Читать книгу Oh je, Herr Carlowitz - Michael Wühle - Страница 5

Оглавление

So, nun habe ich eigentlich alle wesentlichen Dinge aufgeführt, die zur Bestimmung des Begriffs Nachhaltigkeit notwendig sind.

Zufrieden?

Nicht wirklich. Ich auch nicht. Nachhaltigkeit ist ein so komplexer Begriff, dass reines Faktenwissen nicht ausreicht. Dummerweise ist der Begriff Nachhaltigkeit nicht, oder nur teilweise selbsterklärend. Mein langjähriger Englischlehrer hat mir gesagt, dass der englische Begriff „Sustainability“ in einem viel höheren Maße für Menschen mit englischer Muttersprache selbsterklärend ist, als für Deutschsprachige dieses etwas hölzerne und schwerfällige Wort Nachhaltigkeit.

Ich möchte ihnen daher eine kleine Geschichte erzählen, die einen einfachen und besseren Zugang zum eigentlichen Wesen der Nachhaltigkeit ermöglichen soll, als tausend weitere Daten und Fakten.

Diese Geschichte ist frei erfunden, könnte jedoch so stattgefunden haben. Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Thema Nachhaltigkeit gemacht habe kommen darin genauso vor, wie die damaligen Verhältnisse, die Carlowitz im 18. Jahrhundert wahrscheinlich vorgefunden hat. Ich nehme dabei die Rolle eines Schreibers namens Felix ein (den es meines Wissens im Leben von Carlowitz nicht gegeben hat), der als Studiosus dem ehrwürdigen Hans Carl von Carlowitz bei der Verfassung seiner Sylvicultura oeconomica zur Hand geht und dabei die Gelegenheit hat, alle möglichen gescheiten und dummen Verständnisfragen zu stellen.

Also, nun geht die Geschichte los. Wir befinden uns in sächsischen Freiberg, anno Domini 1714, im Studierzimmer von Carlowitz, dem zentralen Raum eines ehemaligen Burgturms, den ihm der sächsische Kurfürst geschenkt hat.

Felix sitzt an einem kleinen Holztisch in dem geräumigen Turmzimmer und klappt gerade das große Buch zu, an dem er auch heute wie an jedem Tag geschrieben hat. Heute sind sie nun endlich nach vielen Wochen und Monaten fertig geworden und Felix ist froh, denn seine Finger haben in letzter Zeit vom vielen Schreiben doch sehr geschmerzt. Er drückt die Schultern zurück und dehnt sich ausgiebig.

Felix dreht das große Buch um und sieht sich den Titel auf dem Einband an:

SYLVICULTURA OECONOMICA

oder

Hausßwirthliche Nachricht und Naturmäße

Anweisung

zur

Wilden Baum-Zucht

Felix erinnert sich, dass er allein für diese erste Seite viele Tage arbeiten und oft wieder von vorne anfangen musste. Er musste die Buchstaben mehr malen als schreiben und das war sehr mühsam. Aber jetzt, zumindest für heute ist Schluss, Feierabend.

Irgendwas stört Felix jedoch. Etwas fehlt ihm noch. Er blickt auf und schaut auf die abendliche Landschaft, die in diesem Frühsommer vom Grün der Bäume nur so strotzt. Es ist ein Grün, das beinahe schon in den Augen weh tut. Die großen Fenster sind zum Teil geöffnet und warme Luft streicht durch den Raum. Der Raum ist angefüllt mit Zeichnungen und Skizzen, die an die Wand genagelt sind, auf Staffeleien stehen, oder einfach unordentlich am Boden liegen. Sie zeigen Bergwerksstollen, Werkzeuge und Maschinen zur Metallgewinnung und viele, viele Zeichnungen von Bäumen. Baumschösslinge wie sie gepflanzt und vor Wildverbiss geschützt werden. Bäume, wie sie gefällt, zersägt und gelagert werden. Darunter auch Traktate über das Aussehen und den Geschmack verschiedener Erden und Listen über die Anzahl gefällter und gepflanzter Bäume. Es ist ein Raum, in dem ganz offensichtlich fleißig gearbeitet wird.

Vor dem Treppenabgang wölbt sich der gute alte Kachelofen, der in so manchen Wintertagen das Schreiben mit verkrampften und schmerzenden Fingern gerade noch erträglich gemacht hat.

