Читать книгу Oliver Hell - Feuervogel - Michael Wagner J. - Страница 8
»Ich freue mich schon so auf den Strand und das Wasser und die Wellen, auf gemütliches Zusammensitzen, Grillen und auf den Wein, den wir trinken werden.« Sie streckte die Arme aus, als wolle sie die ganze Welt umarmen. Dabei schlug sie mit der Hand gegen das Fenster neben sich.
Оглавление»Upps!«
»Stephanie wollte heftig einen zechen und mit uns pokern«, erinnerte sich Hell. »Pokern? Ich kann nicht pokern!«
»Das wird sie uns schon beibringen.«
»Dann wirst Du mein Leck’sches Pokerface kennenlernen«, sagte sie und machte ein völlig regungsloses Gesicht, um kurz darauf in Lachen auszubrechen, »Wie gut, dass ich so etwas nie lange durchhalte.«
»Das geht mir genauso, bei unseren Doppelkopf-Abenden früher hat auch immer jeder gesehen, wenn ich gute Karten hatte. Ich kann mich dabei nicht verstellen.«
»Was für einen Kriminalen aber keine gute Einrichtung ist. Da brauchst du schon ein Pokerface, wenn du einen schweren Jungen vor dir hast.«
Hell schwang seinen Finger über dem Teller und schüttelte den Kopf. Er musste erst kauen, bevor er protestierte. »Das ist was anderes. Das kann ich sehr wohl, das weißt du.«
»Naja, wir werden sehen, wie du dich beim Pokern schlägst.«
Mit Glas Wein Nummer zwei setzten sie sich später noch vor das Wohnmobil auf die Stühle, die Hell doch noch eilig aus der Garage hervorgeholt hatte. Es folgte Glas Nummer drei und vier. Im Hintergrund lief das Autoradio. Der Wettermann versprach für den kommenden Tag Temperaturen bis dreißig Grad.
Sie planten, am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, eine Kleinigkeit zu frühstücken und sich dann auf den Weg nach Dänemark zu machen. Franziska äußerte den Wunsch, noch nach Flensburg zu fahren, bevor sie die Grenze überschreiten würden.
Zufrieden mit den Planungen für den nächsten Tag kippte sich Hell zum Abschluss den letzten Schluck Wein auf die Bermuda-Shorts.
*
Hvide Sande
Die Nacht legte sich wie ein schützendes Tuch über ihre Aktivitäten. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern näherte sich ein Jeep der alten Fischerkate, der Fahrer kannte den holprigen Weg auch ohne Licht. Er stellte den Motor aus, kurbelte das Fenster ganz herunter und horchte in die Nacht hinein.
Nichts. Kein Laut war zu vernehmen. Selbst der Wind, der den ganzen Tag über die Werbefahnen vor seinem Geschäft in hektische Aufregung versetzt hatte, flaute mehr und mehr ab. Er öffnete die Autotür. Aus der Kate war kein Laut zu vernehmen. Eigentlich hatte er erwartet, einer der Hunde würde anschlagen und die anderen würden ins Konzert einfallen. Doch noch blieb alles ruhig.
Kjell Kloft wartete auf Merit Holzheuser. Sie hatte mit den Tierschützern aus Deutschland das letzte Telefonat geführt und wusste genau, welcher der Hunde heute die Reise ins sichere Ausland antreten würde. Drei Hunde hatten sie in der Kate in Sicherheit gebracht, sie waren von der Polizei als gefährlich eingestuft und ihnen drohte der nahe Tod. Zu dem schwarzen Retriever, der schon seit einigen Tagen in der Kate ausharrte, hatten sich noch ein kleiner Mischling und ein Schäferhund gesellt. Die Mischlingshündin, die kaum größer war als ein ausgewachsener Dackel, hatte einen aufdringlichen Rüden in die Schranken gewiesen. Als dieser sie daraufhin attackierte, zwickte sie ihn einige Male in die Schnauze. Dieser Vorfall wäre wahrscheinlich in Deutschland über die Hundebesitzer oder, wenn wirklich Tierarztkosten anfielen, über die Haftpflichtversicherung abgewickelt worden.
Doch in Dänemark musste jeder Beißvorfall der Polizei gemeldet werden. Seit dem Jahr 2010 erlaubte ein Gesetz der Polizei, die Hunde, die an solchen Vorfällen beteiligt waren, zu konfiszieren und schlimmstenfalls einschläfern zu lassen. Die Besitzer standen dabei und mussten tatenlos zusehen, wenn ihre Familienmitglieder aus dem Haus geführt wurden und im Polizeiwagen verschwanden. Oft für immer. Hier gab es Tränen bei den Kindern, Wut und Hilflosigkeit unter den betroffenen Erwachsenen. Dagegen wandten sich die dänischen Tierschützer. Sie griffen ein, bevor die Polizei sich der Tiere bemächtigen konnte, brachten sie an einem geheimen Ort in Sicherheit, um sie dann in Nacht– und Nebelaktionen über die Grenze nach Deutschland zu bringen. Sie riskierten dabei sehr viel. Die Polizei war den unerkannt tätigen Dänen meist einen Schritt hintenan. Um nicht entdeckt zu werden, wurden diese Transporte meist bei Neumond durchgeführt.
Doch dieses Mal mussten sie eine Ausnahme machen. Mit drei Hunden in der Kate war die Gefahr, dass jemand zufällig das Bellen der Hunde hören und die Polizei informieren würde, zu groß, deshalb mussten sie handeln.
Kloft hörte ein Motorengeräusch, das sich auf dem gleichen Weg näherte, auf dem auch er gekommen war. Er erkannte den alten Ford Bronco von Merit Holzheuser, der kurze Zeit später hinter seinem Fahrzeug hielt. Die zierliche Frau sprang aus dem Fahrerhaus. Neben dem großen Fahrzeug wirkte sie noch zerbrechlicher, als sie es sowieso schon war.
»Hallo Kjell, schön, dass alles so gut klappt«, sagte sie und umarmte ihren Freund.
