Читать книгу Die junge Gräfin 21 – Adelsroman - Michaela Dornberg - Страница 3

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Alexandra von Waldenburg strich sich wie erwachend über die Stirn, als gelte es, einen bösen Spuk zu vertreiben. Aber das, was sie gerade erlebt hatte, war kein Spuk, und im Grunde genommen war es auch nichts Entsetzliches, sondern die Reaktion ihrer Schwägerin Marion auf ein traumatisches Erlebnis.

Vielleicht hatte Marion etwas überreagiert, aber welche Mutter würde das nicht nach einer zum Glück glimpflich abgelaufenen Entführung ihrer Tochter tun.

Ihr Bruder Ingo, der Vater der kleinen Michelle, hatte zwar nichts mit der Entführung zu tun, er hatte, ganz im Gegenteil, der Polizei wichtige Hinweise gegeben. Aber Fakt war auf jeden Fall, dass er die Entführer kannte aus seiner Zeit als Zocker.

Er hatte zwar glaubhaft versichert, mit dem Spielen aufgehört zu haben, in einer Therapie zu sein, mit diesen Leuten nichts mehr zu tun zu haben.

Sie hatte ihm das abgenommen, ihre Eltern auch. Aber beispielsweise ihre Schwester Sabrina glaubte nicht an die Läuterung Ingos.

Und war es dann Marion, seiner geschiedenen Frau, zu verdenken, dass sie auch erhebliche Zweifel hatte?

Dass sie Angst hatte, eine solche Entführung könne sich wiederholen?

Die kleine Michelle war das schwächste Glied in der Kette. An Kinder kam man am schnellsten dran, das hatte man ja gesehen. Es wäre niemand auf den Gedanken gekommen, Michelle könnte aus dem Kindergarten entführt werden.

Auch wenn Michelle nicht von Waldenburg hieß, sondern Bouvier, wie ihre Mutter, die nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte. Man musste nicht mit übermäßigen Geistesgaben gesegnet sein, um zusammenzählen zu können, dass Michelle eigentlich ein Nachkömmling der reichen ­Grafenfamilie von Waldenburg war und demzufolge erfolgreich erpressbar.

Alexandra bekam eine Gänsehaut, als sie daran dachte, welche Ängste sie ausgestanden hatten, als Michelle aus dem Kindergarten verschwunden war, abgeholt mit einer gefälschten Vollmacht.

Marion hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten, und ihre Nerven hatten auch blank gelegen. Niemand war von der Entführung unberührt geblieben. Selbst Ingo, der Kindesvater, der leider mit seiner Tochter bislang nichts am Hut gehabt hatte, war sofort angereist.

Alexandra seufzte.

Ingo, ihr Bruder …, ihr Halbbruder, wie sie mittlerweile wusste.

Auch wenn der Anlass ein trauriger gewesen war, hatte es sie sehr gefreut, ihn wiederzusehen. Und es hätte sie glücklich gemacht, wenn er geblieben wäre.

Meinte er es ernst damit, dass es ihn freuen würde, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen?

Würde er sich bei ihnen melden?

Würde er diese Therapie durchhalten und sein Leben verändern?

Wie schön wäre das!

Denn das würde auch bedeuten, dass sie den Krieg beenden konnten, der zwischen ihnen tobte, seit ihr Vater sie und nicht Ingo zu seiner Nachfolgerin bestimmt hatte.

Irgendwann, und sie hoffte, der Zeitpunkt würde bald kommen, würde sie mit ihm darüber reden. Sie würde ihm sagen, dass sie sich nicht danach gedrängt hatte, die Chefin des Hauses Waldenburg zu werden, auch wenn es sie natürlich stolz und glücklich machte, die Tradition der Waldenburgs fortsetzen zu dürfen, alles für die nächste Generation zu bewahren.

Ob Ingo, wenigstens für sich allein, tief in seinem Herzen, zugeben konnte, dass er einen großen Fehler gemacht hatte, als er schon in Verhandlungen getreten war, um den Waldenburgschen Besitz zu verkaufen, wenn er die Nachfolge angetreten hätte?

Alexandra wusste es nicht, und sie mochte jetzt auch nicht daran denken.

Es war vorbei, sie hatte sich oft genug den Kopf deswegen zerbrochen, manch schlaflose Nacht verbracht. Ihre Mutter war an der Geschichte beinahe zerbrochen.

Was Ingo anbelangte, da mussten sie jetzt ganz einfach nach vorne sehen und darauf hoffen, dass ihm die Therapie etwas bringen würde. Waldenburg stand ihm offen, trotz allem war er immer ihr großer Bruder gewesen. Und das würde er auch bleiben.

Alexandra stand auf, um sich etwas zu trinken zu holen, dabei fiel ihr Blick auf die Fotos ihrer kleinen Nichten, die sie aus alten, schweren Silberrahmen anlachten.

Anna, Celia, Melanie und Elisabeth, die Mädchen ihrer Schwester Sabrina und Michelle, Marions und Ingos Kind.

Alexandra nahm Michelles Bild in die Hand, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, wenn sie daran dachte, dass ihr Lachen nun bald nicht mehr durch das Schloss hallen würde.

Sie würde nicht mehr auf ihren Schoß klettern, um sie zu bitten, etwas vorgelesen zu bekommen, sie würden nicht mehr miteinander spielen, nicht mehr puzzeln, und sich nicht mehr in dem weitläufigen Schloss Waldenburg verstecken.

