Читать книгу Der neue Sonnenwinkel 75 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 3

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In Robertas Beruf kam man mehr als nur einmal in Situationen, die ziemlich grenzwertig waren, ob einem etwas oder jemand sympathisch oder unsympathisch war. Da musste man durch.

Das jetzt war eine Situation, die Roberta überforderte. Sie konnte es ignorieren, und alles würde so weiterlaufen wie bisher, oder aber sie klärte es, und, da war sie sich sehr sicher, würde sich alles verändern.

Ihr innerer Kampf dauerte nur ein paar Sekunden, dann gab sie sich einen Ruck, lief auf die schlanke junge Frau zu, die ihr bereits einige Male in der Nähe des Doktorhauses aufgefallen war.

Die junge Frau bemerkte, dass die Aufmerksamkeit ihr galt, wollte davonlaufen, doch Roberta hinderte sie daran.

»Halt, warten Sie bitte.«

Das half nichts, da musste sie halt stärkere Geschütze auffahren, obwohl sie sich das Zusammentreffen mit dieser Frau anders vorgestellt hatte.

»Ich weiß, wer Sie sind: die Mutter von Adrienne.«

Ein Blitzschlag hätte keine größere Wirkung haben können, die junge Frau blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich jedoch nicht um. Mit wenigen Schritten war Roberta bei ihr.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen das jetzt so direkt ins Gesicht geschleudert habe. Ich wollte jedoch nicht, dass Sie davonlaufen. Wir müssen miteinander reden.«

Im Zeitlupentempo drehte die junge Frau sich um.

Sie und Roberta sahen sich in die Augen.

Das Entsetzen war im Gesicht der jungen Frau nicht zu übersehen, auch eine gewisse Verunsicherung.

Sie war hochgewachsen, sehr schlank, hatte dunkelblonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, schöne graue Augen, in denen das blanke Entsetzen lag.

Die junge Frau war erregt, schluckte, verknetete ihre Hände ineinander.

»Ich …, wie haben Sie …, äh …«

Sie war nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz herauszubringen.

Sie konnte einem so richtig leidtun, Roberta beschloss, allem ein Ende zu machen.

»Man muss keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um zu sehen, dass Sie etwas umtreibt. Etwas Interessantes hat das Doktorhaus nun wahrlich nicht zu bieten, um immer wieder herzukommen, bis auf eines, und das ist die kleine Adrienne.«

Die junge Frau zuckte zusammen, ihr Gesicht begann zu zucken, bekam einen gequälten Ausdruck.

So hatte es keinen Sinn, das war nicht mehr als Quälerei. Roberta sagte: »Ich denke, dass es keinen Sinn macht, hier auf der Straße herumzustehen, dafür ist das, was wir miteinander zu besprechen haben, viel zu wichtig.«

Hatte die junge Frau eigentlich mitbekommen, was Roberta da gerade zu ihr gesagt hatte? Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Sofort erwachte die Ärztin in Roberta. Sie legte einen Arm um die schmale Schulter der Frau und führte sie ins Doktorhaus, die ließ es willenlos mit sich geschehen.

Die junge Frau war vollkommen durch den Wind, sie konnte jeden Augenblick zusammenbrechen.

Drinnen saß Alma neben dem Stubenwagen, schaute verzückt da hinein, doch ihr Kopf ruckte hoch, als sie die Frau Doktor zusammen mit einer Fremden zurückkommen sah.

»Frau Doktor, ich dachte, Sie wären schon los zu den Krankenbesuchen.«

Roberta winkte ab.

»Es hat eine kleine Verzögerung gegeben, Frau …«, sie stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht einmal den Namen der jungen Frau kannte, die sich unbehaglich fühlte, die jeden Moment zusammenbrechen konnte. Um das zu verhindern, schob Roberta sie in einen Sessel, der nahe genug beim Stubenwagen stand, in dem die kleine Adrienne lag.

»Paula … Paula Koch«, kam ihr die junge Frau zur Hilfe.

Roberta nickte. Es war eine vertrackte Situation, sie und Alma hatten vollstes Vertrauen zueinander, es gab zwischen ihnen keine Geheimnisse. Roberta war sich allerdings sicher, dass es die Fremde überfordern würde, wenn Alma bei dem Gespräch, das es nun geben musste, dabei wäre. Wie sollte sie sich verhalten?

Alma einfach hinausschicken? Irgendwie ging das nicht, denn die war doch voll mit in dem Geschehen. Roberta hatte keine Ahnung, sie holte tief Luft, dann ließ sie die­ Bombe platzen. »Alma, Frau Koch ist die Mutter von unserer Adrienne.«

Das war zwar noch nicht bewiesen, aber für Roberta war es so sicher wie das Amen in der Kirche. Außerdem wäre ein Protest erfolgt, als Roberta es Paula vorhin an den Kopf geworfen hatte.

Almas Kopf ruckte nach oben, sie schaute ihre Chefin an, die junge, wie versteinert wirkende Frau.

»Sie ist … aber …«

Alma beendete ihren Satz nicht, erhob sich. »Dann will ich nicht länger stören«, jetzt klang ihre Stimme klar. Sie wollte den Raum nach einem letzten Blick auf die kleine Adrienne verlassen, als Paula sagte: »Bitte bleiben Sie, ich denke, Sie können es ebenfalls hören.«

Alma setzte sich wieder, insgeheim atmete Roberta erleichtert auf, es war gut so, doch sie hätte von sich aus den Vorschlag nicht machen können.

Es war ein bewegender Augenblick, sie schwiegen, denn das war jetzt eine Situation, die sie alle überforderte. Roberta überlegte, wie sie anfangen sollte, ohne die ohnehin verstörte Frau nicht zu überfordern. Und Alma, in deren Gesicht lag blanke Panik, denn wenn die Mutter der kleinen Adrienne gefunden war, dann bedeutete das …, nein, diesen Gedanken wollte sie nicht zu Ende bringen. Also saß sie stumm da, blickte von ihrer Chefin zu der jungen Frau.

»Frau Koch …, oder darf ich Paula sagen?«, erkundigte Roberta sich, was ein Nicken zur Folge hatte. »Möchten Sie sich Adrienne nicht ansehen?« Roberta hielt es für das Beste, denn natürlich war ihr aufgefallen, dass Paula unentwegt zum Stubenwagen gestarrt hatte.

Roberta hatte es noch nicht einmal ausgesprochen, als Paula auch schon aufstand, ganz nahe an den Stubenwagen herantrat, hineinschaute. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Hand ging nach vorne, um das Köpfchen zu berühren, hielt inne, zuckte zurück. Es war ein bewegender Augenblick, der auch Alma, die eh nahe am Wasser gebaut hatte, weinen ließ. Und selbst Roberta musste an sich halten.

