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Die Ankunft

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Paul und Fritz befanden sich im Zug, der von Innsbruck nach Ziegelbrücke fuhr. Sie hatten bereits die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz hinter sich und waren schon seit mehr als zweieinhalb Stunden unterwegs.

Fritz betrachtete fasziniert die Berge, die am Fenster vorbeizogen. Währenddessen schnarchte Paul, der ihm gegenübersaß, gemütlich vor sich hin.

„Hey, Paul, sieh dir doch mal die Berge an“, rief Fritz plötzlich. „Auf denen liegt noch haufenweise Schnee!“

Paul schlug genervt die Augen auf und antwortete schläfrig: „Ach, Fritz, auf den Bergen bei uns in Tirol liegt auch noch Schnee. Außerdem ist das ganz normal für Anfang April.“

„Ja, aber trotzdem. Schau doch mal, wie schön der Schnee in der Sonne schimmert!“

„Der Schnee in Tirol schimmert auch, wenn die Sonne daraufscheint“, antwortete Paul unbeeindruckt.

„Ja, aber das ist Schweizer Schnee!“

„Schnee ist Schnee, da gibt es keine Unterschiede.“

„Na gut, wenn du meinst“, murmelte Fritz kleinlaut und blickte wieder aus dem Fenster. „Mir gefallen die Berge trotzdem!“

Paul seufzte kurz, dann sprach er: „Wie du meinst. Lässt du mich jetzt wieder schlafen?“

„Ja, ja. Penn ruhig weiter, du Schlafmütze.“

Zufrieden lehnte Paul sich zurück und hoffte, bis zur Ankunft in Ziegelbrücke seine Ruhe zu haben. Doch schon nach ein paar Minuten drehte Fritz wieder durch. „Hey, Paul, sieh mal!“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, murmelte dieser blinzelnd. Durch schmale Augenschlitze konnte er erkennen, wie Fritz begeistert sein Gesicht gegen das Zugfenster presste.

„Wir sind da! Am Walensee!“

„Was, echt?“, nuschelte Paul noch halb träumend. „Das ging aber schnell.“

„Nur weil du die ganze Zeit geschlafen hast“, tadelte ihn Fritz. „Sieh dir lieber mal den See an!“

Gehorsam blickte Paul aus dem Zugfenster und er wurde nicht enttäuscht, denn der Anblick des Walensees war atemberaubend. Die riesige Wasseroberfläche glänzte wie Silber im Licht der Nachmittagssonne, die sich zwischen den hohen, schneebedeckten Berggipfeln versteckte.

Während der Zug an der langen Südseite des Walensees entlangfuhr, hatten Paul und Fritz genug Zeit, um die Landschaft zu genießen. Als sie an Murg vorbeikamen, konnten sie bereits das Walenseeschloss in der Ferne erkennen. Es erhob sich wie ein Juwel aus der silbrig glänzenden Wasseroberfläche. Noch ahnten die beiden nicht, welche Abenteuer sie in diesem Bauwerk erwarten würden.

Um 17 Uhr erreichte der Zug die Ortschaft Ziegelbrücke. Paul und Fritz stiegen aus und fuhren mit dem Bus weiter nach Amden.

„Wo ist das Hotel, von dem du vorher gesprochen hast?“, fragte Paul, während sie durch die Straßen von Amden schlenderten.

Fritz kramte die Reisebroschüre aus seinem Rucksack hervor und antwortete: „Lass mich kurz nachsehen ... vorne ums Eck müsste es eigentlich sein. Nein, warte ... wir sind gerade daran vorbeigelaufen.“

„Ach, Fritz. Wieso habe ich dich überhaupt mitgeschleppt?“, sagte Paul kopfschüttelnd.

„Weil dieser Ausflug meine Idee war. Und jetzt heul nicht rum, wir sind ja schon da.“

Die beiden erreichten den Eingang des Hotels, das Fritz für sie ausgesucht hatte. Das Gebäude war ein altes Fachwerkhaus aus dem 15. Jahrhundert, befand sich aber in einem gut erhaltenen und gepflegten Zustand. Zufrieden, nun endlich ihre Unterkunft erreicht zu haben, betraten die zwei das Gebäude.

