsraum stand sperrangelweit offen. Tatsächlich standen dort zwei Männer, die sie nicht kannte, auf der dem Fenster zugewandten Seite des großen Tischs, mit dem Rücken zu ihr stand Wendt. Rosin, Meinhold und Klauk saßen mit betretenen Gesichtern an ihren Schreibtischen und schwiegen.

„Die alleinige Ermittlungsarbeit in diesem Fall liegt bei den Herren Dausend und Grütters. Es kümmert uns nicht, dass Ihr Chef bei diesem Anschlag verletzt wurde. Das ist für diese Ermittlung nicht von Belang“, rief einer der Männer grimmig. Wendt atmete tief durch. Hansen sah, dass diese Worte ihm überhaupt nicht schmeckten. Sie fing seinen Blick ein und betrat das Büro des K11.

„Guten Abend, meine Herren. Darf ich den Grund für dieses hitzige Gespräch erfahren?“ Sofort herrschte Schweigen. Keiner sagte mehr etwas. „Meine Herren? Plötzlich stumm geworden?“ Sie sah die zwei Fremden an, dann zu Wendt hinüber. „Diese beiden Herren sind vom Verfassungsschutz und hier, um uns unsere beschnittenen Kompetenzen zu erläutern“, murrte Wendt schließlich. Er zog einen der untergeschobenen Stühle hervor und setzte sich. Scheinbar mit gelöster Stimmung bot er den beiden Männern einen Stuhl an, doch seine Körpersprache blieb unentspannt.

„Mein Name ist Brigitta Hansen, Oberstaatsanwältin. Wir haben bereits telefoniert. Ich dachte, Sie sind hergekommen, um uns Informationen über die Bonner Salafisten-Szene zu geben. Also, warum dann diese Feindseligkeit?“ Sie erinnerte sich an den Namen des Kollegen, mit dem sie gesprochen hatte. „Mit wem habe ich überhaupt die Ehre?“

Einer der Männer strich sich verlegen mit dem Finger über den Nasenrücken. „Verzeihung, Frau Oberstaatsanwältin, mein Name ist Bacak, das ist mein Kollege Lanev.“

Sie reichten einander die Hände und nahmen dann Platz. Bacak konnte seine türkische Abstammung nicht leugnen. Schwarzes kurzes Haar, kluge Augen funkelten ihr aus einem runden offenen Gesicht entgegen. Lanev war dem Namen nach gebürtiger Osteuropäer, blond und ein wenig pummelig. Seine Augen waren wasserblau wie das Meer an der polnischen Ostsee.

„Es war nicht unsere Intention, Oliver Hells Schicksal in Abrede zu stellen“, fing Lanev an, nachdem auch die anderen Teammitglieder Platz genommen hatten. „Es tut auch mir leid“, fügte Bacak hinzu. Wendt zog die Augenbrauen hoch. Diese Entschuldigung war ihm eindeutig zu dünn.

„In Ordnung, meine Herren. Kommen wir jetzt bitte zu den angekündigten Informationen?“, bat Hansen.

Bacak atmete tief durch, dann stand er auf und nahm ein paar Akten aus der Tasche, die er neben sich abgestellt hatte. Er ging zu einer der fahrbaren Glastafel hinüber. „Darf ich?“, fragte er über die Schulter hinweg.

„Natürlich“, antwortete Klauk nickend. Bacak heftete ein paar Blätter an die Tafel, drehte sich um. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

„Also, diese Zahlen, die wir ihnen jetzt nennen, sind aktuell, aber sie schwanken ständig. 320 mutmaßliche Salafisten sind den Sicherheitsbehörden im Bereich des Bonner Staats-, und Verfassungsschutzes bekannt. Etwas mehr als 10 Prozent der Gesamtzahl in NRW, die bei 2900 liegt. 90 Personen sind aktuell aus Deutschland ausgereist – vermutlich, um sich im Nahen Osten dschihadistischen Gruppen anzuschließen. Davon sind bislang schon wieder 30 zurückgekehrt. Alarmierend ist aber eine ganz andere Zahl. Nach unseren Ermittlungen leben circa 20 Gefährder im Bonner Stadtgebiet. 40 sind es, wenn man das erweiterte Umland bis zur Eifel mit hinzunimmt. Gefährder sind militante Islamisten, denen jederzeit ein Anschlag zuzutrauen ist. Viele unter ihnen sind kampferprobte Dschihadisten, denen ein Terroranschlag wie auf dem Boulevard in Nizza zuzutrauen ist.“

„Und Sie vermuten jetzt, dass einer von ihnen jetzt zugeschlagen hat?“, fragte Meinhold. „Das können wir noch nicht sagen. Wir stehen in Kontakt mit den Kollegen vom Staatsschutz hier in Bonn“, antwortete Lanev vom Tisch aus.

„Wir waren heute Nachmittag in Bonn an der Anschlagsstelle, um uns ein Bild zu machen. Ihre Düsseldorfer Kollegen vom Staatsschutz haben uns als Dilettanten und Trottel beschimpft und uns weggeschickt wie kleine Dorfköter“, antwortete ihm Wendt. In seinen Worten schwang noch immer die Verärgerung mit, das war deutlich zu hören.

„Staatsschutz Bonn. Staatsschutz Düsseldorf. Ist das nicht alles dem Landeskriminalamt unterstellt?“, wollte Rosin jetzt wissen, lehnte sich neben Lanev auf den Tisch und sah ihn durchdringend an.

„Die Kollegen aus Bonn haben alle Hände voll mit der Observierung der Verdächtigen zu tun und da haben sie direkt Verstärkung aus Düsseldorf angefordert, als die Nachricht von dem Anschlag bekannt wurde.“

„Und diese Kollegen Dausend und Grütters treten hier mit einer Arroganz auf als sei Bonn die Müllkippe von Düsseldorf“, schlug Klauk in dieselbe Kerbe wie Wendt.

„Das kann ich nicht beurteilen, meine Herren. Ich kenne diese beiden Beamten als zuvorkommend und äußerst effizient in ihrer Arbeitsweise.“

„Meine Frage ist damit noch nicht beantwortet, Herr Lanev“, fragte Lea Rosin nach.

„Was meinen Sie?“

„Ich möchte wissen, ob das LKA Düsseldorf die Federführung hat. Wenn das so ist, dann frage ich mich, warum sich die Kollegen aus Düsseldorf so unzugänglich gezeigt haben. Ich kenne es so, dass in solchen Fällen alle Kräfte gebündelt werden, um schlagkräftig zu sein. Ist das jetzt anders?“

Lanev suchte hilfesuchend den Blick seines Kollegen. „Die Kollegen Dausend und Grütters werden sich ein Bild machen und dann werden wir weitersehen“, antwortete er diplomatisch.

„Die Kollegen haben uns unmissverständlich klargemacht, dass unsere Anwesenheit in Bonn nicht erwünscht sei und es auch so bleiben werde“, sagte Klauk und machte eine genervte Handbewegung.

„Wir werden sehen, was die Bonner Staatsschützer uns mitteilen. Sie haben alle zwanzig Gefährder unter Beobachtung. Innerhalb dieses aktuellen Gefährderkreises wurden zuletzt 72 Islamisten innerhalb von ganz NRW der sogenannten Zielgruppe „Gegenschlag“ zugeordnet. Ihnen gilt besondere Aufmerksamkeit. Dazu gehört zum Beispiel der sofortige Besuch durch verdeckte Staatsschutz-Kräfte nach einem Anschlag, in Fachkreisen nennen wir das ‚Verbleibskontrollen‘. 32 Personen zählten überdies zum ‚Top‘-Kreis mit dem Namen ‚Zentrum‘. Sie werden mit sehr engmaschigen Maßnahmen belegt, von Telefonüberwachung bis zu einer Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch über 30 Sicherheitskräfte im Drei-Schicht-System.“

Die Worte des Staatsschützers zeigten ihre Wirkung. Es herrschte eine angespannte Ruhe im Raum.

„Wir würden dabei stören, wenn wir uns einmischen?“, fragte schließlich Klauk, dem bei diesen ganzen Neuigkeiten ganz flau im Magen wurde.

„Es kann nicht sein, dass die Arbeit der Kollegen durch unmotiviert auftauchende Kriminalbeamte durchkreuzt wird.“

„Unmotiviert?“, fragte Wendt angriffslustig. „Ich denke, wir alle hier sind Profis genug, um nicht unmotiviert die Arbeit der Kollegen zu zerstören. Dazu gehört aber in erster Linie eine funktionierende Informationskette, in die wir auch integriert sind. So wie die Kollegen Dausend und Grütters es handhaben, stellt es bei mir die Nackenhaare auf und die Kette wird erst überhaupt nicht gestartet. So kann man nicht arbeiten, nicht beim Staatsschutz und nicht innerhalb eines Teams.“

Er lehnte sich zurück und schaute in die Runde. Wieder war es Bacak, der antwortete.