Alexandra stellte das Foto wieder weg und wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht.

Jetzt war sie es, die überreagierte.

Marion zog mit Michelle nicht bis ans Ende der Welt, sondern nach Kaimburg zu Olaf Christensen.

Irgendwann wäre das doch ohnehin geschehen, denn Marion und Olaf waren miteinander verbandelt.

Außerdem war er auch ihr ein guter Freund, und sie wusste, dass sie in seiner Wohnung jederzeit herzlich willkommen war. Und Marion würde absolut nichts dagegen haben, wenn sie sich Michelle ab und zu auf Schloss Waldenburg holte.

Sie reagierte so, weil sie Angst vor der Einsamkeit hatte, die sie nach dem Auszug der beiden umhüllen würde wie ein schwarzes Tuch.

Es war so schön und unbeschwert gewesen mit Marion und Michelle.

Sicherlich wäre alles viel erträglicher, wenn sie noch mit Mike zusammen wäre, der sie verlassen hatte, weil sie Joe, der eigentlich Joachim Graf von Bechstein hieß, nicht vergessen konnte.

Wie verrückt!

Schon die erste Begegnung mit Joe hatte ausgereicht, sein Bild in ihrem Herzen tief einzubrennen, und das unverhoffte zweite Zusammentreffen hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen und all ihre Gefühle wieder nach oben gespült, wie ein Tsunami, dem man machtlos ausgesetzt war.

Jetzt brauchte sie kein Wasser, jetzt musste etwas Anderes her, etwas Stärkeres!

Welch ein Glück, dass sie die Karaffe mit dem Cognac noch nicht wieder nach unten gebracht hatte.

Ihre Freundin Liliane hatte sie irgendwann einmal mit nach oben geschleppt, und sie hatte vergessen, sie wieder nach unten zu bringen.

Das exquisite Kristallglas stand auch noch da.

Alexandra hielt es prüfend gegen das Licht, es blinkte blitzsauber. Vermutlich hatte eines der Mädchen es gespült und wieder hingestellt.

Wie auch immer, gut war, dass der Cognac hier noch stand.

Alexandra nahm den silbernen, fein zisilierten Stopfen von der Karaffe und goss etwas von dem bernsteinfarbenen Cognac in das Glas.

Sie schwenke das Glas, schnupperte daran. Dieser alte Cognac roch ganz wunderbar.

Sie nippte daran, Lil hatte ihn geradezu enthusiastisch gelobt und vor lauter Entzücken die Augen verdreht.

Sie konnte dem nicht so viel abgewinnen, weil sie ganz einfach lieber Wein trank und etwas Stärkeres nur im Notfall. Und das jetzt war auf jeden Fall einer, dachte sie, während sie, mit dem Glas in der Hand zu einem Sessel ging und sich hineinfallen ließ.

Joe.

Mit Schmerz und Verzücken dachte sie an den Mann, in den sie sich mit einer nicht zu beschreibenden Urgewalt verliebt hatte.

Ihm war es auch nicht anders ergangen.

Warum hatte das Schicksal ihnen einen Streich gespielt, und ein weiteres Treffen verhindert?

Halt!

Stop!

Alexandra wies sich selbst zurecht.

Es stimmte schon, das nächste Treffen hatte nicht stattgefunden, das war richtig. Aber danach war ihr Joe nicht nur einmal praktisch auf dem Silbertablett präsentiert worden, und sie hatte alles daran gesetzt, ihm nicht begegnen zu müssen und hatte damit ihre Schwester Sabrina geradezu zur Weißglut gebracht, weil die es sich in den Kopf gesetzt hatte, sie und Joe zusammenzubringen.

Wie hatte sie aber auch ahnen können, dass ihr unbekannter Joe und Joachim von Bechstein ein und dieselbe Person waren?

Das hatte sie erst an der Taufe der kleinen Elisabeth mitbekommen.

Alexandra trank einen großen Schluck des Cognacs, schüttelte sich wie ein junger Hund, ehe sie das Glas abstellte.

Du liebe Güte!

Nie würde sie den Augenblick vergessen, als er zur Tür hereingekommen war an der Seite seiner Verlobten Benita Komtess von Ahnenfeld!

Da war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, aber da war es auch zu spät gewesen.

Ehe ihr klar war, dass Joe und Joachim identisch waren, war sie froh gewesen, von Sabrina zu erfahren, dass er sich verlobt hatte.

Sie trank noch einen Schluck, obwohl sie wusste, dass der Cognac keine Lösung ihres Problems brachte, auch dann nicht, wenn sie ihn literweise in sich hineinschüttete. Aber eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus, nahm ihr ein wenig von der inneren Kälte.

Verrückt, verrückt, verrückt …

Sie hätte ihn haben können und hatte ihr Glück mit Füßen getreten. Und nun saß sie zwischen allen Stühlen.

Joe, so würde sie ihn immer nennen, war ein Ehrenmann, der würde zu seinem Wort stehen und diese langweilige, grässliche Benita nie verlassen, die auf ihn aufpasste wie die Wächter auf den englischen Kronschatz im Tower.

Klar, würde sie auch tun, so etwas wie Joe lief einem nicht oft über den Weg. Sie würde auch auf ihn aufpassen.

Aber immerhin, Alexandra trank ihr Glas leer, Sabrina hatte ihr erzählt, dass zwischen Benita und Joe nicht alles zum Besten stand, dass zwischen ihnen nicht Friede, Freude, Eierkuchen herrschte.