»Welchen Hund nehmen sie auf?«
»Den kleinen Mischling und den Schäferhund. Der Retriever muss noch warten. Leider.«
Sie hatten den Schäferhund erst in der letzten Nacht hierher gebracht. Es war wie so oft, aus einer harmlosen Rauferei wurde ein Beißvorfall. Der Hund, ebenfalls ein Familienhund, der zusammen mit Katzen und Kaninchen sowie drei kleinen Kindern lebte, wurde stigmatisiert und sollte eingeschläfert werden. Auch hier griffen die Venner ein.
Es war nicht so, dass in jedem Ort in Dänemark die Tierschützer in den Untergrund gingen, um Hunde zu retten, es gab sie nur hier und da. An manchen Orten passierte nichts, doch hier in Hvide Sande waren einige von ihnen aktiv.
Der abnehmende Mond versteckte sich hinter einer Wolke, als sie die beiden Hunde aus dem provisorischen Zwinger holten. Sie leckten sich ihre Schnauzen, weil sie nicht wussten, was mit ihnen passierte.
Die Venner taten das Richtige in dieser Nacht. Es würde sowieso damit enden, dass die Tiere getötet wurden. Das wussten sie. Das Gesicht der Tierschützerin sprach das aus. Die einzige Hoffnung für die Tiere waren sie. Die Polizei würde sie nicht laufen lassen, niemals. Einige Besitzer hatten es vorgezogen, ihre Tiere von eigener Hand zu töten, bevor sie ohne ihre Liebe auf einem kalten Tisch in einem namenlosen Arztzimmer ihren letzten Atemzug aushauchten. So konnte man die Art und Weise bestimmen und von dem Tier Abschied nehmen, denn auch das verwehrte die Polizei den Besitzern oft genug. Sie nahmen ihnen die Hunde weg und selbst die toten Tiere verschwanden im nirgendwo.
Nannte man so etwas einen bedachtsamen Umgang mit den Geschöpfen Gottes?
Die Tierschützer hatten sich ihre eigene Antwort auf diese Frage gegeben.
In dieser Nacht fuhren zwei Hunde in ihre neue Zukunft.
*
Neumünster
Sonntag, 11.8.2013
Abgesehen von dem Gezwitscher einiger Vögel, die schon um halb vier Uhr den Tag gebührend begrüßten, hörten Oliver Hell und Franziska Leck in dieser Nacht vielleicht noch das Huschen der Kaninchen unter ihrem Wohnmobil, aber auch nur, wenn sie genau hingehört haben.
Hell war vor ihr wach. Er blieb einfach neben ihr liegen, um sie noch eine Weile im Schlaf zu beobachten. Die Jalousien im hinteren Teil des Wohnmobils waren heruntergezogen, deshalb fiel nur das Licht aus dem vorderen Teil, wo sie die Jalousien nicht heruntergezogen hatten, sanft auf ihre Züge. Hell realisierte gar nicht, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen, er war einfach machtlos.
Als sie ihren Kopf ein wenig hob, erschrak er fast.
»Guten Morgen«, sagte er überrascht.
»Guten Morgen, Schatz«, murmelte sie schlaftrunken, »Ist der Kaffee schon fertig?« »Nein, noch nicht. Aber ich könnte aufstehen, um …«, sagte er, doch er erkannte, dass sie wieder eingeschlafen zu sein schien.
Leise robbte er nach vorne, stieg die drei in die Ecke gebauten Stufen herunter, die zum hochgelegten Bett führten, und öffnete die Tür zum Toilettenraum. Er staunte immer wieder, wie wenig Platz man doch benötigte, um alles auf einem Quadratmeter unterzubringen, Waschbecken, Toilette und Dusche. Er setzte sich hin und pinkelte. Als er fertig war und die Spülung betätigt hatte, schaute er in den Spiegel. Erst hier fiel ihm auf: Er lächelte noch immer.
Hell schüttelte den Kopf, öffnete leise die Toilettentür, versorgte die Kaffeemaschine mit Filter, Wasser und Kaffeepulver. Dann ließ er die Außenwelt in das Wohnmobil, das sie heute noch über die Grenze tragen sollte.
Die Tür schwang auf, sofort spürte er die würzige Wärme des Sommermorgens, die ihm entgegenströmte. Hell ließ die Augenlider sinken und atmete tief durch. Die anderen Wohnmobile lagen noch ebenso still da. Als einziges Geräusch drang das Schnurcheln der Kaffeemaschine an sein Ohr, die das Wasser ansaugte und auf das Kaffeemehl pumpte. Aber es störte ihn nicht, ganz im Gegenteil, dieses Geräusch versprach einen starken Kaffee zum Frühstück. Fehlten nur noch die frischen Brötchen.
Hast du einen Bäcker gesehen auf der Hinfahrt, fragte er sich.
Aber ein Blick auf die noch gut gefüllte Brotkiste verriet ihm, dass es noch mehr als genug Brot gab. Entwarnung.
Er wurde erst von einem leisen Knarzen aus seinen Träumen geholt, die mittlerweile verstummte Kaffeemaschine hatte er überhört. Das Knarzen deutete darauf hin, dass Franziska die kleinen Stufen hinunterschritt.
»Hmh, Kaffee, du bist ein Schatz, Oliver«, sagte sie und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Soll ich draußen für uns decken?«
»Hmh, gerne«, antwortete sie noch verschlafen. Hell verspürte plötzlich einen Riesenhunger, sputete sich, um die Möbel draußen wieder aufzustellen. Der Tisch war schnell gedeckt, der Kaffee in die Thermoskanne gefüllt. Hell hielt schon die erste Tasse in seiner Hand, als Franziska aus dem WoMo trat. Sofort begannen sie mit der Planung für diesen Tag. Sie musste allerdings erst eine Tasse Kaffee trinken, bevor sie Hells Gedanken wirklich folgen konnte.
»Wollen wir auf der Autobahn bleiben oder fahren wir doch lieber rüber an den Strand?«
»Rüber an den Strand? Ist schon ein Stück bis dahin.«
»Kennst du dich dort an der nördlichen Nordsee aus?«, fragte sie nachdenklich.
»Nicht wirklich. In Husum war ich mal, als ich noch Kind war, aber die Erinnerung ist einfach zu verschwommen. Aber vielleicht kommt sie ja wieder, wer weiß das schon? Außerdem kann man ja auch Bekanntes neu entdecken.«
»Es fragt sich, ob wir schnell nach Hvide Sande kommen wollen, um Stephanie und Sylvia nicht zu lange warten zu lassen. Sie freuen sich doch auf uns.«
Hell blickte zu ihr herüber, genauso unschlüssig wie sie auch.