„Die Kollegen Dausend und Grütters wissen, worauf sie an einem Tatort zu achten haben. Das wird der Grund sein, warum sie sich so abweisend Ihnen gegenüber gezeigt haben. Ich nehme sie infolgedessen in Schutz.“

„Ist ja alles schön und gut“, sagte Wendt, „aber ich frage mich, ob die Kollegen vom Staatsschutz schon einen Verdächtigen auf dem Radar haben. Wenn sie die 20 gefährlichen Personen in Bonn unter ständiger Kontrolle haben, dann sollte doch klar sein, ob sich einer von denen in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat. Ist das so?“

Seinen schnellen Seitenblick in Richtung Klauk konnte keiner außer dem Kollegen richtig interpretieren. Wenn es so war, dass der Kerl, den sie vom Tatort wegspazieren sahen, als Verdächtiger in Frage kam, dann würden auch die Kollegen aus Düsseldorf bald die Videos der Überwachungskameras durchforsten. Wobei sie natürlich nicht ahnten, dass Wendt und Klauk einen Wissensvorsprung hatten.

„Die Bonner Gefährder stehen unter lückenloser Überwachung. Wenn einer von denen dort war, dann erfahren wir das zeitnah. Sollte es jemand aus einem anderen Kreis sein, dann kann es sein, dass wir den nicht auf dem Schirm haben.“

„Also kann es sein, dass jemand den Anschlag geplant und durchgeführt hat, der nicht zur Bonner Szene gehört?“

„Sicherlich, das kann ebenso gut sein.“

„Und warum dürfen wir dann nicht mitmachen, wenn es sich herausstellt, dass es keiner der Jungs aus dem ‚Zentrum‘ war?“, fragte Klauk spitzfindig.

„Das sagt ja niemand, Herr Klauk!“, antwortete Lanev pikiert.

„Ach, wenn wir keinen Schaden anrichten können, spielen wir plötzlich mit?“

„Es geht hier nicht um Kompetenzen, es geht hier darum, dass wir diese Männer und Frauen unter Beobachtung halten und das möglichst so, dass sie es nicht mitbekommen. Geht es um normale Polizeiarbeit, dürfen Sie selbstredend ihre Ermittlungen aufnehmen, werte Kollegen.“

„Denken Sie, dass die Salafisten nicht wissen, dass sie beobachtet werden?“, fragte Rosin. „Doch das wissen sie. Doch sie wissen nicht von wem.“

Jetzt mischte sich Brigitta Hansen in die Diskussion ein. „Wenn ich das alles zu einer Konklusion führen darf, fasse ich wie folgt zusammen: Die Kollegen hier halten die Füße still, und zwar so lange, bis Sie ihnen grünes Licht für ihre Mitarbeit geben. Ist das korrekt so?“

Lanev und Bacak nickten ohne sich vorher angeschaut zu haben. „Bitte denken Sie nicht, dass wir Ihre Arbeit nicht zu schätzen wissen. Gerade das Team von Oliver Hell hat einen sehr guten Ruf. Aber wir können zum jetzigen Zeitpunkt die Ampel nur auf Rot stellen. Bitte haben Sie Verständnis dafür.“

„Das haben wir“, antwortete Brigitta Hansen und hoffte, dass niemand von den Angesprochenen widersprechen würde. Mehr Mitarbeit war im Moment nicht zu erwarten. Ein allgemeines missmutiges Murmeln signalisierte so etwas wie Zustimmung.

„Ich danke Ihnen, meine Herren für Ihre Offenheit und die Einführung ins Thema. Das war für uns alle sehr erhellend und wir wissen jetzt Ihre komplizierte Arbeit ein wenig mehr zu schätzen“, sagte Meinhold, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte. So kannte man sie mittlerweile. War sie vor einigen Jahren noch ähnlich impulsiv wie Wendt, so hatte ihre Ausbildung zur Profilerin sie ruhiger und abwartender gemacht. Ihre Kollegen schenkten ihr dafür ein Lächeln.

Lanev und Bacak erhoben sich und machten Anstalten zu gehen. Hansen stand auf und ging vor ihnen zur Glastür hinüber. „Ich begleite Sie noch zum Aufzug, wenn Sie erlauben“, schlug sie vor. Keiner widersprach ihrem Vorschlag.

Als die drei Silhouetten hinter der Glasfront verschwunden waren, prustete Klauk laut los. „…wir wissen jetzt Ihre komplizierte Arbeit ein wenig mehr zu schätzen! Ich wusste gar nicht, dass du mittlerweile so diplomatisch sein kannst, Chrissi!“

Meinhold verzog den Mund zu einem schelmischen Grinsen. „Was denn? Ich habe damit nur zum Ausdruck bringen wollen, dass sie eine schwere Bürde tragen. Zwischen den Zeilen kann man natürlich etwas anderes lesen … aber das würden nur böse Gesellen tun.“

„Ich habe es so verstanden, dass sie sich nicht so aufspielen sollen“, sagte Rosin schmunzelnd. „Du bist ein böser Geselle, Lea!“

Wendt gab den beiden Frauen ein Zeichen, näher an ihn heranzurücken. Dann sprach er betont leise, als hätten die Wände Ohren.

„Scherz beiseite, Mädels. Sebi und ich waren eben bei Matze und wir haben eine Kamera gehackt, die den Explosionsort zeigt. Wir haben die Explosion gesehen, kurz zuvor Hell und Franziska Leck, wie sie sich dorthin bewegen. Ich kann euch sagen, das war echt übel. Aber das ist es nicht, was ich euch sagen will. Wir haben auf dem Video einen Mann vom Tatort weggehen sehen. Langsam und scheinbar unbeteiligt. Matze hat den Teil des Videos kopiert und will ihn vergrößern und bearbeiten. Wenn wir Glück haben, können wir jemanden erkennen.“

Die beiden Frauen hingen an seinen Lippen, als wäre er Brad Pitt. Keine von beiden sagte etwas, nachdem er seine Erklärung beendet hatte. „Das sollten die beiden aber nicht erfahren“, entgegnete Rosin nach einer langen Pause.

„Das sollte niemand wissen, auch nicht Hansen. Die reißt euch den Allerwertesten auf.“

„Aber jetzt können wir die auf die Probe stellen. Wenn der Staatsschutz oder der Verfassungsschutz den Kerl auf dem Video kennt, wenn einer von denen ihm auf den Fersen war, dann haben wir unseren Attentäter!“, sagte Klauk begeistert.

Meinhold sah ihn ernst an. „Und wenn der Ermittler unter den Opfern ist? Kennen wir die Namen von deren verdeckten Ermittlern?“, warf Meinhold ein. Sofort wich die kurz zuvor ausgebrochene Begeisterung einer ebenso großen Ernüchterung.

„Scheiße, wir müssen sofort die Liste der Opfer überprüfen. Das wäre der Super-Gau, wenn der unter den Opfern wäre“, antwortete Klauk schmallippig und machte sich sofort an die Arbeit.

„Hätten die uns das nicht verraten, wenn es so wäre?“

„Würdest du das tun, Lea?“, fragte Meinhold und begab sich zurück an ihren Schreibtisch, wo die zum Teil unbearbeitete Liste mit den Namen der Verletzten und Toten lag. Sie reichte einige Blätter hinüber zu Klauk.

Lea zuckte als Antwort nur mit den Schultern.

*

Bonn, Klinik

Als Luana Oliveira erwachte, wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie lag in einem Bett, etwas hinderte sie am Sehen. Daher langte sie mit der rechten Hand an ihren Kopf und ertastete einen großflächigen Verband, spürte sofort ein Stechen in der linken Schulter. Vor Angst und Schmerz schrie sie auf.

„Hallo Frau Oliveira, Sie dürfen sich nicht so schnell bewegen“, hörte sie jemanden sagen. Ganz nah bei ihr. Ihr Kopf fuhr herum in Richtung der Stimme.

„Was? Wo bin ich? Wer sind Sie?“

„Sie sind im Krankenhaus, mein Name ist Doktor Bertrand, ich bin ihre behandelnde Ärztin. Sie haben großes Glück gehabt, Frau Oliveira“, sagte eine andere Stimme. Glück? Was war passiert? Ihr Gehirn fühlte sich an wie in Watte gepackt. Plötzlich kam die Erinnerung zurück. Dieser fürchterliche Knall, berstende Scheiben, herumfliegende Splitter und ein erstickter Schrei. Mit der Erinnerung verbunden keimte eine schreckliche Vermutung in ihr auf.

„Was ist mit Claudia? Ist sie unverletzt?“

„Wer ist Claudia?“, fragte Doktor Bertrand.

„Sie ist meine Angestellte … sie war vorne im Laden, als die Bombe hochging. Madre mia! Was ist denn passiert?“, entfuhr es ihr.

