Читать книгу Der neue Sonnenwinkel 70 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 3

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Angela von Bergen wollte gerade zu ihrem Glas greifen, um etwas zu trinken, als sie es unvermittelt wieder abstellte.

Was hatte ihre Mutter da gerade gesagt? Was redete sie da?

»Mama, was für ein Brief?«, erkundigte sie sich irritiert.

Sophia blickte ihre Tochter an. Das konnte jetzt nicht wahr sein. Seit dieser Brief aus Achenberg gekommen war, bereitete er ihr Bauchschmerzen, und ihre Tochter blickte sie an, als habe sie gerade Suaheli gesprochen. Wollte Angela sie jetzt veräppeln? Oder wollte sie mit ihr nicht über den Inhalt des Briefes reden? Das war wohl die richtigere Variante, und sie war auch überhaupt nicht dazu verpflichtet. Sie sprachen über alles. Zwischen Mutter und Tochter gab es keine Geheimnisse. Und Angela hätte ihr jetzt ruhig sagen können, dass es sie nichts anging, was in dem Brief stand. Doch so zu tun, als sei sie durch diese Frage aus allen Wolken gefallen, das ging überhaupt nicht.

Sophia richtete sich ein wenig auf. So ganz richtig konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ganz cool darüber hinweggehen sollte oder die Beleidigte spielen, was sie im Grunde genommen ja auch war.

»Angela, es ist ja schon gut. Ich hätte es jetzt nicht erwähnen müssen. Es geht mich ja auch nichts an.«

Eigentlich hatte Angela noch etwas von der leckeren Kohlroulade essen wollen, doch sie ließ es sein, legte das Besteck beiseite.

»Mama, was sollen jetzt diese Spielchen? Warum spielst du die beleidigte Leberwurst. Über was für einen Brief sprichst du? Habe ich eine Einladung vergessen, den Geburtstag von jemandem? Dann hättest du mich daran erinnern müssen. Wenn es so ist, dann tut es mir leid.«

Jetzt war Sophia vollkommen irritiert.

Sophia zweifelte nicht einen Augenblick an den Worten ihrer Tochter. Angela war der aufrichtigste Mensch, den man sich nur vorstellen konnte, und sie neigte auch überhaupt nicht dazu, zu schauspielern. Wenn sie etwas vergessen oder vermasselt hatte, dann gab sie es auch zu. Aber konnte das sein? Dass man einen so wichtigen Brief einfach achtlos beiseite legte und vergaß? Für Sophia war es unvorstellbar.

»Angela, ich meine den Brief von dem Anwaltsbüro aus Achenberg.«

Nun dämmerte es bei Angela, sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, blickte ihre Mutter an.

»Du liebe Güte, Mama, an den Brief habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Warum hast du mich nicht schon früher daran erinnert?«

»Weil ich nicht neugierig sein wollte. Ich dachte, dass du deine Gründe dafür hast, warum du mir nichts mehr über diesen Brief erzählt hast. Aber jetzt hielt ich es irgendwie nicht mehr aus.«

»Mama, noch einmal, du hättest mich bloß fragen müssen. Er liegt irgendwo zwischen all meinen Papieren. Ich verspreche dir, ihn herauszusuchen. Doch glaube mir, etwas Spannendes kann nicht darin stehen, denn sonst hätte man sich noch einmal bei mir gemeldet. Und ich habe auch kein schlechtes Gewissen, weil ich mir nicht habe zuschulden kommen lassen.«

Sie verstanden sich blendend, doch jetzt konnte Sophia ihre Tochter nicht verstehen.

»Angela, der Brief kommt aus Achenberg.«

Ihre Tochter sagte nichts, sondern zog den Teller wieder zu sich heran, um den letzten Rest ihrer Kohlroulade von ihm zu picken, die doch jetzt überhaupt nicht mehr schmecken konnte, weil sie kalt geworden sein musste.

»Angela, Berthold von Ahnefeld kommt aus Achenberg.« Was hatte ihre Mutter bloß?

»Mama, ich weiß. Doch wie du weißt, hat Berthold all seine Zelte in Deutschland abgebrochen, um in Afrika zu leben. Und außerdem, warum sollte mir ein Anwalt schreiben? Berthold und ich sind im Guten auseinandergegangen. Und das ist bereits eine ganze Weile her. Wir hören nichts mehr voneinander. Das ist mir auch recht, weil es, wie du weißt, ein sehr schwerer Schritt für mich war, mich von ihm zu trennen. Doch es ging nicht anders. In seinem Herzen war kein Platz für mich.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Sophia sofort, die Berthold sehr gernhatte und zutiefst bedauerte, dass aus ihm und Angela kein Paar geworden war. Für Sophia wäre Berthold der genau richtige Schwiegersohn gewesen.

»Gut, meinetwegen, Mama, dann nicht genug Platz, weil sein Herz ausgefüllt ist mit seiner toten Frau und seinen toten Kindern. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung. Und ich trage es Berthold nicht nach, dass er weiter um seine Lieben trauert, die auf so tragische Weise ums Leben gekommen sind. Aber ich habe da nicht reingepasst. Es war einfach zu wenig, was er mir geben konnte. Doch bitte, lass uns davon aufhören. Ich weiß ja, wie gern du Berthold hattest, ich habe ihn geliebt. Doch manchmal muss man auf seinen Verstand hören, nicht auf sein Herz. Und mittlerweile weiß ich, dass es gut so war. Wir wären beide nicht glücklich geworden. Es war eine schöne Zeit mit ihm. Berthold hat mir besonders gutgetan nach dem Fiasko, das ich mit Wim, meinem Ex, erlebt habe. Es war für uns beide gut, denn immerhin ist es mir gelungen, ihm ein wenig von seiner Trauer zu nehmen. Also, Mama, wenn du dir da etwas zusammengereimt hast, dann vergiss es. Es ist ein reiner Zufall, dass mir da Anwälte aus Achenberg geschrieben haben. Es gibt ja Anwälte, die sich darauf spezialisiert haben, Kleinstverstöße im Internet zu ahnden, um Kapital daraus zu schlagen. Doch ehe es dir schlaflose Nächte bereiten sollte, Mama, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich verspreche dir, den Brief herauszusuchen, doch nicht jetzt. Und sollte ich nicht daran denken, dann kannst du mich gern noch einmal daran erinnern.«

Sie überlegte.

»Eigentlich hatte ich noch mal an die Arbeit gehen sollen. Doch irgendwie ist mir die Lust dazu vergangen. Gewiss liegt das an dem köstlichen Essen, von dem ich mir mehr auf den Teller geschaufelt habe, als nötig gewesen wäre. Was meinst du, sollen wir uns gemeinsam einen Film ansehen? Ich räume rasch den Tisch ab, und du kannst den Film aussuchen.«

Wenn sie ehrlich war, dann hätte Sophia sich jetzt lieber weiter über den Brief unterhalten, der sie so sehr beschäftigte. Und mehr noch, es wäre ihr lieber gewesen, wenn Angela den Brief rasch geholt hätte, dann hätte die liebe Seele Ruhe gehabt. Zumindest ihre Seele.