„Also, mir gefällt es hier“, sagte Fritz zufrieden und ließ sich auf das weiche Bett in ihrem Hotelzimmer fallen.

„Genau dasselbe hast du auch über das Hotel in Hall in Tirol gesagt“, meinte Paul unbeeindruckt, während er seinen Rucksack auf den Boden fallen ließ.

„Aber hier sind die Betten so schön weich.“

„Und das hast du ebenfalls schon in Hall in Tirol gesagt.“

„Ach, Paul, jetzt lass mir doch meinen Spaß! Immer wenn ich mich über irgendetwas freue, musst du es mir kaputt machen.“

„Ja, aber nur weil es immer so lächerliche Dinge sind, die dich wahnsinnig faszinieren. Als du das letzte Mal bei meinen Eltern und mir zu Besuch warst, hast du fast eine Stunde lang mit einem Türstopper gespielt.“

„Ja, und?“ Fritz schien ein wenig gekränkt zu sein.

Paul seufzte und hängte seine Jacke an den Haken. „Mit 13 Jahren spielt man nicht mehr stundenlang mit einem Türstopper. Und mit 14 gerät man nicht wegen jeder stinknormalen Matratze aus dem Häuschen.“

„Hey, ich habe nicht stundenlang mit dem Türstopper gespielt!“, verteidigte sich Fritz.

„Wenn ich ihn dir nicht weggenommen hätte, dann hättest du dich sicher noch den restlichen Tag damit beschäftigt“, widersprach Paul und nahm den Zimmerschlüssel vom Regal. „Ich glaube, ich geh jetzt runter zur Hotelbar und zieh mir ein paar Cocktails rein. Es ist ja nicht auszuhalten mit dir.“

„Mach das, aber nicht zu lange!“, meinte Fritz. „Wir müssen morgen ausgeschlafen sein, sonst wird das mit der Wanderung nichts.“

„Ja, ja. Ich kann im Gegensatz zu dir selber auf mich aufpassen, ich bin schon 18. Soll ich die Zimmertür zusperren?“

„Ja, aber weck mich nicht auf, wenn du zurückkommst.“

„Ach, um die Uhrzeit schläfst du doch sowieso tief und fest wie ein Baby“, erwiderte Paul, bevor er das Licht ausschaltete und die Tür hinter sich schloss.

Im Erdgeschoss an der Hotelbar war nicht sehr viel los. Kein Tisch im ganzen Raum war besetzt, jedenfalls konnte Paul im Halbdunkel niemanden erkennen. Nur an einem Ende der Theke saß ein älterer Mann, vermutlich ein Einheimischer, der bewegungslos sein Bierglas anstarrte. Er hatte einen Vollbart und trug einen grob gestrickten Wollpullover. Obwohl er betrunken wirkte, setzte sich Paul zu ihm. Vielleicht konnte er mit ihm ein interessantes Gespräch beginnen.

Der Mann roch widerlich nach Schweiß und billigem Alkohol. Er sah ungewaschen und nicht sehr gepflegt aus. Paul überlegte schon, ob er nicht doch woanders Platz nehmen sollte, als ein Kellner aus der Küche trat und ihn nach seinem Getränkewunsch fragte.

„Haben Sie einen Martini?“, wollte Paul wissen.

„Selbstverständlich. Kommt sofort“, antwortete der Kellner, bevor er wieder in der Küche verschwand.

„Einen Martini bestellt er sich, der feine Herr“, sprach der bärtige Mann neben Paul plötzlich mit einer kräftigen Stimme. „Wie heißt du denn?“

„Paul“, antwortete er höflich.

„Sehr erfreut. Ich bin Günter.“

Günter streckte Paul zum Gruß seinen dicken Arm entgegen. Doch Paul lehnte ab, als er die ungewaschenen, dreckigen Wurstfinger erblickte.

„Du scheinst nicht von hier zu sein. Was treibt dich in diese Gegend, mein junger Freund?“, wollte Günter wissen.

