Читать книгу Die junge Gräfin 22 – Adelsroman - Michaela Dornberg - Страница 3
Оглавление»Du bist verrückt«, murmelte Alexandra leise vor sich hin, »total verrückt.«
Sie warf einen Blick in den Rückspiegel.
Der schwarze Sportwagen folgte ihr in immer gleichbleibenden Abstand, ob sie nun beschleunigte oder vom Gas herunterging.
Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
Schön, der Fahrer dieses Wagens hatte ihr die Vorfahrt genommen. Es wäre beinahe zu einem Frontalzusammenstoß gekommen.
Beinahe.
Ihr war nichts passiert, an ihrem Auto war kein Schaden entstanden, es hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen, und bei diesem Fremden verhielt es sich ebenso.
Fahrer und Auto waren nichts passiert.
Sie hätten sich zunicken können, wären normalerweise in ihre Fahrzeuge gestiegen und weitergefahren. Sie hätte vielleicht rasch ein Gebet zum Himmel geschickt und sich dafür bedankt, dass ihr nichts geschehen war.
Warum, zum Teufel, hatte sie seine Einladung angenommen, mit ihm einen Kaffee zu trinken?
Weil er so unverschämt gut aussah?
Weil er nicht nur eine gewinnende Art, sondern wunderschöne Augen hatte, an deren Farbe sie sich nicht einmal mehr erinnern konnte.
Waren Sie grau gewesen? Oder blau? Braun auf keinen Fall, das wusste sie genau.
Wie auch immer, ob grün, schwarz, weiß oder kariert. Warum zerbrach sie sich eigentlich den Kopf deswegen?
Er war ein Fremder, und das sollte er für sie auch bleiben. Wenn sie sich von jeder Zufallsbekanntschaft gleich zum Kaffee einladen lassen würde, verbrächte sie die meiste Zeit ihres Lebens in Caféhäusern.
Aus diesen Gedanken heraus gab sie Gas, der schwere Geländewagen schoss nach vorn.
Alexandra brauchte nicht in den Rückspiegel zu schauen um zu wissen, dass der schwarze Sportwagen ihr folgte.
Also wieder runter vom Gas!
Sie hatte diesem fremden Mann versprochen, mit ihm einen Kaffee zu trinken, und ebenso hatte sie versprochen, sich nicht einfach aus dem Staub zu machen.
Was also sollten diese törichten Fluchtversuche?
Eine Waldenburg stand zu ihrem Wort.
Und im Übrigen, dieser Fremde gefiel ihr doch, sie fand ihn interessant, also würde sie die Stunde gemeinsam mit ihm schon überstehen, und danach würden sie sich die Hände schütteln und dann …, aus den Augen, aus dem Sinn.
Als sie sich entschlossen hatte nach dieser anstrengenden geschäftlichen Verhandlung nach Kaimburg zu fahren und dort einfach ein bisschen abzuhängen, durch die Fußgängerzone zu schlendern, in die Buchhandlung zu gehen, sich vielleicht auch etwas zu kaufen, hätte sie nicht im Traum daran gedacht, unterwegs unter außergewöhnlichen Umständen auch noch einen Mann kennen zu lernen.
Sie lächelte.
Frauen machten die unmöglichsten Anstrengungen, um an einen Partner zu kommen. Sie gaben Heiratsanzeigen auf, antworteten auf welche, surften im Internet auf den entsprechenden Partnerbörsen, ließen sich auf ein Speed-Dating ein.
Wenn es denn so sein sollte, lernte man Männer, Frauen aber auch im Supermarkt kennen oder, so wie in ihrem Fall, auf einer Landstraße.
Halt!
Wohin verirrten sich ihre Gedanken denn da?
Sie wollte doch überhaupt niemanden kennen lernen, und der Begegnung mit diesem Mann würde keine weitere folgen.
Sie wollte es auf keinen Fall. Sie leckte noch ihre Wunden wegen der Niederlagen mit Joe und Mike.
Außerdem …
Sie stellte nur Überlegungen an über das, was sie wollte oder nicht wollte.
Da gab es ja noch eine zweite Person in diesem Spiel, diesen Fremden, der gar nichts von ihr wollte, außer sein schlechtes Gewissen zu beruhigen und deswegen nett und höflich zu sein.
Schließlich war er bei diesem Beinahe-Zusammenstoß der Schuldige gewesen, weil er wie ein Besessener auf die Kreuzung zugerast war und es nur ihrer Geistesgegenwart und ihrem schweren Geländewagen zu verdanken gewesen war, dass nichts passiert war.
Sie hatten die Stadtgrenze von Kaimburg erreicht.
Alexandra beschloss, nicht mehr in den Rückspiegel zu sehen und sich auch nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen über ein wie, was, warum.
Eine Stunde!, sagte sie sich, eine Stunde würde sie ihm geben. Danach hatte sie noch hinreichend Zeit, ihren ursprünglichen Plan durchzuführen, und einen Kaffee hätte sie eh irgendwo getrunken.
Sie schaffte es gerade noch, bei Gelb über eine Ampel zu fahren.
Eigentlich eine Chance, ihn jetzt abzuhängen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Dieser Gedanke geisterte nur eine Sekunde durch ihren Kopf.
Nein!
Sie wollte nicht gemein sein, also fuhr sie rechts ran und wartete brav so lange bis die Ampel wieder auf grün umschlug, dann fuhr sie an. Er war wieder hinter ihr und schenkte ihr, das konnte sie erkennen, ein hinreißendes Lächeln.
Alexandra spürte, dass sie rot wurde. Sie ärgerte sich deswegen, war aber insgeheim froh, dass er das zum Glück nicht sah. Wer weiß, was er sich sonst noch darauf eingebildet hätte.
Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie ihr Ziel. Vor dem Café gab es genügend Parkplätze.
Alexandra suchte sich einen, stieg aus, und da war er auch schon an ihrer Seite.
»Zwei-, dreimal haben Sie darüber nachgedacht mich abzuhängen«, bemerkte er lachend. »Danke, dass Sie es nicht getan haben. Ich wäre wirklich untröstlich gewesen.«
Wie peinlich, dass ihm das aufgefallen war. Alexandra gab ihm darauf besser keine Antwort, denn sonst hätte sie es zugeben müssen.
Gemeinsam gingen sie auf das Café zu, ehe sie es betraten, warf Alexandra ihm einen verstohlenen Blick zu. Seine Augen waren grau-blau.
Höflich hielt er ihr die Tür auf.
Es waren nur wenige Gäste da, was Alexandra wunderte, denn normalerweise war es hier immer voll.
Sie hatten freie Platzwahl, und Alexandra hätte sich sofort für einen Fensterplatz entschieden. Der Fremde aber deutete auf einen Tisch neben einem alten Kamin, in dem allerdings kein Feuer brannte, sondern, wahrscheinlich mehr zur Dekoration, mächtige Buchenscheite aufgestapelt waren.
»Sollen wir uns dorthin setzen?«, erkundigte er sich höflich.
Diesen Platz hätte Alexandra niemals ausgesucht, aber deswegen einen Aufstand machen? Wegen einer Stunde?
Sie folgte ihm durch den Raum zu dem Tisch am Kamin, ließ sich den Stuhl zurechtrücken.
Höflich war er, dachte sie, denn welcher junge Mann machte das heutzutage noch? Einer Frau den Stuhl zurechtrücken.
Er setzte sich ihr gegenüber, schaute sie mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck an, der sie irritierte. Hoffentlich lief sie jetzt nicht rot an wie eine überreife Tomate! Um das zu verhindern sagte sie rasch: »Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen.«
Er zuckte zusammen.
»Oh, bitte entschuldigen Sie, Alexandra. Sie verwirren mich so sehr, dass ich sogar die elementarsten Höflichkeitsformen vergesse. Hendrik«, stellte er sich vor, »Hendrik Hoorgen, und ich komme aus …«
Sie winkte ab und hinderte ihn am Weitersprechen.
»Danke, Ihr Name reicht mir, ich möchte nicht Ihren Lebenslauf hören.«
Dieser Satz war dumm, aber sie konnte ihn jetzt nicht mehr zurücknehmen. Hoffentlich blieb es bei diesem einen Fauxpas. Verflixt noch mal! Perfekte Umgangsformen hatte sie praktisch mit der Muttermilch eingesogen, und nun benahm sie sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, und das nur, weil dieser Mann sie irritierte.
Er nahm ihr ihre Worte nicht krumm, sondern lächelte auf sehr gewinnende Weise! Auch das noch!
»Den wollte ich Ihnen eigentlich auch nicht erzählen, es würde Sie langweilen, es gibt in meinem Leben nichts Spannendes …, vielleicht wollen Sie es ja ein andermal hören, Alexandra. Jetzt bin ich erst einmal überglücklich, dass Sie mir nicht böse sind und dass Sie mir hier gegenübersitzen.«
Das – genießen Sie es, denn es wird das einzige Mal sein, verkniff sie sich, denn in diesem Augenblick trat der Ober an ihren Tisch, ein junger Mann, der mit seinem weißen Hemd, seiner schwarzen Hose und der langen schwarzen Schürze, in die mit weiß sehr dezent, aber gut lesbar in Schreibschrift das Wort ›Rathauscafé‹ eingestickt war, sehr cool aussah.
Hendrik Hoorgen blickte sie fragend an, Alexandra wandte sich jedoch dem Ober zu und sagte: »Ich hätte gern einen Cappuccino.«
Hendrik nickte.
»Den nehme ich auch.«
Auf die Frage, ob mit Sahne oder aufgeschäumter Milch, riefen beide wie aus einem Mund: »Milch.«
Sie sahen sich an, prusteten los.
»Wie wunderbar«, sagte er charmant, »eine Übereinstimmung gibt es zwischen uns schon mal.«
Sie ging auf seinen launigen Ton ein.
»Das ist aber nicht unbedingt etwas, was weltbewegend ist, Cappuccino wird normalerweise mit aufgeschäumter Milch getrunken, das mit der Sahne ist, glaube ich, nur etwas, was sich bei uns eingebürgert hat.«
Er zuckte die Achseln, lächelte Alexandra an, dass ihr abwechselnd heiß und kalt wurde.
»Ist das wichtig?«, erkundigte er sich. »Ich fände es viel Spannender, etwas über Sie zu erfahren. Wohnen Sie in Kaimburg?«
»Ah …, nicht direkt. In der näheren Umgebung«, antwortete sie. »Über mich gibt es auch nicht viel zu erzählen. Ich denke der Alltag eines jeden Normalbürgers ist nicht spannend.«
»Das sehe ich aber nicht so. Ich finde, man kann jeder Stunde seines Lebens etwas Schönes abgewinnen, kann aus jeder Situation das Beste machen.«
»Nach dieser Devise leben Sie?«, wollte Alexandra wissen.
Er nickte.
»Ja, absolut, denn wenn es nicht so wäre, dann säßen wir vermutlich jetzt auch nicht hier, oder?«
Er hatte recht!
Da da draußen auf der Landstraße nichts passiert war, wäre sie weitergefahren und hätte ihn vermutlich jetzt bereits vergessen. Oder hätte sie, während sie die Fußgängerzone entlangbummelte, an ihn gedacht?