Eines war klar, man konnte nun nicht einfach einen Schalter umkippen und ein Gespräch anfangen. Sie nutzte den Augenblick, um sich zu entfernen, ihre treue Ursel Hellenbrink anzurufen und die zu bitten, die beiden Patienten zu übernehmen. Es waren beides keine Fälle, die dringend die Anwesenheit von ihr erforderten. Sie hatte Ursel und Leni Wendler bloß entlasten wollen, die viele der Hausbesuche übernahmen, weil sie dafür ausgebildet worden waren und es sehr gern taten.

Natürlich war Ursel sofort dazu bereit, und Roberta beendete erleichtert das Telefonat. Roberta hatte jetzt keine Verpflichtungen mehr, was bedeutete, dass sie sich voll nicht nur auf diese junge Frau konzentrieren konnte, sondern auch darauf, wie es nun weitergehen würde. Das allerdings stand in den Sternen, Roberta hatte keine Ahnung. Davon nicht, aber sie hatte geahnt, dass etwas in der Luft lag, auch, dass Paula die Mutter von Adrienne sein musste. Die junge Frau hatte sich einfach zu oft in der Nähe des Doktorhauses aufgehalten und sich irgendwie auffällig benommen.

Als Roberta ins Wohnzimmer zurückkam, bot sich ihr ein anrührendes Bild. Alma und Paula saßen gemeinsam auf dem Sofa, Arm in Arm, beide ergriffen und mit Tränen in den Augen. Roberta kam sich beinahe wie ein Fremdkörper vor, vor allem fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, dass sie es sein musste, die diese Idylle unterbrechen sollte. Doch das war notwendig, schließlich ging es nicht um einen Small Talk, sondern um etwas, was auch Polizei und Jugendamt beschäftigte.

Zunächst einmal wartete sie, zum Glück schlief die kleine Adrienne friedlich in ihrem Stubenwagen. Das war schon ein Bild, das einem ans Herz gehen konnte. Und nun war davon auszugehen, dass die Zeit mit dem Baby …

Nein!

Daran wollte sie jetzt nicht denken, niemand sollte einen zweiten Schritt vor dem ersten tun. Es war noch eine ganze Menge zu klären, auch einige Ungereimtheiten. Es passte irgendwie nicht zusammen. Paula machte einen nicht nur äußerst sympathischen Eindruck, sondern auch einen vernünftigen, ja, besonnenen. Was also war geschehen? Warum hatte sie die kleine Adrienne vor die Tür des Doktorhauses gelegt und danach keine Ruhe mehr gehabt?

Adrienne würde nicht ewig schlafen, und wenn die sich meldete, war es erst einmal mit der Ruhe vorbei. Roberta räusperte sich, sofort ruckten die Kopfe der beiden anderen Frauen hoch.

»Paula, es tut mir leid, aber wir müssen reden. Am besten stelle ich Ihnen keine Fragen, sondern Sie erzählen uns alles. Doch eines möchte ich wissen. Wieso haben Sie Adrienne ausgerechnet vor meine Haustür gelegt? Ich habe Sie zuvor noch nie im Sonnenwinkel gesehen, also nehme ich auch an, dass Sie nicht hier wohnen?«

Ein Kopfschütteln war die Antwort. Paula richtete sich ein wenig auf, blickte Roberta an, dann sagte sie mit leiser, beinahe verzagt klingender Stimme: »Ich … ich wusste durch Babette Cremer von Ihnen.« Als sie Robertas erstaunten Blick bemerkte, fuhr Paula fort: »Ich kenne Babette seit meiner Jugendzeit, sie … sie hat mir von ihren Schwierigkeiten erzählt, von ihren Eltern, die wollten, dass Babette das Baby … nicht bekommt, abtreiben lässt. Sie haben Babette unterstützt. Immerhin hat sie nicht nur ihr Baby bekommen, sondern auch ihren Jost geheiratet. Sie sind eine glückliche Familie.«

Babette!

Natürlich konnte Roberta sich sofort an das junge Mädchen erinnern, das ziemlich verzweifelt gewesen war. Ja, sie hatte Babette geholfen und sich dadurch ziemlichen Ärger mit den Eltern eingehandelt.

»Und Sie haben auch Ärger mit Ihren Eltern, Paula?«, wollte Roberta wissen. »Doch Sie haben immerhin Ihr Baby auf die Welt gebracht. Doch was ist dann geschehen? Warum haben Sie Adrienne vor meine Tür gelegt?«

Es erfolgte eine Pause, Paula hing ihren Gedanken nach, sie warf einen Blick zum Stubenwagen, schaute Alma und Roberta an.

»Ich wusste mir keinen Rat, sah keinen Ausweg. Doch von Babette wusste ich ja, was für ein guter Mensch Sie sind. Ich wusste, dass meinem Baby nichts passieren kann.«

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Paula in der Lage war, ihre Geschichte zu erzählen.

Sie hatte gerade ihr Abitur gemacht, gejobbt bis zum Beginn ihres Studiums der Philosophie, als sie Adrian Courbet kennengelernt hatte, einen jungen Assistenzarzt, der einige Zeit im neuen Herzzentrum des Hohenborner Krankenhauses verbringen wollte. Es kam, wie es kommen musste, sie hatten sich ineinander verliebt. Doch dann hatte Adrian ein Jobangebot aus Lyon bekommen, hatte seine Zelte in Hohenborn abgebrochen. Und als er weg war, hatte Paula bemerkt, dass sie schwanger war.

»Ich hatte nicht damit gerechnet«, sagte Paula mit bebender Stimme, »aber es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, ­einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen …, ich hatte mir allerdings alles auch einfacher vorgestellt. In dem Supermarkt hatte ich nur einen befristeten Arbeitsvertrag, meine Vermieterin durfte auch nichts davon erfahren, sonst hätte sie mir das Appartement gekündigt. Also habe ich versucht, die Schwangerschaft so gut es ging zu kaschieren. Das ist mir auch gelungen, alle dachten, ich habe zugenommen.«

»Und dieser Adrian?«, wollte Alma wissen, und das war auch eine sehr berechtigte Frage.

»Der weiß von nichts. Ich wollte ihn nicht belasten, denn er stand am Anfang seiner Karriere als Herzchirurg. Er hat immer gesagt, dass er sich eine Familiengründung erst viel später vorstellen kann, wenn ich mein Studium abgeschlossen habe und er Facharzt für Chirurgie geworden ist.«

Roberta und Alma schauten sich an.

»Paula, Sie haben es allein durchgezogen?«, erkundigte Alma sich ganz ungläubig. »Auch … auch die Geburt?«

Paula nickte.

»Und die ganzen Vorsorgeuntersuchungen?«, wollte Roberta wissen.