Sie hörte, wie sich die beiden Stimmen gedämpft unterhielten, dann räusperte sich die Doktorin. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Frau Claudia Trenzen ihren Verletzungen erlegen ist.“

Oliveiras Oberkörper begann zu zucken, dann brach sie in einen heftigen Weinkrampf aus. „Claudia, nein! Doch nicht Claudia! Sie hat doch niemandem etwas getan. Diese verfluchten Schweine!“

„Sie müssen sich beruhigen, Frau Oliveira. Ihr Zustand erlaubt momentan keinen Stress. Sie haben eine große Schnittwunde am Oberkopf, die wir nähen mussten. Dazu kommen mehrere kleinere Schnittwunden auf der Stirn, die aber, ohne Narben zu hinterlassen, verheilen werden. Außerdem haben Sie aller Voraussicht nach ein Knalltrauma erlitten. Das ist normal bei Explosionsopfern; die angebrochenen Rippen werden wahrscheinlich das sein, was Sie am längsten beschäftigen wird, wenn man von der geprellten Schulter absieht.“

Die Worte der Ärztin erreichten Luana Oliveira nicht. Ihr eigenes Schicksal war ihr verhältnismäßig egal. Sie war gebürtige Brasilianerin und nicht zimperlich. Die zierliche Frau hatte in ihrem Leben schon viele Menschen sterben sehen, kannte Gewalt und Elend. Davor war sie aus Brasilien geflohen. Vor allem vor den rivalisierenden Drogenkartellen, die mit unglaublicher Brutalität zuwege gingen. Sie kannte deren Art zu töten und sie kannte deren Warnungen. Wer sich gegen sie stellte, musste um sein Leben bangen. Die Polizei stand oft auf verlorenem Posten. Als Drogenfahnder hatte man keine hohe Lebenserwartung in dem Land. Auch als deren Angehöriger musste man ständig auf der Hut sein. Ihr Bruder war solch ein Drogenfahnder. Er war es gewesen, der darauf bestanden hatte, dass sie das Land in Richtung Europa verließ. Ihre guten Sprachkenntnisse zu Hilfe nahm, um sich hier in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Das hatte sie getan. Doch jede Woche telefonierte sie mehrmals mit ihrem Bruder. Beim letzten Gespräch hatte er ihr gesagt, dass sie kurz vor einem spektakulären Coup standen. Mehr durfte er ihr nicht verraten. War es ein Zufall, dass genau zu diesem Zeitpunkt ein Sprengsatz vor ihrem Geschäft explodierte? Für sie war es keine Frage. Dieser Anschlag war nicht von Salafisten verübt worden. Diese Explosion war eine Warnung an ihren Bruder. Machst du weiter, stirbst auch du!

„Es tut mir sehr leid um ihre Angestellte, aber Sie müssen jetzt vor allem an sich denken. Die Polizei wird diejenigen finden, die für ihren Tod verantwortlich sind“, sagte die Ärztin, wollte sie damit aufmuntern. Oliveira schluchzte unvermindert weiter.

Wenn Sie wüssten, ich bin als Nächste dran! Wenn die herausfinden, dass ich überlebt habe, dann versuchen sie es erneut.

*

Bonn, Präsidium

Nichts schien an diesem Abend richtig zu sein. Weder in der Stadt, die heute ihren ersten Sprengstoffanschlag erleben musste, noch im Bonner Präsidium. Oliver Hell sollte daheim in seinem Haus sitzen, einen schottischen Whisky trinken und sich auf den kommenden Urlaub freuen. Stattdessen lag er im Krankenhaus und kämpfte um sein Leben. Seiner Partnerin ging es ähnlich. Dementsprechend war die Stimmung im K11 bedrückt. Wendt und Klauk warteten wie auf heißen Kohlen auf einen Anruf von Christoph Hell. Doch der meldete sich nicht. Hansen drängte auf eine Pressekonferenz noch am Abend, doch sie erreichten Dausend und Grütters nicht. Im Internet schossen die Spekulationen hoch, die Spätausgabe einer Kölner Abendzeitung titelte: ‚Terroranschlag in Bonn!‘. In der Zeile darunter ‚War die Politik zu fahrlässig im Umgang mit den Bonner Salafisten?‘ Für die Presse war klar, dass der Anschlag einen terroristischen Hintergrund hatte. Etwas anderes kam nicht in Frage. Klauk lehnte sich in seinem Stuhl zurück, nahm die Brille ab und steckte den Brillenbügel in den Mund. Man sah ihm an, dass er etwas Wichtiges herausgefunden hatte.

„Ich habe jetzt einige Informationen über Luana Oliveira zusammengestellt. Die Boutiquebesitzerin stammt aus Brasilien, genau genommen aus Porto Velho, einer Stadt in Westbrasilien an der Grenze zu Peru. Sie ist 36 Jahre alt, lebt seit fünf Jahren in Bonn und hat eine Ausbildung zur Übersetzerin gemacht – sie spricht fließend Englisch, Deutsch und Niederländisch. Porto Velho liegt an der sogenannten Kokainstraße. In Peru angebautes Kokain wird über die Grenze gebracht und von dort aus an die Ostküste Brasiliens weitertransportiert. Porto Velho ist so etwas wie der Verschiebebahnhof. Ihr Bruder ist ein Kollege bei der brasilianischen Polizei.“

„Was willst du uns damit sagen? Dass die Bonner Salafisten Kontakt zu den Drogenhändlern in Brasilien haben?“, fragte Rosin skeptisch.

„Keine Salafisten, Drogenhändler!“

„Wie?“

„Es war kein islamistisch motivierter Anschlag, sondern er galt Luana Oliveira.“

„Blödsinn, das konstruierst du jetzt allein aus der Tatsache, dass sie aus einem brasilianischen Ort stammt, der an dieser Kokainstraße liegt und weil ihr Bruder ein Bulle ist? Ist das nicht ein bisschen schwach?“, meinte auch Wendt kritisch.

„Ja, das meine ich. Oliveiras Bruder arbeitet bei der Drogenfahndung.“

Wie zum Beweis hielt er den Kollegen sein Tablet mit der Akte der brasilianischen Polizei hin. Ihnen schaute ein gut aussehender Mann Anfang vierzig entgegen. Gütige Augen in einem bärtigen Gesicht. Rosin betrachtete den Drogenfahnder eingehend. Dann zuckte sie mit der Augenbraue und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

„Überzeugt mich nicht“, erwiderte Wendt scharf. Klauk setzte seine Brille wieder auf und stand auf, ging zum Fenster hinüber. Man konnte sehen, dass er Probleme mit der Kritik seiner Kollegen hatte.

„Du willst, dass es islamistischer Terror war? Bist du ebenso verbohrt wie Dausend und Grütters? Was würde Hell jetzt sagen, wenn er hier wäre?“

„Hell ist aber nicht hier, er liegt im Krankenhaus, weil er in eine Bombe dieser elenden Moslems gelaufen ist“, keifte Wendt los.

„Salafisten, nicht Moslems. Das eine hat mit dem anderen rein gar nichts zu tun“, pflichtete Rosin jetzt indirekt Klauk bei. Der warf ihr einen kurzen dankbaren Blick zu, dann baute er sich neben Wendts Schreibtisch auf.

„Wir sollen laut Hansen in alle möglichen Richtungen ermitteln, unter der Hand natürlich. Wenn das LKA und der Staatsschutz von einem salafistisch motivierten Anschlag ausgehen, was hindert uns daran, einem anderen Ansatz zu folgen?“

„Weil ich an diesen anderen Ansatz glauben muss, um ihm nachzugehen. Das ist nicht der Fall, also!“

„Also was? Weil du stur und unflexibel bist, muss ich klein beigeben?“

„Ich bin weder stur noch unflexibel“, polterte Wendt los, erhob sich von seinem Drehstuhl. Er und Klauk waren gleich groß, maßen beide über einen Meter neunzig. Jetzt berührten sich beinahe ihre Nasenspitzen.

„Seid ihr beiden eigentlich noch ganz klar? Kaum ist der Chef nicht da, macht ihr hier beide einen auf dicke Hose?“, rief Rosin von ihrem Stuhl aus. „Ihr gebt echt ein Bild des Jammers ab. Idiotisches Macho-Getue.“

Wendt hasste es, wenn ihn jemand kritisierte, aber Rosins Einschätzung war völlig korrekt. Er hatte Angst um seinen Freund und Kollegen Hell. Diese Angst machte ihn anfällig für Fehler und für Ungerechtigkeiten. Er atmete tief ein und legte Klauk versöhnlich die Hand auf die Schulter. Alle Feindseligkeit war wieder aus seinem Blick gewichen.

„Sorry, Sebi. Das Ganze ist wohl ein wenig zu viel für mich. Du hast eine mögliche Spur. Dausend und Grütters ermitteln in Richtung Salafisten, wir schauen uns Luana Oliveira genauer an. Lea, kannst du Kontakt zur brasilianischen Polizei aufnehmen und versuchen, mit ihrem Bruder zu sprechen?“ Lea nickte. „Wenn ich damit fertig bin, die Namen der Verletzten und Toten gegenzuchecken oder zuvor?“

„Wir fahren jetzt ins Krankenhaus und sprechen mit Oliveira. Vielleicht hat sich danach das Telefonat erledigt. In welcher Klinik liegt sie?“

„Im Johanniter-Krankenhaus in der Nähe der Rheinaue“, antwortete Rosin nach einem Blick auf die Opferliste.