Schließlich sagte er nur: »Als weißer Fleck bleibt aber immer wieder die »nördliche deutsche Nordseeküste«, von der ich noch nichts kenne.«
Franziska stand auf und kam mit dem Wohnmobilführer zurück. Sie begann, konzentriert zu lesen.
»Okay«, antwortete sie, »Wenn wir nicht Autobahn fahren wollen … dann können wir ja wirklich mal an der Küste hochfahren. Ich dachte an das kleine Fischerstädtchen Husum, wenn du sagst, dass du dort schon einmal warst. Vielleicht passt es zeitlich, um dort zur Mittagszeit ein leckeres Fischbrötchen zu essen.«
Sie fanden, das sollte als erste Orientierung auch ausreichen. Der Reiseführer hatte für diesen Tag seine Schuldigkeit getan.
Von Husum aus würden sie dann später die Landstraße B5 über Bredstedt, Klixbüll und Süderlügum nutzen, um etwas weiter nördlich dann die Grenze zu Dänemark zu überschreiten.
»Dann sehen wir auch was von Land und Leute und müssen uns nicht mit der monotonen Autobahn begnügen«, sagte Franziska und damit war das Thema Tagesroute erledigt. Stephanie würde dann ein paar Stündchen später mit ihrer Ankunft rechnen müssen.
*
Hvide Sande
An der Tür zum Laden von Kjell Kloft hing ein Schild, auf dem stand: »Wegen einer betrieblichen Veranstaltung öffnen wir heute erst um zehn Uhr.«
Die Einwohner von Hvide Sande waren ganz andere Zeiten gewöhnt, denn Kjell stand meist über zwölf Stunden in seinem Laden. Von sieben Uhr morgens bis manchmal acht Uhr abends. Selbst wenn er das Schild, auf dem ‚Geschlossen‘ stand, bereits im Fenster hängen hatte, sollte wirklich noch jemand an die Scheibe klopfen, weil er noch etwas dringend benötigte, Kjell Kloft würde ihm seine Ladentür geöffnet haben. Er nannte es Kundenservice, viele hielten es mittlerweile für ein unumstößliches Gewohnheitsrecht.
Kjell Kloft gehörte zu einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie und das Geschäft betrieb er jetzt in dritter Generation. Er hatte bei seinem Vater die Lehre gemacht, ebenso wie dieser bei seinem Vater sein Handwerk gelernt hatte. Daher kannte Kloft jeden Winkel in seinem Laden und jeder kannte ihn.
Diesen Morgen allerdings musste er sich doch die eine oder andere Beschwerde anhören. Was das denn für eine betriebliche Veranstaltung gewesen sei und warum er das nicht schon am Vortag bekannt gegeben hätte.
»Nein, Kjell, das hätte es bei deinem Vater nicht gegeben. Der hatte immer pünktlich seinen Laden offen, Sommer wie Winter. Selbst wenn er sterbenskrank war, er stand immer hinter der Theke, zusammen mit deiner Mutter«, sagte seine treue Stammkundin, die alte Dorflehrerin Anna Rasmussen, völlig entrüstet mit einer für ihr gütiges Gesicht kaum zu vermutenden Zornesfalte auf ihrer Stirn.
»Ich habe mich da etwas seltsam ausgedrückt auf dem Schild«, räumte Kloft ein, um sie wieder gütlich zu stimmen. Nicht nur er, auch viele seiner Altersgenossen hatten bei ihr die Schulbank gedrückt. Sie kannte ihn sogar schon, als er noch in die Windeln geschissen hatte. Ihr Mann, der sich schon vor einem Jahrzehnt nach einem Herzinfarkt, den er mitten auf einem Zebrastreifen erlitt, aus dem Staub gemacht hatte, war ein guter Freund seines Vaters gewesen. Sie waren ebenfalls zusammen aufgewachsen, teilten später auch die Vorliebe für schöne Frauen und waren bis zu einem gewissen Zeitpunkt die begehrtesten Junggesellen im Ort gewesen. Als Torben Kloft Kjells Mutter heiratete, befiel seinen Freund Ole Rasmussen eine völlig unverständliche Torschlusspanik. Nach kurzer Zeit ehelichte er Anna Bering, die sich selbst am meisten darüber wunderte, dass sie plötzlich eine Rasmussen war. Neben ihren schönen Vorgängerinnen sah sie im Vergleich eher weniger aufregend aus. Eine spitze Nase über einem schmalen Mündchen, aus dem selbst bei größtem Zorn über ihre dickfelligen oder begriffsstutzigen Schüler nie ein wirklich böses Wort kam.
»Mein Junge«, sagte sie und die Zornesfalte wich wieder aus dem faltigen Antlitz der alten Dame, »du solltest dir mal eine Frau zulegen. Die könnte dann den Laden aufhalten, wenn du mal was anderes zu erledigen hast. Wäre das keine Idee?«
Kloft musste lachen. Diesen guten Ratschlag bekam er jedes Mal, bevor Frau Rasmussen seinen Laden wieder verließ. Also mindestens alle drei Tage, Wochenende inklusive wenn er sie auf der Straße traf. Jetzt schaute er auf ihr gespitztes, kleines Mündchen und sagte das, was er immer antwortete: »Liebe Frau Rasmussen, die Frau, die es an meiner Seite aushält, die muss erst noch gebacken werden.«
»Ach Junge, alle deine Klassenkameraden sind mittlerweile verheiratet, naja, nur der dumme Kaare nicht. Dabei bist du doch so ein fescher Kerl«, sagte sie und spielte damit auf einen der beiden Dorfpolizisten, Kaare Knudsen, an. Den hatte sie schon als Schüler nicht gemocht und sie pflegte immer zu sagen, dass ja nun anscheinend jeder Polizist werden konnte, wenn man sie darauf ansprach. Öffentlich sagte sie das nie, immerhin war er ja Polizist, auch wenn sie ihm jegliche profunden Kenntnisse zur Ausführung dieses Berufes absprach.