Neben dem Ofen steht der mit rotem Samt gepolsterte Lehnstuhl seines Meisters Hans Carl von Carlowitz. Wie dieser so dasitzt, in der einen Hand die Pfeife, aus der Tabakqualm zur Decke steigt, in der anderen Hand ein zerfleddertes Buch haltend, wirkt er auf Felix sehr entspannt und wohl gelaunt. Sein Meister ist ein alter Mann mit 68 Lenzen. Die offizielle Perücke hat er über eine Stuhllehne geworfen. Mit seinem runden und gerötetem Gesicht, dem kurzen grauen Haar und der edlen aber abgenutzten Kleidung wirkt er eher wie ein Universitätsprofessor als wie ein mächtiger Beamter Sachsens.

Felix denkt daran, dass sein Meister, der hoch geachtete Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz, zuweilen recht jähzornig sein kann und es vielleicht besser wäre nichts zu sagen. Doch er weiß nun, was ihn die ganze Zeit so stört und seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen lässt und so fasst er sich ein Herz und spricht seinen Meister an. „Meister, darf ich Euch etwas fragen?“ Carlowitz reagiert nicht und Felix wiederholt seine Frage deutlich lauter. „Kannst Du mich denn nicht einen Augenblick ungestört lesen lassen?“ antwortet diesmal der Gefragte.

(Carlowitz hatte mit dem Alter immer stärker zu nuscheln begonnen und so musste sich Felix immer sehr beim Zuhören anstrengen und oft auch raten, was sein Meister denn gerade gesagt hat. Diesmal war die Antwort jedoch laut und verständlich, wenn auch nicht besonders ermutigend. Felix machte trotzdem weiter.)

„Meister, ich habe Euer Werk wie von Euch diktiert niedergeschrieben, aber mir ist vieles nicht klar und manches verstehe ich überhaupt nicht“. „Das wundert mich nicht“ grummelte Carlowitz „denn dass Du nicht der Gescheiteste bist, weiß ich schon lange. Aber sei´s drum, heute bin ich mal großzügig. Was willst Du wissen, aber fasse Dich kurz und rede laut und deutlich“.

Felix schob nervös das vor ihm liegende Buch auf der Tischplatte hin und her, schlug es dann auf und blätterte eine Weile ziellos darin herum. Schließlich hatte er sich so weit gefasst, dass er seine erste Frage stellen konnte. „Ihr schreibt in Eurem Werk, dass es eine große Holznot gäbe. Dass die Bergwerke kein Holz mehr für neue Stollen haben, dass die Schmelzöfen kein Holz mehr haben, um das Erz zu Eisen zu schmelzen, Ihr sagt, dass wir nachhaltig mit dem Sach umgehen müssen. Was meint Ihr damit? Wenn es bei uns kein Holz mehr gibt, dann können wir es doch bei den Baiern oder Tyrolern kaufen?“

Carlowitz schaute seinen jungen Schreiber mit einer Miene an, als müsste er einer Katze erklären, wozu Mausefallen da sind. Er rollte seine Augen und blickte zur steinernen Decke empor: „Lieber Herrgott, mit welchem Trottel hast Du mich armen Sünder da geschlagen!“ rief er aus. An Felix gewandt sagte er. „Hast Du denn die ganze Zeit nicht aufgepasst? Tagelang, wochenlang habe ich Dir alle Einzelheiten diktiert. Schreibst Du nur blöde ab, oder denkst Du auch mal mit?“ Dabei schlug er mit seiner Faust auf die Stuhllehne, dass es nur so krachte.

Sein Meister sprang mit einer raschen Bewegung, die Felix ihm nicht zugetraut hätte, von seinem Lehnstuhl auf. Er lief im Sturmschritt auf den Tisch zu, an dem Felix saß und sich vergeblich bemühte, in seinem Stuhl zu verkriechen. Vor dem Tisch blieb Carlowitz stehen, legte die Hände auf seine Hüften, wohl damit sie nicht etwas Drastisches anstellen können, funkelte Felix wütend an und begann dann auf ihn einzureden.

„Einmal, ein einziges Mal werde ich versuchen, Deinem dummen Schädel einzubläuen, was jedem anderen Menschen nach der Arbeit mit mir völlig klar gewesen wäre. Also höre gut zu, denn wenn Du mich noch einmal so etwas Blödes fragst, dann wirst Du mich wirklich wütend erleben!“ Felix war schon fast unter der Tischkante verschwunden und nicht in der Lage, seinem Meister zu sagen, dass er sehr aufmerksam zuhören werde.