*

Bonn, Venusbergkliniken

Bei Bewusstsein. War sie das? Oder dauerte dieser schreckliche Albtraum immer noch an? Der Traum verfolgte sie, sie erblickte in Endlosschleife brennende Menschen, abgetrennte Gliedmaßen und der letzte Blick von Oliver, der sich ins Nichts zu verabschieden schien. War er noch am Leben? Doktor Franziska Leck schlug ihre Augen auf und sah nur Dunkelheit um sich herum. Wo war sie? Im Krankenhaus? Sie lauschte ins Dunkel. Jedenfalls schien sie noch zu leben. Ihr Atem ging flach. Sofort horchte sie in ihren Körper hinein, versuchte ihre Gliedmaßen zu bewegen, schlug die Bettdecke zur Seite und tastete hektisch ihren Bauch ab. Alles schien intakt zu sein. Sie streckte ihre Zehen und krümmte die Knie, zog sie an ihren Körper heran. Dabei spürte sie einen großen Verband auf ihrer Brust, sie tastete ihn ab, um sich eine Vorstellung zu machen, warum man ihn ihr angelegt hatte. Ihre medizinischen Kenntnisse beschränkten sich auf das, was Medikamenten- und Drogenmissbrauch im Körper eines Menschen anrichten konnten. Das gehörte zu ihrem Spezialgebiet als Profilerin, als ausgebildete Psychologin war die Innenwelt des Menschen ihr Betätigungsfeld. Der Verband lag recht locker auf ihren Brüsten. Ihre Hand glitt weiter an ihrem Hals entlang. Auch auf der Stirn spürte sie plötzlich etwas Ungewohntes. Etwas lag sehr fest auf ihrer Stirn. Erschrocken fuhr ihre Hand ins Haar, über ihr rechtes Ohr. Dort, wo sie sonst ihre blonden Locken ergriff, spürte sie eine kahlrasierte Stelle. Augenblicklich schnürte es ihr die Kehle zu. Sie musste schlucken, beinahe würgen. In Panik wuchtete sie ihre Beine über die Bettkante, versuchte aufzustehen. Wieso war es in diesem Raum so dunkel? Sie tastete sich vor, bis sie mit dem Knie gegen etwas Hartes stieß. Ein Stuhl, daneben ein Tisch. Ihre rechte Hand fuhr schnell über die Tischplatte, bis sie die Wand dahinter ertastete. Ihr Atem ging stoßweise, sie ließ die Hand über die Glasfasertapete gleiten, die so typisch für Krankenhauszimmer war, bis sie eine Wand erreichte. Kopflos tastete sie nach dem Lichtschalter, fand ihn und die sofort einsetzende Helligkeit schmerzte in ihren Augen. Sie blickte sich um: Ein Krankenzimmer, wie sie schon erwartet hatte, ein Einzelbett. Atemlos hastete sie weiter zu einer Tür zu ihrer Rechten, in der Hoffnung, dort das erwartete kleine Badezimmer zu finden. Sie riss die Tür auf, ihre Augen fanden den Lichtschalter neben der orangefarbenen Notfallschnur. Ohne lange nachzudenken schlug sie darauf und suchte sofort ihr Konterfei im Spiegel über dem schmalen Waschbecken. Was sie dort sah, raubte ihr gänzlich den Atem. Entsetzt fuhr ihre Hand an den Mund, um nicht loszuschreien. Trotzdem hörte sie ihren erstickten Schrei. Ihr Schädel schien komplett kahlrasiert, ihre Stirn und die Kopfhaut unter den Haarstoppeln waren fleckig braun verfärbt vom Desinfektionsmittel. Vom Stirnansatz bis fast in den Nacken trug sie einen großen Verband, an mehreren Stellen waren kleine Schnittwunden mit akkuraten Stichen vernäht. Das war es aber nicht, was ihr beinahe die Sinne schwinden ließ. Ihr linkes Auge war geschwollen und blutunterlaufen. Von der Nasenwurzel bis fast an ihr Ohr zog sich eine weitere Wunde. Sie zählte die Stiche. Bei 21 hörte sie auf zu zählen. Franziska Leck war eine schöne Frau, vielen verglichen sie mit der amerikanischen Schauspielerin Cate Blanchett. Von dieser Schönheit war nicht mehr viel übrig. Sie spürte, wie ihr Kreislauf zusammenbrach, die weißen Kacheln begannen sich vor ihren Augen zu drehen. Franziska schaffte es, mit der linken Hand nach der Notfallschnur zu greifen, bevor sie zusammensackte.

*

Bonn, Innenstadt

Die Sonne war schon fast untergegangen, als Peter Haus zum Handy griff und eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher wählte. Nach dreimaligem Freizeichen hob jemand ab. „Na, alles klar bei dir?“, fragte der Angerufene vertraut.

„Ja, alles bestens. Kommst du vorbei?“

„Na klar, sicher. Sag mir doch noch mal deine Adresse.“

Haus nannte sie ihm.

„Okay, in einer Viertelstunde. Komm runter an die Straße!“

Peter Haus hatte ein Geschäft angeleiert. Bei einem Mann, der aus dem Auto heraus Drogen verkaufte, vornehmlich Koks. Er rief ihn ein paarmal im Jahr an, immer dann, wenn er Lust auf einen Kick hatte. Wenn er einen langen Drehtag vor sich hatte oder wenn er einen langen Drehtermin abgeschlossen hatte oder wenn er sich einfach aufputschen wollte. Gelegenheiten gab es in seinem Beruf als Kameramann genügend. Mit Anfang vierzig erledigte sich nicht mehr alles wie von selbst, wie noch Jahre zuvor. Dazu brauchte man Hilfe. Dazu brauchte er Koks. Früher als erwartet rollte eine große deutsche Limousine durch die Straße, näherte sich im Schritttempo. Hielt vor Haus an und der stieg eilig auf der Beifahrerseite ein.

„Hey, bist pünktlich“, sagte er ein wenig verlegen.

„Gehört zum Geschäft“, antwortete der Fahrer, ein Mann in seinem Alter, nur ein wenig beleibter als er. Er gab jetzt Gas, weil er nicht auffallen wollte.

„Der gleiche Kurs?“, fragte Haus.

„Wie immer“, antwortete der Dicke. Seine Augen hielt er auf die Straße und vor allem auf die Bürgersteige links und rechts gerichtet.

„Die Bullen kontrollieren im Moment viel“, erklärte er seinem Kunden gegenüber die Vorsicht. Steckte schnell den ihm hingehaltenen 50-Euro-Schein weg, während Haus das Röhrchen mit dem Koks in seiner Tasche verschwinden ließ. Keine zwei Minuten nachdem er eingestiegen war, hatten sie das Geschäft abgewickelt. Der Fahrer stoppte den Wagen in einer Seitenstraße und Haus stieg aus.

„Noch einen schönen Abend wünsche ich dir“, sagte der Dealer und fuhr davon. In Haus‘ Jacketttasche steckte ein Röhrchen mit Koks. Ein halbes Gramm für 50 Euro. Er hätte auch ein ganzes Gramm bekommen können, das war der übliche Kurs. Aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass ein halbes Gramm weniger verschnitten war. So hatte er mehr Spaß.

Haus war ein typischer Partykokser. Er zog sich das weiße Gold durch die Nase, wenn er einen draufmachen wollte, einmal mehr als die übliche Party vor sich hatte und wenn er es auf Sex angelegt hatte. Er machte sich durch den Kauf strafbar, was er natürlich wusste. Dabei sah er sich nicht einmal als schlechten Menschen an. Koks war in der breiten Mitte der Gesellschaft angekommen und dort auch anerkannt. Jedenfalls unter vorgehaltener Hand. Haus war ein Mittelklasse-Mann. Er fuhr ein Mittelklasse-Auto, wohnte in einer Mittelklasse-Wohngegend und er kaufte sein Gemüse und seinen fair gehandelten Kaffee mit gutem Gewissen im Bio-Markt, hatte einen Vertrag mit einem Ökostrom-Anbieter abgeschlossen. Ambivalente Verbraucher. Mit seinem Koks-Kauf unterstützte er die Drogengeschäfte südamerikanischer Kartelle, während er stolz darauf war, seinen Kaffee ebenfalls von dort zu beziehen und damit die armen Kaffeebauern zu unterstützen. Wie so viele in seinem Mittelklasse-Niveau. Haus ging zufrieden heim und stellte sich unter die Dusche. Das Röhrchen mit dem halben Gramm pulverförmigem Glück wartete auf seinem Wohnzimmertisch auf seinen Einsatz.