»Stimmt, Sie haben recht«, gab sie zu.
Weitere Worte blieben ihr erspart, denn in diesem Augenblick wurde der Cappuccino serviert, in bauchigen weißen Tassen, wie es sich gehörte, mit einer dicken Schaumkrone darauf.
Hmmm …
Herrlich …
Alexandra machte es sich bequem, wollte nach ihrer Tasse greifen, doch dabei stieß sie versehentlich an den neben ihr stehenden Stuhl, auf dem ihre Tasche stand, die fiel zu Boden, sprang auf, ein Teil des Inhalts ergoss sich auf das altersdunkle Parkett.
Ehe sie reagieren konnte, war Hendrik Hoorgen bereits aufgesprungen und machte sich daran, alles wieder in die Tasche zu räumen.
Bei einem Blatt Papier hielt er inne, warf einen Blick darauf.
Alexandra hatte die Seite aus einem Bücherjournal herausgerissen, weil da Bücher besprochen wurden, die sie interessierten und die sie sich einmal näher anschauen wollte.
Er tippte auf das Blatt.
»Diese irische Familiensaga ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite und auch in einer wunderschönen Sprache geschrieben, der Agententhriller ist auch nicht schlecht, aber diesen Roman hier«, er deutete auf ein Foto, das ein kleines weißes Haus zeigte, das sich in grüne Hügel schmiegte, »den können Sie vergessen. Ich weiß nicht, warum er so hochgejubelt wurde. Die Story ist äußerst mager, und ich finde ihn richtig hingehauen, die früheren Bücher waren nicht schlecht. Aber das hier ist eine Zumutung, schade um die dreißig Euro.«
»Sie lesen gern?«, erkundigte Alexandra sich interessiert.
»Ja, und ich kann nicht genug davon bekommen«, er legte auch das Papier in die Tasche, stellte sie sorgsam zurück auf den Stuhl und setzte sich, »ich wäre am liebsten Bibliothekar geworden oder Buchhändler, na ja, am allerliebsten natürlich Schriftsteller, wer will das nicht? Leider reicht meine Fantasie dazu nicht aus. Aber ob etwas gut geschrieben ist oder nicht, ein solches Urteil traue ich mir zu.«
»Ich lese auch für mein Leben gern«, gab Alexandra zu, binnen kürzester Zeit entwickelte sich zwischen ihnen ein interessantes Gespräch.
Dieser Hendrik Hoorgen verstand wirklich eine ganze Menge von Büchern, und er war auf jeden Fall belesener als sie.
Diesem einen Cappuccino folgte ein zweiter, auch noch ein dritter. Aber irgendwann sah Alexandra auf die Uhr.
Du liebe Güte!
Jetzt hatten sie sich aber mehr als verplaudert. Von wegen maximal eine Stunde! Diese Zeitvorgabe, die sie sich gesetzt hatte, war aber bei Weitem überschritten.
Ihren Bummel durch die Fußgängerzone konnte sie vergessen, doch darum war sie nicht traurig.
Das Gespräch mit diesem Mann war auf jeden Fall interessanter gewesen. Aber sie hatte für den Abend noch eine Verabredung.
»Tut mir leid, ich muss jetzt aufbrechen«, sagte sie und winkte den Ober herbei.
Bedauernd blickte er sie an.
»Ist das Ihr Ernst?«
Alexandra nickte.
»Ja, ich habe heute noch eine Verabredung.«
»Dann können wir uns ein andermal sehen?«
Sie zögerte, was ihn veranlasste fortzufahren: »Oder wenigstens telefonieren. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, und vielleicht verraten Sie mir auch Ihren vollständigen Namen?«
Wozu, dachte sie. Der Fremde gefiel ihr, ganz ohne Zweifel, aber sie hatte keine Lust auf neue Verwicklungen. Sie war einfach noch nicht bereit für Dates mit Männern.
Mit diesem Mann hier würde sie wieder in etwas hineinschlittern.
Nein!
Keine neue Baustelle!
Sie lächelte ihn charmant an.
»Sie wollten als Wiedergutmachung für den Beinahe-Zusammenstoß mit mir einen Kaffee trinken …, daraus wurden drei Cappuccino, daraus wurde ein stundenlanges Gespräch. Damit soll es gut sein.«
Sie griff nach ihrer Tasche, wollte daraus ihren Geldbeutel nehmen, weil der Ober sich diskret ihrem Tisch genähert hatte.
»Nein, nein«, wehrte Hendrik Hoorgen sofort ab. »Schon vergessen? Es sollte eine Einladung sein.«
Sie wollte jetzt keinen Aufstand machen, die drei Cappuccino würden ihn nicht arm machen. Er sah nicht so aus wie jemand, der den Euro dreimal umdrehen musste.
Also ließ sie ihn bezahlen, und nachdem das erledigt war, stand sie auf.
Er erhob sich ebenfalls.
Gemeinsam gingen sie hinaus zum Parkplatz, er brachte sie zu ihrem Auto.
»Wollen Sie es sich nicht doch noch mal überlegen und einem weiteren Treffen zustimmen? Oder, bitte, geben Sie mir Ihre Telefonnummer.«
Sie zögerte.
Aber dann siegte ihr Verstand. Einem Treffen würde ein weiteres folgen, ein Telefonat dem nächsten, und …, prompt hing sie wieder in etwas drin.
Er war klug, charmant, belesen. Alles Eigenschaften, die sie an einem Mann schätzte, und er sah wirklich verdammt gut aus.
Keine Komplikationen, Alexandra. Du knabberst noch an der Trennung von Mike, und Joe, den liebst du, wirst ihn immer lieben, obschon es aussichtslos ist, weil er zu dieser grässlichen Benita gehört.