»Wenn man schon Schwierigkeiten mit dem großen Einmaleins hat, wie kann so einer Polizist sein?« Diese kühne Aussage hatte sie einmal ihrer besten Freundin gegenüber gemacht, und sie konnte sicher sein, dass dieses Geheimnis für immer sicher war. Spätestens seit deren Tod vor ein paar Monaten.
»Ich hatte immer gedacht, dass ich es noch erlebe, wenn du heiratest«, sagte sie und ging kopfschüttelnd aus dem Laden. Das kleine Glöckchen über der Türe bimmelte mehrmals leise, als die Türe zuschlug.
Kloft mochte seine alte Lehrerin, aber wie hätte er ihr gestehen können, was der wahre Grund für die verspätete Öffnung des Ladens war?
Die letzte Nacht war beinahe schlaflos für ihn gewesen. Fünf Stunden hatte er benötigt für die Fahrt bis hinter die Grenze nach Deutschland und zurück. Über Landstraßen, eine einsame Fahrt voller Furcht, entdeckt zu werden. Als er die Grenze hinter sich hatte, fiel die Anspannung von ihm ab. Auch die Übergabe an die deutschen Kollegen verlief wie immer still und in der Gewissheit, wieder zwei Tiere vor dem sicheren Tod bewahrt zu haben.
Die Rückfahrt über versuchte er, sich mit lauter Musik wach zu halten. Um sechs Uhr schließlich war er wieder daheim, ließ sich todmüde und in seinen Klamotten auf sein Bett sinken, um zwei Stunden später von seinem Handy geweckt zu werden.
Müde, aber froh gelaunt duschte er und rief seine Freundin Merit Holzheuser an, um ihr über das Gelingen der Aktion zu berichten.
*
Husum
Um kurz nach neun Uhr waren sie vom Duschen zurück. Nachdem sie alles verstaut hatten, fuhren sie los.
Nach sechzig Kilometern hatten sie mit ihrem Wohnmobil die A7 verlassen und waren auf der Landstraße B201 in Richtung Husum unterwegs. Wie erhofft, hatte der Wind nachgelassen, nachdem sie nun in westlicher Richtung auf Husum zusteuerten. Auf der fast komplett freien Landstraße und bei strahlendem Sonnenschein hatte Hell nun keine Probleme mehr und er konnte wieder mit Franziska scherzen.
»Bevor wir uns die Schönheiten auf, neben und abseits der oft schnurgeraden nordischen Landstraßen ansehen können, sollten wir uns Husum anschauen, was meinst du?«, fragte Hell und ertappte sich dabei, dass er nach der Frage zu pfeifen anfing. Der Stress der letzten Wochen war von ihm abgefallen, und was auch sehr dazu beigetragen hatte: Er hatte sich noch nicht vor Franziska blamiert.
Alles Fremde, was mit dieser für ihn ungewohnten Wohnmobilfahrt in Verbindung stand, hatte bislang hervorragend geklappt. So war es auch kein Wunder, dass er an diesem Morgen außerordentlich gut gelaunt war und fröhlich ein kleines Lied pfiff.
Franziska antwortete nicht, stattdessen fiel sie in das Lied ein, von dem beide nicht wussten, was sie da eigentlich vor sich hin pfiffen. Sie schafften es auch nicht, das Geheimnis zu lüften. Denn lange dauerte die Fahrt über die Landstraße zu ihrer großen Freude nicht, schon circa 20 Minuten, nachdem sie die A7 bei Schuby/Schleswig an der Ausfahrt Nummer 5 verlassen hatten, waren sie am Ziel.
Wie sie bald herausfanden, stand auch Husum dem typischen Klischee einer norddeutschen Stadt am Wasser in nichts nach.
Man fand viele ältere Häuschen, die allesamt den Charme von Kapitänshäusern hatten, historische Kontore, prächtige Holzarbeiten und stuckverzierte Hausfassaden, die den Eindruck vergangener Zeiten wieder aufleben ließen.
»Wenn man sich die Autos und die modernen Brücken wegdenkt, dann kann man hier einen historischen Film mit dem Thema XY in Norddeutschland drehen«, sagte Franziska, die vor einem der alten Kontore stehengeblieben war. Hell stimmte ihr zu.
Hand in Hand schlenderten sie an einer Marke für Hochwasser vorbei, wo Messingringe eindrucksvoll die Pegelstände vergangener Zeiten demonstrieren. Franziska stellte sich daneben, Hell fotografierte. Nach den Fotos spazierten sie gleich hinüber zu den ersten Geschäften mit Souvenirs, aber so richtig kam auch hier keine Begeisterung auf.
»Ich habe Hunger! Fischbrötchen! Sofort!«, protestierte Franziska und zog Hell weg von den Souvenirständen. Sie spazierten weiter und schauten sich nach den ersten Fischbrötchen um.
»Sicher bekommst du eins, es geht ja nicht, dass wir an die Küste fahren und du dann kein Fischbrötchen bekommst.«
Tatsächlich mussten sie auch nicht sehr lange suchen, ein Fischhaus lag gleich etwas abseits an einer Mole. Vor dem Fischhaus befanden sich zahlreiche Sitzgelegenheiten, die heute bei dem schönen Wetter schon gut besucht waren. Sie bestellen sich leckere Fischbrötchen mit allem Drum und Dran und suchten sich dann einen Platz. Franziska nahm eines ihrer Brötchen, sie hatte gleich zwei gekauft, in beide Hände und biss genüsslich hinein. Der grüne Salat schob sich rechts und links auf ihre Wangen.
»Hmh«, stöhnte sie und ließ sich ein paar Zentimeter tiefer in den Stuhl sinken, »Das ist genau das, was ich jetzt gebraucht habe.«
»Sehr schön«, antwortete Hell und wischte sich mit der Serviette einen Klecks Remoulade vom Kinn.
»Was machen wir noch? Stadtbummel oder direkt einkaufen, was wir noch benötigen?«, fragte sie kauend.
»Wir haben Urlaub, ich plädiere für einen Stadtbummel.« Er schob sich den Rest seines Brötchens in den Mund, »Nehmen wir noch welche mit für die Fahrt?«, fragte Hell und stützte sich auf der Lehne ab, bereit, aufzuspringen.
Seine Augenbrauen zuckten hinter der Brille hervor, als Zeichen der Bestätigung.
