Читать книгу Die junge Gräfin 23 – Adelsroman - Michaela Dornberg - Страница 3

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Der Briefumschlag flatterte zu Boden, ohne dass Alexandra es bemerkte.

Mit beiden Händen, als könne sie daran Halt finden, umklammerte sie den Brief, dann ließ sie sich ächzend auf einen Stuhl fallen.

Alexandra konnte es noch immer nicht glauben. Sie hätte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit, nochmals etwas von Hendrik zu hören. Und dass er ihr Blumen schicken würde, darauf wäre sie im Traum nicht gekommen.

Von allem, was an diesem Tage ­geschehen war, war das die Krönung.

Oder sollte sie sagen … das Sahnehäubchen?

Sie hatte sich schon sehr gefreut über diese wunderschönen Rosen an sich, dass sie von Hendrik Hoorgen gekommen waren, freute sie noch mehr.

Ihre Hände zitterten vor Aufregung ein wenig, als sie sich endlich den Zeilen zuwandte, die er ihr geschrieben hatte.

Sie war nicht aufgeregt, weil sie ein Geschenk eines Mannes bekommen hatte in den sie verliebt war. Nein, das war nicht der Fall. Es war ganz einfach nur Freude.

Auch eine Gräfin Alexandra genoss es, bewundert zu werden; noch dazu von einem Mann, der charmant, gebildet, witzig war und dazu noch unverschämt gut aussah.

Liebe Alexandra, las sie, alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist zutreffend. Ich kann eher was mit einem Stamm Eingeborener im tiefsten Afrika anfangen als mit dem Adel. Und der Gedanke, in einem Schloss wohnen zu müssen, mag es noch so prachtvoll sein wie Ihr Schloss Waldenburg, ist gruselig. Aber…, wie ich es gesagt habe, das war absolut unmöglich. Und dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen, und es war auch sehr vermessen, denn niemand hat mich eingeladen, bei Ihnen zu wohnen, und Sie haben mich auch nicht dazu ermuntert, mich mit Ihnen zu verloben. Es waren wohl meine Bindungsängste, die mich dazu verleitet haben, mich so zu verhalten. Also nochmals die zweite Entschuldigung eines reuigen Sünders! Sie haben mich von der ersten Sekunde an fasziniert, ein Eindruck, der durch unser Gespräch in dem Café noch verstärkt wurde. Und wie Sie mit meinem flegelhaften Benehmen umgegangen sind, das war ganz große Klasse. Zu alledem sind Sie auch noch wunderschön. Ich würde gern mit Ihnen in Verbindung bleiben, sehr gern sogar. Und ich würde mich wahnsinnig über ein Lebenszeichen von Ihnen freuen. Unter der folgenden Nummer können Sie mich Tag und Nacht erreichen.« Dann folgte, dick unterstrichen, mit großen, nicht zu übersehenden Zahlen, die Nummer. »Um Ihren Anruf nicht zu verpassen, werde ich mein Handy Tag und Nacht eingeschaltet lassen. Bitte, geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß und verzeihen Sie einem Rüpel. Mit herzlichen Grüßen und ganz viel Hoffnung im Herzen verbleibe ich Ihr sehr ergebener Hendrik.

Seine Unterschrift war schwungvoll, wie er überhaupt eine sehr klare, männliche Schrift hatte. Aber das war ihr sofort aufgefallen, als sie den ersten Blick auf die Zeilen geworfen hatte.

Es folgte noch ein PS:

Testen Sie mich, ich kann sehr nett sein, wirklich.

Darüber musste sie lächeln.

Sie strich das Blatt glatt, ließ es auf ihren Schoß sinken.

Alexandra freute sich.

Sie freute sich sogar sehr.

Und hatte sie es sich nicht gewünscht, mit diesem Mann in Verbindung zu bleiben, der ihr auf schon sehr ungewöhnliche Weise ins Leben geschneit war?

Bei Beinahe-Zusammenstößen auf einer Landstraße lernte man normalerweise keine Männer kennen.

Zum Glück war nichts passiert, und das war wohl in erster Linie ihrer Geistesgegenwart zu verdanken gewesen. Aber das war jetzt auch egal.

Das Kaffeetrinken mit ihm danach war nett gewesen, seiner Bitte um ein Wiedersehen hatte sie nicht nachgegeben, es bereut, und dann dieses unverhoffte Wiedersehen bei der Vernissage in Olaf Christensens Galerie. Da war er aber einfach verschwunden, ihr drittes Zusammentreffen hatte auf Waldenburg stattgefunden.

Manchmal war die Welt wirklich sehr klein.

Hendrik Hoorgen war der Freund des ausstellenden Künstlers, und Olaf und Marion hatten die beiden zum Abendessen mit aufs Schloss gebracht.

Da hatte Alexandra sich ein Herz gefasst und ihm signalisiert, dass sie nun auch an einem Wiedersehen interessiert war.

Autsch …

Es hatte ihrem Ego schon ganz schön wehgetan, von ihm eine Abfuhr zu erleiden, indem er ihr sagte, dass er sie unter normalen Umständen sehr gern kennen lernen würde, dass sie so ganz in sein Beuteschema passte, aber …

Eine Gräfin, noch dazu eine mit einem eigenen Schloss passten nicht in sein Weltbild, und deswegen wolle er weitere Zusammentreffen nicht forcieren, sondern sie dem Zufall überlassen.

Alexandra lächelte.

Ein ganz schönes Hin- und Her, ein ziemliches Durcheinander.