»Nein, bitte, drängen Sie nicht weiter. Ich bleibe bei meinem Entschluss. Das Gespräch mit Ihnen habe ich sehr genossen, Hendrik. Aber jetzt gehen wir wieder unserer Wege.«
Er kramte in seiner Jackentasche herum, brachte eine Visitenkarte zum Vorschein, die er ihr in die Hand drückte.
»Falls Sie es sich doch noch anders überlegen«, bemerkte er, »ich würde mich über Ihren Anruf freuen, Alexandra …, sehr sogar.«
Sie starrte auf die Visitenkarte. Reflexartig griff sie nach seiner rechten Hand, drückte die Visistenkarte hinein, als sei sie nicht aus feinstem Bütten, sondern ein Stück glühender Kohle.
»Nein«, rief sie, schob ihn beiseite, stieg in ihr Auto und startete den Motor, was ihr erst beim zweiten Male gelang.
Sie setzte zurück, wäre beinahe mit einem Auto zusammengestoßen, das Richtung Ausfahrt fuhr.
Im Rückspiegel sah sie, wie Hendrik Hoorgen abwechselnd auf die Visitenkarte in seiner Hand starrte und zu ihr hin. Er war mehr als nur irritiert. Das konnte man sehen.
Welch schlechter Abgang von mir, dachte Alexandra. Sie war zerknirscht, denn sie hatte sich unmöglich benommen.
Warum hatte sie denn die Visitenkarte nicht angenommen, sondern ihm zurückgegeben? Mit der Annahme bestand keine Verpflichtung zu irgendetwas. Sie hätte sie schon unterwegs entsorgen können.
Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie aussteigen und sich bei ihm entschuldigen sollte. Doch es waren noch weitere Autos hinter ihr, die sie sonst blockiert hätte. Also fuhr sie weiter.
Sie würde diesen Hendrik Hoorgen eh nie wiedersehen. Sie war sich sicher, dass er nicht in Kaimburg wohnte, denn sonst hätte sie ihn irgendwann schon mal gesehen. Er wäre ihr ganz bestimmt aufgefallen. Dermaßen gut aussehende Männer liefen hier nicht scharenweise herum.
Sie beeilte sich wegzukommen und fuhr deswegen schneller als erlaubt. Erst als sie sich auf der Landstraße befand, die nach Waldenburg führte, entspannte sie sich.
Dumm gelaufen!
Was war bloß in sie gefahren, sich zu benehmen wie ein pubertäres Mädchen, das noch ungeschickt ist im Umgang mit männlichen Wesen.
Verflixt noch mal!
Sie war cool im Umgang mit ausgebufften Bankmanagern, und in der Nähe eines charmanten, gut aussehenden Mannes bekam sie weiche Knie?
Nein, dachte sie, so war es nicht!
Er hatte ihr gefallen, sie hatten sich fantastisch unterhalten, und sie war souverän gewesen, na ja, bis zu dem Moment …
Nein!
Sie wollte sich darüber nun wirklich nicht länger den Kopf zerbrechen.
Ihre Entscheidung war richtig gewesen, sie hatte sich nur ein wenig geschickter, höflicher verhalten sollen.
Das mit der Visitenkarte war nun wirklich kein Glanzstück gewesen. Sie hatte ihn brüskiert, dabei konnte er nun wirklich nichts dafür, dass sie in Bezug auf Männerbekanntschaften derzeit verhaltensgestört war.
Mit Mike, dem feschen Piloten, das würde sie irgendwann vergessen, es als eine schöne Zeit in Erinnerung behalten.
Aber Joe?
Sie sagte es sich immer wieder, dass es töricht war, an ihm festzuhalten. Sie kannte ihn kaum, er war anderweitig gebunden, dennoch.
Dieser kurze Augenblick der Seligkeit, dieses ineinander Verschmelzen von Herz und Seele.
So etwas hatte Alexandra noch niemals zuvor erlebt, und sie wusste, dass sie es mit einem anderen Mann auch nicht mehr erleben würde. Man konnte Lieben finden, mehrere in seinem Leben haben, große oder kleine. Doch einen Seelenpartner, den fand man nur einmal.
Sollte das bedeuten, dass sie durch ihr weiteres Leben allein marschieren sollte? Ohne einen Mann an ihrer Seite?
Alexandra schlug mit ihrer rechten Hand auf ihr Lenkrad.
Warum konnte sie alles meistern, nur nicht ihr Privatleben auf die richtige Spur bringen?
Was wollte sie eigentlich?
Sich weiter an diesen Strohhalm klammern, Joe könne sich von Benita von Ahnenfeld trennen? Er könne sie, Alexandra, nicht vergessen und ziehe deswegen in Erwägung, seinen Vertrag in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu verlängern? Was bildete sie sich eigentlich ein? Wenn er es wirklich tun würde, dann nicht ihretwegen, auch nicht wegen seiner Verlobten Benita, sondern einzig und allein aus dem Grund, weil man ihm großartige Konditionen angeboten hätte und er blöd wäre, das auszuschlagen. Wenn sie Raucherin wäre, würde sie jetzt eine Zigarette rauchen, wenn Alkohol ein Tröster für sie wäre, würde sie jetzt einen Cognac oder etwas Ähnliches, Hochprozentiges trinken. Sie hatte nichts als ihre wild durcheinanderwirbelnden Gedanken, die sie beinahe verrückt machten und denen sie kaum Einhalt gebieten konnte. Das musste anders werden! Sie musste Joe vergessen, für immer, und deswegen war es mehr als töricht gewesen, das Treffen mit diesem Hendrik Hoorgen auszuschlagen. Er hätte sie auf andere Gedanken gebracht, ganz gewiss. Und wer weiß, vielleicht hätte sie sich ja auch in ihn verliebt.