»Eine gute Idee«, sagte sie, »doch du kannst auch alles stehen lassen, ich habe doch Zeit und kann es später wegräumen.«

Angela schüttelte den Kopf.

»Das kommt überhaupt nicht infrage, du hast gekocht, und jetzt bin ich dran. Außerdem weiß ich doch, dass du Unordnung hasst. Such den Film. Ich bin gleich zurück. Was möchtest du trinken? Noch ein Gläschen Wein? Das werde ich mir auf jeden Fall einschenken.«

»Ach, wenn du mich so fragst, mein Kind, dann würde ich ganz gern einen Kamillentee trinken, der bekommt mir nach dem Essen immer.«

»Kein Problem, Mama, den bekommst du. Also bitte, such den Film aus, und ehe du mich jetzt fragst, was ich sehen möchte, wirst du keine Antwort bekommen. Du hast die freie Wahl.«

Nach diesen Worten warf Angela ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu. Die Arme, warum hatte sie denn nichts von diesem dummen Brief gesagt?

Sie begann den Tisch abzuräumen, alles in die Küche zu tragen, während Sophia in den Raum ging, den die beiden Damen sich als Bibliothek und zugleich Fernseh- und Musikzimmer eingerichtet hatten.

Den Gedanken, dass sie eigentlich zurück an ihre Arbeit müsste, verdrängte Angela. Man konnte auch übertreiben. Außerdem hatte es ihre Mutter verdient, dass sie wieder ein wenig Zeit mit ihr verbrachte. In der letzten Zeit war das nicht der Fall gewesen. Doch Angela war froh, diesen Job beim Kleveverlag zu haben. Sie war frei, konnte sich die Arbeit einteilen, und schlecht bezahlt wurde sie ebenfalls nicht. Dafür war sie dankbar, vor allem auch für die Möglichkeit, sich um ihre Mutter zu kümmern.

Wenn man daran dachte, was für ein Häufchen Elend sie gewesen war, als sie hergezogen waren.

Nein!

Daran wollte Angela nicht mehr denken, dann käme ihr auch gleich ihre eigene Vergangenheit in den Sinn, an die sie besser keinen einzigen Gedanken verschwendete.

Die Vergangenheit war tot!

Ihr ging es gut, ihre Mutter war wieder stabil, und die Arbeit zusammen mit Teresa ließ sie aufleben.

Alles war gut!

Das war vielleicht nicht ganz so, aber es ließ sich damit leben, denn jetzt musste sie doch wieder an Berthold denken. Und auch wenn sie es ihrer Mutter niemals sagen würde, um die nicht zu beunruhigen, es schmerzte noch immer. Aber dennoch war es die richtige Entscheidung gewesen, sie würde es wieder so machen.

Das kleine Bisschen hatte gefehlt …

*

Beatrix hätte besser nicht nach Hohenborn fahren sollen, um sich das Internat anzusehen. Das hatte nur sehnsuchtsvolle Gedanken in ihr erweckt und Träume, die sich eh niemals erfüllen würden. Dort stellte man keine Berufsanfängerin ein, die allerdings ihr Examen bereits vor Jahren gemacht hatte.

Und auch Horst hüllte sich in Schweigen. Doch das beunruhigte sie nicht so sehr wie die Begegnung mit diesem Fremden, der ihr gesagt hatte, dass sie sich die Blumen nicht selber kaufen solle, sondern sie sich schenken lassen. Und dann hatte er unmissverständlich schöne Frau gesagt. Das hatte sie verwirrt, dennoch war es bei ihr heruntergegangen wie Öl. Und es war, und das hatte sie ja besonders verwirrt, einen Augenblick der Magie gegeben, als ihre Blicke ineinander versunken waren.

Du liebe Güte!

Als wenn ihr Leben nicht kompliziert genug wäre!

Immerhin …

So etwas hatte sie noch nie zuvor in ihrem Leben erlebt, auch nicht bei ihrer ersten Begegnung mit Horst. Da war alles ganz anders. Sie war nicht aufgeregt gewesen, sondern sie hatte sich von ihm beschützt gefühlt. Das war zumindest ihre Empfindung. Und je länger sie darüber nachdachte, kam sie zu der Erkenntnis, dass sie wohl in ihm etwas gesucht hatte, was ihr von ihrem Vater nicht gegeben worden war. Es hatte in ihrem Kopf stattgefunden, denn die Wirklichkeit war eine ganz andere gewesen. Doch so war es immer, dass nur sehr selten verwirklicht wurde, was in der Fantasie stattfand. Doch daran wollte sie jetzt wirklich nicht denken. Sie hätte sich nicht wie ein hypnotisiertes Kaninchen verhalten müssen, sondern sie hätte keck sagen müssen, dass er sich irre, denn sie habe den Strauß nicht gekauft, sondern ihn geschenkt bekommen. Das traf ja auch zu, Rosmarie Rückert hatte ihn ihr geschenkt. Doch welche Rolle spielte es jetzt noch? Keine!

Sie schreckte zusammen, als es an der Haustür klingelte. Der Briefträger, um ihr Post von Horst zu bringen oder von seinem Anwalt?

Beatrix war wütend auf sich selbst. Sie stand sich wirklich selbst im Wege. Warum sah sie es nicht positiv? Warum war sie immer direkt negativ? Es konnte doch auch etwas Schönes sein!

Na ja, manches konnte man sich auch einreden! Sie ging zur Tür und öffnete. Rosmarie Rückert stand davor und erklärte: »Liebe Frau Sendler. Ich habe ein Attentat auf Sie vor. Eigentlich wollte ich mit meinem Mann in den ›Seeblick‹ gehen, doch der hat mich versetzt, weil er ein wichtiges Mandantengespräch hat, das nicht aufschiebbar ist. Ich könnte auch allein dorthin gehen, doch das wäre mir ein bisschen peinlich, denn mein Mann hat extra für uns eine Fischsuppe bestellt, die nicht auf der Karte steht und die nur für uns gekocht wird.« Sie blickte Beatrix an und erkundigte sich: »Mögen Sie Fisch?«

Die nickte bestätigend. »Aber …«

Sie wurde von Rosmarie unterbrochen. »Kein aber, meine Liebe, dann ist alles klar, und natürlich sind Sie herzlich eingeladen.«

Beatrix hoffte, dass Rosmarie Rückert jetzt nicht mitbekam, wie erleichtert sie war. Natürlich hatte Maja ihr vom ›Seeblick‹ vorgeschwärmt, praktisch ihrem zweiten Wohnzimmer, als sie noch im Sonnenwinkel gelebt hatte. Und sie hatte ihr angeraten, hinzugehen. Das hatte Beatrix auch getan. Allerdings am Ruhetag, um sich über die Preise zu informieren. Die waren gewiss gerechtfertigt, doch die überstiegen ganz eindeutig ihren Geldbeutel. Außerdem hätte sie sich nicht gut gefühlt, das Geld, das sie von Maja großzügigerweise bekommen hatte, dafür auszugeben, lecker in einem erstklassigen Restaurant zu essen.