*

Bonn, Johanniter-Krankenhaus

Wenige Minuten, nachdem Wendt und Klauk an der Rezeption des Johanniter-Krankenhauses nach einem kurzen Gespräch mit Luana Oliveira gefragt hatten, durften sie das Zimmer der 36-jährigen betreten. Sie fanden sie dort nicht alleine vor, an ihrem Bett saß eine blonde junge Frau. Die drehte sich sofort um, schaute Wendt an, als hätte sie eine andere Person erwartet. Oliveira saß beinahe aufrecht auf ihrem Bett, die dünne Decke bis an die Taille gezogen. Auf ihren Kopf trug sie einen weißen Turban, der so tief heruntergezogen war, dass er über ihre Augen reichte. Wendt bemerkte ihren südamerikanisch dunklen Teint, sah die schmale Nase und die prallen, fein geschwungenen Lippen der Frau. Unter dem Verband quoll dichtes dunkles Haar hervor. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, hatte sie ihren Kopf in Richtung der beiden Männer gewandt. Die Blonde sah sie unentwegt an.

„Frau Oliveira, mein Name ist Jan-Phillip Wendt von der Kriminalpolizei Bonn, bei mir ist mein Kollege Sebastian Klauk. Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zum heutigen Bombenanschlag auf Ihren Laden zu beantworten?“, fragte Wendt zögernd. Sofort bewegte sich der Turban wild hin und her.

„Mein Laden war nicht das Ziel dieses Anschlags, da irren Sie sich, Herr Kommissar“, antwortete Oliveira ohne einen erkennbaren Akzent in ihrer Stimme, die fest und sicher klang. Wendt vermutete, dass sich ihre Augenbrauen skeptisch nach oben zogen. Das hätte jedenfalls zu dem spöttischen Ausdruck gepasst, der sich um ihren Mund ausbreitete.

„Es tut uns sehr leid, dass Ihre Angestellte ihr Leben verloren hat, unser Beileid“, sagte Klauk und machte einen Schritt auf das Bett zu. Sofort stand die Blonde auf und stellte sich ihm in den Weg. Die Geste war unmissverständlich.

„Sie haben gehört, was Luana gesagt hat. Lassen Sie uns jetzt bitte alleine, wir müssen Claudias Beerdigung planen“, zischte sie. Wendt ließ sich von dem Gehabe nicht irritieren. „Darf ich erfahren, wer Sie sind?“

„Eine Freundin“, erhielt Wendt als schnippische Antwort. „Bea, lass sie bitte. Die tun doch nur ihre Arbeit. Wir wollen doch auch wissen, wer hinter dem Sprengstoffanschlag steckt“, sagte Luana vom Bett aus und tastete hilflos nach der Hand der Frau, zu der sie offenbar ein freundschaftliches Verhältnis pflegte. Bea sah zu Luana Oliveira hinüber und beeilte sich, ihre Hand zu ergreifen, setzte sich wieder neben ihr Bett.

„Ihren Namen hätte ich gerne gewusst“, hakte Wendt nach.

„Beate Frings“, antwortete sie schnell und ohne ihn dabei anzuschauen.

„Danke, Frau Frings. Würden Sie uns und Frau Oliveira bitte einen Moment lang alleine lassen?“

„Nein, warum sollte ich das tun?“, erwiderte sie scharf und blickte ihn vorwurfsvoll an. „Bitte verlassen Sie jetzt den Raum“, forderte Klauk sie unmissverständlich auf. Langsam hatten sie die Nase voll von dieser aufmüpfigen Freundin Bea.

Sie blieb demonstrativ sitzen. „Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungs-Dingsbums?“, fragte sie patzig und strich hektisch über Oliveiras Hand.

„Nein, den benötigen wir nicht“, antwortete Wendt hörbar genervt. Bea ließ es drauf ankommen, doch dann spürte sie, wie Luana ihre Hand drückte. „Ist schon gut, Bea. Du kommst sofort wieder rein, wenn die Herren gegangen sind. Dann planen wir weiter“, sagte sie. Wendt meinte eine kleine Nuance, einen kleinen verräterischen Tonfall in Oliveiras Stimme vernommen zu haben, doch dann stand Beate Frings auf. Sie schien ihn mit ihrem Blick durchbohren zu wollen, dann wandte sie sich ab und kurz drauf klickte die Tür hinter ihnen. Wendt atmete auf.

„Frau Oliveira, wir haben herausgefunden, dass Sie und Ihr Bruder aus der brasilianischen Stadt Porto Velho stammen und dass Ihr Bruder bei der Drogenfahndung arbeitet. Stimmt das?“, fragte Klauk, der neben ihr Bett getreten war. Sie zögerte mit der Antwort, wandte den Kopf zum Fenster hin. Draußen war es dunkel, aber das konnte sie unter ihrem Kopfverband nicht sehen.

„Ja, das stimmt, wir stammen aus Porto Velho“, antwortete sie langsam, als läge diese Tatsache wie eine schwere Last auf ihren Schultern.

„Und Ihr Bruder ist Drogenfahnder?“

Sie nickte. „Kann es sein, dass diese Bombe eine Warnung eines Drogenkartells gewesen ist?“, fragte jetzt Wendt. Ihr Kopf zuckte zurück, Wendt hatte den Eindruck, unter dem Turban fixierte ihn ihr durchdringender Blick.

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Weil die Kartelle so arbeiten, wenn sie jemanden einschüchtern wollen.“

„Was wissen Sie denn von den brasilianischen Kartellen?“, fuhr sie Wendt an. „Waren Sie schon einmal in Brasilien? In den letzten Jahren? Einschüchterung, alles Blödsinn. Die erledigen ihre Widersacher sofort. Dieses Einschüchterungs-Szenario ist ein klischeehaftes Film-Märchen. Sie wissen doch gar nicht, wie es mittlerweile in Südamerika zugeht. Wenn mein Bruder denen im Weg wäre, dann wäre er längst tot. Aber er lebt. Meine Freundin und Mitarbeiterin Claudia ist tot. Ermordet von irgendwelchen salafistischen Spinnern, die hier in Deutschland ihren verfickten Gottesstaat aufbauen wollen. Dort sollten Sie suchen, nicht in Brasilien!“

Aus ihren Worten war die pure Verzweiflung herauszuhören. Die Trauer um Claudia Trenzen war echt. Ebenso ihre Entrüstung über Wendts Äußerung. „Entschuldigung, das haben wir so nicht gewusst“, sagte er leise, obwohl ihm ihr Aufbrausen fast etwas zu emotional war.

„Wir ermitteln in alle möglichen Richtungen ...“ Klauk wollte ihr erklären, wieso sie diesen Ansatz gewählt hatten, doch sie ließ ihn gar nicht ausreden.

„Dieser Ansatz ist falsch, haben Sie verstanden? Vielleicht schauen Sie sich mal eine der populären amerikanischen Serien an, ‚Breaking Bad‘ oder ‚Narcos‘, das verändert vielleicht Ihre Sichtweise drastisch.“

Sie sprach beinahe wie eine Kollegin. Das brachte Klauk auf eine Idee. „Haben Sie Kontakt zu Ihrem Bruder?“

„Ja, das habe ich. Wir telefonieren wöchentlich“, gab sie sofort zu. Sicher, weil sie ahnte, dass sie es sowieso überprüfen würden. Also musste sie nicht lügen und sie weiter auf sich aufmerksam machen. Das vermutete auch Klauk.

„Redet ihr Bruder mit Ihnen über seine Arbeit?“

Sie stieß ärgerlich die Luft aus. „Lieber Herr Klauk, es kann ja sein, dass Sie keine hohe Meinung von uns Brasilianern haben. Aber diese Frage beleidigt eher Ihre Intelligenz. Mein Bruder ist Polizist, sprechen Sie mit Ihrer Schwester über Ihre Einsätze, vor allem, wenn sie hochbrisant sein können?“

Treffer. Klauk fasste sich an die Nase und rieb seinen Nasenrücken. Oliveira konnte das nicht sehen. Dennoch fühlte sie sich ihm jetzt überlegen. „Was? Keine Nachfrage? Es ist vielleicht eher so, dass Sie hier in Deutschland keine richtigen Gangster-Syndikate haben und deshalb solche unbedarften Fragen stellen? Ich sehe es Ihnen nach, Herr Klauk!“

Klauk suchte sofort Wendts Blick. Der gab ihm mit einem Nicken hin zur Tür ein Zeichen. Es war besser zu gehen. Oliveira würde ihnen nichts verraten, selbst wenn sie etwas wusste.

*

Bonn, Venusbergkliniken

„Es gibt doch hier in Bonn ganz hervorragende plastische Chirurgen“, versuchte die Ärztin ihre Kollegin zu beruhigen. Franziska Leck lag auf ihrem Krankenbett, ihr Kreislauf war wieder in normale Bahnen zurückgekehrt. Doch ihre Gemütslage nicht. Sie hatte einen Kreislaufzusammenbruch erlitten.

„Was wollen Sie mir damit sagen? Dass mein Gesicht irgendwann wieder so aussieht wie zuvor?“, stieß Franziska hervor. Tiefe Verzweiflung schwang mit.