Benita wollte unbedingt geheiratet werden, aber Joe plante offensichtlich, seinen Vertrag in den Vereinigten Emiraten zu verlängern, und er meldete sich auch nicht so häufig bei seiner Verlobten.

Alexandra stand auf.

Sie war jetzt innerlich so aufgewühlt, dass sie unbedingt noch einen kleinen Cognac brauchte. Vielleicht war es nicht einmal der Cognac, den sie jetzt brauchte, sondern einfach nur etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Und da bot sich dieses wunderschöne Kristallglas doch an.

Ausrede!

Sie schüttete sich noch ein klein wenig ein, dann lief sie nicht sofort zu ihrem Sessel zurück, sondern trat an eines der Fenster und presste ihre glühend heiße Stirn gegen die kühle Scheibe.

Diese unerfüllte Liebe zerriss sie fast.

Auch die Ungewissheit, nicht zu wissen, was Joe fühlte und dachte.

Sie hatte ihm glücklicherweise sagen können, warum sie nicht zu dem Treffen hatte kommen können.

Er war bei der zweiten Begegnung nicht minder erstaunt gewesen, denn er hatte nicht damit rechnen können, ihr bei der Grafenfamilie von Greven zu begegnen, und er war aus allen Wolken gefallen, dass sich hinter der jungen Frau Alexa die Gräfin Alexandra von Waldenburg verbarg, die zudem Sabrinas Schwester war, die mit ihm befreundet war und ihn so sehr mochte, dass sie ihn zum Patenonkel ihrer jüngsten Tochter Elisabeth gemacht hatte.

War auch er noch von seinen Gefühlen überwältigt?

Beschränkte er deswegen die Anrufe zu seiner Verlobten auf das Notwendigste?

Wollte er ihretwegen länger in den Emiraten bleiben, um die Hochzeit mit Benita hinausschieben zu können?

»Er hat sich nach dir erkundigt«, hörte sie die Stimme ihrer Schwester, »er wollte alles über dich wissen. Wenn er nicht verlobt wäre, könnte man meinen, er sei an dir interessiert.«

Alexandra wandte sich ab, vergaß ihr Cognacglas auf der Fensterbank.

Sie durfte sich nicht verrückt machen!

Sie musste Joe vergessen.

Er war verlobt, würde Benita von Ahnenfeld heiraten, und dass er seinen Vertrag verlängern wollte, lag ganz bestimmt nicht daran, dass er vor lauter Sehnsucht nach ihr, Alexandra, verging, sondern weil man ihm so hervorragende Konditionen bot, dass es dumm wäre, nicht darauf einzugehen.

Die Entführung Michelles, die ihr noch in den Knochen saß, das Wissen, dass Marion mit ihr in den nächsten Tagen ausziehen würde, die Gewissheit, Joe für immer verloren zu haben, machte sie richtig jammervoll.

Wenn sie doch wenigstens Mike hätte. Mit dem wäre sie jetzt verlobt, er und sie waren ein gutes Team gewesen. Sie hatten sich ganz hervorragend verstanden, hatten miteinander lachen können. Mit Mike hatte sie über alles reden können, und er war aufmerksam, liebevoll und zärtlich gewesen.

Warum hatte sie ihre Klappe nicht halten können und ihm unbedingt von Joe erzählen müssen?

Warum hatte sie Mikes Frage, ob sie Joe noch liebe, mit Ja beantwortet?

Warum hatte sie das getan? Sie kannte Joe überhaupt nicht. Vielleicht verwechselte sie Liebe mit romantischer Verstrickung, mit Träumen, die einem Zusammenleben in der Realität nicht standhielten. Bei Mike wusste sie, was sie an ihm hatte, hinter Joe stand nur ein großes Fragezeichen. Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen. Alexandra konnte sich überhaupt nicht erinnern, wie oft sie sich diesen Satz bereits in die Erinnerung gerufen hatte, seit sie von Mike getrennt war. Was hatte sie denn geglaubt? Dass er sich mit der Rolle als Ersatzspieler zufriedengeben würde? Doch nicht Mike! Das war einer, der immer in der ersten Liga spielen wollte, und das war sein legitimes Recht. Mike war ein Supertyp, der nur mit dem Finger zu schnippen brauchte, und schon hätte er die tollsten Frauen an seiner Seite. Ob er bereits eine Neue hatte?

Dieser Gedanke tat Alexandra so richtig weh. Sie mochte ihn nicht weiter fortspinnen, deswegen ging sie rasch in ihr Badezimmer, um sich für die Nacht fertig zu machen. Eigentlich konnte sie das auch bleiben lassen, denn sie wusste schon jetzt, dass sie – wenn überhaupt – nur sehr schlecht schlafen würde. Kein Joe, kein Mike. Ihre Freundin Lil hatte ihr Herz erstaunlich schnell wieder an einen anderen vergeben, obschon sie nach der Trennung von Dr. Lars Dammer außer sich gewesen war.

Doch das war für Lil vergessen, Schnee von gestern, sie war glücklich und sehr verliebt in ihren Neuen und schmiedete eifrig Zukunftspläne.

Ein erneutes Seufzen.

Beneidenswerte Lil!

Wenn sie doch auch so denken könnte.

So erfolgreich Alexandra in ihrem Job war, so gut sie den Waldenburgschen Besitz verwaltete, mit privaten Beziehungen tat sie sich schwer.

Sie war niemand, der sorglos wie ein Schmetterling von einer Blüte zur nächsten flattern konnte.