Seine reuevollen Worte gefielen ihr, doch das Problem war damit nicht aus der Welt geräumt, denn er hatte schon mit seinen ersten Worten erklärt, dass sich an seiner grundsätzlichen Einstellung nichts geändert hatte.

Also kein Adel!

Kein Schloss!

Sie war Gräfin, und ein Schloss besaß sie auch, und da es in ihren Händen lag, die Waldenburgs in die Zukunft zu führen, würde sie ihre Heimat auch für nichts und niemanden verlassen. Warum denn auch? Für sie gab es nichts Schöneres als genau da zu leben wo sie lebte, und die Verantwortung, die sie tragen durfte, ja, durfte, nicht musste, machte sie stolz und glücklich.

Halt!

Stop einmal, Hendrik Hoorgen hatte ihr in diesem Brief keinen Antrag gemacht, er wollte nur mit ihr in Verbindung bleiben, trotz der Ablehnung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Er wollte es, weil er sie mochte.

Und sie?

Sie fand ihn sympathisch, unterhielt sich gern mit ihm, genoss seine Bewunderung. Doch das war es auch schon. Sie war nicht die Bohne in ihn verliebt.

Also konnte sie ihn irgendwann auch mal anrufen, denn eines war gewiss, sie würden interessante Gespräche miteinander führen, und wenn in denen ein wenig Bewunderung für sie durchschimmern würde, dann würde sie es genießen. Sie war halt eine Frau, die die Bewunderung zwar nicht brauchte um ihr Ego aufzuwerten, aber die sie auf jeden Fall genoss.

Alexandra stand auf, legte den Brief auf ihren Schreibtisch, dann wollte sie das Büro verlassen.

An der Tür besann sie sich, ging zurück, nahm den Brief an sich.

Konnte ja sein, dass sie ihn später noch mal lesen wollte, dachte sie zu ihrer eigenen Entschuldigung. Dabei wusste sie schon jetzt, dass sie die Zeilen auf jeden Fall nochmals lesen würde. Und diesen wundervollen Rosenstrauß würde sie jetzt auch mit ganz anderen Augen sehen.

Stil hatte er schon, dieser Hendrik Hoorgen, dachte sie, während sie das Licht löschte, und wenn er und nicht der Florist genau diese Rosen ausgewählt hatte, dann besaß er auch einen sehr guten Geschmack.

In der Halle stieß sie auf Monika, ihre neue, alte Köchin, die über sich hinauswuchs, seit sie in der Küche das Zepter in der Hand hatte und nicht mehr als Beiköchin fungieren musste.

»Ich war noch mal draußen im Kräutergarten«, erklärte sie und hielt Alexandra ein Sträußchen entgegen, »ich hatte kein Rosmarin mehr, und das brauche ich ja wohl für die Kartoffeln vom Backblech, die Sie sich für heute Abend gewünscht haben, Frau von Waldenburg.«

Stimmt!

Das hatte Alexandra aber vollkommen vergessen. Ihr wurde immer mehr bewusst, dass das Gehirn wirklich nicht alles speicherte, besonders das nicht, was unwesentlich war. Und so schwand auch immer mehr ihre Sorge, bei ihrem Vater könne doch etwas bedenklich sein, weil er die Geheimzahl für sein italienisches Konto vergessen hatte.

Sie hatte in kürzester Zeit nicht mehr an die Rosen gedacht, nicht an den dazugehörenden Brief, und die Rosmarinkartoffeln …

»Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht«, gab sie zu, »aber darauf freue ich mich jetzt, Monika … Was gibt es denn dazu?«

Die junge Köchin lachte, was, seit sie aufgerückt war, häufig der Fall war.

»Dazu haben Sie sich ein kleines Kalbssteak gewünscht, Frau von Waldenburg …, aber wirklich nur ein kleines, weil es Ihnen eigentlich in erster Linie auf die Kartoffeln ankommt.«

»Ja, richtig«, erinnerte Alexandra sich, und jetzt lachte sie auch, und das aus zwei Gründen, zum einen, weil sie sich auf das Essen freute, und zum anderen, weil sie sich immer mehr in die grandiose Funktionsweise des menschlichen Gehirns hineindenken konnte. Beispielsweise war ihr nachhaltige Forstwirtschaft wichtig. Obschon es nicht ihre eigentliche Arbeit war, wusste sie doch, welche Bäume bleiben sollten, welche eventuell weichen mussten und das die zu fällenden Bäume angesprüht waren. So etwas war wichtig, das durfte nicht vergessen werden. Aber die Welt ging nicht davon unter, dass sie nicht mehr wusste, ob sie Rosmarinkartoffeln oder Spaghetti Bolognese zum Essen bekommen würde.

Aber die Spaghetti Bolognese konnte sie sich eigentlich auch wieder mal wünschen.

Alexandra nickte ihrer Köchin zu, doch ehe sie weiterging, erkundigte sie sich: »Und gibt es auch ein Dessert?«

Monika lachte.

»Ja, da habe ich mir etwas ausgedacht, Frau von Waldenburg. Aber das wird nicht verraten, soll eine Überraschung sein.«

Sie wedelte mit ihrem Rosmarinsträußchen, ehe sie sich in Richtung Küche fortbewegte, während Alexandra die Treppe zu ihren eigenen Gemächern hinaufeilte.

Monika war ganz große Klasse, sie war wirklich so etwas wie das Veilchen, das im Verborgenen blühte, und dort wäre sie bestimmt noch weiter gewesen, wenn Gesa nicht Knall auf Fall gegangen wäre.