„Wir haben ständig Patienten, die solche Verletzungen erlitten haben. Die Heilungschancen stehen sehr gut.“

Franziska dachte unwillkürlich an einen Fall, in dem ein Mann seiner ehemaligen Partnerin das Gesicht zerschnitten hatte, weil sie ihn verlassen hatte. Diese Frau war für ihr weiteres Leben gezeichnet. Sie musste damals für die Staatsanwaltschaft ein psychiatrisches Gutachten erstellen, das die Schwere ihrer erlittenen Traumata schilderte. Die junge Frau, damals 25 Jahre alt, war akut suizidal gefährdet. Ihre im Gesicht erlittenen Verletzungen waren zwar viel schwerer, aber selbst nach einem halben Jahr sah man die Narben sehr deutlich, trotz plastischer Chirurgie. Franziska rieb sich mit dem Daumen über ihren Handrücken, ohne es zu bemerken.

„Ich bezweifle jemals wieder in einen Spiegel schauen zu können, ohne an dieses Ereignis erinnert zu werden“, sagte Franziska bekümmert, „mein Haar wird nachwachsen, aber meine Seele wächst nicht nach. Meine Haut wird sich wieder schließen, da habe ich keinen Zweifel, aber schließen sich die inneren Wunden?“

„Ich weiß aus Ihrer Krankenakte, dass Sie selbst Psychologin sind. Wie wäre es, wenn Sie einen Kollegen aufsuchen?“, schlug ihr die Ärztin vor. Deren mitfühlenden Gesichtsausdruck konnte Franziska im Moment überhaupt nicht ertragen. Dennoch zwang sie sich ein Lächeln zu zeigen, das ihr Schmerzen verursachte. „Lieb von Ihnen, das wird es sein, was ich ganz sicher tun muss“, antwortete sie.

„Haben Sie Neuigkeiten von meinem Partner Oliver Hell?“, fragte sie, als sich die Ärztin bereits zum Gehen abgewandt hatte.

„Er liegt noch auf der Intensivstation, die Operationen sind gut verlaufen. Soll ich ihm mitteilen lassen, dass Sie aufgewacht sind? Er hat sich schon nach Ihrem Befinden erkundigt.“

Franziska schüttelte mit dem Kopf. Ganz ehrlich. So fühlte sie im Moment. Warum war das so? Sie sah den Zweifel in den Augen der Ärztin aufkeimen, daher beeilte sie sich zu sagen: „Ich möchte nicht, dass er sich aufregt, wenn er von meinem Zustand erfährt.“

Nach langer Zeit passierte es ihr tatsächlich, dass jemand ihre Ausrede durchschaute. Die Ärztin ließ ein mildes Lächeln auf ihrem Mund erscheinen.

„Wie Sie wollen, Frau Kollegin.“

Franziska fühlte sich ertappt. Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Nachdem die Medizinerkollegin das Krankenzimmer verlassen hatte, drehte sie sich auf ihrem Kissen herum. Heiße Tränen rollten über ihre Wangen.

Oliver, was ist mit uns nur passiert?

*

Bonn, Präsidium

Brigitta Hansen hatte als Bonner Oberstaatsanwältin die Pressekonferenz noch für den späten Abend anberaumt. Die Bundesstaatsanwaltschaft gab eine Erklärung zur Übernahme der Ermittlungen wegen des Anschlags vom 23. Juli 2016 ab. Auf dem Podium saßen die Vertreter der einzelnen Behörden, namentlich Dausend und Grütters, sowie auch Lanev und Bacak. Mitten unter ihnen saß auch Hansen. Trotz der späten Stunde platzte das Auditorium im Bonner Präsidium an der Königswinterer Straße aus allen Nähten. Nachdem im Zuhörerraum Ruhe eingekehrt war, die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ARD und ZDF, die Privatsender, sowie auch die Nachrichtensender NTV und N24 ihre Kameras aufgebaut hatten, begann Lanev mit seiner Rede.

„Meine Damen und Herren, die Bundesanwaltschaft hat heute am 23. Juli 2016 um 12:30 Uhr die Ermittlungen wegen des Anschlages übernommen und an die Beamten vom Staatsschutz in Düsseldorf und Bonn übergeben. Ebenfalls beteiligt ist der Verfassungsschutz Bonn. Die Bundesanwaltschaft geht beim Bonner Anschlag von islamistischem Terror aus. Heute Mittag, gegen 11:30 Uhr, wurde ein Sprengstoffanschlag in der Straße ‚Dreieck‘ unweit des Bonner Münsterplatz verübt. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich viele Personen bei ihren Wochenendeinkäufen. Gegen 11:30 detonierten zwei Sprengsätze. Die Sprengsätze waren in Blumenkübeln vor einer Modeboutique abgelegt.“

Er machte eine kleine Pause und richtete seinen Blick kurz auf die Journalisten, dann sprach er weiter.

„Leider haben wir vier Tote und zwölf zum Teil sehr schwer verletzte Personen zu beklagen. Durch die Detonation wurden die Boutique und viele angrenzende Geschäfte schwer beschädigt. Eine der Toten ist eine Angestellte dieser Boutique. Die meisten Opfer erlitten durch zersplitternde Fensterscheiben und umherfliegende Trümmerteile erhebliche Verletzungen. Um schon ihren Fragen entgegenzukommen: Die Sprengsätze waren nicht mit Metallstiften bestückt. Die Sprengsätze hatten eine Sprengwirkung von mehr als 100 Metern. Die Frage nach dem Zündmechanismus und der Art des verwendeten Sprengstoffes ist derzeit Gegenstand der kriminaltechnischen Untersuchungen.“ Wieder machte er eine kleine Pause, trank einen Schluck Wasser. Hansen unterband einige Zwischenfragen mit dem Hinweis auf die Möglichkeit nach der Presseerklärung. Lanev nickte ihr dankend zu.

„Aufgrund der Tatmodalitäten ist von einem terroristischen Hintergrund des Anschlags auszugehen. Die Bundesanwaltschaft hat deshalb die Ermittlungen übernommen, meine Kollegen vom Staatsschutz und vom Verfassungsschutz arbeiten Hand in Hand an der Aufklärung. Die genaue Motivlage des Anschlags ist gegenwärtig noch unklar. Wie Sie sicher alle wissen, hat Bonn eine aktive Islamistenszene. Anders wie in ähnlich gelagerten Szenarien, liegt uns bisher noch kein Bekennerschreiben des IS vor. Im Zuge der bisherigen Ermittlungen sind trotzdem zwei Verdächtige aus dem islamistischen Spektrum in den Fokus der Strafverfolgung gerückt. Bei beiden Beschuldigten wurden die Wohnungen durchsucht. Einer der beiden wurde vorläufig festgenommen. Es wird jetzt geprüft, ob gegen ihn Haftbefehl beantragt wird. Meine Damen und Herren von der Presse, Sie dürfen jetzt Ihre Fragen stellen.“

Sofort reckten sich überall im Raum die Arme empor. Hansen übernahm die Moderation. „Was ist mit dem zweiten Verdächtigen?“, fragte ein Reporter vom Bonner Generalanzeiger aus der ersten Reihe.

Lanev schob das Glas ein wenig zur Seite, bevor er antwortete. „Der zweite Verdächtige wird gesucht.“ Ein Raunen ging durch die Menge. Ein flüchtiger Salafist, das war natürlich genau das, was die hungrige Reportermeute hören wollte.

„Ist er auf der Flucht?“, hakte der Reporter auch sofort nach.

„Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Er wurde nicht zu Hause angetroffen. Die Durchsuchung seiner Wohnung fand auf richterlichen Beschluss statt.“

„Besteht Gefahr für die Bevölkerung? Gibt es Hinweise, die auf weitere Anschläge hindeuten?“ Der Reporter vom GA war sehr zum Leidwesen Lanevs hartnäckig.

„Ich kann Ihnen zum jetzigen Stand der Ermittlungen nichts weiter sagen.“

Die Meute tippte eifrig in ihre Tablets und Laptops. Viele schrieben den Text für die Morgenausgabe der Tageszeitungen an Ort und Stelle.

„Gibt es überhaupt keine Bekennerschreiben? Ich meine, bei einem solchen Anschlag kommen doch ständig Trittbrettfahrer auf den Plan“, fragte jetzt ein Kollege aus dem Auditorium.

„Es gibt sehr wohl ein Bekennerschreiben. Darin wird ein linksextremistischer Hintergrund des Anschlags behauptet. Nach einer ersten Bewertung bestehen erhebliche Zweifel an der Echtheit dieser Bekennung.“

„Warum nehmen Sie das Schreiben der Linken nicht ernst?“

„Wie schon gesagt, wir haben erheblich Zweifel an der Echtheit. Hier handelt es sich allzu offensichtlich um einen Trittbrettfahrer.“

„Wie soll sich die Bevölkerung verhalten? Sind wir in Bonn jetzt noch sicher?“

Mit genau dieser Frage hatte Lanev natürlich gerechnet. Sie wurde auf jeder Pressekonferenz gestellt, auf der es um einen möglichen Anschlag mit IS-Hintergrund ging. Daher kam die Antwort ebenso schnell wie professionell. „Wir sind in Bonn am heutigen Tag genauso sicher wie in jeder anderen Stadt in Europa. Man kann nie ausschließen, dass sich erneut etwas ereignen wird. Aber wenn wir von unserer Erfahrung ausgehen, dann bleibt es immer bei einem Anschlag. Das haben uns Paris, Brüssel und Nizza gezeigt.“

„Wenn es kein Anschlag islamistischer Terroristen war, es ebenfalls keinen links- oder rechtsextremistischen Hintergrund gibt, was bleibt dann noch?“, wollte jetzt eine junge Frau aus der zweiten Reihe wissen.