Franziska nickte nur, Hell reihte sich in die kurze Schlange ein und kam kurze Zeit drauf mit einer gut gefüllten Tüte wieder zurück.
»Für jeden noch zwei«, sagte er und zwinkerte ihr zu, »Ich habe gehört, es soll einen schönen Marktplatz geben, einen Park und das Schifffahrtsmuseum soll auch sein Geld wert sein.«
»Wer sagt das?«
»Die Fischfrau.«
»Die kulturell bewanderte und völlig vertrauenswürdige Fischfrau«, scherzte sie.
»Genau die!«
»Hat sie auch eine Spur aus ihren köstlichen Fischbrötchen für uns ausgelegt?«
»Nein.«
Schade.«
Hell trat neben sie, küsste sie auf die Stirn und hielt ihr die Hand hin. »Komm, die Kultur wartet.«
*
Süderlügum
Über die B5 fuhren sie weiter auf die dänische Grenze zu. Der Ort Süderlügum war die letzte nennenswerte Ansammlung von Häusern, die sie vor der dänischen Grenze zu sehen bekamen, bereits vier Kilometer später rollte das Wohnmobil darüber. Die Bundesstraße wechselte den Namen, aus ihr wurde nun die Route 11.
Die Fahrt durch das norddeutsche Hochland war angenehm gewesen, das Land war wirklich topfeben. Rechts und links flogen immer wieder Felder, vereinzelte Bäume und grandiose Natur vorbei, oder sie durchfuhren kleine Dörfchen.
Als sie nun die dänische Seite erreicht hatten, änderte sich daran nicht viel. »Ich bin froh, dass wir die Landstraße genommen haben. Das hier ist viel schöner, als wenn man der A7 gefolgt wäre«, sagte Franziska mit der Kamera in der Hand. »Du vergisst die spannenden Leitplanken, die uns mittig begleitet hätten«, sagte Hell und senkte seine Sonnenbrille, um Franziska kurz anzuschauen.
Gut gelaunt begann Hell, das schon bekannte Lied zu pfeifen.
Franziska schaute sich die Fotos an, die sie in Husum aufgenommen hatten. »Hier, dieser Husumer Schlosspark ist wirklich total schön«, sagte sie und drehte die Kamera so, dass Hell das Foto sehen konnte.
Er sagte nichts, sondern fügte einen begeisternden Pfiff in sein Lied ein. Franziska lachte kurz in sich hinein.
Hell mit dem Schloss im Hintergrund, Franziska als Spiegelbild im Wassergraben, die weißen Butzenfenster neben den rotbraunen Ziegeln, aus denen das Stadtschloss von Husum errichtet war, die Kuppel des Turmes aus allen möglichen Blickwinkeln – Hell liebte es, Türme zu fotografieren – und sie beide neben dem Löwenwächter oder neben der Büste des Dichters Theodor Storm, der in Husum geboren wurde. Sie konnten den Weg verfolgen, den sie durch die Stadt genommen hatten. Eines der Fotos zeigte auch Franziska vor dem ‚Husumhus‘, dem Haus von Husum. Auf einem Betonvorsprung, der an diesem Haus angebracht war, stand die Skulptur eines Hahnes, der hier liebevoll ‚Go Go‘ genannt wurde, die Abkürzung für ‚Goldener Gockel‘. Franziska stand darunter und hielt die Hände auf, als wolle sie etwas auffangen, das von oben herunterfallen könnte. Bei einem Hahn machte das natürlich keinen Sinn, weil er keine Eier legte.
»Weiß doch keiner, dass es ein Hahn sein soll«, hatte sie entschuldigend gesagt.
Sie klappte den Sucher der Spiegelreflex ein und legte die Kamera wieder neben sich.
»Weißt du was, ich bin müde«, sagte sie, »Darf man auch während der Fahrt auf dem Bett liegen?«
»Setz dich nach hinten, da kannst du dich anschnallen. Bett ist zu gefährlich«, antwortete Hell.
Sie löste den Sicherheitsgurt, zwängte sich zwischen den beiden Sitzen durch und machte es sich auf der Sitzbank bequem.
»Weck mich, wenn wir angekommen sind«, murmelte sie noch.
»Wollen wir jetzt noch nach Rømø fahren oder möchtest du doch lieber direkt durchfahren?«, fragte Hell, doch er erhielt nur noch ein unverständliches Murmeln als Antwort.
Die nächste Stadt, Tonder, ließen Hell links liegen. Wenn er ehrlich war, dann hatte er keine Lust, sich über den langen Damm auf die Insel Rømø zu quälen. Er hatte in dem Reiseführer gelesen, dass es neben dem fantastischen Strand, auf dem viele mit Kites unterwegs waren, nicht viel zu bestaunen gab. Auch kulturell hielt die Insel keine Überraschungen bereit.
Er beschloss, falls Franziska, nachdem sie die Stadt Skaerbaek erreicht hatten, noch schlafen sollte, nicht auf den Rømøvej zu wechseln, der sie auf die Insel brächte, sondern auf dem Ribevej zu bleiben, auf dem sie sich dann der nächsten Stadt, Ribe, nähern würden. Hinter dem Ort Bredebro verwandelte sich die Straße in einen grauen Strich. Schnurgerade führte die Straße wieder vorbei an Feldern und kleinen Häusern, die sich nur ein wenig von den deutschen unterschieden. Erst weiter im Norden würde sich der Baustil merklich verändern. Hell musste auch gegen die Müdigkeit ankämpfen.
Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht gewesen. Hell bedauerte, dass er Franziska beim Schlafen nicht beobachten konnte. Wenn es mein WoMo wäre, dann würde ich einen Rückspiegel auf dem Armaturenbrett anbringen, damit man das Geschehen im Wohnmobil auch während der Fahrt beobachten konnte. Sie näherten sich der Stadt Skaerbaek, Franziska schlief immer noch. Hell rollte durch die Stadt hindurch. Am Ende der Stadt rollte er langsam durch den Kreisverkehr, auf dessen Seitenstreifen ein kleines Schild den Weg zur Insel Rømø wies. Wenn die Insel toll wäre, dann wäre auch das Schild größer, dachte Hell. Er blickte auf das Navigationsgerät, das noch 116 Kilometer bei einer Fahrzeit von einer Stunde und fünfundvierzig Minuten anzeigte, dann wären sie in Hvide Sand angekommen. Es war nun viertel vor drei Nachmittags.