Bei dem Gedanken an Gesa erinnerte sie sich daran, dass sie deren Vorgängerin Klara fragen wollte, warum Gesa ihren Arbeitsplatz aufgegeben hatte.

Gesa hatte sich nicht mehr gemeldet, während sie zu Klara noch immer ein gutes Verhältnis hatte, sie telefonierten miteinander.

Aber Klara wäre ja auch nicht gegangen, wenn sie nicht die Verantwortung für ihre alten Eltern, Onkel und Tanten, die kleine Landwirtschaft und den Gasthof hätte übernehmen müssen.

Nicht übernehmen müssen, übernehmen wollen war da wohl richtiger.

Im Grunde genommen ging es Klara wie ihr, nur dass ihr Erbe gewaltiger war. Aber eines hatten sie gemeinsam, sie liebten ihre Heimat, wollten die Tradition fortsetzen und scheuten sich nicht, dafür mit Freude die Verantwortung zu übernehmen.

Klara war schon ein ganz besonderer Mensch, wenn es nach Hubertus gegangen wäre, hätte sie sogar Gräfin werden können.

Hubertus von Greven und Klara hatten viele gemeinsame Interessen, sie verband die Liebe zur Natur, und von gefährlichen Trekkingtouren, beispielsweise in Nepal oder Tibet, wussten sie um ihren starken Charakter, den man brauchte, um solche Abenteuer bestehen zu können.

Das alles zu unternehmen traute Klara sich zu, Gräfin von Greven zu sein nicht. Deswegen hatte sie eine klare Grenze gezogen. Aber vielleicht hatte sie da auch bereits geahnt was auf sie zukommen ­würde. Klara wäre in ein ganz schönes Dilemma geraten, wenn sie Hubertus’ Werben nachgegeben hätte.

Ihr Vater sagte immer, das Schicksal stellte einen ganz genau auf den Platz auf den man gehörte, und das stimmte schon.

Sie hatte das Erbe der Waldenburgs angetreten, was nur wegen des Fehlverhaltens ihres Bruders Ingo eingetreten war.

Alexandra blieb stehen, strich sich über die Stirn, als könne sie mit dieser Geste all die Gedanken vertreiben, die im Augenblick in ihr wild durcheinanderpurzelten.

»Nein! Nein! Und abermals Nein!«

Das reichte jetzt wirklich. Nun hatte sie genug in der Vergangenheit herumgekramt. Es war Zeit, sich wieder der Gegenwart zuzuwenden, die so schlecht gar nicht war …

*

In den nächsten Tagen war Alexandra ein wenig hin und her gerissen.

Sie dachte schon an Hendrik Hoorgen, musste sie ja, denn die Blumen waren noch frisch wie am ersten Tag und standen da wie kleine Soldaten.

Jemand vom Personal kümmerte sich offensichtlich hingebungsvoll um die Rosen. Sie musste zu ihrer Schande eingestehen, dass sie nicht so aussähen unter ihrer Obhut. Sie würde vermutlich vergessen die Rosen anzuschneiden, ihnen frisches Wasser zu geben.

Mit Blumen verhielt es sich bei ihr wie mit dem Essen:

Sie liebte es, verstand etwas davon, konnte aber nicht besonders gut kochen.

Hendrik anzurufen hatte sie noch nicht über sich gebracht, weil sie nicht wusste, ob sie da etwas anfangen sollte, was zu nichts führte.

Gab es da vielleicht doch etwas in ihr, was sie warnte, weil nicht ganz gewiss war, dass sie sich nicht doch in ihn verlieben könnte?

Im Grunde genommen war das die einzige Erklärung, denn warum sonst eierte sie so herum?

Freundschaften zwischen Männern und Frauen gab es, das beste Beispiel dafür war doch ihre Freundschaft zu Olaf Christensen, der mit ihrer Schwägerin Marion verbandelt war. Ehe die beiden zusammengekommen waren, hatten Olaf und sie auch ein wenig miteinander geflirtet, aber das war mehr oder weniger oberflächlich gewesen, zu einem Kuss oder mehr als einer freundschaftlichen Umarmung war es nie gekommen.

Warum sollte es mit Hendrik Hoorgen nicht in diese Richtung gehen?

Weil sie gerade solo war und sich in Wahrheit nach mehr sehnte als einer freundschaftlichen Beziehung?

Dass sie so gern mal wieder den Satz – Ich liebe dich – hören wollte?

Dass sie eine innige Umarmung spüren und in leidenschaftlichen Küssen versinken wollte?

Alexandra seufzte.

Welche Singlefrau sehnte sich nicht nach alledem, vor allem dann, wenn ringsum glückliche Paare waren – Marion und Olaf, Liliane und Mark, und ihre Freundin Rita hatte sich jetzt schon ein paarmal mit dem Rechtsanwalt Dr. Richter getroffen.

Und da gab es noch als leuchtendes Vorbild ihre Schwester Sabrina, die überglücklich mit ihrem Ehemann Elmar war und den liebreizenden vier kleinen Töchtern Anna, Celia, Melanie und Elisabeth.

Ja, das wünschte sie sich auch.

Aber mit Hendrik Hoorgen?

Nein, daran durfte sie überhaupt keinen Gedanken verschwenden. Hendrik eignete sich als Unterhalter, als Flirt vielleicht auch. Doch warum sollte sie mit ihm flirten, wo sie doch jetzt schon wusste, dass das alles nur unverbindlich bleiben konnte.