»Die habe ich machen lassen, aber nicht in Hohenborn. Es war schwieriger als gedacht, und ich hatte eine panische Angst davor, jemand könnte etwas mitbekommen. Ich …, mir fiel nichts mehr ein, deswegen habe ich Adrienne hier vor die Tür gelegt. Ich konnte sie doch nicht zu einer Babyklappe bringen oder in ein Kinderheim. Ich …«

Sie brach erschöpft ab, und auch Roberta und Alma sagten zunächst einmal nichts mehr. Alma zerfloss beinahe vor lauter Mitleid, sie nahm irgendwann Paula ganz fest in ihre Arme, streichelte sie, und die ließ es geschehen.

Was für eine Geschichte!

Was sollte jetzt passieren?

Das war eine Frage, die selbst Roberta überforderte. Sie konnten ja nicht totschweigen, dass die Kindesmutter nun bekannt war. Es hätte Konsequenzen, so etwas konnte Roberta als Ärztin sich nicht erlauben.

»Wo wohnen Sie denn jetzt?«, wollte Alma wissen. »Noch immer in diesem Appartement? Und jobben Sie noch immer in dem Supermarkt?«

Beides bestätigte Paula, sie hielt den Kopf gesenkt.

»Es hat eine ganze Weile gedauert, bis mir bewusst wurde, was ich da getan habe. Deswegen kam ich auch immer her, aber ich habe mich einfach nicht getraut, einfach an der Tür zu klingeln. So wäre es weiterhin gegangen, wenn Sie mich nicht angesprochen hätten, Frau Doktor.«

»Was nun?«, erkundigte Alma sich bekümmert.

»Nun bleibt Paula, wenn sie damit einverstanden ist, erst einmal bei uns, bei ihrem Kind. Und dann überlegen wir weiter. Ich denke, wir werden nicht umhin kommen, den Behörden zu melden, was geschehen ist. Doch das werden wir nicht ohne einen Anwalt tun.«

»Muss ich ins Gefängnis?«, erkundigte Paula sich entsetzt. »Da bin ich vorbestraft, und wenn ich nach meinem Studium ein Führungszeugnis vorweisen muss oder auch so, kann ich alles knicken.«

»Sie wollen studieren?«, erkundigte Alma sich hoffnungsvoll, »das bedeutet, dass die kleine Adrienne bei uns im Doktorhaus bleiben kann?«

Das hätte Alma jetzt wirklich nicht fragen sollen, dazu war es viel zu früh. Das sah man an Paulas entsetztem Gesichtsausdruck. Die war froh, ihr Kind zu sehen, es bald in die Arme schließen zu können, ohne sich einen Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen sollte.

»Wir müssen jetzt überhaupt nichts entscheiden. Paula, ich finde es richtig, dass Sie irgendwann das Studium aufnehmen wollen. Es gibt viele Studentinnen, die Kinder haben. Und viele Universitäten haben auch Kindergärten. Doch etwas anderes sollten Sie bedenken, Paula. Meinen Sie nicht, dass Adrian, der Kindesvater, davon erfahren sollte, dass es Adrienne gibt?«

Paula schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich will ihm nicht im Wege stehen …, wir waren ja nicht miteinander verlobt, er hat mir auch nicht fest zugesagt, dass er mich heiraten will.«

»Aber er hat doch über die Zukunft gesprochen«, erinnerte Roberta sie.

Paula zögerte.

»Ja, das schon, aber nur … vage. Nein, ich schaffe es schon ­allein, ich weiß nur noch nicht wie …, aber ich möchte mein Kind zurück. Sie werden mir Adrienne doch geben?«, erkundigte sie sich ängstlich.

»Paula, welche Frage, natürlich. Sie sind die Mutter, doch es gibt da einiges zu klären, deswegen ist es vielleicht doch nicht so verkehrt, dass Sie erst einmal bei uns bleiben. Das Doktorhaus ist groß. Wir haben nicht nur ein Gästezimmer. Gemeinsam werden wir eine Lösung finden.« Roberta lächelte das junge Mädchen aufmunternd an. »Es ist auf jeden Fall schön, dass Sie jetzt hier sind, bei der kleinen Adrienne, die ein so wundervolles Mädchen ist. Und ich kann Sie auch direkt beruhigen, mit ihr ist alles in bester Ordnung.«

Als habe sie auf ein Stichwort gewartet, meldete Adrienne sich genau in diesem Augenblick, und alle drei Frauen sprangen beinahe gleichzeitig auf. Eigentlich wäre Alma zuerst am Stubenwagen gewesen, doch sie hielt sich zurück, ließ Paula den Vortritt, die nach kurzem Zögern ein wenig ungeschickt das Baby auf den Arm nahm. Und es war wirklich unglaublich. Sofort hörte Adrienne auf zu weinen. Eigentlich war es unmöglich, dass das Baby spürte, dass es bei seiner Mutter war. Aber es fühlte sich gut an.

Roberta und Alma standen still dabei, genossen dieses anhei­melnde Bild mit Freude, aber auch ein wenig traurig. Zwar war jetzt noch alles offen, doch irgendwann in absehbarer Zeit würde es vorbei sein.

Sie hatten es gewusst, dass es nur ein Glück auf Zeit sein würde. Das war allerdings etwas, was man sehr gern verdrängte, und dann holte es einen mit aller Gewalt ein.

Adrienne schlief wieder, immer noch ein wenig ungeschickt, aber sehr vorsichtig legte Paula ihr Baby in den Stubenwagen zurück.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte sie leise, »ich werde auf ewig in Ihrer Schuld sein.«

Was dann folgte, war sehr, sehr emotional. Das war nicht verwunderlich. Wann erlebte man im wahren Leben schon so etwas.

Und die kleine Adrienne, um die alles ging, die verschlief diesen wichtigen Augenblick. Es gab so vieles zu sagen, zu hinterfragen. Das ging nicht auf einmal. Vor allem war es ja auch eine Situation, mit der man im Alltag nicht ständig konfrontiert wurde, und demzufolge auch nicht wusste, wie damit umzugehen war.

Eines stellte sich allerdings sehr schnell heraus. Roberta, Alma und Paula waren sich sehr sympathisch. Es gab viele Überlegungen erst einmal darüber, was der nächste Schritt sein sollte. Und da war es Paula, die eine Entscheidung traf, eine sehr vernünftige Entscheidung. Auch wenn sie liebendgern bei ihrer kleinen Tochter geblieben wäre, wollte sie nach Hohenborn zurückfahren, denn sie hatte immerhin einen Arbeitsplatz, auf dem sie pünktlich erscheinen musste. Und übers Knie brechen musste jetzt niemand etwas.

Roberta wollte Paula nach Hohenborn fahren, doch das lehnte die ab.

»Nein, Frau Doktor, das geht überhaupt nicht. Das kann ich nicht annehmen.«

Da hatte Alma einen Vorschlag.

»Paula, nur tagsüber fahren die Busse regelmäßig, deswegen nehmen Sie mein Auto. Das brauche ich morgen nicht, und Sie werden ja wohl morgen wieder Ihr Baby sehen wollen, nicht wahr?«

Das bestätigte Paula sofort, was das Auto betraf, zögerte sie, und das veranlasste Alma zu der Frage: »Oder haben Sie keinen Führerschein?«

Den besaß Paula, und so bestand Alma darauf, dass Paula den Wagen nahm.