Würde sie sich überhaupt noch einmal verlieben können?

Ging das denn, wenn in einem die unerfüllte Liebe zu einem anderen brannte?

Sie betrachtete sich aufmerksam im Spiegel.

Sie musste nicht eitel sein um zu wissen, dass sie gut aussah, doch um ihre Augen lag ein müder Zug, und von der Nase zu ihren Mundwinkeln hatten sich feine Kummerfalten eingegraben, die unbedingt wieder verschwinden mussten.

Sie wollte nicht wie eine jammervolle, verhärmte Frau aussehen. Abgesehen von ihrem Liebeskummer war das Leben schön – Michelle war wohlbehalten zurückgekommen, sie führte ein so privilegiertes Leben, hatte wunderbare Eltern, eine Schwester, mit der sie sich ganz hervorragend verstand, sie liebte ihre Nichten, schätzte ihren Schwager und dessen Vater, und sie hatte Freunde, auf die sie sich verlassen konnte, und …

Jetzt begann Alexandra ein wenig zu strahlen.

Sie war eine Waldenburg, nicht nur einfach eine, sondern genau die, die für das Wohl eines uralten Adelsgeschlechts die Verantwortung trug, tragen durfte.

Das war großartig, machte stolz und glücklich, aber … Das Strahlen ging aus ihrem Gesicht.

An Titel, Glanz, Besitz, an Reichtum konnte man sein Herz nicht wärmen.

Alexandra griff nach ihrer Zahnbürste und begann wie eine Wilde ihre ohnehin schon schneeweißen Zähne zu bearbeiten, aber das geschah rein mechanisch und war ihr überhaupt nicht bewusst.

*

Alexandra trank bereits ihren zweiten Kaffee, der so stark war, dass er einen toten Seemann wieder auf die Beine gebracht hätte. Bei ihr zeigte sich keine Wirkung, sie fühlte sich müde, erschöpft und ausgelaugt, und sie war unendlich traurig, denn Marion hatte es offensichtlich mit dem Ausziehen mehr als eilig.

Alexandra hatte gesehen, wie sie, bepackt mit zwei schweren Reisetaschen zum Auto gegangen war.

Alexandra knabberte gerade lustlos auf einem Stückchen Toast herum, als Marion zur Tür hereinkam.

»Wo ist Michelle?«, erkundigte Alexandra sich.

Marion ließ sich auf einen Stuhl fallen, goss sich Kaffee ein.

»Olaf hat sie schon mit nach Kaimburg genommen. Er kam heute früh ganz zeitig her, um schon mal die schwersten und sperrigsten Sachen abzuholen.«

»Aber ich …, dann kann ich mich ja überhaupt nicht von Michelle verabschieden, Marion. Findest du das gut?«

Marion, die gerade trinken wollte, stellte ihre Tasse wieder ab, blickte ihre Schwägerin an.

»Alexandra, ich wandere nicht nach Alaska oder Südamerika aus, sondern ich ziehe nach Kaimburg. Das ist vom Schloss nicht mehr als ein Katzensprung. Du kannst Michelle sehen so oft du willst, du kannst sie dir holen, wann immer du möchtest. Sie war vorhin wirklich furchtbar nervig, deswegen habe ich sie Olaf mitgegeben. Olaf hat heute extra meinetwegen die Galerie geschlossen, deswegen muss ich das heute durchziehen.«

»Er hätte seinen Laden auch ein andermal absperren können, wenn du dich entschlossen hättest am Sonntag umzuziehen, dann wäre es überhaupt nicht nötig gewesen zu schließen …, ehrlich mal, Marion. Ich respektiere deinen Wunsch, Schloss Waldenburg zu verlassen, weil du dich hier nicht mehr sicher fühlst, was für mich nicht unbedingt nachvollziehbar ist. Aber diese Eile verstehe ich nicht. Mal ganz ehrlich, bei Olaf, mitten in Kaimburg, bist du gefährdeter als hier auf Waldenburg. Oder glaubst du, dass Olaf Schritt und Tritt an eurer Seite sein wird wie ein furchtloser Ritter?«

Die letzten Worte hätte sie sich ersparen können, die waren gemein, Alexandra biss sich auf die Unterlippe.

Traurig schaute Marion ihre Schwägerin an.

»Alexandra, ihr, ganz speziell auch du, habt so viel für mich getan. Und ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber die Angst in mir ist übermächtig. Ein zweites Mal könnte ich so etwas nicht durchstehen, und niemand weiß, ob es ein zweites Mal so glimpflich ablaufen würde. Du hast recht, Schloss Waldenburg ist sicherer als Olafs Wohnung, aber nur scheinbar. Bliebe ich hier, brächte man mich und Michelle immer mit den Waldenburgs in Verbindung. Bei Olaf bin ich nur Marion Bouvier, an der hat niemand Interesse. Oder glaubst du, Ingos Kumpanen würden so weit nachforschen, um herauszufinden, ob es da irgendwo noch jemanden gibt, den man anzapfen und erpressen kann?«

»Marion, Ingo macht eine Therapie gegen seine Spielsucht. Er hat sich verändert. Ich glaube ihm, dass er um solche Menschen künftighin einen Bogen machen wird, ganz besonders jetzt, nachdem das mit Michelles Entführung passiert ist. Die hat ihn so betroffen gemacht, und er hatte auch Angst um sie, schließlich ist sie auch seine Tochter.«

Marion winkte ab.