Der Unsicherheitsfaktor war die Stadt Ribe. Da er nicht wusste, wie lange sie dort verweilen würden, konnte er noch keine SMS mit der voraussichtlichen Ankunftszeit an Stephanie Beisiegel schicken. Es sollte nicht allzu spät am Abend sein, schließlich wollten sie noch gemütlich zusammensitzen. Hell verspürte wieder das schöne Gefühl in der Magengegend, das zweite Mal auf der Tour.
*
Hvide Sande
Das Glöckchen über der Eingangstür zu Kjell Klofts Laden klingelte. Kloft rief aus dem Hinterzimmer: »Ich komme sofort, einen Moment bitte!«
Als er den Vorhang, der seinen Laden von der kleinen Stube dahinter trennte, beiseiteschob, stand bereits sein Freund Petter Johansson vor ihm. Er sah in sein sorgenvolles Gesicht.
»Der Retriever ist verschwunden«, sagte er ohne einen Gruß.
»Was?«
»Der Hund ist weg. Ich wollte ihm eben frisches Wasser geben und ihn füttern, da habe ich gesehen, dass die Tür aufgebrochen wurde.« Er hob die Arme und ließ sie wieder fallen.
»Aufgebrochen?«
»Hör mir doch zu! Ja, aufgebrochen.« In seiner Stimme mischte sich Aggression mit Verzweiflung.
»Ob das die Polizei war? Was denkst du?«, fragte Kloft, ohne weiter nachzudenken.
»Dann wären die auch schon bei uns gewesen, klar. Es steht ja auch unser Name dran«, sagte er kopfschüttelnd, zog aber trotzdem besorgt die Augenbrauen zusammen.
»Stimmt. Die alte Kate ist keinem von uns zuzuordnen, wie sollten die dann auf uns kommen? Du hast recht. Aber wer war es dann?« Kloft schüttelte den Kopf über seine eigenen Gedanken.
»Jemand, der zufällig vorbeigekommen ist. Und dann hat er den Hund gesehen und ihn mitgenommen. Der geht ja mit jedem mit, das Schaf.«
Kloft nickte. »Ob es die Besitzer waren?«
»Blödsinn. Die geben ihn nicht erst in unsere Hände, damit sie ihn dann wieder stehlen. Nein. Und außerdem wussten sie nicht, wo wir den Hund untergebracht hatten.«
»Dann kann es nur jemand gewesen sein, der zufällig vorbeikam«, sagte Kloft und räumte die Dosen mit Tomaten ins Regal, die er aus dem Lager geholt hatte.
»Nein, wir haben bisher eine Möglichkeit außer Acht gelassen«, sagte Petter Johansson und presste seine Lippen aufeinander.
»Welche denn?«
»Jemand hat uns beobachtet. Der hat sich auch den Hund geholt.«
»Was? Warum? Wer soll uns denn beobachtet haben? Wir alle sind doch immer so vorsichtig. Nein, das glaube ich nicht.« Er schüttelte energisch den Kopf.
»Wir beiden wissen, dass wir vorsichtig sind. Aber was ist mit Merit?«
Kloft riss die Augen auf. »Merit? Nein, das glaube ich nicht. Wir können ihr vertrauen, auch wenn sie keine Dänin ist.«
»Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Ich habe mich deinetwegen darauf eingelassen, sie mit ins Team zu holen. Das weißt du, Kjell«, sagte Johansson.
»Und? Was soll ich jetzt sagen? Sollen wir ihr sagen, dass wir auf ihre Mitarbeit verzichten, weil ein Hund verschwunden ist? Solch eine blöde Idee kannst du nicht wirklich haben.«
»Wir müssen ein Auge auf sie haben, das ist alles, was ich von dir verlange.«
Er zuckte mit den Achseln, eine Geste der Hilflosigkeit. Sein Blick huschte zwischen den Dosen, die Kloft weiterhin in das Regal stellte, und dem Vorhang hin und her. Er wirkte gereizt und Kloft kannte dieses Verhalten an seinem alten Freund nicht.
»Du kannst ihr gerne hinterher spionieren, aber erwarte nicht von mir, dass ich da mitziehe.«
Wahrscheinlich wusste Johansson nicht einmal, dass er sich wie ein Trottel benahm. Kloft grinste ihn an, sein Freund blickte nur sprachlos.
»Das ist deine Sache, Kjell. Ich habe nur gesagt, dass wir weiter vorsichtig sein müssen.«
»Gut. Sind wir vorsichtig. Wir müssen überlegt herausfinden, was mit dem Hund passiert ist.«
Johansson schaute auf seine Armbanduhr. Es war halb vier nachmittags. Er schüttelte plötzlich den Kopf, hob die Hand und ging mit schnellen Schritten zur Ladentür. Als kurz drauf wieder das Glöckchen klingelte, sah Kloft seinem Freund immer noch nach. Es meldete sich seine innere Stimme. Johansson hatte recht, wenn er sich Gedanken machte. Immerhin stand ihre Freiheit auf dem Spiel. Aber deshalb meldete sich die innere Stimme nicht. Er hatte keine Angst, sich für seine Überzeugung einzusetzen. Irgendetwas war mehr als seltsam am Verschwinden des Tieres, aber er vermochte noch nicht zu sagen, was.
*
Ribe
Kurz vor Ribe war Franziska wieder aufgewacht. Hell warf ihr den Wohnmobilführer nach hinten, dem sie sofort die passenden Geheimnisse für dieses kleine mittelalterliche Städtchen entlockte.
»Es soll hier sogar etwas außerhalb einen kostenlosen Wohnmobilstellplatz geben«, erläuterte sie nach kurzer Zeit.
»Da wir nur ein paar Stunden in Ribe verbringen wollen, sollten wir natürlich möglichst zentrumsnah parken.«
Franziska lotste Hell mit dem Wohnmobil zu einem Parkplatz gleich gegenüber einem Hostel und dem Busparkplatz, auch wenn die dortige Verwirrung der Beschilderung nicht besser sein könnte.
Hell rollte trotzdem wieder rückwärts in die Parklücke. Diese Übung hatte er jetzt schon in Perfektion drauf. So stand dem kleinen Spaziergang ins nahe gelegene Mittelalterstädtchen Ribe nichts mehr im Weg.