Es fiel Paula sichtlich schwer, ihr Baby zu verlassen, doch das Leben, ihr Alltag, mussten weitergehen. Sie verabschiedeten sich voneinander, Paulas letzte Worte waren: »Warum tun Sie das alles für mich?« Sie bekam keine Antwort darauf, weil es keine gab. Man machte manchmal einfach Sachen, die mit dem Verstand nicht zu erklären waren.

»Bis morgen, Paula«, riefen Roberta und Alma wie aus einem Munde, und sie blieben noch an der Haustür stehen, als Paula in den kleinen Wagen einstieg und davonbrauste. Ja, das tat sie wirklich. Aber so waren sie halt, die jungen Leute.

*

Zum Glück schlief die kleine Adrienne noch immer, als die beiden Frauen ins Wohnzimmer zurückkamen. Auf den ersten Blick war alles so wie immer, und dennoch hatte es eine Erschütterung gegeben, die einem Erdbeben gleich kam.

Ehe sie sich setzten, rief Alma im Brustton der Überzeugung: »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Frau Doktor. Aber ich brauche jetzt erst einmal einen Schnaps.«

Das war ungewöhnlich, weil Alma allenfalls mal ein Gläschen Wein oder hier und da ein Li­körchen trank. Bei Roberta war es­ nicht anders, normalerweise, doch jetzt sagte sie: »Den brauche ich auch, Alma.«

Roberta und Alma hatten sich hier und da schon mal darüber unterhalten, was für eine Frau die Kindesmutter wohl sein mochte. So etwas wie Paula hatten sie sich nie vorgestellt.

Was für eine Geschichte!

Beide hingen ihren Gedanken nach, nachdem sie am Schnaps genippt hatten. Alma ergriff zuerst das Wort. »Frau Doktor, wenn Paula doch mit einem Studium beginnen möchte, dann kann sie die kleine Adrienne doch bei uns lassen. Dann kann alles so bleiben wie bisher. Paula kann sich auf ihr Studium konzentrieren, sie weiß ihr Baby bei uns bestens aufgehoben. Damit ist allen geholfen.«

Roberta musste erst einmal etwas trinken, doch diesmal begnügte sie sich mit Wasser.

»Alma, Sie haben doch mitbekommen, wie sehr Paula ihr Baby liebt, wie sehr sie das, was sie getan hat, bedauert. Mit so etwas wird sie niemals einverstanden sein. Und das finde ich auch richtig. Paula und Adrienne gehören zusammen. Ich finde allerdings, dass auch dieser Adrian davon erfahren muss, dass er Vater geworden ist. Er hat ein Recht darauf, ganz gleichgültig, wie er darauf reagiert. Er muss es entscheiden dürfen.«

Alma war enttäuscht, sie sah ihre Hoffnungen schwinden, die kleine Adrienne für immer, wenigstens für länger, behalten zu dürfen.

»Adrienne hätte es bei uns so gut«, wagte sie einen Vorstoß, »ein solches Leben wird Paula ihr niemals bieten können.«

Roberta zuckte die Achseln.

»Mag sein, aber Paula ist die Mutter. Und Mutterliebe ist etwas, was wir Adrienne niemals geben können. Ich bin froh, dass wir jetzt wissen, zu wem Adrienne gehört, auch wenn mir ein wenig weh ums Herz ist. Wir wussten von Anfang an, dass die Kleine nicht für immer bei uns bleiben würde. Freuen wir uns, dass die Kindesmutter eine so sympathische junge Frau ist. Ich kann Paulas Beweggründe zwar nicht ganz verstehen, doch eines steht fest, sie hat aus ihrer Sicht heraus stets zum Kindeswohl gehandelt. Und sie wollte das Kind, sie hätte es einfacher haben können, und sie hätte angesichts ihrer Situation die Erlaubnis für einen Abbruch bekommen. Sie hat sich dagegen und für den schwereren Weg entschieden, und das müssen wir nicht nur akzeptieren, Alma, sondern ihr dafür auch Achtung zollen.«

Konnte ja alles sein, Alma gehörte schon zu den Menschen, die durchaus ihren Verstand gebrauchen konnten, doch manchmal ließ der einen im Stich, und das ganz besonders, wenn man emotional sehr bewegt war.

Adrienne …

Um dieses kleine Wunder Mensch hatte sich, seit das Baby im Doktorhaus war, alles gedreht. Und für Alma stand fest, richtiger gesagt, hatte fest gestanden, dass der liebe Gott es so gewollt hatte, dass Adrienne zu ihnen kommen sollte. Na klar hatte die Frau Doktor immer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht mehr als ein Glück auf Zeit war. Das hatte Alma einfach nicht hören wollen. Alma verehrte, bewunderte ihre Chefin, doch auch Ärztinnen konnten sich mal irren. Und nun das.

Sie wollte sich dazu äußern, doch Adrienne machte ihr da einen Strich durch die Rechnung, sie begann zu weinen, und da ließ Alma sich durch nichts mehr aufhalten. Noch war das Baby ja bei ihnen!

Außerdem klingelte beinahe gleichzeitig das Telefon, und da war die Frau Doktor gefragt. Es war das private Telefon, und Roberta fragte sich, wer sie wohl jetzt noch anrief. Eigentlich konnte das nur ihre Freundin Nicki sein, und so war es dann auch.

»Was ist denn mit dir los?«, erkundigte Nicki sich sofort, kaum, dass Roberta sich gemeldet hatte. »Freude sieht anders aus. Du musst ja vor lauter Begeisterung nicht quietschen, wenn du meine Stimme hörst, doch ein bisschen Freude wäre schon angesagt, liebste Freundin.«

Manchmal ging Roberta auf derartige Worte ein, heute war ihr wirklich nicht danach. Sie hielt sich auch nicht lange mit der Vorrede auf, sondern erzählte Nicki, was sich ereignet hatte.

»Alma und ich wissen noch nicht so richtig, wie wir damit umgehen sollen. Es war ja absehbar. Wenn du willst, haben wir die ganze Zeit über auf einem Pulverfass gesessen, aber jetzt können wir daran fühlen, wann Paula uns die kleine Adrienne wegnehmen wird.«

Das verstand Nicki nun überhaupt nicht.