Und nun würde sie in den ›Seeblick‹ kommen. Freude stieg in ihr auf.

»Und wann soll es sein?«, wollte sie wissen, und Rosmarie antwortete prompt: »Jetzt, mein Wagen steht vor der Tür.«

Entsetzt blickte Beatrix an sich herunter, Rosmarie bekam es mit und sagte sofort: »Sie sehen wunderbar aus. Außerdem, niemand würde bei Ihnen auf die Kleidung blicken, sondern auf ihr schönes Gesicht.«

Beatrix errötete.

»Ich kämme mir nur noch die Haare, ziehe ein Paar andere Schuhe an«, sagte sie, und Rosmarie antwortete: »Und ich warte draußen im Auto. Danke, dass Sie mich begleiten. Das erspart mir wirklich eine Peinlichkeit. Natürlich würden Julia und Tim Richter nichts dazu sagen, doch ich finde, dass sich so etwas einfach nicht gehört. Du kannst absagen, wenn du dich nur angemeldet hast, aber nicht, wenn du Sonderwünsche erfüllt haben möchtest. Also ich gehe dann schon mal.«

Beatrix freute sich sehr über diese Einladung, doch es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte sich darauf vorbereiten können. Sie blickte an sich herunter. Ja, sie fühlte sich wohl in der camelfarbenen Jeans, dem camelfarbenen dünngestrickten Pullover. Aber war das was für den ›Seeblick‹?

Darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken, und umziehen ging schon überhaupt nicht, weil sie Rosmarie nicht warten lassen durfte. Sie rannte ins Badezimmer, legte wenigstens ein wenig Rouge auf, zog ihre Lippen nach. Wimperntusche? Nein, dazu reichte die Zeit nicht, und wenn sie etwas verschmierte, dann dauerte es länger, dann also besser nicht. Aber ein bisschen von ihrem Lieblingsparfüm, das musste sein. Sie war geradezu süchtig danach, nachdem sie sich das endlich wieder kaufen durfte, nachdem sie Horst verlassen war. Er hatte an ihr nur einen Duft riechen wollen. Wie konnte es auch anders sein, den Lieblingsduft von Diana, der leider überhaupt nicht ihrer war. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken, denn es war vorbei. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, dann schlüpfte sie in andere Schuhe, zog die leichte Jacke über, dann verließ sie das Haus.

Sie hätte sich für den Besuch im ›Seeblick‹ wirklich sehr gern fein gemacht. Schade, dass man diese unverhofften Einladungen, Ereignisse überhaupt, nicht vorausahnen konnte.

Sie verließ das Haus, stieg zu Rosmarie in den Wagen, und die sagte, ehe sie ihn startete: »Sie sehen wunderschön aus.«

Meinte sie es wirklich, oder war es nur so dahergesagt, um sie zu trösten?

Nein, so durfte sie überhaupt nicht denken. Sie dankte Rosmarie vielmehr noch einmal für die Einladung, und sagte ihr wahrheitsgemäß, wie aufgeregt sie sei.

Rosmarie war ganz gerührt. Sie erzählte ihr, dass Julia das Restaurant zuerst allein geführt hatte, weil sie da noch nicht verheiratet gewesen war, dass es ursprünglich ein veganes Restaurant sein sollte, und das hätte sie beinahe gegen die Wand gefahren und hätte nicht nur ihre ganzen Ersparnisse, ihre kleine Erbschaft verloren, sondern wäre auf einem Berg Schulden sitzen geblieben.

»Ich mag Julia sehr gern. Sie ist eine Kämpferin, sie hat sich nicht unterkriegen lassen, und zum Glück hat sie auch beizeiten die Kurve bekommen. Und ist es nicht verrückt? Früher wollten die Gäste von veganem Essen nichts wissen, doch jetzt bestellen es viele von ihnen. Um Julia muss man sich auf jeden Fall keine Sorgen machen, die hat ihren Weg gefunden und mit ihrem Tim auch ihr Glück.«

»Und Maja hat mir erzählt, dass sie kein Sternerestaurant mehr sein wollten.«

»Stimmt, meine Liebe, und das war die richtige Entscheidung. Und nicht nur ich finde, dass Sie besser sind als sie jemals waren. Aber da haben sich allerdings auch zwei Besessene gefunden, die für ihren Beruf leben und nicht aufhören, immer wieder etwas Neues auszuprobieren. Davon profitieren wir alle. Sie könnten durchaus ein Restaurant in der Großstadt führen, und man würde ihnen die Tür einrennen. Das wollen sie nicht, weil sie im Sonnenwinkel angekommen sind.« Sie warf Beatrix einen Seitenblick zu, stellte den Motor aus, denn sie waren oben angekommen. »Ich wünsche mir sehr, dass Sie das irgendwann auch von sich sagen würden. Sie wären auf jeden Fall eine Bereicherung für uns hier. Das wäre Frau Greifenfeld ebenfalls gewesen, doch leider hat die uns wieder verlassen.« Sie lächelte. »Aber für einen schönen Ersatz gesorgt.«

Beatrix wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie war noch nie in ihrem Leben mit so schönen Komplimenten bedacht worden, und an so etwas musste man sich erst gewöhnen. Ihr Vater war kaltherzig gewesen und hatte durchaus auch eine lockere Hand besessen. Ihre Mutter war eingeschüchtert und hatte sich nicht getraut. Und Horst? Sie konnte ihm nicht wirklich etwas vorwerfen, der war zufrieden gewesen, solange er in ihr seine Diana sehen konnte. Es war verrückt, der Mann auf dem Markt hatte ihr ein kleines Kompliment gemacht, und das hatte sie vollkommen aus der Spur gebracht. Und ja, Rosmarie Rückert, die war unglaublich nett. Und natürlich durfte sie Maja nicht vergessen, doch die musste ihr keine Komplimente, sie waren alte Freundinnen, die sich aus den Augen verloren, doch zum Glück genau im rechten Augenblick wiedergefunden hatten.

Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als Rosmarie lächelnd bemerkte: »Ich denke, wir sollten jetzt aussteigen.«

Beatrix entschuldigte sich, stieg rasch aus. Der Parkplatz war voll, obwohl es erst mittags war. Abends war oftmals kaum ein Parkplatz zu finden, da mussten die Gäste ihre Autos bereits links und rechts auf der Zufahrtsstraße parken, die zum Glück breit genug war, um dann auch noch ein Auto hindurchzulassen.