»Um die er sich bislang herzlich wenig, überhaupt nicht, gekümmert hat. Gut, zuerst wusste er nichts von ihr und erfuhr erst am sechzigsten Geburtstag deines Vaters von ihrer Existenz. Aber, liebe Alexandra, das ist auch schon eine ganze Weile her, und es ist mittlerweile sehr viel Wasser den Rhein entlanggeflossen. Er hat sich niemals gerührt, ihr nicht ein einziges Mal übers Haar gestrichen, sie auf den Arm genommen. Für mich ist Ingo nicht mehr als Michelles Erzeuger, und ich bereue schon meine Zusage, die ich ihm nach der Entführung gab.«

»Dass er Kontakt zu Michelle aufnehmen darf? Dass du nichts dagegen hast?«

Marion nickte.

»Am besten ist, er streicht uns aus seinem Leben, das ist auch sicherer für Michelle. Aber vielleicht mache ich mir in dieser Hinsicht auch zu viele Gedanken. Ingo ist kein Mensch, auf dessen Worte, dessen Versprechen, man ein Haus bauen könnte.«

Das tat weh, Alexandra zuckte zusammen, aber sie konnte Marion nicht widersprechen, bislang war es so gewesen.

»Er ist dabei, sich zu ändern«, wiederholte sie beinahe wie ein Mantra, obschon sie wusste, dass diese Worte an Marion vorübergehen würden. Sie verstand auch Marion. Die war während ihrer Ehezeit nicht nur einmal von Ingo belogen, betrogen, hintergangen worden.

Marion antwortete nicht, sondern stand auf, ohne von ihrem Kaffee getrunken zu haben.

»Bitte sei nicht böse, Alexandra. Ich möchte gern weiterpacken und meine Sachen nach Kaimburg bringen. Ehe ich meine letzte Fuhre wegbringe komme ich ins Büro, um mich zu verabschieden.«

»Da wirst du Pech haben, Marion, ich bin gleich weg. Ich habe Außentermine, und heute Nachmittag kommt mich eine alte Freundin besuchen. Aber, wie sagtest du doch so schön? Kaimburg ist nicht aus der Welt. Man sieht sich.«

Marion schossen Tränen in die Augen.

»Bitte nicht so, Alexandra, so kenne ich dich nicht, und ich möchte auch nicht, dass es zwischen uns zu einem Zerwürfnis kommt. Bitte, bitte, versuche mich zu verstehen. Vielleicht könntest du das eher, wenn du eine Mutter wärst. Michelle ist mein Ein und Alles. Ich bin für sie verantwortlich, und ich möchte nicht, dass ihr noch einmal so etwas zustößt. So was oder etwas ähnlich Traumatisches.«

Alexandra stand auf, eilte um den großen, langen Tisch herum und nahm ihre Schwägerin spontan in die Arme.

»Bitte entschuldige, Marion. Vergiss meine grantigen Worte, ich kann dich ja verstehen. Aber weißt du, es war so schön mit euch hier. Michelle und du, ihr habt so viel Leben in diese Mauern gebracht. Ich bin einfach nur traurig, dass ihr geht.«

Marion schluckte, ihre Stimme klang belegt, als sie sagte: »Aber wir gehen doch nicht ganz, nicht für immer. Wir verlegen nur unseren Wohnsitz. In meinem Herzen wirst du einen festen Platz haben. Und glaubst du, Michelle wird weniger an dir hängen, nur weil sie nicht mehr auf Waldenburg ist? Sie hängt an dir wie eine Klette.«

Alexandra ließ Marion los.

Sie konnte sich jetzt mit Worten alles Mögliche beteuern, den Trennungsschmerz konnte man sich nicht schön reden.

»Ich will dich nicht länger aufhalten, Marion«, sagte sie. »Wenn ich jetzt nicht gleich diese Termine hätte, würde ich dir gern helfen. Aber ich muss gleich los«, sagte sie nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. Und das stimmte wirklich.

»Ist alles wieder gut zwischen uns, Alexandra?«, erkundigte Marion sich.

Alexandra nickte.

»Klar, aber das war es doch immer.«

Damit gab Marion sich zufrieden, sie warf Alexandra ein schiefes Lächeln zu, ehe sie den Raum verließ.

Alexandra hatte auch keine Lust, jetzt noch weiter zu frühstücken.

Sie griff nach ihrer Tasche, dann ging sie ebenfalls.

Sie würde viel zu früh in Kaimburg bei ihrer Bank sein, aber das machte nichts. Dann würde sie eben noch ein wenig durch die Straßen laufen und versuchen, den Kopf frei zu bekommen, denn es lagen schwierige Verhandlungen vor ihr, bei denen sie hochkonzentriert sein musste.

Das würde sie viel Kraft kosten, und vernünftiger wäre es gewesen, den Termin abzusagen.

Aber so etwas machte eine Waldenburg nicht.

Termine sagte man nur aus ganz, ganz wichtigen Gründen ab, beispielsweise Krankheit, aber dann musste man schon so krank sein, dass man seinen Kopf praktisch schon unter dem Arm trug.

Kummer, Herzweh, Trennungsschmerz, das waren keine Gründe.

Als sie draußen in der Halle zufällig in einen der kostbaren alten Spiegel blickte und ihr bleiches Gesicht sah, eilte sie rasch nach oben. Sie musste nicht wie ein Häufchen Elend vor ihre Verhandlungspartner treten.

Eines konnten Frauen zum Glück.