„Ich möchte mir das Walenseeschloss mit meinem Cousin ansehen.“

„Das Walenseeschloss? DAS Walenseeschloss?! Er will ins Walenseeschloss, ich glaub, ich werd verrückt! Haben Sie das gehört?“

Die letzte Frage war an den Kellner gerichtet, der soeben mit Pauls Getränk zurückgekehrt war. Doch dieser stellte bloß wortlos das Glas auf die Theke und ging schnurstracks wieder zurück in die Küche.

„Unhöfliche Leute gibt es heutzutage ... unhöfliche Leute“, schmollte Günter vor sich hin.

„Also, was ist jetzt mit dem Walenseeschloss?“, hakte Paul nach.

„Was mit dem Walenseeschloss ist? Ich sag dir, was mit dem Walenseeschloss ist. Mein Großvater hat mir einmal erzählt – damals, als er noch gelebt hat, versteht sich –, dass er einst einen Bekannten hatte, der drüben im Walenseeschloss als Diener gearbeitet hat. Aber dieser Bekannte, der lebt natürlich nicht mehr ... ich glaub, schon seit hundert Jahren nicht mehr ... Wirklich, hundert Jahre? Wie schnell doch die Zeit vergeht ...“

„Was ist mit dem Bekannten?“, fragte Paul nach, denn er war neugierig geworden. Vielleicht konnte er dem Mann einige Informationen über das Walenseeschloss entlocken.

„Ja, also, was war mit dem Bekannten? Ich sag dir, was mit dem war, pass nur auf! Der hat erzählt, was mit diesem riesigen Schloss passiert ist. Heute, ja, heute steht es leer. Einsturzgefährdet. Angeblich. Aber wenn ihr wüsstet, was da drin wirklich passiert ist ... wenn ihr das wüsstet!“

Günter nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas, das vor ihm auf der Theke stand.

„1870 war es, als sie ihn gefeuert haben. Den Diener, den Bekannten meines Großvaters. Gekündigt haben sie ihm! Und nicht nur ihm, sondern allen Bediensteten des Schlosses, einem nach dem anderen! Weil kein Geld mehr da war, mit dem sie bezahlt werden konnten!“, schrie Günter beinahe. „Verspielt hat er alles, der elendige Schlossbesitzer! Alles hat er verwettet, bei Pferderennen. Angeblich. Nichts ist übrig geblieben! Man hat sich erzählt, dass der Schlossbesitzer später ganz alleine im Walenseeschloss gestorben ist. Ganz alleine. Niemand war mehr da! Keine Bediensteten, keine Familie, keine Nachkommen, niemand. Und seitdem steht der Kasten leer.“

Günter starrte kurz verträumt in sein Bierglas.

„Einmal, hat mein Großvater erzählt, einmal wäre er dort gewesen. Beim Schloss. Als es schon seit Jahrzehnten leer stand. Er wollte reingehen und sich ein bisschen umsehen, du weißt schon, getrieben vom jugendlichen Abenteurerdrang. Und ob du’s glaubst oder nicht: Gerade als er reingehen wollte, fällt ihn eine riesige Wildsau an! Ja, eine richtig große!“

Günter streckte seine Arme aus, um die Größe des Wildschweins darzustellen. Doch Paul war nicht wirklich beeindruckt. Konnte er tatsächlich alles glauben, was dieser Mann erzählte?

„Und weißt du, was mein Großvater gemacht hat? Er hat reflexartig sein Messer gezückt, mein Großvater, der Held! Und abgestochen hat er sie. Mit einem einzigen Hieb! Natürlich, er hatte ja auch ein teures Messer. Handgefertigt, Schweizer Handwerkskunst, versteht sich ...“

„Danke, dass Sie mir so viel erzählen“, unterbrach ihn Paul, denn der Kellner war soeben wieder erschienen.

„Darf ich den Herren noch etwas zu trinken anbieten?“

„Ein Bier, bitte“, verlangte Günter.

„Nein, danke. Ich möchte zahlen“, sagte Paul. Für ihn war es an der Zeit, sich ins Bett zu legen und etwas auszuruhen. Schließlich standen morgen eine weite Wanderung und eine große Schlossexpedition auf dem Programm. Aber war es wirklich eine gute Idee gewesen, zum Walenseeschloss zu reisen? Denn die Geschichten, die der Einheimische erzählt hatte, schienen nicht sehr glaubhaft zu sein.