Beatrix spürte ihren Herzschlag, sie war aufgeregt und freute sich wie ein Kind kurz vor der weihnachtlichen Bescherung. Gleich würde sie den ›Seeblick‹ betreten. Wenn sie das gewusst hätte, dann hätte sie doch ein ganz anderes Outfit gewählt. Sie blickte an sich herunter, Rosmarie bekam es mit: »Sie sehen perfekt aus, meine Liebe. Und das dürfen Sie mir glauben, dass ich mir da ein Urteil erlauben kann, denn ich war jahrelang ein ausgesprochener Fashionfreak, und ich habe gekauft, als gäbe es kein morgen. Doch glücklicherweise ist das vorbei. Und ich habe das jetzt auch nicht erwähnt, weil ich mich damit brüsten möchte, sondern, dass Sie mir glauben können.«

Sie betraten das Restaurant. Beatrix kam aus dem Staunen überhaupt nicht heraus. Das Haus war ja an sich schon etwas Besonderes, und dann diese unvergleichliche Lage oberhalb des Sees mit einem geradezu fantastischen Ausblick. Davon hatte sie sich überzeugen können, als sie heraufgekommen war, um die Speisekarte im Aushang zu studieren. Sie hatte lange auf der Terrasse verweilt, hatte vom Blick auf den Sternsee nicht genug bekommen können. Und sie hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie hier nicht zu suchen hatte. Jetzt war es anders, sie war eingeladen. Und schon beim Gedanken daran hüpfte ihr Herz vor lauter Freude.

Das Restaurant war mit sehr viel Liebe eingerichtet worden, modern, aber nicht kalt und unpersönlich. Auf jedem der Tische standen frische Blumen, und auch nicht irgendwelche. Man sah, dass sie mit Sorgfalt ausgewählt worden waren. Beatrix konnte sich einfach nicht sattsehen. Welch wundervolles Ambiente!

Sie wurde aus ihren Betrachtungen gerissen, weil eine junge, sehr gut aussehende Frau sich zu ihnen gesellte. Und das musste Julia Herzog-Richter sein, die Chefin. Sie war nicht sehr groß, schlank, was für ihren Beruf ein wenig erstaunlich war. Doch das zeigte wieder mal, dass man keine vorgefasste Meinung haben durfte, wie jemand aussah, der den einen oder anderen Beruf hatte. Von solchem klischeehaften Denken musste man sich befreien.

Sie begrüßte die beiden Frauen mit einer sehr angenehm klingenden Stimme.

Rosmarie sagte: »Julia, ich sagte dir ja bereits am Telefon, dass Heinz leider verhindert ist, was er übrigens sehr bedauert.«

Sie machte Julia mit Beatrix bekannt, fügte hinzu: »Frau Sendler ist übrigens die Freundin von Maja Greifenfeld und hat auch deren Haus bezogen.«

Lächelnd wandte Julia sich Beatrix zu.

»Schön, dass ich Sie endlich kennenlerne, Frau Sendler, denn Maja hat Sie bereits angekündigt. Ich freue mich sehr, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Herzlich willkommen in unserem ›Seeblick‹, ich hoffe, wir werden uns jetzt öfters sehen.«

Julia war ausgesprochen sympathisch, stellte Beatrix fest, und Maja hatte nicht übertrieben. Jetzt freute Beatrix sich noch mehr, wurde aufgeregter, weil sie sich willkommen fühlte.

Julia begleitete sie zu dem für die Rückerts reservierten Tisch, einem der schönsten im ganzen Restaurant, das war nicht zu übersehen. Dabei plauderte sie mit Rosmarie, und das klang sehr vertraut. Rosmarie und Julia mochten sich, mochten sich sogar sehr. Beatrix wusste ja nicht, dass Rosmarie es gewesen war, die dafür gesorgt hatte, dass Julia den ›Seeblick‹ nicht gegen die Wand gefahren hatte, weil es keine Gäste gab und die Rechnungen auf dem Schreibtisch sich häuften.

Das Restaurant war erstaunlich gut besucht, obwohl es noch recht früh war und man eigentlich viel lieber den Abend wählte, um lecker essen zu gehen. Die meisten Gäste waren allerdings Männer, woraus man schließen konnte, dass man sich vermutlich zu Geschäftsessen im ›Seeblick‹ verabredet hatte, und da schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe. Man aß vorzüglich und konnte dabei auch noch Geschäfte abwickeln. Sie kannte das mit diesen sogenannten Geschäftsessen von Horst, der auch ein Faible dafür hatte. Die Essen fanden entweder im Restaurant statt oder in der Villa, die sie gemeinsam bewohnt und die sie für immer verlassen hatte. Doch nein, an Horst, an ihr bisheriges Leben, wollte sie jetzt nicht denken. Außerdem kam sie überhaupt nicht dazu, denn Rosmarie begann zu reden, und Beatrix stellte sehr schnell fest, was für eine gute Erzählerin sie doch war.

Es dauerte nicht lange, da bekamen sie einen Gruß aus der Küche, eine unglaubliche Köstlichkeit, und nur wenig später wurde das Essen serviert, extra für die Rückerts zubereitet.

Diese Fischsuppe war so gut, dass man sie nur ganz still, beinahe andächtig, genießen konnte. Und wenn sie hier oben so privilegiert wäre wie die Rückerts, dann würde sie sich die Suppe täglich bestellen, solange, bis sie ihr zu den Ohren herauskam. Die von ihr zubereitete Suppe schmeckte nicht schlecht, wurde allgemein gelobt, und sie aß sie auch immer, wo sie serviert wurde. Sie hatte auch die berühmte Bouillabaisse überall in Frankreich gegessen, auch in Marseille. Nichts kam mit der Suppe mit, die sie gerade aß. Und das sagte sie Rosmarie auch.

»Da wird Julia sich freuen, aber Heinz und ich finden ja ebenfalls, dass es sie nirgendwo so gut gibt. Manchmal steht sie auf der Karte, und dann sollten Sie sich diesen Genuss nicht entgehen lassen.«

Eigentlich war es jetzt nicht der Augenblick, es anzusprechen, aber herumeiern wollte sie auch nicht.

»Dazu brauche ich aber erst einmal einen Job.«

Rosmarie winkte ab.

»Den werden Sie bekommen, meine Liebe, ich bin ganz fest davon überzeugt. Teresa kann es nicht entscheiden, sie muss mit mehreren Leuten darüber reden, aber auf sie hört man. Sie genießt nicht nur im Internat, sondern auch im Gymnasium sehr große Autorität. Würde ihr Vorstoß auf Ablehnung stoßen, hätte sie mich längst angerufen. Dass Sie noch nichts gehört haben, ist ein gutes Zeichen. Ich bin überzeugt davon, dass man Sie zu einem Gespräch einladen wird.«

Sie trank etwas, blickte Beatrix ein wenig nachdenklich an, überlegte, dann sagte sie: »Bitte, halten Sie mich nicht für neugierig. Doch warum haben Sie nie in Ihrem Beruf gearbeitet, nachdem Sie mit dem Studium fertig waren.«

Sie kannten sich zwar nicht lange, sie hatte bereits einiges von sich preisgegeben, doch jetzt erzählte sie der aufmerksam lauschenden Rosmarie ihre Lebensgeschichte, alles, sie ließ dabei nichts aus.