Mit einer neuen Liebe konnte man sehr gut den Schmerz um eine verlorene Liebe überdecken. Zu spät … Alexandra war froh, von der Landstraße auf die Zufahrt zu Schloss Waldenburg einbiegen zu können. Dieses Glücksgefühl, das sie jedes Mal dabei empfand, das war ihr wenigstens geblieben.
*
Alexandra überlegte kurz, ob sie ihren Wagen in die Remise bringen oder ihn einfach vor dem Eingang zum Schloss stehen lassen sollte, als die schwere Holztür, reich verziert mit eisernen Ornamenten, aufgestoßen wurde.
Man musste ihr Kommen beobachtet, wie sich später herausstellte, sogar herbeigesehnt haben, denn Fanny, eines der Hausmädchen, kam eilig die Treppe heruntergestürmt, winkte ihr zu.
Das Auto also nicht wegbringen, dachte Alexandra, was nicht einmal unvernünftig war, denn sie würde abends ja noch einmal wegfahren, vielleicht wegfahren, korrigierte sie sich sofort, denn Alexandra wusste noch immer nicht so genau, ob sie zu der Vernissage gehen sollte, zu der Olaf Christensen eingeladen hatte. Der Künstler interessierte sie zwar, aber sie grollte Marion noch immer ein wenig, weil die so Knall auf Fall zu Olaf gezogen war nach Michelles Entführung.
»Frau von Waldenburg«, rief Fanny und gestikulierte wild herum. »Frau von Waldenburg.«
Alexandra stieg aus.
»Du liebe Güte, Fanny«, lachte sie, »was ist los? Sie sind ja ganz aufgeregt.«
Fanny schnappte nach Luft.
»Es wartet jemand auf Sie«, rief sie schließlich, »schon eine ganze Weile, und er will erst wieder gehen, wenn er mit Ihnen gesprochen hat. Ich habe ihn in den Gelben Salon gesetzt und ihm auch etwas zu trinken angeboten, aber erst nach einer Stunde.«
»Das ist in Ordnung, Fanny«, sagte Alexandra, »aber können Sie mir vielleicht verraten, wer der Besucher ist?«
Fanny wurde rot.
»Entschuldigung, Frau von Waldenburg, das habe ich ganz vergessen …, ich mein, Ihnen sofort den Namen zu sagen.«
»Fanny, es ist kein Beinbruch, also, wie heißt der Besucher?«
»Es ist ein Herr von Beyen, solange ich hier auf dem Schloss arbeite, habe ich ihn noch nicht gesehen.«
Alexandra glaubte, sich verhört zu haben.
»Von Beyen?«, wiederholte sie. »Enno von Beyen?«
Fanny zuckte die Achseln.
»Seinen Vornamen hat er nicht genannt, aber von Beyen heißt der Herr, das ist sicher.« Sie beugte sich ein wenig vor. »Frau von Waldenburg. Er ist ziemlich ungehalten.«
Enno von Beyen?
Was wollte er von ihr? Und weswegen war er ungehalten? Weil sie keine seiner Einladungen annahm? Das konnte der Grund nicht sein.
»Danke, Fanny«, sagte sie, dann ging sie ins Schloss hinein, steuerte direkt auf den Gelben Salon zu, wo sich der Besucher aus seinem Sessel erhob.
Es war Enno von Beyen!
»Hallo, Enno, das ist eine Überraschung«, rief Alexandra, »du hättest dich anmelden können, dann wäre dir eine lange Wartezeit erspart geblieben.«
Er ging auf ihren unverbindlichen Plauderton nicht ein, begrüßte sie auch gar nicht erst, sondern polterte direkt los: »Alexandra, wie kannst du es wagen, mich zu verunglimpfen.«
Irritiert blickte sie ihn an.
Wie war Enno denn drauf?
»Dich verunglimpfen?«, wiederholte sie seine Worte. »Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du damit meinst. Kannst du dich klarer ausdrücken? Und am besten setzt du dich wieder.«
Sie nahm auf einem Sessel Platz, er stand aber weiter da, baute sich jetzt vor ihr auf.
»Als wenn du nicht wüsstest, worum es geht«, seine Stimme war laut. »Was hast du eigentlich deiner Schwester Sabrina für einen Quatsch über mich erzählt?«
Ach, darum ging es!
Jetzt wusste Alexandra Bescheid!
»Enno, setz dich erst mal«, forderte sie ihn auf, »es beeindruckt mich nicht, wenn du wie ein Racheengel vor mir stehst. Es ist nur ungesellig.«
Er folgte ihrer Aufforderung, setzte sich wieder.
»Und?«, er sah sie herausfordernd an.
»Ja, es stimmt, dass ich Sabrina etwas erzählt habe. Aber das war kein Quatsch, mein Lieber. Ich wurde ganz unfreiwillig und zufällig Zeugin eines Gesprächs, in dem es um eine Hypothek für Schloss Beyen ging …, eine Hypothek, die meine Bank dir, wie mehrere Banken zuvor, nicht geben will. Das habe ich Sabrina im Vertrauen erzählt, mit der Bitte, mit niemandem darüber zu sprechen, nur mit dir. Ich habe sie sogar gebeten, dir ins Gewissen zu reden. Dein Verhalten ist doch nicht normal, es ist unverantwortlich. Menschenskind, Enno, deine Eltern haben dir ein beachtliches Vermögen hinterlassen, das du mit vollen Händen für Feste, rauschende Bälle und spektakuläre Events ausgegeben hast.«
»Ich kann mit meinem Geld machen was ich will«, bemerkte Enno mit trotzig klingender Stimme.