Lanev fasste sich kurz an die Nase. „Es kann sein, dass es sich um einen Täter handelt, der sich innerhalb kürzester Zeit radikalisiert hat. Diese Täter haben oft keinen Kontakt zum IS. Die Tatsache, dass es noch keine Reaktion gibt, ließe darauf schließen. Aber wir wissen ja, dass es sich um keinen Rucksack-Bomber handelt, weil die Bomben in den Blumenkübeln versteckt waren. Was auch dagegen spricht: Der Täter verfügte über ein beträchtliches Know-how im Bombenbau. Das lernt man nicht mal eben über Nacht im Internet.“

„Gibt es Videos von Überwachungskameras?“

„Diese kleine Straße wird nicht von Kameras überwacht.“

„Ich weiß, dass der Münsterplatz kameraüberwacht wird. Ist dort vielleicht jemand vor oder nach der Tat auffällig gewesen?“, fragte jetzt Jan-Phillip Wendt. Er stand seit Beginn der Pressekonferenz neben einer der Säulen, verborgen vor den Blicken der Kollegen auf dem Podium. Als Dausend und Grütters Wendt erkannten, verfinsterten sich ihre Mienen schlagartig. Doch Lanev blieb völlig ruhig. „Wir werten im Moment alle Kameras rund um den Münsterplatz und die angrenzenden Straßen aus. Die Sichtung des Materials dauert eine Weile.“

Als er seinen Blick wieder nach links wendete, war der Platz an der Säule leer. Wendt war gegangen. Was er gehört hatte, reichte ihm. Weder der Staats- noch der Verfassungsschutz hatten auch nur einen Gedanken an Luana Oliveira und ihren Bruder verschwendet. Oder sie hielten damit hinter dem Berg. Wendt stürmte hinauf in die Räume des K11. Er warf sich auf seinen Drehstuhl und griff zum Telefon. Die ganze Zeit über war ihm ein Gedanke wie ein Irrlicht durch den Kopf gegangen. Als sie Oliveira und ihre Freundin Bea Frings befragten, kam ihm dieser Gedanke, ohne dass er ihn genau formulieren konnte.

„Hallo, hier ist Jan-Phillip Wendt von der Kriminalpolizei Bonn. Ich war heute schon einmal bei Ihnen, es geht um ihre Patientin Luana Oliveira. Ich müsste ihr noch eine wichtige Frage stellen. Wäre es möglich, jetzt noch kurz vorbeizukommen?“, fragte er eilig die Nachtschwester an der Rezeption. Er hörte, wie diese den Namen mehrmals wiederholte, um ihn nicht zu vergessen. „Oh, ja, das ist ja die Frau, die verschwunden ist. Tut mir leid, Herr Kommissar“, hörte er ihre zerknirschte Stimme. „Wie? Verschwunden? Sie ist doch bei dem Anschlag schwer verletzt worden!“

„Unsere Station kann sich auch keinen Reim darauf machen, sie ist kurz vor der Visite aus dem Krankenhaus verschwunden.“ Wendt murmelte ein kurzes Dankeschön, dann ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen. Also hatte ihn seine Intuition doch nicht getäuscht. Dieser Blick zwischen Oliveira und Frings. „Ist schon gut, Bea. Du kommst sofort wieder rein, wenn die Herren gegangen sind. Dann planen wir weiter“, hatte sie gesagt. Sie waren davon ausgegangen, dass es sich um das erwähnte Begräbnis von Claudia Trenzen handelte, doch plante sie zu dem Zeitpunkt bereits ihre Flucht. Er stieß die Luft aus. „So ein Biest“, murmelte er vor sich hin. Er widerstand dem Impuls, zur PK zurückzugehen, stattdessen rief er Klauk an.

„Sebi, rate mal, was passiert ist? Die Oliveira ist aus dem Krankenhaus verschwunden“, hielt er nicht lange mit der Neuigkeit hinter dem Berg. Er hörte, wie Klauk seine Worte wiederholte. Offenbar war Rosin in der Nähe. „Sollen wir ins Präsidium kommen? Willst du eine Fahndung nach ihr einleiten?“

„Unter welchem Verdacht? Weil sie Angst um ihr Leben hat?“

„Weil sie vielleicht irgendwelchen Dreck am Stecken hat? Wer weiß, was der tatsächliche Grund für den Anschlag ist“, gab Klauk zu bedenken.

„Ich bespreche das mit Hansen. Offiziell dürften wir nichts von ihrem Verschwinden wissen. Apropos Nichtwissen: Ich habe eben die Pressekonferenz der lieben Kollegen belauscht. Kein Wort über Oliveira. Sie haben sich aus allem herausgeredet, es gibt eine Festnahme aus dem salafistischen Umfeld, ein weiterer Verdächtiger ist flüchtig.“

Klauk stieß einen merkwürdigen Laut aus, dann verschluckte er sich offenbar und hustete mehrmals. „Sorry, das schlägt mir sogar auf die Stimmbänder! Wieso erfahren wir nichts von einer Festnahme?“

„Wir sind doch nur die Provinzbullen, das Ganze geht mir mächtig gegen den Strich. Ich wünsche mir einen schönen Mord, den wir ganz alleine aufklären können. Wäre Hell nicht involviert, könnten die mir mit ihren Salafisten um den Arsch herum rennen!“ Wendt redete sich in Rage. Deshalb bemerkte er auch nicht, dass sich Brigitta Hansen leise ins Büro geschlichen hatte. Er bemerkte ihre Anwesenheit erst, als er das Gefühl hatte, er würde beobachtet. Ertappt nahm er die Füße vom Schreibtisch, hielt sich die Hand an den Mund. „Sebi, ich melde mich später bei dir, grüß Lea“, beeilte er sich zu sagen, legte sein Handy mit einer schnellen Bewegung beiseite.

„Frau Oberstaatsanwältin Hansen, ich habe Sie gar nicht gehört“, sagte er nun zu ihr gewandt und stand auf. Wendt mimte, so gut er konnte, den Verlegenen, setzte sein gewinnendstes Lächeln auf.

„Was war das eben für ein Auftritt, Herr Wendt? Die Kollegen vom Staatsschutz schäumen vor Wut“, fragte Hansen. Ihr Tonfall blieb weit hinter der Schärfe der Worte zurück. Wendt erkannte sofort, dass sie nur der Bote war.

„Ich wollte nur nachprüfen, ob die Kollegen wirklich in alle Richtungen ermitteln, so wie sie es gesagt haben“, antwortete er wahrheitsgemäß.

„Sie sind also der Meinung, dass sie es nicht getan haben? Was macht Sie da so sicher?“ Hansen klang ehrlich verärgert. Wendt erkannte darin die Notwendigkeit für einen dringend erforderlichen Themenwechsel. Jetzt war es an der Zeit, Farbe zu bekennen.

„Wir haben zwei Dinge herausgefunden“, sagte er und nahm sein Tablet vom Schreibtisch. Hansen blickte gespannt auf den Bildschirm, auf dem nach kurzem Hochfahren das Video zu sehen war. „Hier sehen Sie Hell und Franziska Leck“, sagte er betroffen. Gemeinsam mit Hansen wurde er erneut Zeuge der Explosion. „Das ist es, was ich meine. Sehen Sie den Typen, der aus der Wolke herausmarschiert, als sei nichts passiert?“

Erschrocken sah sie ihn an, als ihr klar wurde, was sie da eben gesehen hatte. „Woher haben Sie das Video?“

„Herr Seltge hat es besorgt“, antwortete er augenzwinkernd.

„Besorgt?“ Auf ihrer Stirn erschien eine mächtige Zornesfalte.

„Nun ja, Sie kennen ja seine Art zu ermitteln. Ich frage nicht immer nach, woher er die Dinge holt. Aber das ist noch nicht alles. Klauk und ich waren heute Abend bei Luana Oliveira im Krankenhaus. Eine Freundin, der Name ist Beate Frings, war ebenfalls anwesend. Ich habe eben noch einmal im Krankenhaus angerufen, weil ich ein komisches Gefühl hatte und Sie erraten es nicht: Oliveira ist kurz vor der Abendvisite aus dem Krankenhaus verschwunden.“

„Warum sollte sie sich in Gefahr begeben?“, fragte sie, hörbar interessiert.