»Ich wollte einfach wieder ich selbst sein«, schloss sie ihre Erzählung.

Rosmarie bestärkte sie darin, das Richtige getan zu haben, versprach ihr, sie jederzeit zu unterstützen, bat sie, sie anzurufen, wenn sie Probleme hatte oder einfach nur mit jemandem reden wollte.

Auch wenn Beatrix sich damit wiederholte, weil sie es bereits mehr als nur einmal gesagt hatte. »Danke, doch warum tun Sie das für mich, Frau Rückert?«

»Also, das Frau Rückert, Frau Sendler, das lassen wir jetzt erst einmal bleiben. Ich bin Rosmarie, und zu dir werde ich Beatrix sagen.«

Die schüttelte den Kopf.

»Nein, das bitte nicht, Bea …, und danke …, ich bin jetzt ziemlich überwältigt.«

Bea erinnerte sie an Stella, die untergetaucht war, aber auch an Cecile. Vielleicht lag es daran, dass sie ungefähr gleichaltrig waren. Wie auch immer, sie hatte Bea von Anfang an in ihr Herz geschlossen. Und alles, was sie gesagt hatte, war nicht einfach so dahergesprochen, sie meinte es ganz aufrichtig, und deswegen fragte sie nach. Und Bea erzählte ihr ohne Scheu alles, was Rosmarie wissen wollte.

In Bea waren Glücksgefühle, sie fühlte sich auf einmal sicher, doch sie merkte vor allem, wie alle Bedanken sich in Luft auflösten, die sie noch gehabt hatte.

Maja …, der Sonnenwinkel … Rosmarie …

Es hatte so sein sollen!

Sie tranken noch einen doppelten Espresso, widerstanden der Versuchung, auch noch ein Dessert zu wählen. Vielleicht ein andermal schon, doch nicht nach dieser köstlichen Suppe.

Rosmarie bezahlte, und ehe sie aufbrachen, betrat eine Gruppe von Männern das Restaurant, und Beas Herz blieb stehen, als sie einen der Männer erkannte. Er hatte sie auch gesehen, ihre Blicke verfingen sich ineinander, und da war er wieder da, dieser Augenblick der Magie.

Verwirrt wandte Bea sich ab, das durfte nicht sein. Sie hatte Herzklopfen, als sie sich Rosmarie zuwandte und sich, hoffentlich, so ganz nebenbei erkundigte: »Sind das Männer aus dem Sonnenwinkel?«

Rosmarie zuckte die Achseln.

»Sie wohnen nicht hier, gewiss arbeiten sie auf der Baustelle unterhalb der Felsenburg und sind Bauingenieure, Architekten, oder was weiß ich. Ist dir übrigens aufgefallen, dass einer der Herren ganz intensiv zu dir geblickt hat? Ich bin überzeugt davon, dass er beeindruckt von dir ist.«

Bea wurde verlegen, lief rot an. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie Rosmarie von der kurzen Begegnung auf dem Markt erzählen sollte, dann ließ sie es bleiben. Sie wollte es noch für sich behalten, weil es so unglaublich war, so unfassbar, sie wollte es mit niemandem teilen, weil man manches auch zerreden konnte.

Auf jeden Fall hatte sie es sich nicht eingebildet, der Fremde hatte sie angeschaut, und ihre Blicke …

Nein!

Das vergaß sie besser wieder, außerdem trat Julia an ihren Tisch, um sich von den beiden Damen zu verabschieden. Rosmarie gab Beas Frage an sie weiter, und sie hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung. Es waren Leute von der Baustelle.

»Alles Männer, die das Sagen haben, doch sie tragen ja auch viel Verantwortung bei einem derartigen Großprojekt. Sie kommen hin und wieder her, um eine kleine Pause zu machen oder um sich zu besprechen. Und der gut aussehende blonde Mann mit den kurz geschnittenen Haaren, den blauen Augen, das ist der leitende Architekt.«

Rosmarie warf Bea einen Blick zu, der sie verlegen machte. Jetzt kannten sie zwar noch immer nicht seinen Namen, doch sie wussten, was er hier machte. Doch am besten vergaß Bea diesen Mann wieder, und als sie das Restaurant verließen, blickte sie nicht nach rechts zu dem Tisch, an dem die Herren Platz genommen hatten, sondern sie schaute stur geradeaus. Schade, denn sonst hätte sie noch einen seiner Blicke auffangen können, die sie so sehr irritierten …

*

Werner durfte das Krankenhaus verlassen, und natürlich hatte Inge es sich nicht nehmen lassen, ihren Mann abzuholen, was Werner sichtlich erfreute.

An den paar Tagen, die er in der Klinik war, hatte sie ihn immer besucht, war lange geblieben. Manchmal war sie sogar zweimal täglich gekommen. Es war merkwürdig, sie sprachen nicht viel miteinander, doch da war etwas zwischen ihnen, was sich nicht in Worte kleiden ließ, was aber sehr schön war. Sie fühlten es beide, es war zu erkennen, wie sie sich anschauten, wie sie sich berührten, sanft, aber doch zärtlich.

Kurzum, alles war anders geworden …

Es war beinahe so, wie ganz am Anfang ihrer Liebe, als sie sich noch nicht trauten, sich ihre Liebe zu gestehen und scheu und behutsam miteinander umgegangen waren.

Sie glaubte, dass auch Werner so empfand, doch Inge wagte nicht, ihm ihre Gedanken zu offenbaren. Es war doch verrückt. Nach all den Jahren, die sie miteinander verheiratet waren. Sie hatten Kinder, Enkelkinder …, verhielt man sich da so? Zum Glück gab es für Gefühle keine Gebrauchsanweisung und auch keine Regeln.

Sie konnte nur für sich sprechen und glauben, dass auch Werner so empfand, weil es halt an vielen kleinen Gesten, Blicken zu erkennen war. Es war auf jeden Fall wunderschön, was plötzlich im Raum stand. Jetzt durften sie dieses zarte Pflänzchen Hoffnung nur nicht mit unbedachten Worten oder einem rücksichtslosen Verhalten zerstören.

Er stützte sich auf Inge, als sie das Krankenhaus verließen, um zum Auto zu gehen. Er ließ es geschehen, dass sie ihm beim Einsteigen half. Das war neu, sonst hatte Werner so etwas niemals gestattet, vor allem hätte er wie selbstverständlich auf dem Fahrersitz Platz genommen und hätte sie dazu verdammt, auf dem Beifahrersitz zu verbleiben.

Er war angeschlagen!