Hendrik hatte eine Grenze gezogen, und das auch noch schriftlich dokumentiert.

Alexandra als Frau ja, Alexandra als Gräfin und Schlossbesitzerin nein.

Sie musste die Finger von ihm lassen, wollte sie sich nicht verbrennen.

Und so war es am besten …

Sie konnte diesen Gedanken nicht zu Ende bringen, denn in dieser Sekunde wurde die Tür aufgerissen, Fanny steckte den Kopf herein und rief ganz aufgeregt: »Graf Benno und Gräfin Elisabeth sind soeben eingetroffen. Sie wollen Ihre Eltern doch ganz gewiss als Erste begrüßen.«

Und ob sie das wollte!

Alexandra sprang auf, lief an der lächelnden Fanny vorbei, die für ihre junge Chefin durchs Feuer gegangen wäre. Nicht nur sie, das gesamte Personal liebte die junge Gräfin.

Darum machte Alexandra sich allerdings jetzt keine Gedanken, sie stürmte vielmehr durch die riesige Halle und kam gerade an der schweren Eichentür an, als diese geöffnet wurde und ihre Eltern hereinkamen.

Alexandra fiel ihnen abwechselnd lachend um den Hals.

»Mama, Papa, wie schön, dass ihr endlich da seid, herzlich willkommen daheim«, rief sie glücklich.

Benno von Waldenburg strich seiner jüngsten Tochter über das seidige Haar, während er gerührt sagte: »Ich wollte, wir würden überall so herzlich begrüßt.«

Alexandra hängte sich bei ihm ein.

»Werdet ihr doch, Papa«, antwortete sie, »du und Mama, ihr seid überall gern gesehene Gäste. Alle freuen sich über euren Besuch, weil ihr zwei so wunderbare Menschen seid.«

Sie ließ ihren Vater los und wandte sich ihrer Mutter zu, die wie immer tadellos aussah. Elisabeth von Waldenburg trug ein rosenholzfarbenes Kostüm mit passender Bluse, passenden Schuhen und Handtasche, und natürlich war sie, und das auch wie immer, so frisiert als sei sie gerade erst vom Friseur gekommen.

Es war nicht so, dass Elisabeth nicht mit anpacken konnte, und wenn es in den Wald ging, dann zog sie auch Gummistiefel, eine schlichte Hose und eine derbe Jacke an, und sie schlang sich, wie in England Queen Elizabeth, ein seidenes Kopftuch um.

In der Regel sah Elisabeth stets aus wie aus dem Ei gepellt, und sie würde niemals, wie ihre Tochter Alexandra, die fünf mal eine gerade Zahl sein lassen und lässig gekleidet, die Haare flüchtig zusammengebunden, mal eben kurz nach Kaimburg oder anderswo hingehen.

Elisabeth von Waldenburg würde nachlässig gekleidet, unfrisiert, nicht einmal zu einem, und sei es nur zwei Meter entfernten, Briefkasten laufen, um dort die Post einzuwerfen.

In dieser Hinsicht hatte Alexandra wirklich so gar nichts von ihrer Mutter. Da kam sie eher auf ihren Vater, dem sie ohnehin mehr ähnelte, sei es vom Äußeren als auch vom Charakter.

Alexandra war eine Waldenburg durch und durch.

Da unterschied sie sich auch von ihren Geschwistern.

Sabrina ähnelte sowohl von ihrer Statur als auch ihrem Charakter ihrer Mutter, an der sie auch mehr hing als an ihrem Vater.

Und Ingo …

Nun ja, eigentlich zählte der nicht so ganz zu den Waldenburgs. Wie zufällig an Bennos sechzigstem Geburtstag herausgekommen war, war Elisabeth mit ihm schwanger gewesen als Benno und sie sich ineinander verliebt hatten, zum Glück, musste man sagen, denn Benno hatte Ingo wie seinen eigenen Sohn aufgezogen und seiner geliebten Elisabeth das Schicksal einer alleinerziehenden Mutter erspart.

Eigentlich hätte Ingo auch Bennos Nachfolger werden sollen. So hatte man ihn erzogen. Dass er kein echter Waldenburg war, wäre niemals ans Tageslicht gekommen, wenn Ingo dummerweise nicht schon Kontakte zu Architekten, Finanzmaklern, Grundstücksspekulanten aufgenommen hätte, um nach der Übernahme von Waldenburg rasch alles verkaufen zu können, auch Schloss Waldenburg, den Stammsitz des Grafengeschlechts seit vielen, vielen Generationen.

Das mit dem ›im Blut haben‹ war wohl nicht nur so eine Floskel, sondern es stimmte wirklich.

Weder Alexandra noch Sabrina hätten auch nur einen winzigen Augenblick daran gedacht sich von etwas zu trennen was die Waldenburgs ausmachte.

Ingo, ihr Halbbruder, wie sie jetzt wussten, hätte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, darüber hinweggesetzt.