Nachdem Paul ausgetrunken und bezahlt hatte, verabschiedete er sich von Günter und verließ den Raum. Während er die Treppe hinaufstieg, ließ er sich noch einmal die Erzählungen des bärtigen Mannes durch den Kopf gehen. Waren sie wirklich wahr?

***

Der lärmende Reisewecker riss Simone sofort aus dem Bett. Müde rieb sie sich die Augen und schaltete den nervigen Alarm aus. Der Wecker war einer der wenigen Gegenstände, die sie aus ihrem Rucksack ausgepackt hatte. Denn sie würde das Hotelzimmer später bereits wieder verlassen, obwohl sie erst am Tag zuvor in Murg angekommen war. Ihr blieb nur heute für ihre Schatzsuche im Walenseeschloss.

Nach einigen Minuten hatte sich Simone angezogen und ihre Sachen gepackt. In Gedanken war sie schon dabei, zu überlegen, wie ihre Expedition im Walenseeschloss ablaufen könnte. Sie würde unten am Fuß der Felseninsel beginnen und sich dann bis ganz nach oben durcharbeiten.

Simone verließ den Lift und betrat die Hotellobby. Als Erstes ging sie auf den Kaffeeautomaten zu, den sie am Tag zuvor schon entdeckt hatte. Sie hatte zwar gerade keinen Hunger oder Durst, weil sie normalerweise nie frühstückte, aber ohne Kaffee würde ihre Schatzsuche bestimmt deutlich zäher verlaufen.

Eigentlich musste Simone nur jenes geheimnisvolle Turmzimmer finden, von dem in dem dicken Buch die Rede gewesen war.

Aber das konnte womöglich auch den ganzen Tag dauern, dachte sie, während sie die angenehm warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabrinnen ließ. Der Kaffee entfaltete seine Wirkung und behagliche Wärme breitete sich langsam in ihr aus.

Nachdem sie sich gestärkt hatte, ging die Archäologin zur Rezeption. „Guten Morgen“, grüßte sie höflich. „Ich möchte heute einen Ausflug unternehmen, der voraussichtlich den ganzen Tag dauert. Kann ich auschecken, wenn ich heute Abend zurückkomme?“

„Selbstverständlich“, antwortete die Frau an der Rezeption freundlich. „Wohin geht Ihre Reise?“

„Ich möchte das Schloss im Walensee erkunden.“

„Dieses Schloss? Darin gibt es nicht viel zu entdecken. Es steht schon seit einer Ewigkeit leer und ist völlig mit Unkraut überwuchert. Sie wissen doch hoffentlich, was auf Sie zukommt, oder? Das Bauwerk könnte jederzeit einstürzen.“

„Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich bin Archäologin und habe schon in viel älteren und baufälligeren Gebäuden gearbeitet.“

„Na gut, wie Sie meinen. Viel Glück!“, wünschte die Hotelangestellte.

„Danke sehr!“ Mit diesen Worten verließ Simone das Hotel und machte sich auf den Weg zum Bootssteg am Walensee, der sich nicht weit von ihrer Unterkunft entfernt befand.

„Guten Tag! Ich möchte gerne ein Motorboot für einen Tag mieten“, trug Simone dem Bootsvermieter, einem kleinen, glatzköpfigen Mann, ihr Anliegen vor.

„Sehr gerne. Das kostet 200 Schweizer Franken.“

Nachdem Simone bezahlt hatte, betrat sie entschlossen das Wasserfahrzeug.

„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte der Bootsvermieter, während Simone ihre Ausrüstung verstaute.