Ihre Mutter war der Meinung, dass er, der große Professor Werner Auerbach, Angst hatte. Und dafür hatte sie auch gleich eine Erklärung, nämlich, dass ihm zum ersten Male so richtig bewusst geworden war, dass es in diesem Fall nicht nach seinen Regeln verlief, sondern dass er sich fügen musste, nicht gefragt wurde, ob es ihm genehm sei oder nicht. Nach dem Herzinfarkt hatte er alles beiseitegeschoben und war der Meinung gewesen, dass es nichts weiter als ein kleiner, unbedeutender Zwischenfall gewesen war. Diese zweite Attacke war nicht ernst gewesen, aber immerhin ein Warnzeichen, vielleicht ein viel deutlicheres Warnzeichen als der Herzinfarkt. Und da hatte er es wohl begriffen, zumal der leitende Chefarzt der Kardiologe ihm ernsthaft ins Gewissen geredet hatte.

Mitten in ihre Gedanken hinein, sie wollte gerade losfahren, sagte er: »Inge, ich hatte viel Zeit nachzudenken, über das, was ich mache, aber auch über dich und mich. Und ich habe mich, ich glaube, zum ersten Male in meinem Leben, gesehen, wie ich wirklich bin, wie ich mich verhalte. Und danach, mein Liebes, das musst du mir glauben, konnte ich kaum noch in den Spiegel sehen.« Er nahm ihre Hand vom Lenkrad, streichelte sie, dann zog er sie an seine Lippen, um sie sanft und zärtlich zu küssen.

»Inge, ich habe dich, ich habe uns um viele schöne gemeinsame Jahre gebracht. Nachholen lässt sich nichts, aber jetzt gilt es, die Gegenwart bewusst zu leben, und das miteinander, nicht mehr nebeneinander, wie es meistens der Fall war. Ich will dir jetzt nicht vorwerfen, dass du mich hättest an unsere Ehe erinnern können, weil das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Du hattest deine Wünsche, hast auch versucht, sie mir näherzubringen, du hast Signale gesetzt. Aber ich habe sie alle übersehen und bin im rasenden Tempo an dir vorbeigefahren, immer nur auf mich bedacht, auf meine Eitelkeit.« Er blickte sie an, blass, mitgenommen, mit schönen klugen Augen hinter der randlosen Brille. Inge sah es, und ihr Herz wurde weit. Wie sehr sie ihn doch liebte! Der kleine Hoffnungsschimmer, alles könne noch gut werden für sie und Werner, der wurde größer. Und weil sie nicht wieder eine Enttäuschung erleben wollte, schob sie sanft seine Hand weg, und dann startete sie das Auto und fuhr los.

Sie wollte es ja liebend gern, sie sehnte sich danach, aber sie würde es erst glauben, wenn es nicht mehr als eine Sprechblase war.

Vielleicht war Werner jetzt beleidigt, weil sie einfach losgefahren war, doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen.

Er hatte keine Ahnung, doch sie wusste es, sie hatte es so viele Male erlebt, wie Träume zerplatzten, wie Hoffnungen zerstoben wie Blätter im Wind.

Sie waren noch nicht lange gefahren, als Werner plötzlich sagte: »Bitte, Inge, fahr auf den Parkplatz dort.« Er bezeichnete ihn mit einem Finger.

Sie drehte sich zur Seite.

»Aber das ist vor der Kirche.«

Er nickte.

»Ich weiß.«

Inge hatte keine Ahnung, was das jetzt sollte. Vielleicht wollte er noch einmal reden, etwas sagen, was er ihr vorhin hatte sagen wollen, als sie abrupt losgefahren war.

Sie fuhr in die Parklücke, was keine große Kunst war, weil da ein LKW reingepasst hätte. Sie stellte den Motor ab, drehte sie zu ihm hin und erkundigte sich: »Und jetzt?«

Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, antwortete er: »Nun gehen wir in die Kirche hinein, einfach so, um dort für eine Weile ganz still zu verweilen.«

Was war mit Werner los?

Inge wusste nicht genau, wie oft sie sich diese Frage bereits gestellt hatte. Werner hatte sein Verhalten wirklich verändert, und sie konnte nur hoffen, dass es dabei bleiben würde. Sie sagte nichts, stieg aus, weil er das bereits getan hatte. Dann nahm er sie beim Arm, stützte sich auf sie, das war wohl eher eine Vorsichtsmaßnahme. Gemeinsam gingen sie auf das Kirchenportal, das tagsüber immer geöffnet war, zu, ein vertraut wirkendes, nicht mehr ganz junges Liebespaar.

Werner und in die Kirche gehen – unfassbar! Das bedeutete nicht, dass er kein gläubiger Mensch war. Nein, das war es nicht, aber er konnte mit den Ritualen nichts anfangen. Klar war er immer mit in der Kirche gewesen bei den Taufen der Kinder, später auch der Enkelkinder. Und Weihnachten war er auch mit dabei. Er war halt einer von den lauen Christen, von denen es viele gab.

Sie betraten die Kirche, die nicht nur außen, sondern auch im Inneren schön war. Natürlich nicht wie beispielsweise der Kölner Dom, der richtig spektakulär war. Aber hier war Hohenborn und nicht die Millionenstadt Köln.

Hier und da saßen Menschen, verharrten in Stille, jemand zündete eine Kerze an, von denen bereits einige brannten. Das war etwas, was Inge auch sehr gern machte, aber in Gegenwart von Werner? Wohl lieber nicht!

Sie setzten sich nebeneinander auf eine der braunen altersdunk­len Holzbänke, Hand in Hand. Sie saßen ganz still, und Inge wünschte sich von ganzem Herzen, dass auch in Werner dieses Gefühl von Glück und Frieden auftauchen würde.

Inge hatte es ja zuerst nicht verstanden, doch jetzt war sie Werner dankbar, dass er darauf bestanden hatte, mit ihr in die Kirche zu gehen, die Stille zu genießen. Sie rückte ein wenig näher an ihn heran, er ließ ihre Hand los, stattdessen umfasste er liebevoll ihre Schulter, und sie lehnte sich überwältigt an ihn. So saßen sie still da. Sie mussten nicht miteinander reden, nur fühlen. Es war ein unsichtbares Band, durch das sie miteinander verbunden waren.

Für das, was in ihr war, gab es keine Steigerung. Durch die reich verzierten Buntglasfenster drangen Sonnenstrahlen in die Kirche, warfen bizarre Schatten und buntes Licht herein.

Menschen kamen und gingen, sie saßen einfach nur da, und irgendwann gab es nur noch sie und Werner. Und dann begann jemand auf der Orgel zu spielen, Johann Sebastian Bach, den sie beide verehrten. Besser ging es wirklich nicht.

Inge war gerührt, am liebsten hätte sie jetzt angefangen zu weinen, doch wegen Werner tat sie es nicht. Was sollte er denn von ihr denken, wenn sie ohne Grund in der Kirche die Tränen fließen ließ?