Alexandra legte ihrer um mehr als einen Kopf kleineren und wesentlich zierlicheren Mutter liebevoll einen Arm um die schmalen Schulter, und erkundigte sich besorgt: »Mama, geht es dir nicht gut? Du bist so blass.«

Gräfin Elisabeth straffte, so gut es ging, ihre zarte Gestalt und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen, als sie antwortete: »Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Ich …, ich habe nur ein wenig Kopfweh. Vielleicht sollte ich erst mal einen starken schwarzen Kaffee trinken, der hilft immer.«

Mochte ja sein, dachte Alexandra mitleidig, dass ein Kaffee ihrer armen Mutter ein wenig Linderung brachte, aber gegen den Schmerz, der wirklich in ihr tobte, konnte er nicht helfen. Auch dann nicht, wenn sie ihn eimerweise trank. Das, was ihr Kopfschmerzen verursachte, war Ingo, ihr geliebter Sohn. Auch wenn der die Waldenburgs jetzt nicht mehr mit kiloschwerer Anwaltspost zuschüttete, war längst nicht alles in Ordnung. Es war ein tiefer Riss da. Der konnte auch nicht gekittet werden, nur weil Ingo den entscheidenden Hinweis auf Michelles Entführer gegeben hatte. Wäre er nicht durch einen liederlichen Lebenswandel, durch seine Zockerei, in diese Kreise gelangt, hätte es nicht zu Michelles Entführung kommen können. Dann hätte niemand gewusst, das es seine Tochter war, auch wenn er sich nicht kümmerte und keinen Kontakt hatte. Und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass bei den Waldenburgs eine ganze Menge zu holen war.

Nein, sie wollte jetzt nicht an die Vergangenheit denken, die sie aber doch immer wieder einholte, weil sie nicht aufgearbeitet, sondern nur verdrängt war. Und solange das so war, würde es immer wieder hochkommen wie das Regenwasser aus einem übervollen Gully.

Ingo machte eine Therapie gegen seine Spielsucht, war dabei, sein Leben zu verändern.

Wenn es wirklich so war, wenn es ihm ernst war, dann konnten sie der Zukunft gelassen entgegensehen, und dann würden sie auch wieder als die Familie zusammenfinden, die sie gewesen waren, ehe es an dem sechzigsten Geburtstag ihres Vaters, der ein ganz besonderer sein sollte, zu diesem Eklat gekommen war.

Für sie war Ingo nach wie vor ihr Bruder, nur von der bewundernden Zuneigung war eine ganze Menge abgebröckelt. Sie würde auf jeden Fall ihr Verhalten zu ihm neu definieren müssen. Doch das hatte nichts mit ihren wahren Gefühlen zu tun, Ingo war ihr Bruder und das würde er immer bleiben. Das unterschied sie von Sabrina, die sofort mit ihm gebrochen hatte, als all diese unschönen Dinge passiert waren.

Nur …

Jetzt wollte sie nicht über Ingo nachdenken, sondern sich um ihre arme Mutter kümmern.

»Du sollst deinen Kaffee bekommen, liebste Mama, und das, so schnell es geht, wo willst du ihn denn einnehmen? In der Bibliothek? In einem der Salons?«

Benno von Waldenburg schob seine Tochter liebevoll beiseite.

»Ich denke, meine liebe Elisabeth, du legst dich erst mal eine halbe Stunde hin, den Kaffee kannst du danach trinken. Du hast letzte Nacht kaum geschlafen, eine kleine Ruhepause wird dir guttun.«

Dankbar schaute Elisabeth ihren geliebten Mann an.

»Du hast recht, mein Lieber«, entgegnete sie.

Benno reichte dem herbeieilenden Franz, dem Faktotum der Waldenburgs, seinen Autoschlüssel und bat ihn, das Gepäck aus dem Wagen zu holen und dann nach oben zu bringen.

Dann nickte er seiner jüngsten Tochter zu und sagte: »Wir sehen uns später, mein Kind.«

Dann umfasste Benno von Waldenburg seine Frau und führte sie liebevoll durch die Halle und zur geschwungenen Treppe, die nach oben führte.

Alexandra sah ihnen hinterher.

Wie zärtlich und liebevoll ihre Eltern doch miteinander umgingen, und das nach so vielen Jahrzehnten, die sie nun schon zusammen waren, in denen sie Freud und Leid geteilt hatten, immer verbunden in großer, zärtlicher, respektvoller Liebe.

Sie seufzte.

Ja, das wünschte sie sich auch, einen Mann an ihrer Seite, der sie so liebte wie ihr Vater seine Elisabeth.

Hätte Mike dieser Partner sein können?

Es war viel Gefühl zwischen ihnen gewesen, sie hatten miteinander reden, schweigen, aber auch lachen können.

Ach, dachte sie, es war müßig, an Mike zu denken, den hatte sie verloren, nachdem sie ihm hatte bestätigen müssen, dass in ihrem Herzen ganz viel Liebe für einen anderen Mann war. Für Joe, der eigentlich Joachim Graf von Bechstein hieß, nur das hatte sie erst viel, viel später erfahren. Und da war es für ein Happy-End zu spät gewesen, denn Joe war an eine andere Frau gebunden, Benita Komtess Ahnenfeld.

Welche Kapriolen das Schicksal doch manchmal machte!

Es ließ sie das einmalige Gefühl spüren, bei dem Herz und Seele sich miteinander vereinten, diesen Augenblick der Ewigkeit, um wegen einer dummen Karambolage ein zweites Treffen zu verhindern.

Warum hatte das Schicksal ihr nicht einen einzigen Hinweis gegeben, dass Joe und Joachim von Bechstein ein und dieselbe Person waren?

Wie verrückt!

Ihre Schwester hatte alles versucht, sie mit Joe zusammenzubringen, als er noch frei gewesen war, und sie hatte alle Treffen verhindert, war ihm geradezu panisch ausgewichen.