„Klauk hat recherchiert, dass ihr Bruder bei der Drogenfahndung in einem Ort namens Porto Velho arbeitet. Er vertrat die These, dass der Anschlag ihr galt. Quasi als Warnung für ihren Bruder, sich aus den Geschäften der Drogenkartelle herauszuhalten. Ich fand das abwegig. Wir sind trotzdem zu ihr ins Krankenhaus gefahren, um sie zu befragen. Dort hat sie uns beinahe davon überzeugt, dass wir damit total falsch liegen. Aber jetzt … sie ist abgehauen. Warum? Weil sie Schiss hat, der Killer versucht es erneut?“

Hansen holte hörbar tief Luft. „Sie denken tatsächlich, der Anschlag hat nichts mit Terrorismus zu tun?“, fragte sie hastig, zuckte nur unmerklich mit den Schultern.

„Wäre doch möglich. Was wollen wir tun? Sie zur Fahndung ausschreiben? Tun wir das, bekommen die vom Staatsschutz mit, dass wir ermittelt haben.“

„Das ist mir egal. Sie sagten eben, Sie hätten im Krankenhaus angerufen?“

„Ja, vor einer Viertelstunde.“

„Prima“, sagte Hansen. Wendt wunderte sich über diese Wortwahl. Sie nutzte sonst nie solche Worte wie ‚prima‘. „Geben Sie die Fahndung nach Frau Oliveira raus. Ich informiere die Kollegen vom Staatsschutz über diese neuen Erkenntnisse.“

Wendt begrüßte dies erfreut. Hansen nickte und begab sich auf den Weg zurück in ihr Büro. Vor der Tür verminderte sie ihren Schritt, wandte sich halb zu ihm um und begann zu lächeln. „Ach, Wendt, zu Ihrem Auftritt eben bei der PK: Das Gesicht von Grütters war einfach göttlich. Alleine das war es schon wert.“

Um ihre Lippen spielte eine beinahe kindliche Freude, als sie das Büro verließ. Wendt blickte ihr ein paar Sekunden hinterher, stieß verblüfft die Luft aus und schüttelte den Kopf. Diese Frau konnte ihn nach all den Jahren noch immer überraschen. Sofort setzte er sich zurück an den Schreibtisch und schrieb Luana Oliveira zur Fahndung aus. Ein Streifenwagen sollte zur Wohnung von Beate Frings fahren. Vielleicht hielt sich die Gesuchte dort auf.

*

Bonn, Venusbergkliniken

Oliver Hell zählte im Stillen bis zehn. Das tat er immer, wenn er seine Gedanken kontrollieren wollte, alles Negative aus seinem Kopf vertreiben wollte. Oder um die Schmerzen zu betäuben, die in seiner Brust tobten. Langsam setzte er sich auf dem spärlich beleuchteten Flur in Bewegung. Er hatte von seiner Ärztin die Zimmernummer erfragt. Sie hatte ihm allerdings strengstens verboten, die Infusionsnadel aus dem Arm zu ziehen oder gar das Zimmer zu verlassen. Doch was war das Verbot einer Ärztin schon gegen die Liebe? Mit einem matten Lächeln, das sich im Nu aus Furcht vor dem Zusammentreffen mit Franziska wieder verflüchtigte, blieb er am Ende des Ganges stehen. Er las auf den Schildern an der Wand gegenüber, wohin er sich bewegen musste. Daher wandte er sich nach rechts. Nach ein paar Metern ruhte sein Blick lange auf der Zimmernummer. Hell presste seinen Arm gegen die Türlaibung, bevor er es wagte, die Tür zu öffnen. Mit klopfendem Herzen drückte er langsam die Klinke herunter. Sollte Franziska schlafen, würde er sie still betrachten, froh darüber, sie am Leben zu wissen. Was passieren würde, sollte sie ihn bemerken, konnte er sich nicht ausmalen. Oder er wollte es nicht. Das Krankenzimmer war in einen diffusen Lichtschein gehüllt. Wie von einem Nachtlicht, wie man es benutzt, um ängstlichen Kindern eine Hilfe gegen die Monster der Nacht zu geben. Hell blieb stehen. Franziska lag auf dem Bett, das Gesicht zum Fenster gewandt. Schlief sie? Ihre linke Schulter schien sich nicht zu bewegen. Er schloss langsam die Tür zum Flur hinter sich; trat einen Schritt auf das Bett zu, zögerte erneut. Sein Lächeln machte einer steifen hochkonzentrierten Miene Platz. Plötzlich fühlte er sich hier unwohl. Unvermittelt nahm er eine Veränderung in ihrer Körperhaltung wahr.

„Oliver, bist du hier?“, fragte eine matte Stimme. Ohne Zweifel, es war Franziska, doch sprach sie in einer völlig fremden Tonlage. Kränklich, schwach. Was hatte er erwartet? Das blühende Leben? Eine euphorisch vitale Begrüßung? Nein.

Sein Hals fühlte sich trocken an. „Ja, ich bin‘s“, krächzte er. Räusperte sich. Unvermittelt traten wieder die Bilder aus seiner Erinnerung, drängten sich in seine Realität. Franziska, wie sie blutüberströmt dalag. Ihr flehender Blick.

„Ich freue mich, dass es dir gut geht, Oliver. Aber bitte bleib dort stehen, ich möchte nicht, dass du mich so siehst“, presste Franziska hervor. Hell krampfte es den Magen zusammen. Was zur Hölle war mit ihr geschehen?

„Was?“

„Ich möchte nicht, dass du mich so siehst, Oliver. Bitte!“ Hells Blick glitt über ihren unbeweglich daliegenden Körper. Erst jetzt bemerkte er den großen Verband auf ihrem Kopf. Außerdem fehlte etwas. Konnte das sein? Um sich zu vergewissern, dass er richtig beobachtete, trat er einen Schritt auf das Bett zu. Seine Hauslatschen, die Christoph ihm vorbeigebracht hatte, gaben dabei ein schlurfendes Geräusch von sich. Franziska nahm es wahr. Sie zog ihre Schultern ein, als fröre sie, presste ihren Kopf tiefer in das Kissen.

„Oliver, bitte!“

„Was ist mit dir, Schatz?“

„Bitte, dring nicht in mich. Ich möchte nicht, dass du mich so siehst. Ist das nicht deutlich genug?“

„Franzi, es ist für mich das Wichtigste auf der Welt zu wissen, dass du am Leben bist. Alles andere ist egal.“ Wieder machte er einen Schritt nach vorne. Schon wurde ihm klar, dass er richtig gesehen hatte. Franziskas Schädel war kahl rasiert. War das so schlimm? Ihr Haar würde nachwachsen.

„Das ist es auch für mich, Oliver. Glaub mir“, stieß sie hervor. Er glaubte es ihr. Dennoch brachte ihn seine Neugier dazu, einen Schritt weiterzugehen. Auch das gehörte zu den Konstanten in seinem Leben: Seine Neugier. Der Abstand zwischen ihm und dem Krankenbett maß kaum noch einen halben Meter.

„Was ist mit dir geschehen?“, fragte er. Franziska nahm wahr, wie nah seine Stimme neben ihr erklang. Sie reagierte sofort. „Oliver, bitte. Ich möchte nicht, dass du mich so siehst!“, stieß sie mit einem weinerlichen Ton hervor, grub ihr Gesicht tiefer in das Kissen.

Jetzt handelte er sofort, umrundete ihr Krankenbett und ging in die Hocke. Sah, wie Franziskas Körper zu beben begann. Ein leises Wimmern drang aus dem Kissen, wurde immer lauter. „Bitte, … Oliver, … bitte“, schluchzte sie heftig. Hell griff nach ihrer Hand, die auf dem Bettlaken ruhte. Drückte sie heftig. Das Wimmern verwandelte sich in ein heftiges Schluchzen. Ihr Körper begann zu zucken. Hell kämpfte gegen seinen eigenen Schmerz an, doch der, den er nun bei Franziska spürte, schien dagegen viel größer. „Schatz, schaue mich an, bitte. Ich möchte doch alles mit dir teilen, auch deinen Schmerz!“

Franziska entzog ihm ihren Arm, barg ihr Gesicht in beiden Händen. Zog die Knie an bis zur Hüfte, krümmte sich zusammen wie ein Embryo. Ihr Antlitz hielt sie noch immer bedeckt. Sie waren beide Opfer, Hell hatte schwere Verletzungen erlitten, doch diese waren körperlicher Art. Schon jetzt begriff er, dass Franziska nie mehr die Frau sein würde, die vor ein paar Stunden fröhlich aus der Boutique getreten war. Die Frau, die lächelnd ihr neues Sommerkleid wie eine große Kostbarkeit in der Papiertüte mit sich trug. Der Anschlag hatte sie verändert, das spürte er. Er überließ sie ihrem Schmerz, was sollte er tun? Ihr gewaltsam die Hände vom Gesicht reißen?

„Ich bin hier, mein Schatz. Wenn du soweit bist, dann bin ich für dich da“, flüsterte er ihr zu. Sie reagierte nicht.

*

Oliver Hell - Dämonen (Oliver Hells elfter Fall)

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