Sie hatte das noch nicht einmal zu Ende gedacht, als ihr bewusst wurde, dass sie wieder in alte Verhaltensmuster fiel. Sie konnte nicht erwarten, dass Werner etwas veränderte. Sie musste es ebenfalls tun und durfte nicht mehr alles unter den Teppich kehren, den Kopf in den Sand stecken oder aussitzen.

Sie wurde ein wenig unruhig, Werner nahm seinen Arm von ihrer Schulter. »Geh ruhig deine Kerze anzünden, Inge, das tust du doch immer, wenn du hier bist. Ich bleibe derweil noch hier sitzen, genieße die Orgelmusik, und ich glaube, es ist auch an der Zeit für ein kleines Dankesgebet, dafür, dass ich die Wahrheit endlich sehe, wie sie ist und nicht, wie ich sie haben will. Inge, ehe du gehst …, ich liebe dich.«

Ihr Blick sprach Bände, sie konnte jetzt einfach nichts sagen, weil sie so überwältigt war. Sie stolperte zu dem Eisengestell, auf dem man seine Kerze anzünden konnte. Nein, eine Kerze reichte nicht, sie kaufte zwei, und dann schickte sie ein kurzes Dankesgebet zum Himmel, das konnte nicht schaden. Sie fand erst wieder in die Gegenwart zurück, als eine alte Dame sich neben sie stellte, um ebenfalls eine Kerze anzuzünden. Sie nickte der Frau freundlich zu, dann trat sie beiseite, warf einen letzten Blick auf ihre beiden Kerzen. Und wenn sich nur ein einziger Wunsch erfüllte von denen, die sie sich beim Anzünden ihrer beiden Kerzen gewünscht hatte, dann würde sie dem Himmel auf ewig dankbar sein.

Sie ging zu der Kirchenbank zurück, auf der Werner saß, in sich versunken. Oder betete er gar? Unschlüssig blieb sie stehen, er hatte sie wahrgenommen, erhob sich, schenkte ihr ein Lächeln, dann nahm er sie bei der Hand, und so verließen sie die Kirche.

Draußen zog er sie ganz eng an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Danke für alles, danke dafür, dass du es so lange mit mir ausgehalten hast, danke, dass du es weiterhin tun willst.«

Dann ließ er sie los und hatte es eilig, zum Auto zu kommen. Fast wirkte er ein bisschen verlegen. Doch war das verwunderlich? Sie hatten es verlernt, sich Liebesworte ins Ohr zu flüstern, sich einfach mal eben so zu umarmen, zu streicheln, sich bei der Hand zu nehmen.

Es lag ein weiter Weg vor ihnen, doch jetzt war Inge sich plötzlich sicher, dass sie es schaffen würden, denn mit Werner war etwas geschehen. Und was immer es auch war, sie war unendlich dankbar dafür.

Sie hatte ihm auf seinen Wunsch hin sein Handy mitgebracht, und wie konnte es auch anders sein. Es klingelte. Sie konnten nur froh sein, dass das nicht schon in der Kirche so gewesen war. Aber sie konnte nicht ausschließen, dass Werner es dort drinnen ausgeschaltet hatte. Handyklingeln in einer Kirche, das ging überhaupt nicht.

Eben war alles noch so friedlich gewesen, so unglaublich schön. Doch Inges Herz begann stürmisch zu klopfen, als sie mitbekam, wer der Anrufer war. Einer von Werners Kollegen, mit denen er noch einmal so richtig durchstarten wollte.

Hatte der Alltag sie wieder eingeholt?

Begann das Spiel von vorne?

Am liebsten hätte Inge Werner jetzt das Handy aus der Hand gerissen, es irgendwo hingeschmissen. Leider ging das nicht, aber zuhören konnte sie. Der Anrufer war ein Howard, von dem Werner besonders angetan war.

Leider wusste sie ja nicht, was dieser Howard sagte, aber sie konnte sich auch so etwas zusammenreimen.

»Du konntest mich ein paar Tage nicht erreichen, Howard, weil ich verreist war und dummerweise mein Handy daheim gelassen hatte.«

Verreist! Von wegen! Warum erzählte Werner seinem Kumpel nicht die Wahrheit? Schon wollte sie etwas dazwischenrufen, als Werner wieder zuhörte, dann mit dem Kopf schüttelte, obwohl dieser Howard das doch überhaupt nicht sehen konnte, und dann sagte er etwas, was Inge kaum fassen konnte. Was für ein Glück, dass sie zuvor keine Bemerkung gemacht hatte.

»Howard, es klingt wirklich alles sehr vielversprechend, doch ich steige aus. Ihr müsst ohne mich weitermachen, und ich wünsche euch von Herzen ein gutes Gelingen.«

Wieder sagte Howard etwas, wahrscheinlich wollte er Werner umstimmen. Doch der sagte: »Weißt du, Howard, es gibt Augenblicke im Leben, da wird einem bewusst, was wirklich zählt. Ich werde nur noch Bücher schreiben, weil ich schließlich noch eine ganze Menge zu sagen habe. Ansonsten werde ich das Leben mit meiner geliebten Frau genießen. Der gegenüber habe ich nämlich ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich mich in all den Jahren zu wenig um sie gekümmert habe. Mein Lieber, denk einfach mal darüber nach, ob du nicht auch etwas gutzumachen hast. Jedes Leben ist endlich. Und ich finde, es ist ein ganz gruseliger Gedanke, sich vorzustellen, dass man am Ende seines Lebens all den verpassten Möglichkeiten nachweint. Noch haben wir die Chance, es zu richten. Es lässt sich so viel Schönes erleben miteinander, und darauf freue ich mich, darauf bin ich neugierig.«

Howard schien heftig zu widersprechen. Klar, er und die anderen Wissenschaftler wollten Werner in ihrer Runde haben, denn er war das Zugpferd.

Inge hörte gespannt zu, und eigentlich glaubte sie, wie es ausgehen würde …, wie immer. Werners guter Wille würde schwinden. Er würde vergessen, was er versprochen hatte.

Doch Inge irrte sich, und das ließ sie beinahe den Boden unter den Füßen verlieren. Damit hätte sie niemals gerechnet!

»Nein, Howard, du kannst mich mit nichts umstimmen. Meine Entscheidung steht fest. Und ich will auch nicht beteiligt werden, und ja, meine Unterlagen dürft ihr gern behalten. Aber bitte, lass uns über das alles nicht jetzt sprechen. Ich stehe nämlich auf der Straße, in der Nähe einer Kirche, deren Glocken jeden Augenblick anfangen können zu läuten. Und dann versteh ich überhaupt nichts mehr. Doch das bedeutet nicht, dass du, dass ihr, euch irgendwelche Hoffnungen machen dürft. Nichts kann mich umstimmen.«

Howard sagte etwas, Werner hörte zu, dann machte er eine Handbewegung, die sein Gesprächspartner natürlich nicht sehen konnte.