»Roberta, verdammte Hacke, sei froh, dass du die Verantwortung wieder los wirst. Du bist eine attraktive, junge, kluge Frau und nicht so was wie Mutter Teresa, eine Auffangstation für junge, schwangere oder anderweitig gestrauchelte Frauen. Es kann doch nicht sein, dass du dein Leben damit verbringst, für deine Patientinnen und Patienten da zu sein. Gut, das ist dein Beruf, damit verdienst du dein Geld. Aber Pia, Babette und Paula, du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, der sich um diese Mädchen kümmern muss. Es gibt öffentliche Einrichtungen, die dafür zuständig sind. Fang endlich wieder an zu leben, kümmere dich um dich, deine Bedürfnisse. Und ehrlich mal, es kann überhaupt nicht schaden, dass du wieder mal einen richtigen Kerl in dein Leben lässt. Die bleiben natürlich aus, wenn du weiterhin Mutter Teresa spielst.«

Wie war Nicki denn drauf?

»Nicki, halte bitte mal die Luft an, erst einmal ist da, wie du sagst, kein richtiger Kerl in Sicht. Außerdem macht es mir Spaß, den Mädchen zu helfen.«

»Ja, meine Liebe, und darüber vergisst du alles. Denke mal daran, dass dieser nette Kollege von Jens unheimlich an dir interessiert war. Du hast ihm nicht einmal die Chance gegeben, dich anrufen zu dürfen.«

Ausgerechnet Nicki musste ihr so etwas sagen! Ihre Freundin, die in ihrem Privatleben ein ziemliches Durcheinander hatte. Roberta sagte ihr das jetzt allerdings nicht, obwohl sie immer offen und ehrlich zueinander waren. Es würde zu endlosen Diskussionen führen, und darauf hatte sie jetzt keine Lust. Außerdem hatte sie das mit Paula doch mehr mitgenommen, als sie es für möglich gehalten hätte.

»Nicki, dieser Felix Stein, so hieß er doch, nicht wahr, der war ein angenehmer Unterhalter. Aber für mich, um jetzt mal deine Worte zu gebrauchen, null Erregung.«

Nicki begann zu lachen.

»Also gut, dieser Punkt geht an dich, Felix reißt wirklich niemanden vom Hocker. Aber es gibt ja auch noch andere Männer auf der Welt, und die wirst du nicht kennenlernen, wenn du weiterhin dieses Auffanglager bist. Du glaubst nicht, wie schnell sich das herumsprechen wird. Paula hat es immerhin von Babette, und dann wird es vielleicht irgendwann eine Claudia, eine Lore, eine Mia oder was weiß ich geben, und alle werden sie bei dir anklopfen oder dir ihre Kinder vor die Tür legen.«

Roberta hatte einfach keine Lust, jetzt mit ihrer Freundin weiter über dieses Thema zu sprechen, deswegen wechselte sie das Thema.

»Sag mal, Nicki, du warst erst ziemlich enthusiastisch wegen einer Wohnung in unserem Neubaugebiet, und nun höre ich darüber nichts mehr.«

Roberta spürte, dass es Nicki ziemlich unangenehm war, jetzt ausgerechnet darüber zu reden.

»Ach …, das ist passé.«

Eine knappe Ansage, wenn man bedachte, dass Nicki drauf und dran gewesen war, in den Sonnenwinkel ziehen zu wollen, in dem sie doch eigentlich nicht einmal tot überm Zaun hängen wollte.

Normalerweise begnügte Roberta sich mit solchen Aussagen, hinterfragte sie nicht. Doch diesmal wollte sie Nicki nicht so einfach davonkommen lassen, besonders nicht, weil sie die Hintergründe wirklich interessierten.

»Nicki, was heißt das? Hast du etwas anderes in Aussicht? Du wolltest deine Wohnung doch Jens Odenkirchen verkaufen, weil der für sich und die Frau, die er heiraten wollte, mehr Platz brauchte.«

Roberta glaubte zu spüren, wie Nicki jetzt die Augen verdrehte. Sie kannten sich halt nicht nur gut.

»Es hat sich erledigt«, antwortete Nicki nach einer kurzen Pause, Wieder hinterfragte Roberta es, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit.

»Was heißt das, Nicki? Erledigt? Lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, sonst sprudelt es nur so aus dir heraus.«

»Also gut, Roberta, die Hochzeit wird nicht stattfinden, diesmal war es nicht die Frau, die ihn verlassen hat, sondern der gute Jens hat kalte Füße bekommen. Es ist ihm wohl bewusst geworden, dass er als Ehemann nicht weiterhin munter von einer Blüte zur nächsten fliegen kann.«

Ihre Freundin Nicki und deren Nachbar!

Roberta war wirklich eine äußerst kluge Frau, doch aus den beiden wurde sie einfach nicht schlau. Sie war ja nach wie vor der Meinung, dass Nicki und Jens das ideale Paar waren, doch sie hütete sich davor, das noch einmal zu erwähnen. Sie hatte sich in dieser Sache nicht nur einmal den Mund verbrannt.

Weil sie sich halt so gut kannten, musste Nicki noch etwas hinzufügen, weil Roberta nichts gesagt hatte.

»Komm, sprich es aus, Roberta«, forderte Nicki ihre Freundin auf, »lass deinen Spruch los, was für ein wundervolles Paar Jens und ich sind. Nun ist ja alles wieder offen, nicht wahr?«

Roberta fühlte sich durchschaut. Es stimmte tatsächlich, sie hielt Jens und Nicki für das perfekte Paar, und das in jeder Hinsicht, optisch, sie verstanden sich blendend. Doch man konnte niemanden zu seinem Glück zwingen.

»Stimmt«, gab Roberta zu, »doch ich werde ganz gewiss nicht mehr davon anfangen, Nicki. Es ist schade, dass sich das mit der Wohnung hier zerschlagen hat. Ich hätte dich sehr gern in meiner Nähe gehabt wie in früheren Zeiten. Wir sehen uns viel zu selten. Ich vermisse unser häufiges Beisammensein schon.«

»Ich doch auch, Roberta. Ich verspreche dir, so oft wie es nur geht zu dir in den Sonnenwinkel zu kommen. Doch es gibt auch die umgekehrte Richtung. Raff dich häufiger auf, auch mal zu mir zu kommen. Das solltest du ebenfalls bedenken, ehe du dir wieder so einen Pflegefall ins Haus holst.«

»Nicki, lass es gut sein«, mahnte Roberta, und Nicki bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid, das hätte ich jetzt nicht sagen dürfen. Wenn du so willst, kann ich mich ja in die Reihe der Pflegefälle mit einfügen. Was du schon alles für mich getan hast, immer noch tust.«

Das wollte Roberta nicht hören, weil es für sie ganz selbstverständlich war, für Nicki da zu sein. Jetzt wechselte sie das Thema und begann über Julia und Tim zu sprechen.

»Jetzt sind die beiden endgültig weg, und glaub mir, Nicki, das fühlt sich richtig komisch an, und es macht einen traurig, zu wissen, dass die Ära ›Seeblick‹ für immer vorbei ist. So etwas bekommen wir niemals wieder, für viele der Stammgäste war es ja so etwas wie ein zweites Wohnzimmer.«

Das bestätigte Nicki sofort.