In diesem Augenblick kam er ihr vor wie ein unmündiger Knabe, und so benahm er sich auch.
»Klar, kannst du das, Enno«, erwiderte Alexandra. »Und eigentlich kann es mir auch vollkommen wurscht sein. Aber ich mag dich, und ich bin voller Sorge, denn wenn du so weitermachst wie bisher, dann wird dir bald nichts mehr gehören, dann kommt auch Schloss Beyen unter den Hammer … Enno, wenn deine Eltern das wüssten, die würden sich im Grabe herumdrehen, und all deine sogenannten Freunde«, Alexandra blickte ihn ernst an, ehe sie mit beschwörend klingender Stimme fortfuhr: »Enno, die werden dich verlassen wie die Ratten das sinkende Schiff. Von denen wird dir keiner mehr bleiben.«
Er blickte geflissentlich nach draußen.
»Aber ich habe wenigstens Spaß gehabt.«
Welch törichte Antwort!
Am liebsten wäre Alexandra aufgestanden, zu ihm gegangen, und hätte ihn kräftig geschüttelt.
»Man kann auch Spaß haben, ohne dafür ein Vermögen ausgeben zu müssen …, in erster Linie, mein lieber Enno, bist du der letzte Spross eines alten Adelsgeschlechts. Die Freiherren von Beyen waren stets untadelig, sie haben das Erbe für die nächste Generation bewahrt. Schloss Beyen war immer eure Heimat. Das Vermögen hast du verprasst. Willst du jetzt auch noch das Schloss aufs Spiel setzen, nur um rote, grüne, blaue oder weiße Feste feiern zu können? Enno, halte inne, besinn dich, fange endlich an Verantwortung zu übernehmen.«
Nach diesen beschwörenden Worten war es eine Weile still.
Enno war es, der zu sprechen begann: »War es das?«, wollte er wissen. »Bist du fertig, Frau Lehrerin?«
Warum ereiferte sie sich eigentlich?
Um sich dann ein solches pubertäres Gefasel anzuhören?
»Ja, Enno, ich bin fertig. Entschuldige, dass ich überhaupt etwas gesagt habe.«
»Mein Gott, nun spiel doch jetzt nicht gleich die beleidigte Leberwurst.«
Darauf antwortete Alexandra ihm nicht. Was sollte sie dazu auch sagen?
Enno von Beyen lenkte ein.
»Tut mir leid, Alexandra, das hätte ich jetzt wohl nicht sagen sollen.«
»Okay, Enno, sind wir quitt. Ich hätte dir auch keine Vorhaltungen machen dürfen. Es geht mich nichts an, was du mit deinem Leben machst.«
»Ist ja lieb, dass du dir meinetwegen Gedanken machst, Alexandra. Aber es kann nicht jeder so sein wie du, immer voller Verantwortung, immer auf den guten Ruf der Waldenburgs bedacht. Kommst du deswegen nicht zu meinen Festen, weil es da immer hoch hergeht und die meisten meiner Gäste mit dem Adel nichts am Hut haben?«
»Ja, der gute Ruf meiner Familie ist mir sehr wichtig, aber ich glaube nicht, dass er auf deinen Festen Schaden nehmen würde. Es ist einfach nur so, dass ich mir aus solchen Events nichts mache, über die in allen Glanzzeitschriften geschrieben wird, weil sie so gigantisch waren und weil alles dabei war, was zu der sogenannten Society zählt. Weißt du, da mache ich lieber einen Waldspaziergang oder reite mit meinem Pferd aus. Das gibt mir etwas …«
»Du kannst dich auf Waldenburg aber auch nicht abkapseln, meine Liebe. Das Leben vergeht viel zu schnell, und irgendwann fragst du dich, ob das alles gewesen ist und trauerst all den wundervollen nicht gelebten Gelegenheiten nach.«
Jetzt musste Alexandra lachen.
»Also, lieber Enno, mach dir mal um mich keine Sorgen. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, und das Tanzbein kann ich auf den zahlreichen Veranstaltungen schwingen, zu denen ich verpflichtet bin zu gehen, als Gräfin Waldenburg.«
»Das kannst du ja wohl nicht mit dem vergleichen was ich veranstalte.«
»Nein, aber das genügt mir, ich bewege mich in den Kreisen, in denen es dezent zugeht und wo keine Fotografen zugelassen sind.«
»Und wo es spießig und langweilig ist. Ich weiß doch, wie es da zugeht, denn ich musste meine Eltern immer begleiten und konnte mir die Baronessen, Komtessen, Freierinnen, mit denen man mich bei diesen Gelegenheiten verkuppeln wollte, gar nicht schön genug trinken.«
»Und bei den Starletts, Models und Filmsternchen musst du das nicht?«
Er lachte.
»Na, die sind lockerer, attraktiver, und sie vergöttern mich wegen meines Namens und des Schlosses, das ich bewohne.«
»Noch, Enno, noch bewohnst du es.«
Er stand auf.
»Weißt du, Alexandra, so prickelnd ist es nun auch wieder nicht, in einem so alten Kasten zu wohnen. Der Unterhalt verschlingt ein Vermögen, und andauernd ist etwas kaputt …, du siehst ja, nicht einmal die Banken wollen Kohle dafür herausrücken.«
»Ich glaube, mein lieber Enno, das hat nichts mit dem Schloss zu tun, das würden die Banken gewiss beleihen. Sie machen sich wohl eher Sorgen darum, dass du die Hypothekenraten nicht bezahlen kannst. Wovon auch? Banken sind da sehr penibel, und wie ich aus dem wirklich unfreiwillig mitgehörten Gespräch entnehmen konnte, hast du keine regelmäßigen Einnahmen.«
»Ich werde die Kerle verklagen wegen Verletzung des Bankgeheimnisses«, begehrte er auf.