„Zum Walenseeschloss.“

„Tatsächlich?“, erwiderte der Mann verwundert und blickte in Richtung des Schlosses, welches in weiter Ferne zu erkennen war. „Sie wissen doch, dass diese Burg schon seit über hundert Jahren leer steht, oder?“

„Ja, das weiß ich“, antwortete Simone unbeirrt. „Und genau deshalb will ich dorthin. Helfen Sie mir bitte mit dem Rucksack?“

Der Mann kratzte sich nervös an seinem Glatzkopf. Er schien nicht sehr erfreut über Simones Vorhaben zu sein, als er den Rucksack packte und ins Boot hievte. „Na gut. Aber eines sollten Sie noch wissen, wenn Sie an dieser Insel anlegen wollen. Es gibt ein altes Bootshaus, das zur Burg gehört, aber es ist sehr, sehr lange nicht mehr verwendet worden. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber der Wasserspiegel dieses Sees wurde im 19. Jahrhundert um fast sechs Meter gesenkt. Deswegen hängt dieses Bootshaus jetzt mitten in der Luft. Das ist der Grund, weshalb sich keine neugierigen Touristen in die Nähe dieses Schlosses begeben. Es ist nicht ganz einfach, an dieser felsigen, verlassenen Insel anzulegen.“

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte Simone zufrieden, während sie ablegte.

„Viel Glück, und geben Sie Acht!“, hörte sie den Mann noch rufen, dann übertönte der Lärm des Motors seine Worte.

Als Simone allmählich in die Nähe der Felsinsel kam, konnte sie langsam einige Details des Bauwerkes erkennen, das darauf erbaut war. Viele der Dächer und Türme waren eingestürzt, verbogene Holzbalken und brüchige Steine ragten müde aus den uralten Mauern der Festung. Die gesamte Südhälfte der Burg war mit zahllosen Kletterpflanzen, Dornranken und sogar von Bäumen überwuchert, was ihr ein verlassenes, doch gleichzeitig eindrucksvolles Aussehen verlieh. Je näher Simone mit ihrem kleinen Boot dem riesigen Walenseeschloss kam, umso größer und außergewöhnlicher wirkte es. Bei dem Gedanken, dass sich dort drin vielleicht irgendwo ein Schatz befand, wurde ihr bewusst, dass sie einen langen Tag vor sich hatte.

***

„Hey, Paul! Aufstehen! Es geht los! Heute gehen wir zur Burg!“

Müde hob Paul seinen schmerzenden Schädel und blinzelte ins Tageslicht, das durch das Fenster ins Zimmer drang. „Wie spät ist es?“, nuschelte er, während er sich schlaftrunken die Augen rieb. Er konnte erkennen, dass Fritz vor ihm auf der Bettkante saß und ihn erwartungsvoll angrinste.

„Es ist genau acht Uhr, eine Minute und 32 Sekunden. Komm schon, steh auf, du Faulpelz! Ich will endlich losmarschieren“, sagte Fritz aufgeregt.

„Acht Uhr morgens? Bist du des Wahnsinns?“, beschwerte sich Paul. „Dann habe ich ja nur vier Stunden geschlafen.“

„Ach, ist doch halb so wild. Komm, wir gehen jetzt runter zum Frühstücken und dann geht die Wanderung los. Ich kann es kaum erwarten.“ Mit diesen Worten sprang Fritz vom Bett auf und ging auf die Garderobe zu, wo sein Rucksack stand.

Während sich Paul schwerfällig von der Bettdecke befreite, plapperte sein Cousin munter weiter: „Also, ich bin längst mit dem Einpacken fertig. Darf ich schon hinuntergehen und frühstücken? Du brauchst sicher noch ein paar Minuten, bis du fertig bist, oder?“

„Ja, geh schon mal vor“, gähnte Paul. „Ich komme dann in ... äh ... irgendwann. Und stell währenddessen bloß nichts an, hast du mich verstanden?“

„Anstellen? Ich?“ Fritz zog die Augenbrauen überrascht hoch. „Blödsinn. Ich pass schon auf mich auf.“ Damit schulterte er seinen Rucksack und zog die Zimmertür hinter sich zu.