»Nein, Howard, ich habe gewiss nichts getrunken, und mein Verstand war noch nie so klar wie jetzt. Wir telefonieren demnächst wieder.«

Damit beendete er das Telefonat, und Inge war froh, dass sie dem gut hatte folgen können, weil sie perfekt Englisch sprach.

Werner steckte sein Handy weg, sagte nichts. Doch ehe sie wieder ins Auto stiegen, um die Fahrt fortzusetzen, umarmte Inge ihren Mann und sagte leise: »Danke, Werner.«

Von ihm kam keine Reaktion, und Inge bekämpfte tapfer die Gedanken, die wieder in ihr aufstiegen, weil sie unsinnig waren. Er hätte vor ihr doch nicht dieses Theater aufführen müssen. So etwas tat Werner nicht.

Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück, und Inge rief, und da hatten sie noch nicht einmal ihre Villa erreicht: »Da steht Rickys Auto.«

»Wieso? Die ist doch mit ihrer Familie im Urlaub.«

Inge schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. »Werner, kein Urlaub dauert ewig an. Gewiss ist sie bei meinen Eltern, und hoffentlich hat sie jetzt auch noch ein wenig Zeit, die sie mit uns verbringen kann.«

»Na ja, wenn man so viele Kinder hat, dann ist man schon ganz schön getrieben.«

Vielleicht hätte Inge etwas darauf erwidert, doch da kam Ricky aus dem Haus ihrer Großeltern gestürzt, rannte über die Straße, und dann entdeckte sie ihre Eltern.

Sie sah blendend aus, war braun gebrannt, schlank und dynamisch wie immer.

»Wenn das kein perfektes Timing ist«, lachte sie, »ich hätte es sehr bedauert, nach Hause fahren zu müssen, ohne euch gesehen zu haben.«

Dabei schaute sie allerdings ihre Mutter an, umarmte sie heftig: »Mama, ich habe dich sehr vermisst, es ist so schön, dich wiederzusehen.«

Danach ließ sie ihre Mutter los, wandte sich ihrem Vater zu. »Hallo, Papa«, sagte sie mit einer merklich kühler klingenden Stimme.

Werner wirkte ein wenig betroffen, und ihm wurde in diesem Augenblick wohl zum ersten Male seit vielen Jahren bewusst, dass er nicht nur vieles falsch gemacht, sondern dass er auch vieles versäumt hatte.

»Hallo, Ricky, du siehst gut erholt aus.«

»Ja, ich habe mich auch gut erholt, danke, Papa.«

Inge blickte ihre Tochter an.

»Hast du noch ein bisschen Zeit?«

»Ja, klar, die habe ich mir für den Sonnenwinkel genommen. Ich war bereits bei Rosmarie, habe mich lange mit den Großeltern unterhalten.

Was machst du denn für Sachen, Papa? Ich habe von diesem Zwischenfall erfahren. Es geht mich ja nichts an, doch ich denke, das solltest du jetzt wirklich ernst nehmen.«

»Ja, ja, das will ich auch«, war seine knappe Antwort. Ihm war anzusehen, dass er sich unbehaglich fühlte in seiner neuen Rolle, in die er sich noch nicht hineingefunden hatte.

Werner ließ es sich nicht nehmen, in der Gegenwart seiner ältesten Tochter seine Tasche persönlich ins Haus zu tragen, Ricky hatte sich bei Inge eingehakt und begann, munter zu plaudern.

Sie betraten das Haus, Werner stellte seine Tasche ab.

»Und jetzt koche ich uns erst einmal einen leckeren Kaffee«, bemerkte Inge, doch Ricky winkte ab. »Für mich bitte nicht, ich hatte bei den Großeltern genug davon bekommen. Aber die Omi hat mir gesagt, dass du einen Kuchen gebacken hast. Darauf habe ich Lust, große sogar.«

Inge konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Das hast du mit deinem Vater gemeinsam. Er liebt Kuchen ebenfalls über alles.«

Ricky lachte.

»Mama, das musst du jetzt nicht extra erwähnen? Hast du schon vergessen, dass ich in diesem Haus gelebt habe?«

Inge fiel in das Lachen mit ein, doch bei ihr wirkte es ein wenig gequält, weil sie nicht wusste, wie es derzeit bei Werner aussah. Zuletzt hatte er sich nämlich nichts mehr aus Kuchen gemacht. Doch sie konnte aufatmen, denn er rief: »Hoffentlich hast du einen Kuchen gebacken, den ich mag.«

Ricky schüttelte den Kopf, doch es war gut gemeint.

»Papa, diese Frage hättest du dir jetzt ersparen können. Mama kann gar keinen Kuchen backen, den du nicht magst. Das könnte höchstens passieren, wenn du nicht daheim bist. Da haben wir eine Chance, etwas zu bekommen, was nur wir mögen.«

Sie begaben sich in die gemütliche Wohnküche, den Lebensmittelpunkt der Auerbachs. Ein wenig verloren wirkten sie schon an dem großen Familientisch, kein Wunder, denn es fehlten Jörg, Hannes und das Nesthäkchen Pamela.

Natürlich wollte Inge sofort alles über den Urlaub wissen, doch Ricky winkte ab.

»Mama, wir müssen uns nicht beeilen. Fabian ist mit den Großen in einen Centerpark gefahren, und dort werden sie auch übernachten.«

Werner konnte sich nicht ­verkneifen zu erwähnen: »Aber ihr hattet doch gerade erst Urlaub.«

Ricky nickte.

»Das ist richtig, Papa. Doch dieser Centerpark steht schon seit Langem auf der Wunschliste der Kinder, und deswegen hat Fabian sich entschlossen, mit ihnen zu fahren, damit die Quengelei endlich aufhört. Ich glaube aber, dass er selbst auch Spaß daran hat. Und so kann er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«

»Und die kleine Teresa?«, wollte Inge wissen, und ihre Stimme klang besorgt.

»Mama, entspann dich, um Teresa Sonnenschein musst du dir keine Sorgen machen. Die ist bei Oma Holper sehr gut aufgehoben. Teresa ist gern bei ihr, und Oma Holper ist überglücklich, wenn sie die Kleine mal ganz für sich allein haben kann.«

Inge konnte es nicht lassen, ein wenig neugierig war sie schon, und deswegen erkundigte sie sich: »Waren die Kinder nicht traurig, dass die Großeltern vorab nach Hause gefahren sind?«

Das bestätigte Ricky sofort.

»Und ob, sie wurden ja auch grenzenlos verwöhnt. Dieser gemeinsame Urlaub war wirklich sehr schön und harmonisch, und es hat mich für Fabian gefreut, dass er sich mit seinen Eltern jetzt noch mehr ausgesöhnt hat. Besonders mit seinem Vater, mit Rosmarie lief es vor dem Urlaub ja schon recht gut.«

Der neue Sonnenwinkel 70 – Familienroman

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