Mit hängenden Schultern wandte sie sich ab, um wieder in ihr Büro zurückzugehen.

Daran zu denken tat nur weh.

Warum tat sie sich das immer wieder an, sich diesen selbstquälerischen Gedanken hinzugeben? Warum akzeptierte sie nicht, dass es aus und vorbei war, sie und Joe so etwas waren wie die Königskinder, die nicht zueinander kommen sollten.

Wenn sie nicht endlich damit aufhörte, sich an diese aussichtslose Liebe zu klammern, dann musste man kein Hellseher sein, um ihr vorauszusagen, dass sie als alte Jungfer sterben würde.

Sie idealisierte etwas, was bei einer einzigen Begegnung entstanden war. Sie hatte mit Joe nicht eine einzige Stunde Alltag miteinander geteilt. Vielleicht passten sie überhaupt nicht zusammen, langweilten sich im normalen Leben.

Und sie klammerte sich daran fest, dass Joachim von Bechstein seinen Arbeitsvertrag bei den Scheichs in den Vereinigten Emiraten vermutlich verlängern wollte.

Sie versuchte sich einzureden, dass er es ihretwegen tat, dass seine Seelenliebe zu ihr auch noch da war, dass er seiner Braut Benita ausweichen, sie nicht heiraten wollte.

Das waren ihre ureigensten Phantastereien, für die es nicht eine einzige Bestätigung gab, und auch wenn ihre Schwester Sabrina sagte, dass Benita sauer auf ihren Verlobten war, der sich bei ihr auch kaum meldete, war das bedeutungslos.

Wäre sie, Alexandra, was Joe anbelangte, so realistisch wie sonst in ihrem Leben, dann hätte sie sich schon einmal die Frage stellen müssen, warum er sich bei ihr nicht meldete, um wenigstens einmal vorsichtig vorzufühlen, ob überhaupt ein Interesse ihrerseits bestand.

Alexandra hatte ihr Büro gerade erreicht, als ihr Telefon klingelte, und darum war sie sehr froh, denn das lenkte sie von Joe ab und den Gedanken, die doch ohnehin alle in einer Sackgasse landeten und bei ihr ein Gefühl tiefster Traurigkeit hinterließen.

Es war ihre Schwester Sabrina.

»Sind Mama und Papa schon angekommen?«, wollte sie nach der Begrüßung wissen.

Und als Alexandra das bestätigte, fragte sie: »Und warum hast du dann noch nicht angerufen, um mir das zu sagen?«

Alexandra setzte sich, lehnte sich in ihrem bequemen Stuhl zurück.

»Hey, Sabrina, langsam mit den Pferden. Mama und Papa sind gerade erst eingetroffen, und ich bin soeben in mein Büro zurückgekommen.«

»Dass du nicht da warst, habe ich bemerkt«, beschwerte Sabrina sich. »Ich habe ewig durchklingeln lassen und wollte gerade schon wieder auflegen. Aber sag mal, wieso bist du im Büro und nicht bei Mama und Papa?«

»Weil es Mama nicht so gut geht und Papa sie erst mal nach oben gebracht hat, damit sie sich ein wenig hinlegen kann.«

»Ach ja, die arme, arme Mama«, seufzte Sabrina bekümmert. »Sie schwächelt schon die ganzen letzten Tage, und schuld daran ist nur dieser nichtsnutzige Ingo, dem ich, wenn ich könnte, am liebsten den Hals zudrehen würde.«

»Sabrina, ich bitte dich«, rief Alexandra entsetzt, »du sprichst über deinen Bruder.«

»Halbbruder, genauer gesagt, Ex-Halbbruder, denn ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben, bei mir ist er durch bis zum nächsten Kaisermanöver, und wie du weißt, wird es das nicht mehr geben, und deswegen ist dieser Ingo für mich das Never-Come-Back-Programm.«

»Sabrina, sei nicht so hartherzig, in Wirklichkeit bist du doch überhaupt nicht so. Man muss auch verzeihen können.«

»Das kann ich sehr wohl, Schwesterlein, aber Ingo, der hat den Bogen überspannt. Was der uns alles angetan hat. Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht, und genau das ist geschehen …, wenn ich sehe, wie sehr Mama leidet.«

»Das stimmt, Sabrina. Aber sag, was ist geschehen, dass das Leid jetzt wieder besonders stark ist? Mama war doch schon ganz gefestigt und hatte sich mit der Situation arrangiert.«

»Es ist seit der Entführung von Michelle«, sagte Sabrina. »Da hat er den Helden gespielt, und Mama und du, ihr habt ihn doch gleich wieder angebetet und auf einen Sockel gestellt, dabei war es doch wohl das Wenigste, was er für seine Tochter, um die er sich nicht kümmert, tun konnte. Die Entführer waren schließlich seine Freunde.«

»Sabrina, das waren sie nicht, es waren Leute … Na ja, welche von denen, die …, verflixt noch mal, Ingo war in schlechte Gesellschaft geraten. Bitte, lass uns das jetzt nicht mehr aufwärmen, rückgängig machen können wir eh nichts. Ich für meinen Teil glaube auf jeden Fall daran, dass Ingo sich bessert, dass er in seinem Leben wieder andere Prioritäten setzt. Es ist doch schon anerkennenswert, dass er sich für diese Therapie zur Bekämpfung seiner Spielsucht entschlossen hat. Sein leiblicher Vater Wolf von Dommeln, der auch dieses üble Spielergen hat, hat nichts in dieser Hinsicht unternommen, und der fristet jetzt sein Dasein als Sozialhilfeempfänger. Ingo hat zum Glück rechtzeitig die Reißleine gezogen, um nicht auch so zu enden.«