„Käsefondue ... Raclette ... das klingt ja alles sehr gut, aber ich habe morgens leider nie Hunger“, sagte Paul, während er die Speisekarte durchblätterte. „So viele Schweizer Spezialitäten.“

Fritz saß neben ihm und verputzte gerade einen Teller mit Waffeln. Die beiden befanden sich an einem der vier Tische im Frühstückssaal. Der Raum war altmodisch und traditionell eingerichtet, zahlreiche Bilderrahmen schmückten die hölzernen Wände. Die rustikalen Lampenschirme tauchten den Frühstückssaal in ein beruhigendes Licht. Außer Paul und Fritz befand sich nur noch eine vierköpfige Familie im Raum, die an einem Tisch in der Ecke saß und ein leises Gespräch führte.

„Also, diese Waffeln schmecken äußerst deliziös“, meinte Fritz kauend. „Die kannst du heute Mittag auch probieren.“

„Na ja, das kommt wohl darauf an, wann wir wieder zurückkommen“, stellte Paul nachdenklich fest. „Allein die Wanderung dauert schon mehrere Stunden.“

In diesem Moment trat eine Kellnerin an ihren Tisch und fragte: „Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken anbieten? Wir hätten heiße Schokolade, Espresso, Milchkaffee ...“

„Haben Sie auch Energydrinks?“, unterbrach sie Paul plötzlich. Verständnislos blickte die junge Frau ihn an. „Ach, vergessen Sie die Frage. Ich nehme einfach einen Kaffee.“

„Ich auch“, warf Fritz sofort ein.

„Nein, du brauchst keinen Kaffee. Du bist jetzt schon energiegeladen genug“, meinte Paul und wandte sich anschließend zur Kellnerin. „Geben Sie ihm einen Kakao. Und bitte nicht zu heiß, sonst verbrennt er sich noch.“

„Hey, ich kann selbst auf mich aufpassen!“, beschwerte sich Fritz.

„Ach ja? Und wieso hast du dich erst gestern an der Suppe verbrannt?“

„Meine Herren, ich will ja nicht stören, aber ... darf es sonst noch was sein?“, fragte die Kellnerin vorsichtig.

„Nein, danke“, antwortete Paul.

Also steckte sie ihren Notizblock wieder ein und ging zurück in die Küche.

Sobald sie außer Hörweite war, sagte Paul: „Fritz, wieso reißt du dich nicht mal zusammen? Immer wenn wir in der Öffentlichkeit sind, führst du dich auf wie ein kleines, völlig überdrehtes Kind.“

„Hey, ich bin nicht völlig überdreht“, verteidigte er sich.

„Ach, das glaube ich dir in hundert Jahren nicht.“

„In hundert Jahren? Das will ich sehen!“

Ein paar anstrengende Stunden später hatten Paul und Fritz bereits den Großteil der Wanderung hinter sich.

„Wie weit ist es denn noch zur Burg?“, fragte Paul schnaufend. „Wenn wir uns hier im Gebirge verlaufen haben, dann kannst du was erleben!“

„Keine Sorge“, schrie ihm Fritz zu, der einen Vorsprung von etwa zehn Schritten hatte. „Ich kann schon ein paar Türme der Burg erkennen.“

Tatsächlich konnte auch Paul kurz darauf die Turmspitzen des Walenseeschlosses ausmachen.

Schon wenige Minuten später standen die beiden vor der Hängebrücke, die eine Verbindung zur Burg auf der Insel darstellte. Sie war breit genug, um eine Kutsche auf die andere Seite zu befördern, jedoch machte sie keinen besonders stabilen Eindruck. Seit mehr als hundert Jahren war die Brücke der freien Natur überlassen worden, war also dementsprechend von einigen Kletterpflanzen überwuchert und ihre Trittbretter waren mit Moos bewachsen. Die Seile, die den Großteil der Last trugen, wirkten ebenfalls nicht mehr besonders reißfest.

„Bist du sicher, dass wir hier problemlos auf die andere Seite marschieren können?“, fragte Paul zweifelnd. „Du hast ja gesagt, dass im Reiseführer nichts über dieses Schloss oder diese Brücke steht ...“

„Ach, das passt schon“, meinte Fritz gelassen. „Wenn die Brücke das ganze Pflanzengewächs aushält, dann schafft sie uns auch.“

Noch bevor Paul etwas einwenden konnte, marschierte Fritz drauflos und ging völlig sorglos auf die Hängebrücke zu. Doch als er den ersten Schritt auf die Holzbohlen setzte, knirschte es unheilvoll unter ihm.