Sie konnten sich die Spuren von Kummer ganz einfach wegschminken. Und genau das würde sie jetzt tun.

*

Vielleicht lag es an den erfolgreich verlaufenen Verhandlungen, aber vielleicht auch daran, dass Alexandra sich besprochen hatte, sich nicht so sehr hängen zu lassen.

Joe und Mike waren verloren, Marion und Michelle nicht aus der Welt.

Sie würde aus ihrem Leben das Beste machen, und das war für den Moment eigentlich schon, nicht jammervoll zu sein und das Beste aus der derzeitigen Situation zu machen.

Ansonsten hatte sie beschlossen, hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen. Negative Gedanken blockierten nur. Auf einem dürren, ausgetrockneten Boden konnte nichts wachsen.

Sie konnte weinen, jammern, mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Es würde sich an der gegebenen Situation nichts verändern.

Von ihrem Vater hatte sie gelernt, immer nach vorne zu blicken. Das war gewissermaßen ein Markenzeichen der Waldenburgs, die hatten sich niemals durch überhaupt nichts von ihrem Weg abbringen lassen, selbst dann nicht, als das Schloss abgebrannt war und so viele Schätze unwiederbringlich verloren gegangen waren.

Sie hatten Schloss Waldenburg wieder aufgebaut, und es war ein wunderschönes, vor allem praktisches Kleinod entstanden, in dem es keine zugigen Gänge, unendliche Flure und Treppen mehr gab und auch nicht viele kleine Fenster, durch die kaum Licht ins Innere kam.

Jedes Ding hatte zwei Seiten …

Alexandra nickte, weil es stimmte.

Sie trat aufs Gas, und ihr Auto schoss die lange Auffahrt zum Schloss entlang.

Dort angekommen sah sie sofort das fremde Auto. Sie parkte direkt daneben. Das konnte nur Rautgundis sein, die allerdings zu früh gekommen war, weit vor der vereinbarten Zeit.

Alexandra rannte die Stufen empor, riss die schwere Eichentür auf und stürmte in die Halle, wo sie praktisch von einem der Mädchen abgefangen wurde.

»Frau von Waldenburg, Sie haben Besuch. Frau von Sevelen wartet in der Bibliothek auf Sie.«

Alexandra nickte dem Mädchen freundlich zu. Es war jemand aus Kaimburg, die Tochter einer Küchenhilfe, die unbedingt auch auf einem Schloss arbeiten wollte. Aber dieses junge Ding stellte sich geschickt an.

»Danke, Therese«, sagte sie, dann eilte sie in die Bibliothek, wo sich Rautgundis sofort aus einem Sessel erhob.

»Entschuldige, Alexandra, ich bin viel zu früh«, sagte sie sofort. »Hoffentlich hast du deine Termine hinter dir, wenn nicht, dann warte ich selbstverständlich oder komme später wieder.«

»Du bist nicht zu früh, meine liebe Gundis, sondern gerade zur rechten Zeit hier, und nun hör endlich auf, dich zu entschuldigen, sondern lass dich begrüßen. Schön, dass du da bist«, rief Alexandra und nahm ihre Besucherin erst einmal herzlich in die Arme, mit der sie schöne Studentenjahre verbracht hatte.

Als sie sich nach der Begrüßung gegenübersaßen, warf Alexandra ihrem Gegenüber einen prüfenden Blick zu.

Gundis war sehr blass, aber irgendwie wirkte sie verändert, auf jeden Fall anders, als sie sie zuletzt bei deren Verlobungsfeier erlebt hatte.

Die ihr gegenübersitzende junge Frau erinnerte sie an die Gundis, die sie kannte. Nicht in ein Kostümchen gepresst mit sorgsam frisiertem Haar, sondern in Jeans und Shirt, bequemer Weste darüber und kurz geschnittenem Haar.

»Schön, dass du Zeit für mich hast, Alexandra«, sagte Rautgundis. »In meinem Leben ist einiges passiert, und das muss ich dir unbedingt erzählen. Schließlich hast du den Stein ins Rollen gebracht, als wir uns auf Sevelen miteinander unterhielten.«

Ja, vor dieser Verlobungsfeier, da hatte sie lange mit Gundis geredet, alte Zeiten heraufbeschworen, ihr dringend angeraten, nur das zu tun, was sie wirklich wollte, sie hatte sie beschworen, ihr eigenes Leben zu führen, nicht das ihrer Eltern, ihre Wünsche zu erfüllen, nicht das zu tun, was ihre Eltern für sie richtig fanden.

Aber das konnte es nicht sein, Rautgundis Baroness von Sevelen hatte keine eigene Meinung, sie folgte, wie ein kleines Kind, den Anweisungen ihrer Eltern. Sie hatte sich von ihrer großen Liebe Miguel getrennt, und sie hatte sich, auch weil das ihre Eltern wollten, mit dem wesentlich älteren, nicht unsympathischen Grafen von Warenthien verlobt.

»Den Stein ins Rollen gebracht?«, wiederholte Alexandra und fühlte sich ein wenig unbehaglich. »Hoffentlich hast du meinetwegen keinen Ärger.«

Rautgundis lachte.

Alexandra atmete insgeheim auf, dann konnte es so schlimm nicht sein.

Rautgundis hielt ihr die rechte Hand entgegen.

Ein wenig verwirrt schaute Alexandra darauf. Was sollte das denn jetzt bedeuten?

Sie blickte Gundis an.