Carlowitz funkelte ihn noch einige Momente an, wohl um zu überprüfen, ob da von Felix Seite noch irgendwelche Widerworte kämen. Als er sicher sein konnte, dass er die volle Aufmerksamkeit des verängstigten Jünglings hatte, begann er mit der Erklärung seiner Begriffe in einer Art und Weise, die Felix vermuten ließen, dass er diese Rede eigentlich für ein anderes Publikum vorbereitet und schon öfters vorgetragen hatte:

„Wie also ein jeder, außer Felix, in diesem Lande Sachsen weiß, herrscht seit etlichen Jahren eine große Not an Holz. Holz braucht ein jeder Mensch. Aus Holz machen wir Dächer, Werkzeuge, Kutschen, Gebrauchsgegenstände aller Art, wir stützen die Stollen unserer Bergwerke damit und vor allem brauchen wir es, um unsere Öfen zu heizen und unser Erz zu verhütten. Denn das ist der nie versiegende Reichtum unseres Landes. Wir haben Gott sei Dank genügend Gold, Silber, Eisen, Buntmetalle und Mineralien im Fels unserer Berge. Deswegen haben wir immer mehr Holz geschlagen, um zu diesen Schätzen zu gelangen und inzwischen sind unsere meisten Wälder kahl. Neu gepflanzte Bäume brauchen lange Zeit, um zu wachsen und groß zu werden, mindestens so lange bis du ein alter Mann bist, bis man sie fällen und verarbeiten kann. Nur mit Holz für die Stollen und Gänge im Berg, nur mit Holz zum Schmelzen der Erze können wir diese Reichtümer unseres Landes abbauen, deshalb ist Holz ebenfalls der Schatz unseres Landes. Wir müssen unsere Wirtschaft daher so einrichten, dass es keinen Mangel an Holz gebe und dass genutzte Flächen sofort verjüngt werden. Hast Du das bis dahin verstanden, dummer Bub?“

Felix nickt heftig mit seinem Kopf und sein Meister fährt fort. „Viele meinen nun, den Nachwuchs des Waldes könne und müsse man der gütigen Gottesnatur allein überlassen. Diese Leute ziehen den Sinn von Säen und Pflanzen in Zweifel, zudem sei es profitabler, die Kahlflächen in Äcker und Weiden umzuwandeln.

Aber die Waldsaat ist nichts wirklich Neues, bereits die alten Römer haben in ihrem mächtigen Weltreich Bäume gesät und gepflanzt. Ohne immerwährenden Holznachschub hätte es kein Imperium Romanum gegeben, soviel steht fest.

Schon jetzt gibt es bei uns in Sachsen Versorgungsprobleme und das Holz braucht 100 Jahre zum Reifen. Wenn dann aus der Not heraus jüngere Bäume gefällt werden, führt das zur Verwüstung und Zerstörung der reifenden Wälder.

Aber wie meist im Leben handeln die Menschen erst dann, wenn ihnen das Wasser bis zum Halse steht und da sind wir nun angelangt, denn der Holznachschub ist bei uns nun sehr knapp geworden. Jeder Fürst, jeder Grundbesitzer, Bauer und Hausvater sollte also überall Bäume pflanzen, wo Feldbau nicht ertragreich ist. An Ufern von Bächen und Flüssen, in Gräben, auf Weiden und anderswo. Bäume sind ein Schatz und Kleinod eines Landes und die Wälder sind seine Vorratskammer, die aber gepflegt werden muss. Es braucht Können, Wissen und Fleiß, um Holz richtig anzubauen und zu erhalten, damit es eine dauerhafte, beständige und nachhaltende Nutzung gibt, denn Holz ist unentbehrlich und die Landeswohlfahrt hängt davon ab.

Auch Importe aus anderen Ländern wie Tyrol, Baiern oder Italia führen nicht weiter, sie wären sehr teuer, nicht wirtschaftlich, nicht nachhaltig. Zudem bedroht der Holzmangel bereits ganz Europa. Es gibt also nur einen Weg und das ist Säen und Pflanzen von Bäumen. Wenn wir den mageren jährlichen Ertrag aus Feldfrüchten bei uns im Erzgebirge mit dem Ertrag vergleichen den wir in 50 Jahren aus Holz erzielen können, dann ist letzterer mit vielen tausend Talern unvergleichlich höher.

Unsere Grundbesitzer und Betriebe haben das Können um Holz richtig zu verarbeiten und unser allergnädigster Landesfürst wird schon dafür sorgen, dass sie mit dem nötigen Fleiß bei der Sach sind. Das Wissen, wie die Waldsaat geht und wie Bäume nachhaltig gepflanzt, gepflegt und genutzt werden, dieses Wissen haben wir nun aufgeschrieben. Es steht jetzt allen zur Verfügung, die Baumzucht betreiben und Wälder nachhaltig nutzen wollen.“

Carlowitz holt tief Luft und sieht seinen Lehrling aufmerksam an. „Hast du jetzt verstanden, warum wir uns hier plagen und woran wir arbeiten?“ Es ist klar, dass der Meister jetzt eine Antwort von Felix will. Entgegen zu vielen anderen ähnlichen Situationen in der Vergangenheit hat Felix aber diesmal keine Angst vor der Antwort, denn nun versteht er die Zusammenhänge.