Paul verzog das Gesicht, doch Fritz drehte sich entspannt um und sagte furchtlos: „Ach, jetzt mach dir doch nicht gleich in die Hose. Es ist ja nichts passiert. Wieso folgst du mir nicht?“

„Fritz, vielleicht ist es besser, wenn wir einzeln über die Brücke gehen“, schlug Paul vor. „Ich glaube nicht, dass sie uns beide gleichzeitig aushält.“

„Na gut, wie du willst“, meinte sein Cousin gleichgültig. „Wie viel wiegst du noch mal? 120 Kilo?“

„Ach, jetzt hör doch auf mit deinen Witzen! Ich wiege nur 96 Kilo ... glaube ich.“

„Tatsächlich? Na gut, dann muss ich dir wohl glauben. Ich geh schon mal rüber.“ Damit drehte sich Fritz flink um und spazierte leichtfüßig über die wackelige Hängebrücke. Bei jedem seiner Schritte schwang sie bedrohlich hin und her, die Seile erzeugten hässliche, knirschende Geräusche. Doch nur eine knappe Minute später war Fritz bereits auf der anderen Seite angelangt. „Hey Paul, komm rüber!“, schrie der Junge, der sich nun gut hundert Meter von seinem Cousin entfernt befand. „Es ist gar nicht schwierig, komm schon, du schaffst es auch!“

Paul blicke zweifelnd auf die morschen Holzbohlen der Hängebrücke, die so aussahen, als könnten sie jeden Moment durchbrechen. Aber als er schließlich mutig seinen rechten Fuß daraufsetzte, erschienen sie ihm plötzlich weitaus stabiler als vorher. Während er einen Schritt nach dem anderen machte, knarrten die Seile noch lauter als vorhin, doch er zwang sich weiterzugehen.

Die Brücke bog sich zwar viel mehr durch als zuvor, aber sie hielt Pauls Gewicht gerade noch aus. Wenn die Konstruktion jetzt versagte, hätte das einen 40 Meter tiefen Sturz in den eisigen Walensee zur Folge. Doch nach einer guten Minute hatte auch Paul die gefährliche Brücke überquert.

„Siehst du, es war doch gar nicht so schlimm“, sagte Fritz fröhlich, als sein Cousin schnaufend die andere Seite erreichte.

„Ich glaube, ich brauch mal eine Pause“, keuchte der erschöpft.

„Ach, komm schon! Jetzt geht’s doch erst richtig los. Nun können wir endlich dieses prachtvolle Bauwerk erkunden“, versuchte Fritz ihn zu motivieren.

Er drehte sich um und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen das Walenseeschloss, das sich genau vor ihnen in den wolkenlosen Himmel erstreckte. Einige der Türme, die über ihnen aufragten, reichten mindestens 60 Meter in die Höhe.

„Stell dir nur vor, wie reich wir wären, wenn wir dort drinnen einen Schatz fänden“, sagte Fritz begeistert.

„Das bezweifle ich“, entgegnete Paul. „Was ist, wenn diese Burg genau deshalb leer steht, weil dem Schlossbesitzer das Geld ausgegangen ist?“

„Das könnte natürlich der Fall sein, da stimme ich dir zu. Aber es könnte auch sein, dass es irgendwo einen versteckten und verschlossenen Raum gibt, von dem über Generationen hinweg niemand etwas wusste. Ich wette mit dir um fünf Euro, dass in diesem Schloss ein Schatz versteckt ist“, schlug Fritz siegessicher vor.

„Vier Euro.“

„Nur vier? Ich wette mit dir um zehn!“

„Dann drei.“

„Was? Du kannst doch nicht einfach mit dem Einsatz runtergehen!“

„Zwei Euro.“

„Ja, ja. Na gut, also vier Euro. Die Wette gilt!“, verkündete Fritz.

„Hä?“, fragte Paul verträumt. „Welche Wette?“

Schatzsuche im Walenseeschloss

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