»Alexandra, Alexandra, du siehst immer nur das Gute in einem Menschen, irgendwann wirst du als so eine Art Mutter Theresa in die Geschichte eingehen. Erst mal gibt es kein Spielergen, es gibt nur leichtfertige Menschen, und es scheint wohl so zu sein, dass es in jeder Familie ein schwarzes Schaf gibt. Bei den von Dommelns, einem ehrbaren Adelsgeschlecht, ist es ganz offensichtlich dieser Wolf, der irgendwann Mama geschwängert und sich der Verantwortung entzogen hat. Wir haben Ingo, der unseren Namen in Misskredit bringt, ohne überhaupt ein echter Waldenburg zu sein. Er sollte unseren Namen ablegen, ehe er ihn weiter beschmutzt, aber was dann? Die von Dommelns wollen ihn auch nicht haben, sie haben an einer tauben Nuss genug. Du glaubst doch wohl, dass Ingo längst versucht hat, sich dort einzuschleichen. Aber die sind halt nicht so dumm wie unser Papa, der ihn erzogen und geliebt hat wie seinen eigenen Sohn und der jetzt noch seine schützende Hand über ihn hält, warum hätte er sonst hunderttausend Euro Spielschulden übernommen, und warum hat er ihn nicht angezeigt, als er in den Waldenburgschen Wäldern herumgeräubert hat, und warum hat Papa es so lange hingenommen, dass Ingo leichtfertig die Konten abgeräumt und die Kreditkarten zum Glühen gebracht hat? Ingo, Ingo …, seinetwegen bekomme ich noch ein Magengeschwür. Ich wollt, er würde auf Nimmerwiedersehen verschwinden, ich wollt, es hätte ihn nie in unserem Leben gegeben, dann wäre uns viel erspart geblieben, und die arme Mama würde jetzt nicht so fürchterlich leiden.«

Alexandra ging auf das alles jetzt nicht ein, weil sie sehr genau wusste, dass es eine unendliche Geschichte war, solange nicht, durch Ingos wahre Läuterung oder was auch immer, Frieden einkehrte, und so griff sie nur die letzten Worte ihrer Schwester auf:

»Sabrina, bring es auf den Punkt, warum leidet Mama jetzt wieder so sehr wie damals, als alles begann.«

»Weil sie andauernd versucht, ihn zu erreichen. Jetzt, da er wegen Michelle sogar schon mal kurz auf Waldenburg war, hatte sie wohl gehofft, alles sei wieder Friede-Freude-Eierkuchen. Sie hat auch keine Angst mehr, Ingo könne seine Drohung wahrmachen und Mama und dir seine Anwälte auf den Hals hetzen, wenn ihr euch ihm noch mal nähert oder euch bei ihm meldet.«

»Das wird er nicht mehr tun«, sagte Alexandra, und das war nicht nur so dahergesagt, das glaubte sie auch.

»Das ist mir, ehrlich gesagt, wurscht. Auf jeden Fall kurbelt man sich die Finger wund, und sie hat ihm auch schon mehrfach geschrieben, klammheimlich, wie sie glaubte, aber ich habe es mitbekommen. Mama versteht sich nicht auf Heimlichkeiten, dafür ist sie eine viel zu ehrbare Person. Auf jeden Fall hüllt sich der gnädige Herr in Schweigen, und die arme Mama zerreißt es. Sie weiß ja, wie ich zu Ingo stehe, deswegen hält sie sich mir gegenüber zurück. Aber ich könnte darauf wetten, dass sie dich weichklopfen wird, mit ihr zu Ingo zu fahren. Das habt ihr ja schon mal, wenn auch vergebens und mit schrecklichen Folgen. Erinnere dich an Mamas Zusammenbruch, der so schlimm war, dass sie sogar im Krankenhaus gelandet ist … Alexandra, wenn Mama dich bittet, dann bleib hart. Rede ihr die Flausen aus dem Kopf. Ingo taugt nichts, es wird zu einer neuen Katastrophe kommen. Bleib hart«, wiederholte sie nochmals mit eindringlich klingender Stimme, »und fahre nicht mit ihr zu ihm.«

Alexandra antwortete nicht sofort.

»Alexandra, versprich es, um Mamas willen.«

»Tut mir leid, Sabrina, das kann ich nicht. Wenn Mama mich bittet, dann werde ich sie begleiten. Und ich werde auch von mir aus alles tun, um mich mit Ingo zu versöhnen. Was immer er auch getan hat, er ist unser Bruder, vergiss das bitte nicht, Sabrina. Wir haben uns immer sehr gut verstanden, waren ein Herz und eine Seele, ganz besonders du mit ihm. Oder hast du vergessen, wie sehr du ihn angebetet hast?«

»Nein, hab ich nicht«, gab Sabrina sofort zu, »aber es tut mir heute noch in der Seele weh, dass ich dumm genug war, auf ihn hereinzufallen. Ingo ist ein Staatsschauspieler, der versucht, die Menschen zu manipulieren, bei Mama ist es ihm gelungen. Er hat ihr Gefühle vorgegaukelt, und sie ist hin und weg wenn sie nur an ihn denkt.«

»Seine Gefühle für Mama sind echt«, widersprach Alexandra.