»Enno, dreh jetzt keinen Film daraus. Die Herren wähnten sich ungestört, und das wären sie ja auch gewesen, wenn nicht dummerweise jemand die Lautsprecheranlage nicht ausgeschaltet hätte. So etwas kann doch mal passieren. Außer mir hat es niemand gehört, und ich werde ganz bestimmt nicht mit meinem Wissen hausieren gehen. Vielleicht musste ich es ja mithören, Enno, um dich zu bitten, über deinen Lebenswandel nachzudenken. Ich meine es ehrlich mit dir, weil ich dich mag. Enno, du hast dich doch wohl jetzt genug ausgetobt, mache um deiner Familie willen eine Kehrtwendung …, bitte, Enno.«
Er zögerte.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte er schließlich.
Alexandra wollte ihn sofort festnageln.
»Versprochen, Enno?«
Wieder ein Zögern.
»Du kannst ganz schön nerven«, bemerkte er schließlich, »also gut, versprochen.«
Alexandra konnte nicht anders, sie sprang auf, machte ein paar Schritte auf ihn zu und umarmte ihn herzlich.
»Danke, Enno«, flüsterte sie ihm ins Ohr, als habe er ihr ein besonders schönes Geschenk gemacht. Dabei war sie doch bemüht, ihm zu helfen. Den Dank schuldete er eigentlich ihr, aber das sah er wohl nicht so.
»Tja, dann will ich mal wieder«, sagte er, machte sich aus ihrer Umarmung los. »Entschuldige, dass ich hier so hereingeplatzt bin …, ich mein, ganz so ohne Voranmeldung.«
Wie hatte er das jetzt gemeint? Ehrlich? Ironisch?
»Ist schon okay, Enno. Wir haben, so hoffe ich, jetzt alle Unstimmigkeiten ausgeräumt. Willst du nicht noch ein wenig bleiben? Meinethalben auch zum essen.«
Er winkte ab.
»Nö, lass mal gut sein, ich habe noch einen Termin, und heute Abend habe ich noch eine wichtige Verabredung …, spring mal über deinen Schatten und nimm mal eine Einladung von mir an, Alexandra. Frag Sabrina, meine Feste sind immer ein Erlebnis der besonderen Art.«
»Danke, Enno, ich werde dich gern mal auf Beyen besuchen, schon allein wegen eurer herrlichen Pferde. Aber die Feste feiere mit anderen. Ich weiß, dass Sabrina sich immer amüsiert. Aber ich bin da anders als meine Schwester. Ich teile auch nicht ihre Leidenschaft für die Jagd. So ist jeder Mensch eben anders und hat andere Ambitionen.«
Da er nicht sofort etwas sagte, fuhr sie fort: »Du, Enno, mit dem Besuch meine ich es wirklich ernst.«
»Ich …, äh …, nun, ich würde mich freuen, Alexandra, aber …, nun, wenn, dann musst du wohl meinetwegen kommen. Ich …, ich habe alle Pferde …, nun, ich habe sie verkauft. Mein Vater hatte Spaß an ihnen, ich eher nicht.«
Alexandra schaute ihn an, ohne etwas zu sagen.
Er wurde rot.
»Verflixt noch mal, ich habe sie verkauft, weil ich das Geld gebraucht habe …, und ich mache mir wirklich nichts aus Pferden.«
Er umarmte sie flüchtig.
»Dann mach es mal gut«, sagte er. »Auch wenn der Anlass nichts zum freuen war. Es war schön, dich mal wiederzusehen, Alexandra. Du siehst gut aus.«
Als habe er bereits zu viel gesagt, wandte er sich ab.
»Dann adieu.«
Er stolperte zur Tür und beeilte sich hinauszukommen.
»Auf Wiedersehen, Enno«, antwortete sie, war sich aber nicht sicher, ob er das noch mitbekommen hatte.
Enno Freiherr von Beyen …
Würde er ihre Worte in den Wind schlagen?
Würde er sie beherzigen?
Er hatte versprochen, darüber nachzudenken. Das konnte er ernst meinen, aber er konnte es auch nur so dahergesagt haben, um Ruhe vor ihr zu haben.
Hoffentlich, hoffentlich besann er sich, schon allein um seiner Eltern willen, die sich wirklich im Grabe herumdrehen würden, wenn sie wüssten, welchen Ausverkauf ihr einziges Kind da gerade veranstaltete.
Alexandra griff zu ihrem Telefon, um ihre Schwester anzurufen. Doch sie musste von einer Angestellten erfahren, dass Sabrina gerade mit den Kindern unterwegs war, zu irgendeinem Kindergeburtstag.
Schade.
Aber aufgeschoben war nicht aufgehoben. Sie würde es später noch einmal versuchen, und sie würde Sabrina bitten, ebenfalls noch einmal auf Enno einzureden.
Der winzigste Schritt in die richtige Richtung wäre bereits ein Erfolg.
Sie verließ ebenfalls den Salon und eilte hinauf in ihre privaten Gemächer.
Dort streifte sie erst einmal ihre Schuhe von den Füßen, dann schmiss sie sich auf ihr Bett.
Sie war fix und fertig.
Welch ein Tag.