„Ja Meister, ich hab´s kapiert. Nur wenn wir jetzt genügend Bäume pflanzen, dann haben auch unsere Kinder genügend Holz zum Bauen, Heizen und Erzabbau und sie müssen es wiederum unseren Enkeln lernen, damit es immer so weitergeht. Dann haben wir einen immerwährenden, nie versiegenden Quell für Reichtum und Wohlstand. Und auch wir haben zu Lebzeiten einen Lohn vom Pflanzen und Sähen. Wir können einen Teil der jährlich ausschlagenden Stöcke der jungen Bäume ernten, die immer wieder nachwachsen und haben so unseren Nutzen.“

Da ging ein sanftes Lächeln über das Gesicht von Carlowitz und er sah sehr zufrieden aus. Er hatte aus den Worten seines Lehrlings Felix das Echo seiner Worte gehört und das Verständnis von Felix bemerkt. Er wusste nun, dass hier, an diesem Tag und an dieser Stelle etwas Nachhaltiges passiert war. Er hatte die Saat seiner Wissenschaft in seinem jungen Lehrling aufgehen sehen und war sich in diesem Moment sicher, dass diese Saat ihre Früchte tragen würde. „Gut, gut“, murmelte er, „ich glaub, du hast es jetzt verstanden“ und ging deutlicher entspannter als zuvor zu seinem Lehnstuhl zurück, zündete seine Pfeife neu an und vertiefte sich wieder in die Lektüre seines Buchs.

Felix ist auch hochzufrieden mit allem, was er heute erfahren, was er heute gelernt hat. Nun ist aber wirklich Feierabend. Gähnend und mit sich im Reinen steht er auf, denkt an die Schenke unten im Dorf, an die guten Würste, das gute Bier und die hübsche Wirtstochter, die er so gerne ansieht. Er geht flotten Schrittes die Turmtreppe herunter und denkt nicht mehr an seinen Meister, oder an die Forstwirtschaft, sondern an den schönen Abend mit seinen kleinen Vergnügungen.

Das war sie nun, meine fiktive Geschichte über Carlowitz und seinen taffen Studiosus. Hat sie ihnen gefallen? Ich hoffe doch!

Durch meine Recherchen über Carl von Carlowitz, seine Zeit und deren Herausforderungen habe ich wieder eine Menge über Nachhaltigkeit gelernt. Ich meine damit nicht das Faktenwissen, sondern die emotionale Komponente, die ich mit meiner kleinen Geschichte versuche einzufangen. Dieser emotionale Zugang zur Nachhaltigkeit, die unseren englischsprachigen Freunden anscheinend schon muttersprachlich in die Wiege gelegt wird, dieses Gefühl brauchen wir, um Nachhaltigkeit wirklich leben und umsetzen zu können.

Es ist das Gefühl, das wir haben, wenn wir unsere Hand auf die Borke eines alten Baums legen. Sie wissen was ich meine.

Oh je, Herr Carlowitz möchte man fast sagen, wenn wir uns in seine Zeit und seine Probleme hinein versetzten. Er hatte eine gigantische Aufgabe vor sich, die langfristige Strategien verlangte und die vor allem in die Köpfe der Menschen gepflanzt werden musste.

Gut, damit sind wir nun auch emotional im Thema angekommen. Wir erkennen und akzeptieren, dass unsere Gefühle, unsere Emotionen der unverzichtbare Kitt ist, der die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit zu einem Objekt, zu einer Einheit verschmilzt, das ein sehr mächtiges Potenzial in sich trägt. Auch Carlowitz wäre mit seinem revolutionären neuen Konzept einer „Wilden Baumzucht“ nicht weit gekommen, wenn er seine Mitmenschen nicht gewonnen hätte. Allein der Befehl seines Landesfürsten hätte sicherlich nicht gereicht. Daher sollten wir uns nun der Frage zuwenden, warum Nachhaltigkeit gerade im Zeitalter der globalen Erwärmung und der damit verbundenen Emotionen zu einem unverzichtbaren Werkzeug bei der Abfederung der Folgen wird.

Bevor wir diese Frage gemeinsam beantworten können, müssen wir uns noch vor Augen führen, dass Menschen am einfachsten auf einen neuen Weg mitgenommen werden können, wenn wir das Ziel und das Ergebnis am Ende dieses Wegs visualisieren können. Wenn wir ein Bild dessen, was wir wollen anschaulich darstellen, dann folgen uns auch die Menschen.

Oh je, Herr Carlowitz

Подняться наверх