»Ich bin froh, mich wieder bewegen zu können«, sagte Franziska und schnappte sich die Tüte mit den Fischbrötchen aus dem Kühlschrank.
Schon auf dem Weg ins Zentrum wurden einige Parallelen zur Stadt Husum wach. Auch hier fanden sie einen kleinen Kanal mit Schiffen und einige kleine Häuschen am Hafen vor, die durchaus früher einmal Kontore oder zumindest Lagerhäuser gewesen sein könnten.
Ribe erwies sich als eine kleine, pittoreske Stadt. Nachdem sie recht schnell im Zentrum von Ribe standen, orientierten sich Hell und Franziska zunächst nach rechts und spazierten die wirklich sehr mittelalterlich anmutende Stadt mit Ihren engen Gassen und Wegen entlang.
Franziska fand die Häuser faszinierend. »Ich würde mich in einem solchen Haus wohlfühlen, da bin ich mir sicher«, sagte sie, als sie vor einem klassischen Fachwerkbau mit kleinen Fenstern und einer teilweise beängstigenden Schieflage standen. Hells Augen wanderten an den schiefen Balken entlang und er stellte sich vor, dass der Fußboden drinnen eine ähnliche Neigung aufwies.
»Schön sind diese Häuser, nur wohnen würde ich in einem solchen Haus nicht wollen. Aber von außen sieht es nett und urig aus. Das schaue ich mir gerne an.«
Eine Ecke weiter entdecken sie die Touristeninformation, wo sie auch gleich die ersten Postkartenständer von Ribe bestaunten. Bevor Franziska sich an dem nächsten Andenkenladen festsaugen konnte, zog Hell sie weiter. Kurz darauf standen sie vor der Kirche von Ribe, diese hatte gleich zwei Kirchtürme.
Franziska wühlte sofort zu diesem Thema im Reiseführer, nachdem die Frage aufkam, warum die beiden Türme so unterschiedlich waren.
Schließlich erklärte sie Hell auf seinen fragenden Blick nach oben, dass die Kirche zunächst nur einen Turm gehabt hatte, dieser sei dann aber eingestürzt. Also hatte man einen neuen Turm gebaut, aber später dann auch den alten Turm wieder aufgebaut und so hat die Kirche nun zwei Türme.
»Wir gut, dass so ein Missgeschick nicht auch in Köln passiert ist«, scherzte er.
*
Hvide Sande
Sie überlegte, noch ein paar Minuten zu warten, streckte die Hand aus und nahm den Becher aus der Halterung am Armaturenbrett, trank einen Schluck. Der Fahrersitz ihres Ford Bronco war schon sehr durchgesessen und deshalb rutschte sie ein wenig nach links. Ihr Blick blieb auf die Einfahrt des Grundstückes gerichtet. Sie sah hektisch auf die Uhr des Ford, hängte den Becher wieder ein. Es war jetzt halb vier Uhr nachmittags. Sie fischte sich eine Zigarette aus der Packung und drückte den Zigarettenanzünder. Als er wieder heraussprang, zündete sie sich die Kippe an.
Wenn er nicht seine Gewohnheiten total geändert hatte, so sollte er innerhalb der nächsten Minuten nach Hause kommen. Gewohnheiten. Sie waren es unter anderem gewesen, die ihre Ehe mit Nils Ole Andresen ins Aus getrieben hatte.
Merit Holzheuser wartete in einiger Entfernung zu seiner Hofeinfahrt. Seit ihrer Scheidung hatte sie seine Gegenwart gemieden. Nicht wie der Teufel das Weihwasser, aber ihre Lebensumstände wiesen nach der endgültigen Beendung ihrer gemeinsamen Zeit einfach keine Schnittmengen mehr auf. Wenn sie ehrlich war, so hatte sich nicht viel geändert. Der rechte Lokalpolitiker und die Deutsche lebten in einer Zweckgemeinschaft mit schlechtem Ende für sie. Andresen hatte es sehr gut verstanden, sich trotz seiner extremen politischen Ansichten in seiner Partei als Bürgermeisterschafts-Kandidat durchzusetzen. In der Partei galt er trotz allem als Vorzeige-Kandidat. Und sie hatte als seine Frau einen entscheidenden Anteil gehabt. Selbst als sie sich trennten, änderte das nichts an seiner Aufstellung.
Viele Bürger von Hvide Sande vertraten zu seiner Kandidatur aber eine völlig andere Meinung, sie meinten, einen schlechteren Kandidaten könne die Partei nicht nominieren, daher sei er zwangsläufig der Beste. Wäre Merit Holzheuser eine politisch engagierte Person gewesen, sie hätte sicher beste Chancen gehabt, eine leitende Position in einer politischen Partei zu ergattern. Sie hatte eine angenehme Art, Menschen zu überzeugen, mit sachlichen Argumenten, doch das hätte er ihr verboten.
»Wie sieht das aus, wenn meine Frau bei den Demokraten antritt?«, hatte er sie gefragt. Sie hatte ihn nur reden lassen und sich ihre eigene Meinung gebildet.
Einige Monate später hatte es für sie nur noch einen bohrenden Gedanken gegeben: Wie komme ich so schnell wie möglich aus dieser Ehe heraus? Sie hatten sich nichts mehr zu sagen.
Schließlich gab sie dem Leidensdruck nach. Nach einem körperlichen Übergriff ihres Mannes war sie an ihrem emotionalen Tiefpunkt angelangt, sie war es leid gewesen, sich jeden Tag die gleiche Frage zu stellen.
Doch heute hatte sie das erste Mal seit einem halben Jahr das Bedürfnis gehabt, mit Nils Ole Andresen zu sprechen. Es würde kein nettes Gespräch werden, darüber war sie sich im Klaren. In ihrem Magen machte sich daher auch ein übles Gefühl breit. Mit fahrigem Blick schaute sie erneut auf die Uhr. Merit Holzheuser legte den Sicherheitsgurt an. Andresen würde nicht mehr kommen.
Gewohnheiten.