»Nun ja, auf jeden Fall muss sich unsere gute Alma jetzt keine Sorgen mehr machen, dass dir ihre Kochkünste nicht mehr genügen, und du deswegen in den ›Seeblick‹ gehst. Diese überflüssigen Bedenken hatte sie ja immer, dabei kann Alma es jederzeit mit diesen beiden Spitzenköchen aufnehmen. Ich könnte mich in alles hineinknien, was Alma kocht. Ich liebe sie überhaupt über alles, weil sie ein so warmherziger Mensch ist. Und glaube mir, liebe Roberta, das sage ich jetzt nicht, weil sie mir immer Essen mitgibt, wenn ich euch besuche.«

Nicki seufzte. »Alles verändert sich. Irgendwie sind Julia und ihr Tim zu beneiden, dass sie aus einer sehr gesicherten Existenz heraus den Absprung in eine ungewisse Zukunft geschafft haben. Das ist ein Risiko, und ich finde, das geht man nur ein, wenn man sich miteinander sehr sicher fühlt, dass man das Privatleben voranstellt.«

Beinahe hätte Roberta jetzt gesagt: wie seinerzeit auch Roberto mit der Entscheidung, alles aufzugeben, in die Toscana zu gehen. Sie verkniff es sich, doch das hätte sie nicht gemusst, weil Nicki von sich aus davon anfing.

»Julia und Tim, und zuvor hat Roberto ja auch nichts anderes getan, als alle Zelte abzubrechen. Und nun sitzt er mit Frau und Kindern in der großartigen Toscana. Ich möchte nicht darüber nachdenken, dass eigentlich ich die Frau an seiner Seite hätte sein können.«

Nicki konnte es einfach nicht lassen, immer wieder davon anzufangen, dabei war sie es doch gewesen, die Schluss gemacht, die Roberto verlassen hatte, der wirklich sehr unter dieser Trennung gelitten hatte. Auch wenn Nicki immer das Gegenteil behauptete, Roberta war überzeugt davon, dass sie es nicht loslassen konnte, dass der Schatten von Roberto noch immer in deren Leben herumgeisterte.

»Nicki, quäle dich doch nicht mehr mit den Gedanken an die Vergangenheit, an Roberto, es ist für immer und alle Zeiten vorbei.«

Nicki widersprach sofort, doch ihre Stimme klang dabei nicht überzeugend.

»Roberta, das weiß ich doch. Aber manchmal frage ich mich einfach, ob ich damals nicht einen ganz großen Fehler gemacht habe.«

Roberta beschloss, jetzt dazu nichts mehr zu sagen. Zum Glück litt Nicki nicht ständig unter dieser Trennung, aber wenn sie sich an Roberto erinnerte, konnte sie sich ganz gehörig in etwas hineinsteigern. Das musste sie also jetzt auf jeden Fall verhindern. Sie begann über alles Mögliche zu reden und brachte sich damit beinahe um Kopf und Kragen. Und natürlich durchschaute Nicki das.

»Liebste Freundin, ich habe dir mehr als nur einmal gesagt, was für eine grottenschlechte Schauspielerin du doch bist. Also lass es. Es ist wirklich alles gut. Ich habe keine Ahnung, wohin meine Reise noch gehen wird, mit Roberto sollte ich sie offensichtlich nicht antreten, denn wäre er mein wirklicher Mr Right gewesen, hätte ich mich nicht von ihm getrennt. Ich sage da nichts Neues, aber leider neigen wir alle ein wenig dazu, die Vergangenheit zu verherrlichen, in ihr etwas zu sehen, was sie niemals war. Und jetzt klingelt es an meiner Tür, und ich weiß auch schon, wer davor steht und Einlass begehrt. Der gute Jens, der sich ein wenig bei mir ausweinen möchte.«

Jetzt konnte Roberta sich eine Bemerkung einfach nicht verkneifen.

»Und mir wirfst du vor, so etwas wie die Mutter Teresa zu sein, was bist du denn?«

Nicki begann herzhaft zu lachen.

»Dieser Punkt, allerbeste Freundin, der geht an dich.«

Dann hatte Nicki es eilig, sich von Roberta zu verabschieden.

Gerade im richtigen Augenblick, denn Alma kehrte auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer zurück, was überhaupt nicht nötig gewesen wäre, denn die kleine Adrienne befand sich nebenan.

»Sie schläft«, flüsterte Alma verzückt, danach blickte sie ihre Chefin an. »Ist es Ihnen recht, Frau Doktor, wenn ich Adrienne für heute Nacht mit in meine Wohnung nehme? Ich möchte noch so viel wie möglich von ihr haben, denn wenn …«, sie brach ihren Satz ab, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Bei aller Liebe, jetzt dramatisierte Alma ein wenig, und das hatte sie eindeutig mit Nicki gemeinsam.

»Klar, Alma, nehmen Sie die Kleine mit in Ihre Wohnung, aber ansonsten, noch ist sie hier, noch ist nichts entschieden, nicht wahr?«

»Aber man wird sie uns nehmen«, erwiderte Alma mit düsterer Grabesstimme. Wenn die Situation nicht so ernst wäre, hätte Roberta jetzt am liebsten angefangen zu lachen. Ihr ging es doch auch nahe, sie wollte überhaupt nicht an das Leben ohne Adrienne denken.

Roberta erhob sich, war mit wenigen Schritten bei Alma, umarmte sie. »Alma, Paula ist die Mutter. Wir sollten uns freuen, dass sie sich zu ihrem Kind bekennen möchte. Anders zu denken, das wäre egoistisch, nicht wahr?«

»Sie haben recht, Frau Doktor«, bekannte Alma, »doch es ist so unendlich schwer, das voneinander zu trennen. Irgendwo sind wir Menschen alle auch Egoisten, im Fall Adrienne bekenne ich mich dazu, eine Egoistin zu sein.«

Roberta streichelte Almas Rücken.

»Alma, alles wird gut, und das Leben geht immer weiter. Und wer sagt denn, dass für uns alles zu Ende sein wird, bloß weil Paula hier aufgetaucht ist?«

Alma entschied sich, dazu nichts zu sagen, sie befreite sich aus Robertas Armen und entschuldigte sich, bemerkte mit leiser Stimme: »Sie haben so viel um die Ohren, und dann nöle ich Sie auch noch zu.«

»Alma, alles ist gut.«

Roberta war sich nicht sicher, ob diese Worte bei Alma angekommen waren, doch sie war ganz froh, dass Alma sich entschuldigte, ging, um mit der kleinen Adrienne hinunter in ihre eigene Wohnung zu gehen. Für das Baby war es wirklich sehr komfortabel, manchmal behielt Roberta sie bei sich, manchmal nahm Alma die kleine Adrienne zu sich.