»Mein Gott, Alexandra, wie naiv bist du eigentlich? Wenn sie echt wären, hätte er Rücksicht genommen und Mama nicht all das angetan was passiert ist. Wach auf, sieh ihn endlich wie er wirklich ist …, nämlich der größte Egoist, der auf Gottes Erdboden herumläuft. Marion hat das auch erkannt und sich endgültig von ihm distanziert. Sie will mit ihm nichts mehr zu tun haben, und das hat sie ihm auch deutlich zu verstehen gegeben.«

»Marion? Woher willst du das wissen, Sabrina.«

»Ganz einfach, weil sie mir das bei einem unserer Telefonate erzählt hat, wir sind in Verbindung …, gewissermaßen von Mutter zu Mutter.«

»Sabrina, das glaube ich nicht. Das kann Marion doch überhaupt nicht tun. Ingo ist Michelles Vater.«

»Nein, Alexandra, er ist ihr Erzeuger, und das ist ein Unterschied. Er ist über die Dörfer gezogen, als er noch mit Marion verheiratet war, hat von der Schwangerschaft nichts mitbekommen. Und als er von der Existenz der kleinen Michelle erfuhr, hat er sich nicht die Bohne um sie gekümmert, ihr nicht einmal über das Haar gestrichen, geschweige denn, sie auf den Arm zu nehmen. Und auch nach seiner Abreise herrschte Schweigen im Walde, er hat sich nicht ein einziges Mal nach ihr erkundigt. Und Marion hätte er anrufen können, mit der lag er nicht im Clinch so wie mit uns …, und nun auf einmal die plötzlich erwachte Vaterliebe? Auf einmal möchte er Michelle sehen? Alexandra, jetzt müssen auch bei dir die Alarmglocken angehen.«

»Alarmglocken? Wieso? Für mich bedeutet es, dass die Therapie bei Ingo anschlägt, dass er sich jetzt auf seine Vaterpflichten besinnt, und das ist gut so.«

Sabrina lachte, aber es war ein unschönes, gequältes Lachen. Selbst durch das Telefon war zu hören, dass sie auf neunundneunzig war, kurz vor hundert, kurz vor dem Explodieren.

»Vaterpflichten? Dass ich nicht lache. Vermutlich hat Ingo erfahren, dass Papa für Michelle, genau wie für meine Töchter, ein beachtliches Vermögen festgeschrieben hat, und diese Tatsache erweckt seine Begehrlichkeit. Er will an Michelles Geld heran, und sonst gar nichts. Je eher du das begreifst, umso besser. Ingo ist von Grund auf schlecht, wenn es nicht so wäre, hätte er nicht so viel Böses angerichtet, und jetzt habe ich keine Lust mehr, über ihn zu reden, sonst bekomme ich wirklich noch dieses Magengeschwür. Das ist er mir nicht wert. Seinetwegen möchte ich nicht einmal einen kleinen Pickel kriegen … Bitte, Alexandra, du bist klug, du hast den großen Waldenburgschen Besitz im Griff, besinn dich auch bei Ingo auf deinen Verstand, und rede Mama diese Besuchsnummer aus …, es wird in einer Enttäuschung enden, und ich sage dir jetzt schon …«

Sie brach ihren Satz ab, weil im Hintergrund auf einmal ein fürchterliches Gebrüll zu hören war, das unschwer zu erkennen, von der kleinen Elisabeth kam.

»Alexandra, ich muss Schluss machen. Melanie versucht gerade Elisabeth das Fläschchen ihrer Puppe gewaltsam in den Mund zu stecken. Wir telefonieren wieder, bitte grüß Mama und Papa von mir …, und gib Mama einen Kuss, sag ihr, dass ich sie sehr lieb habe.«

»Und Papa hast du nicht lieb?«, begehrte Alexandra auf, die so etwas überhaupt nicht verstehen konnte.

»Mein Gott noch mal, na klar habe ich Papa auch lieb, aber der ist stark, steht über den Dingen, dem muss man seine Liebe nicht versichern.«

Das Geschrei wurde stärker, was Sabrina veranlasste, einfach aufzulegen, was Alexandra verstand.

Ein Kinderspielzeug gewaltsam einem Baby in den Mund zu stecken, konnte gefährlich sein, außerdem war alles gesagt worden.

Alexandra legte das Telefon weg.

Es war traurig, was Sabrina da alles gesagt hatte, aber es war im Grunde genommen nichts Neues.

Neu war nur, was sie über Marion gehört hatte. Sie waren doch auch sehr eng. Warum hatte Marion ihr nichts von dem Gespräch mit Ingo erzählt? Weil sie fürchtete, dass Alexandra versuchen würde, sie umzustimmen?

War sie wirklich so blind und naiv an ihren Bruder zu glauben, während alle anderen sich längst von ihm abgewandt hatten?

Alle …, bis auf sie und ihre Mutter, aber deren Verhalten war verständlich, Ingo war ihr Sohn.

Wie stand ihr Vater dazu?

Alexandra hatte keine Ahnung, aber sie würde ihn, um Gewissheit zu bekommen, fragen, und sie würde ihn auch bitten ihr zu sagen, ob sie, falls ihre Mutter es wirklich wollte, sie zu Ingo begleiten sollte.

Alexandra schloss die Augen.

Wie sehr sehnte sie die früheren Zeiten herbei, als bei den Waldenburgs die Welt noch in Ordnung gewesen war, wo es zumindest den Anschein gegeben hatte, ihre Welt sei heil.

Die junge Gräfin 23 – Adelsroman

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