»Und? Bemerkst du nichts?«

Alexandra zuckte die Achseln.

»Deine Hand, deine schöne Hand, um die wir dich alle beneidet haben, weil du so richtige Pianistenfinger hast.«

Rautgundis kicherte.

»Alexandra, guck genauer hin«, forderte sie ihre Freundin auf.

Wieder ein Achselzucken.

»Ich sehe noch immer deine Hand.«

»Guck auf den Ringfinger«, rief Rautgundis.

Allmählich dämmerte es Alexandra.

Der Finger war nackt und leer, es fehlte der bombastische Verlobungsring mit dem dicken, funkelnden Brillanten.

»Dein Ring …, was ist damit? Hast du ihn verloren?«

»Nein, an Guntram zurückgeschickt.«

»Ja, aber …«

Rautgundis ließ sie nicht aussprechen.

»Zusammen mit einem langen Brief«, fuhr sie fort, »in dem ich ihm einiges erkläre, ihm schreibe, dass ich ihn nicht liebe und deswegen die Verlobung auflösen möchte, weil ich ihn viel zu sehr respektiere als ihm zuzumuten, mit einer Frau zu leben, die ihn niemals lieben wird.«

Alexandra hätte mit allem gerechnet, aber damit niemals!

Sie starrte ihr Gegenüber an, als habe Rautgundis soeben in irgendeiner exotischen Sprache zu ihr geredet.

Sie war sprachlos.

»Da staunst du, was?«, kicherte Rautgundis.

Irgendwann nickte Alexandra.

»Allerdings«, ächzte sie. Für die nächsten Worte brauchte sie einige Zeit. »Bitte, Gundis, verrate mir, wie es dazu gekommen ist. Was sagen deine Eltern? Hat der Graf sich bereits geäußert …, und wie ist es zu diesem Schritt gekommen?«

Rautgundis trank etwas von ihrem Tee, der inzwischen serviert worden war, griff nach dem feinen Gebäck, knabberte daran.

Sie stellte die Tasse ab und wandte sich Alexandra zu, die voller Spannung zu ihr hinüberblickte.

»Das Leben geht manchmal seltsame Wege«, sagte sie. »Ich brachte für meinen Vater ein Expressgut zum Bahnhof, ging dann noch in die Bahnhofsbuchhandlung, schlenderte durch und wollte eigentlich schon wieder gehen, als mein Blick auf eine spanische Architekturzeitung fiel, die ich ganz spontan kaufte, eigentlich in erster Linie, um meine Spanischkenntnisse zu erneuern.«

Wieder trank sie ein wenig von ihrem Tee.

Konnte sie das jetzt nicht lassen, dachte Alexandra, in deren Kopf es zu arbeiten begann, aber vielleicht ging ihre Fantasie jetzt auch mit ihr durch.

»Und dann?«, wollte sie wissen.

Rautgundis lächelte.

»Dann vergaß ich die Zeitschrift in meinem Auto, für mindestens zwei Wochen. Guntram entdeckte sie zufällig und wollte sie schon entsorgen, nachdem er auf das Erscheinungsdatum geschaut hatte. Ich verhinderte das, an diesem Tag hatten wir einen fürchterlichen Krach miteinander. Ich hatte im übertragenen Sinne das Gefühl, dass ich von der Sonne sprach und er vom Mond. Ich verließ, eine Meisterleistung für mich, Schloss Warenthien, und weil es zu spät war, um nach Hause zu fahren, wohin ich eigentlich eh nicht wollte, weil ich den Krach mit meinen Eltern voraussehen konnte, mietete ich mich irgendwo unterwegs in einer Pension ein. Dieses spanische Blatt nahm ich mit auf mein Zimmer, blätterte schließlich darin …«

Sie brach ihren Satz ab.

Nein, das durfte nicht wahr sein! Musste Gundis gerade jetzt Tee trinken, wo es begann spannend zu werden?

Am liebsten hätte Alexandra ihr den Keks aus der Hand genommen, nach dem sie jetzt auch noch griff und daran herummümmelte.

Rautgundis ließ sich alle Zeit der Welt.

»Und dann?«, wollte Alexandra wissen, die es vor lauter Neugier nicht mehr aushielt. »Was passierte dann?«

Rautgundis blickte sie an.

»Du ahnst es schon, oder?«, erkundigte sie sich lächelnd.

»Mein Gott, Gundis, ich hab so eine Idee. Aber ich bin keine Hellseherin …, hast du in dieser Zeitung etwas über Miguel gelesen?«

Rautgundis nickte.

»Nicht nur das. Es war ein langer Artikel über ihn, versehen mit mehreren Fotos, davon zwei großformatige.«

Sie lehnte sich zurück, blickte zur Seite, hinaus in den Park.

Gundis sah irgendwie so glücklich und zufrieden aus, dass Alexandra es in diesem Augenblick nicht wagte, sie aufzufordern, weiterzusprechen, obschon sie vor lauter Neugier geradezu brannte.

Erst als Gundis weiter ihren Gedanken nachhing, ganz weit weg zu sein schien, räusperte Alexandra sich ganz diskret.

Vergebens!

Gundis reagierte nicht, ihr Gesicht hatte etwas ganz Weiches, Verletzliches, Zärtliches.

Es waren schöne Gedanken, denen sie da nachhing, und Alexandra wollte davon auch etwas erfahren.