Sie hatte die ganze Zeit über ziemlich cool getan, doch das sah nur so aus. Roberta hatte keine Ahnung, wie sich alles nun entwickeln würde. Vor allem wollte sie natürlich auch, dass es für Paula gut ausgehen sollte. Ihr war bald schon klar, dass sie das nicht entscheiden konnte, weil sie überhaupt keine Ahnung davon hatte. Es musste so oder so ein Anwalt her. Sie konnte Rosmarie Rückert nach einer Adresse fragen, deren Ehemann immerhin Notar war. Dann jedoch entschied sie sich anders. Sie würde sich an Teresa von Roth wenden, die ihr in dieser Angelegenheit bereits einmal geholfen hatte.

Sie versuchte, sich zu entspannen, und dann begann Roberta zu träumen. Es war schön gewesen mit Adrienne, und die Anwesenheit des Babys hatte Roberta vorgegaukelt, wie es hätte sein können, wenn sie und Lars vom Schicksal nicht getrennt worden wären.

Lars …

Roberta würde niemals aufhören, an ihn zu denken, weil er ihr alles bedeutet hatte, dieser Mann mit den unglaublich blauen Augen.

Das Bild von Ken Craig hatte sich verwischt, das von Lars würde für immer bleiben, genau wie der Stern, der ihren Namen trug, Lars und Roberta …

Nein! Sie wollte nicht schon wieder mit ihrem Schicksal hadern, das so grausam zugeschlagen hatte. Sie war nicht allein auf der Welt, die es so bitter getroffen hatte, und sie war auch nicht allein, die sich fragte, warum das ausgerechnet ihr passiert war.

Sie dachte an das, was Nicki ihr an den Kopf geworfen hatte, so etwas wie Mutter Teresa zu sein. Traf das zu? Flüchtete sie sich in etwas, was ihr nicht gefährlich werden, wo sie helfen konnte? Nein, da dachte sie in den verkehrte Richtung. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, es war auf ihren Weg gekommen. Und so würde es auch sein, sollte irgendwann noch einmal ein Mann ihren Weg kreuzen, mit dem sie sich ein Zusammenleben, oder mit dem sie sich wenigstens eine Liebesbeziehung vorstellen konnte.

Sie griff nach der Fernbedienung ihres Fernsehers und schaltete den beinahe hektisch an, um ihren Gedanken zu entfliehen, die nicht in die richtige Richtung gingen. Ein Liebesfilm war nicht gerade das, was sie jetzt brauchte. Alles andere war auch nicht das, womit sie sich ablenken konnte. Also blieb Roberta bei einer Sendung über die ägyptischen Baudenkmäler hängen. Das war nicht gerade prickelnd, doch es lenkte sie ein wenig ab.

*

Alex Anders schien wirklich zu schmollen. Oder hatte er sich ganz aus ihrem Leben zurückgezogen? Diese Frage stellte Bea sich immer wieder. Und weil sie nichts Ungeklärtes mehr in ihrem Leben haben wollte, blieb sie dran. Ihre Beharrlichkeit hatte Erfolg. Endlich erreichte sie Alex, und der wusste zunächst einmal nicht, wie er sich verhalten sollte.

Bea tat, als sei nichts geschehen.

»Hallo, Alex, schön, dass ich dich erreiche«, sagte sie sehr freundlich, und dann erfuhr sie von ihm, dass er sehr beschäftigt gewesen sei, einige Male auch unterwegs. Das war auch so gewesen, als zwischen ihnen die Welt noch in Ordnung gewesen war, doch Bea erinnerte ihn nicht daran. Sie wollte einfach eine Klärung haben, und deswegen fuhr sie fort: »Alex, wenn du Zeit hast, dann würde ich dich gern treffen. Ich möchte einfach nicht im Raum stehen lassen, wie wir uns getrennt haben.«

Zunächst einmal war nichts zu hören, dann murmelte er: »Ich habe mich nicht gerade gentlemanlike benommen. Tut mir leid, Bea.«

Es konnte ihm auch leidtun, denn so einen Aufstand zu machen, nur weil sie eine Verabredung vergessen hatte, war wirklich nicht die feine englische Art. Doch darum ging es nicht mehr, es war vorbei, und Bea war nicht nachtragend.

»Schwamm darüber, Alex. Doch es ist ganz offensichtlich, dass wir Redebedarf haben, was wir wollen, wo wir stehen. Eskalationen entstehen oftmals auch aus unerfüllter Erwartungshaltung.«

»Gut, treffen wir uns, es ist mir ja auch sehr wichtig, Bea, du bedeutest mir sehr viel. Und weil das so ist, habe ich wohl auch so enttäuscht reagiert.«

Er wollte nicht zu ihr kommen, sie verabredeten sich an einem neutralen Ort in Hohenborn. Er hielt sich gerade in seinem Hotel auf, und für sie war es vielleicht auch gar nicht so schlecht, dann konnte sie unter Umständen noch ins Kino gehen, was sie eigentlich vorgehabt hatte.

Bea blickte auf die Uhr. Viel Zeit hatte sie nicht, also verwarf sie auch sofort wieder den Gedanken, sich für Alex ein wenig aufzuhübschen.

Alex!

Während der Zeit des Schweigens hatte sie sich schon so ihre Gedanken gemacht, da war vieles von dem Glanz erloschen, mit dem sie ihn und sich umgeben hatte. Und jetzt bei diesem Telefonat war Alex ihr richtig fremd vorgekommen. Wo waren die Gefühle geblieben, die Atemlosigkeit? Bea wollte sich da nicht in etwas verrennen. Sie waren gegenseitig voneinander enttäuscht gewesen, unsanft auf dem Boden der Wirklichkeit gelandet, herunter von der Wolke der Glückseligkeit.

Doch musste nicht jeder irgendwann im Alltag ankommen, der eine früher, der andere später?

Stopp!

Es ging nicht um sie allein, da war auch noch eine zweite Person beteiligt, eine Person, die ihr wichtig war, denn sonst würde sie sich nicht all diese Gedanken machen, dann hätte sie sich auch nicht um das Treffen mit Alex bemüht, sondern sie hätte es mit Bedauern abgehakt.

Ehe Bea das Haus verließ, schminkte sie sich wenigstens ein bisschen, zog die Lippen nach und stäubte sich ein paar Tropfen ihres Lieblingsparfüms hinter die Ohren, dann betrachtete sie sich kritisch im Spiegel. Sie konnte so bleiben. Sie sah hübsch aus in der braunen Jeans und dem camelfarbenen Twinset. Außerdem ging sie nicht zu einem Schönheitswettbewerb, sondern sie wollte Alex treffen. Und aus ihrer Aufgeregtheit schloss Bea, dass er ihr noch sehr wichtig war, dass sie sich auf ihn freute. Schließlich war er der erste Mann nach Horst gewesen, und Alex hatte sie akzeptiert wie sie war. Mehr noch, Alex hatte ihr das Gefühl vermittelt, eine begehrenswerte Frau zu sein. Er war an ihrer Seite gewesen, als sie diese unangenehmen Auseinandersetzungen mit Horst gehabt hatte, der in wenigen Tagen nicht mehr ihr Ehemann sein würde. Und ihre erste flüchtige Begegnung auf dem Bauernmarkt, die war schon magisch gewesen. Zumindest hatte sie das so empfunden, und seine Worte würde sie ebenfalls niemals vergessen, dass eine Frau wie sie sich ihre Blumen niemals selbst kaufen sollte.