Wenn er mit seinem Auto bis jetzt nicht die Auffahrt entlang kam, würde er erst spät am Abend heimkommen. Sehr wahrscheinlich mit dem Taxi und sicherlich betrunken. Sie warf die Zigarette aus dem Fenster, griff zum Zündschlüssel und startete den Motor. Als sie eine Minute später an der Stammkneipe der Partei vorbeifuhr, verriet ihr der Blick auf den Parkplatz, dass er seine Gewohnheiten geändert hatte. Sein Auto stand nicht dort.
*
Ribe
Nachdem sie von Ribe aus losgefahren waren, schnappte sich Franziska wieder die Reiseführer, um auf den nun noch folgenden Kilometern mögliche Sehenswürdigkeiten aufzutun. Sie hielt Hell ein Foto der ‚Männer am Meer‘ hin. Am Meer, nordwestlich der Stadt Esbjerg, stand eine der bekanntesten Skulpturen Dänemarks. Dort bildeten vier weiße Männer, die dort aufs Meer blickten, eines der Wahrzeichen Dänemarks, das man in vielen Reiseführern vorfinden konnte.
»Brauchen wir das? Oder sind wir lieber eine halbe Stunde früher in Hvide Sande?«, fragte er und tat damit seine Skepsis kund. Franziska zog den Reiseführer wieder zurück.
»Ich denke, wir haben genug Kultur für heute getankt und Meer haben wir heute noch genug, wenn wir mit den beiden an den Strand gehen. Also, lassen wir Esbjerg links liegen. Noch weiter westlich liegt noch der Leuchtturm Blavand Fyr, der wird auch als tolles Ausflugsziel beschrieben.«
»Wir haben ja noch eine Rückfahrt vor uns. Wenn wir noch ein paar Dinge haben, die wir uns dort anschauen können, ist es nicht so langweilig, als wenn wir in einem Rutsch zurückfahren«, sagte Hell.
Die Landschaft veränderte sich, je näher sie dem Ringkøbing Fjord kamen. Das platte Land blieb platt, doch wurde die Vegetation immer spärlicher. Aus den lichten Birken– und Nadelholzwäldern, die sie noch nördlich von Esbjerg begleiteten, wurden sandige, mit Gras und Bodendeckern bewachsene Kuppen, auf denen schon die ersten typischen Ferienhäuser zu sehen waren. Als sie das südliche Ende des Fjordes, in der Gegend um Nymindegab erreichten, war von großwüchsiger Vegetation nichts mehr zu sehen. Natürlich gewachsene Wälder gab es so gut wie keine, höchstens ein paar als Windschutz angepflanzte Bäume in den Ferienhaussiedlungen. Aber auch hier war es meistens flach. Der namensgebende Fjord hielt sich hinter Heide und Graslandschaft verborgen.
Als die Straße hinter Nymindegab wieder schnurstracks in Richtung Norden ging, fiel Hell auf der linken Seite der Straße eine große weiße Dünenkuppe auf. Kurzentschlossen lenkte Hell das Wohnmobil auf einen langgestreckten Parkplatz, auf dem als einziges Fahrzeug ein Wohnmobil stand, das ihrem eigenen sehr ähnlich war.
»Hier werden wir unseren ersten Blick auf die Nordsee werfen«, sagte er, während Franziska die abrupte Richtungsänderung nicht mitmachen konnte, weil sie gedanklich noch immer auf der Suche nach dem Wasser des Fjordes war.
»Hey, kündige das doch bitte an«, meckerte sie.
Der Weg zum Strand war mit zwei weiß-rot-gestreiften Schranken abgesperrt. Hell parkte das Wohnmobil.
»Ich möchte jetzt sofort Sand unter die Füße haben«, sagte er.
»Sollten wir nicht Stephanie eine Nachricht schicken und ihr sagen, dass wir vor der Tür stehen?«
»Ja, mach ich. Sobald ich den Sand unter meinen Füßen spüre.« Hell drehte den Fahrersitz nach rechts und überlegte, wohin er seine Sandalen gepackt hatte. Er fand sie dort, wo sie alle ihre Schuhe aufbewahrten.
Hell trat vor das Wohnmobil und versuchte, hinter den sanften Hügeln irgendwo einen Blick auf das Meer werfen zu können. Vergebens.
Franziska trat neben ihn. Sie trug einen Strohhut, den Hell bisher noch nie auf ihrem Kopf erblickt hatte.
»Schick, sehr kleidsam.«
Mit einer beinahe königlichen Geste setzte sie sich ihre Sonnenbrille auf.
»Kamera? Handy? Alles dabei?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Hell und verschwand wieder im Wohnmobil. Mit seinem Baseball-Cap auf dem Kopf und geschulterter Kameratasche schloss er die Türen des Wohnmobils ab.
»Komm«, sagte er und hielt Franziska die Hand hin.
Als sie fünf Minuten später auf dem Dünenkamm standen, hatten sie nicht nur die Straße hinter sich gelassen, Oliver Hell und Franziska Leck hatten soeben ihren Urlaub begonnen. Sie blieben eine Weile auf dem Dünenkamm stehen. Vor ihnen breitete sich der weitläufige Strand aus, den viele als den schönsten Dänemarks bezeichneten.
Sand, Meer, Himmel, Wolken, Weite.
Links und rechts rauschte das Dünengras im sanften Windhauch. Franziska drehte sich um. »Sieh mal, dahinten ist der Fjord und hier kannst du ja kilometerweit laufen. Ist das traumhaft, Oliver!«, jauchzte sie.
Hell fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. Sand lief ihm in die Sandalen, doch es störte ihn nicht.
Vor ihnen fiel der sandige Weg steil ab. Der feine Sand war strahlend weiß. Hell zog sich mit einer kurzen Geste die Sonnenbrille von der Nase. Sofort wurde er geblendet, was ihn dazu brachte, sich eilig wieder die Brille auf die Nase zu schieben. Am Strand lagen noch ein paar kleine Bunker, die seit dem Zweiten Weltkrieg hier immer weiter im Sand versanken. Sie näherten sich langsam dem Meer, Hand in Hand.
Franziska bemerkte, dass sich am Strand außer ihnen nur ein weiteres Paar befand. Eine Person badete und die andere saß am Strand, nahe der Wasserlinie.
»Wollen wir auch schwimmen gehen?«
»Ich hab keinen Badeanzug an«, sagte Franziska zweifelnd.
»Brauchst du einen?«, fragte Hell schmunzelnd.
*