»He, Gundis, ich bin auch noch da«, riss sie ihre Freundin aus ihren Träumereien, »und ich warte ganz gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte.«

Gundis wandte sich ihr wieder zu, blickte sie fragend an. Es war ganz offensichtlich, dass sie den Faden verloren hatte.

»Der Artikel über Miguel, die Fotos«, half Alexandra ihr auf die Sprünge.

»Ach ja, nun …, ich las die Story, sah mir die Fotos an, und auf einmal war all meine Liebe für ihn wieder übermächtig. Auf einem der Fotos schien er mich anzusehen und mir zuzurufen: Los, trau dich!«

Oh Gott, das hörte sich an wie ein Roman! Alexandra spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam.

»Und hast du dich getraut?«, erkundigte sie sich.

Gundis nickte.

»Ja, sofort, ohne zu überlegen. Wenn ich erst mal darüber nachgedacht hätte, dann hätte mich vermutlich mein Mut verlassen, ich hätte allem keine Bedeutung beigemessen und wäre am nächsten Morgen reumütig zu Guntram zurückgekehrt … So fühlte es sich für mich an wie ein Wink des Schicksals, wie eine Vorsehung …, denn mal ganz ehrlich, Alexandra. Warum bin ich in die Buchhandlung gegangen? Warum habe ich ausgerechnet diese Zeitung gekauft? Und warum gab es gerade in dieser einen langen Artikel über Miguel?«

Sie blickte Alexandra beschwörend an.

Sie erwartete überhaupt keine Antwort, sondern fuhr fort: »Es war so, als habe mir das Schicksal einen Rettungsring zugeworfen. Ich konnte ihn ergreifen oder nicht …, ich habe zugegriffen. Und weißt du, was das Allerschönste ist?«

Alexandra zuckte die Achseln.

»Du wirst es mir sagen.«

Rautgundis nickte, ihr Gesicht hatte sich mit einer leichten Röte überzogen, ihre Augen glänzten.

»In dem Augenblick als ich anrief, war Miguel gerade zur Tür hereingekommen. Er war zurück von einer USA-Reise …, gibt es ein perfekteres Timing?«

»Nein, Gundis, gibt es nicht. Es ist unglaublich. Aber bitte, erzähl weiter.«

»Miguel konnte es nicht glauben, meine Stimme zu hören. Aber er war außer sich vor Freude, und sofort war zwischen uns die frühere Vertrautheit. Es war so, als hätten wir uns vor einer Stunde zum letzten Mal gesehen, wir redeten und redeten. Ich vergaß darüber ganz, dass ich von einem Handy aus telefonierte, und die teuren Auslandseinheiten nur so tickten. Ich werde eine gigantische Handyrechnung erhalten. Aber das war mir so was von egal, ist es auch jetzt noch.«

Wieder versank sie in rosarote Gedanken, und wieder musste Alexandra sie daran erinnern, in die Gegenwart zurückzukehren.

»Weiter, Gundis, was geschah danach?«

»Ich wäre am liebsten sofort zu Guntram gefahren und hätte die Verlobung gelöst, aber meine Eltern sollten es zuerst erfahren. Ich fuhr also am nächsten Tag nach Hause, wurde frostig von meinen Eltern empfangen, die vom Krach mit Guntram natürlich wussten, mein Verhalten unmöglich fanden und mich aufforderten, mich unverzüglich bei Guntram zu entschuldigen. Unverzüglich, Alexandra, sie waren so kalt, so herrisch. Da war es für mich auf einmal ganz leicht, ihnen zu sagen, dass ich das nicht tun würde, dass ich Guntram nicht heiraten würde … Das Theater, das sie machten, kannst du dir ja wohl vorstellen, und als ich ihnen sagte, dass ich zu Miguel nach Spanien fliegen wollte, da …«, sie zuckte die Achseln. »Sie haben versucht, ihre ganze Macht über mich auszuspielen. Als sie merkten, dass sie diese verloren hatten, dass ich meinen eigenen Weg gehen wollte, meinem Herzen folgen, da wurden sie eiskalt …, lange Rede kurzer Sinn. Sie haben mich, wie man so schön sagt, verstoßen. Sie enterben mich, wenn sie das nicht schon getan haben. Ich soll mich bei ihnen niemals mehr blicken lassen …, nicht nur bei ihnen, das gilt für die ganze Familie.«

Entsetzt blickte Alexandra ihre Freundin an.

»Um Himmels willen, Gundis, das klingt ja ganz entsetzlich«, bemerkte sie.

Rautgundis nickte.

»Das ist es auch, Alexandra, und es tut ganz schrecklich weh. Auch wenn sie mich dressiert haben wie einen Hund, der Männchen machen muss wenn sie es wollen, so sind es doch noch immer meine Eltern. Ich habe alles versucht, um sie zu besänftigen, ich habe freiwillig auf alles verzichtet. Der Kontakt zu ihnen wäre mir trotz allem wichtig gewesen. Sie waren unerbittlich. Für sie zählte nur die Hochzeit mit Guntram, die unstandesgemäße Verbindung mit Miguel bedeutete – Cut! – einer für immer. Ab sofort haben wir keine Tochter mehr waren ihre letzten Worte, als ich Sevelen verließ.«

Jetzt war es Alexandra, die nicht sofort etwas sagen konnte.

Es war so unvorstellbar für sie, dass Eltern so herzlos sein konnten.

»Du hast einen hohen Preis gezahlt, Gundis«, sagte sie. »Was wirst du jetzt tun?«

Die junge Gräfin 21 – Adelsroman

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