Hatte sie sich da in etwas verrannt, weil so etwas noch niemand zu ihr gesagt hatte? Weil sie ausgehungert nach Worten gewesen war, die ihr selbst galten, nicht der Person, die sie über viele Jahre hinweg sein musste, von Horst erschaffen, der seine verstorbene Frau nicht loslassen konnte?

Ihre Gedanken drifteten ab in eine Richtung, die nichts weiter als Spekulation war.

Sie würde Alex gleich treffen, und eines stand fest, Bea freute sich darauf. Kam es nicht einzig und allein darauf an? Und das, was geschehen war, durfte sie auch nicht überbewerten. Sie standen ganz am Anfang ihrer ­Beziehung, nicht einmal die so­genannten Werbewochen waren vorbei. Sie hatten geglaubt zu wissen, wie der andere tickte, geglaubt, wohlgemerkt. Und das war dann halt in die Hose gegangen.

Bea beeilte sich, nach Hohenborn zu kommen, und als sie dort ihr Auto parkte, ärgerte sie sich ein wenig. Sie hätte sich doch etwas anderes anziehen sollen, vielleicht ein Kleid, weil Alex sie darin besonders hübsch fand.

Es war zu spät, außerdem hatte sie sich doch ganz fest vorgenommen, in erster Linie ihr eigenes Ding zu machen und keine Erwartungshaltungen zu erfüllen.

Schluss, aus.

Sie freute sich darauf, Alex zu treffen, und deswegen beeilte sie sich, zu dem kleinen Café zu kommen, mit dem Resultat, dass sie zu früh war, von Alex war noch keine Spur zu sehen. Warum denn auch, sie war mehr als eine Viertelstunde zu früh.

Doch das machte nichts, schließlich musste sie nicht in eisiger Kälte draußen stehen und auf ihn warten. Das war lediglich ein Gedankenspiel, denn draußen war es mild, und es schien die Sonne. Bea deutete das allerdings nicht als ein gutes Zeichen. Sie suchte einen schönen Tisch aus an einem der Fenster, ein wenig abseits von den anderen Tischen. Sie glaubte zwar nicht, dass es mit Alex eine heftige Auseinandersetzung geben würde. Doch es ging die Leute nichts an, was sie miteinander zu besprechen hatten. Es gab ja Menschen, die sich am liebsten zu einem an den Tisch setzen würden, um nur ja jedes Wort mitzubekommen, das da gesprochen wurde.

Bea bestellte sich bei der freundlichen Bedienung keinen Kaffee, sondern einen grünen Tee. Dann griff sie nach einem zufällig auf dem Tisch liegenden Prospekt und vertiefte sich in den. Das war auch eine Möglichkeit, Zeit totzuschlagen.

*

Vielleicht hatte jemand den Prospekt vergessen, oder der Besitzer des Cafés war ein Tierschützer und wollte seine Gäste auf die Bedrohung von Elefanten durch Wilderer aufmerksam machen. Wie auch immer, der Text war aufrüttelnd, weil man sich viel zu wenig Gedanken um Elefanten machten, weil sie von einem viel zu weit weg waren. Sie überlegte, ob sie nicht auch dem Spendenaufruf folgen sollte, als sie zusammenzuckte, weil sie ihren Namen hörte.

Sie hatte nicht mitbekommen, dass Alex das Café betreten hatte und nun vor ihr stand. Er trug eine Jeans, einen lässigen blauen Pullover, ein Outfit, das besonders gut zu seinen blonden Haaren und seinen blauen Augen passte.

Bea merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

»Alex …«

Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte kein einziges Wort über ihre Lippen. Man konnte vor lauter Entsetzen verstummen, doch umgekehrt war es ebenfalls möglich, wenn man sich freute.

»Ich bin aber nicht zu spät«, sagte er, deutete auf seine Armbanduhr.

Sie lächelte ihn an.

»Nein, bist du nicht, ich war zu früh. Vielleicht, weil ich es kaum erwarten konnte, dich zu sehen.«

Er erwiderte ihr Lächeln, und in ihrem Inneren ging die Sonne auf. Was für Gedanken sie sich doch gemacht hatte, und nun waren sie dahin wie Schnee in der Sonne.

»Das hast du schön gesagt, Bea.«

Er setzte sich, ergriff sofort ihre Hand, was ihr nicht unangenehm war.

»Du bist wunderschön«, bemerkte er, was bei ihr herunter ging wie Öl. Bestimmt hätte er noch mehr Komplimente gemacht, doch die Bedienung kam, um seine Bestellung aufzunehmen. Er wollte nur einen Kaffee trinken, allerdings einen Becher. Und Bea bestellte sich einen weiteren grünen Tee.

Sie sprachen nicht miteinander, schauten sich nur an, und das war gut so, denn die Bedienung kam erstaunlich schnell mit den Getränken zurück.

Als sie wieder weg war, ergriff Alex das Wort.

»Danke noch mal, dass du dich gemeldet hast. Es war dumm von mir, mich wie ein schmollender Junge zu benehmen. Doch da muss ich dir etwas erklären. Nach meiner Scheidung hatte ich hier und da mal Affären, doch es war nichts Ernstes. Als ich dich zum ersten Male auf dem Marktplatz erblickte, wusste ich, dass du die Frau bist, auf die ich gewartet habe. Und ich war überglücklich, dass das Schicksal uns erneut zusammenführte …, ich wusste sofort, dass du die Frau bist, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Ich habe es dir nicht gesagt, obwohl es mir auf der Seele brannte, um dich nicht zu überfordern, weil du ja erst die Scheidung hinter dich bringen musstest. Also plante ich für mich allein unser Leben.«

Erst hatte Bea sich wieder auf der Wolke der Glückseligkeit befunden nach all den wundervollen Worten, die er da gesagt hatte, doch seine letzten Worte ließen sie unsanft herunterpurzeln.

Was hatte er da gesagt?

Hatte sie richtig verstanden, dass er bereits ihr gemeinsames Leben geplant hatte? Geplant! Bei Bea gingen alle Alarmglocken an. Das hatte auch Horst getan, und so etwas wollte sie niemals mehr haben.

Sie verkniff sich eine Bemerkung. Mal sehen, was er noch zu sagen hatte. Aber sie entzog ihm ihre Hand, was er allerdings überhaupt nicht mitbekam. Er wirkte irgendwie wie entfesselt, oder aber er war einfach nur froh, endlich das aussprechen zu können, was ihm auf der Seele brannte.

Der neue Sonnenwinkel 75 – Familienroman

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