Heute würde sie nirgendwo mehr hingehen, sondern es sich daheim gemütlich machen bei einem Glas Rotwein und einer Liebesschnulze im Fernsehen. Und wenn dort nichts Entsprechendes lief, dann würde sie sich aus den eigenen Beständen etwas heraussuchen. Ihr war nach ›Casablanca‹ zumute, dem Film, in dem der unvergessene Satz gesprochen wurde – ›Ich schau dir in die Augen, Kleines‹ – ›Schlaflos in Seattle‹, würde sie sich auch noch mal ansehen mit der ergreifenden Liebesszene auf dem Empire State Building in New York, oder sie würde ›Jenseits von Afrika‹, hervorkramen, ihren Favoriten, den sie schon so oft gesehen hatte, dass sie darin beinahe selbst mitspielen konnte.
Alexandra schloss die Augen.
Dieser Walzer, mitten in der Wildnis.
Alexandra seufzte.
Warum passierte einem so etwas nicht im wahren Leben?
Ach, was war das für ein Film!
Nun ja, bis auf das Ende, das war traurig, supertraurig, und das war eine Realität, die jeder erleben konnte.
Also dann doch nicht ›Jenseits von Afrika‹, dazu war sie emotional derzeit ein wenig zu angeschlagen, da sehnte sie sich nicht nach Problemen, nicht nach Schmerz und Trauer, da brauchte sie ganz einfach eine heile Welt, in die sie sich flüchten konnte.
*
Alexandra war wohl ein wenig eingenickt, denn sie schreckte durch das Schrillen des Telefons hoch und hatte ein wenig mühe, sich zurechtzufinden.
Ob es Sabrina war, die mit ihrer Rasselbande wieder nach Hause zurückgekehrt war?
Wie spät war es denn eigentlich?
Sie machte sich nicht die Mühe, auf ihre Uhr zu sehen, um das festzustellen, weil das Läuten des Telefons nervte.
Ein wenig ungehalten meldete sie sich.
Es war nicht Sabrina, sondern Marion war die Anruferin.
»Hallo, Alexandra, ich störe dich doch hoffentlich nicht bei etwas?«
»Nein, nein.«
»Das ist gut … Alexandra, ich rufe dich an, um dich an die Vernissage heute Abend zu erinnern. Das hast du doch nicht vergessen?«, wollte Marion wissen.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich werde vermutlich nicht kommen.«
»Weil du noch immer sauer auf mich bist?«, fragte Marion, und ihre Stimme klang traurig.
Alexandra fühlte sich schuldbewusst und irgendwo auch ertappt. Vielleicht reagierte sie deswegen ein wenig heftig: »Marion, was soll das? Ich bin nicht sauer auf dich, warum denn auch? Nein, ich arbeite, wie du weißt, hart, und heute hatte ich einen besonders anstrengenden Tag. Ich bin kaputt. Ich bin kaputt und habe ganz einfach keine Lust auf Small-Talk. Ich kann mir die Bilder ein andermal ansehen, sie hängen ja nicht bloß für heute Abend in der Galerie.«
»Nein, das nicht, aber heute Abend ist der Künstler anwesend, und es werden interessante Gäste da sein … Alexandra, du bist so belastbar. Ich habe dich erlebt, wie du nach einem harten, ereignisreichen Tag dennoch am Abend etwas unternommen hast … Ich bin mir sicher, dass du auf jeden Fall kommen würdest, wenn mein Auszug von Schloss Waldenburg nicht gewesen wäre …, seitdem bist du verändert und mir gegenüber ziemlich kühl … Herrgott, Alexandra, bitte versuche doch, dich in meine Lage hineinzuversetzen, meine Seelenlage zu verstehen … Mein Kind wurde entführt, entführt von Leuten, zu denen Ingo Kontakt hatte.«
»Kontakt hatte, Marion, du sprichst es aus. Ingo hat sich von diesen Leuten gelöst, er spielt nicht mehr, ist in einer Therapie, um nicht rückfällig zu werden, und Ingo hat der Polizei die entscheidenden Hinweise geliefert, die zur Festnahme der Entführer führten. Diese Menschen sitzen im Gefängnis, die Eile, mit der du mit Michelle Schloss Waldenburg verlassen hast, wäre nicht notwendig gewesen. Oder glaubst du, die Verbrecher brechen aus, um die Entführung ein zweites Mal zu versuchen?«
»Du trägst es mir doch nach, Alexandra, auch wenn du das Gegenteil behauptest ich sage dir mal was. Ja, ich habe Angst, dass es noch mal jemand von diesen Menschen versuchen könnte, nicht die, die eingesperrt sind, aber es gibt noch andere Zocker, die wissen, wer Ingo ist, nämlich ein Graf Waldenburg, und über die Waldenburgs kann man im Internet genug nachlesen, um zu wissen, welch bedeutende gesellschaftliche Stellung sie haben und …, wie reich sie sind. Michelle ist das schwächste Glied in der Kette. Die erste Entführung hat sie glimpflich überstanden, weil sie so schnell beendet war. Aber eine zweite? Tut mir leid, ich traue Ingo nicht, ich weiß, wie labil er im Grunde genommen ist, ich war schließlich mit ihm verheiratet … Ich bin nicht undankbar, Alexandra, und ich werde niemals vergessen, was du, was ihr alle, für mich und Michelle getan habt. Aber zum Schutz von Michelle ist es wichtiger, dass sie und ich überhaupt nicht mehr offiziell mit den Waldenburgs in Verbindung gebracht werden, zumindest nicht so lange, bis jeder sich davon überzeugen kann, dass Ingo sich verändert hat. Wir leben glücklich und zufrieden und zurückgezogen bei Olaf …, irgendwann wären wir doch ohnehin zu ihm gezogen, denn er und ich sind zusammen, und so soll es auch bleiben.«