Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 7 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 7

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Der Krach an der Haustür hörte nicht auf. Da schien jemand die Klingel abreißen zu wollen.

Roberta verabschiedete sich hastig von ihrer Freundin Nicki. Doch ein schlechtes Gewissen musste sie deswegen überhaupt nicht haben. Sie hatten lange genug miteinander telefoniert, und eigentlich war auch alles besprochen worden. Und es hatte bei Nicki schon einige Neuigkeiten gegeben, keine Festanstellung mehr, ein anstehender Umzug in einen Loft, und dass die Bredenbrocks nach San Francisco ziehen würden, das hatte Roberta beinahe die Sprache verschlagen. Doch darüber dachte sie allerdings jetzt nicht mehr nach.

Ehe Roberta zur Haustür lief, warf sie rasch einen kurzen Blick auf den kleinen Philip. Der war zum Glück durch das Geklingele nicht wach geworden, sondern schlief tief und fest mit seinem geliebten Teddy im Arm und mit vom Schlaf gerötetem Gesichtchen.

Es war ein anrührendes Bild, das einem so richtig ins Herz ging. Wie gern wäre Roberta jetzt einfach noch eine Weile ganz ruhig vor dem Bettchen stehen geblieben, um dieses idyllische Bild zu genießen. Es ging leider nicht. Sie musste sich sputen, denn sonst wurde der kleine Philip wirklich noch wach. Und da konnte er sehr unleidlich werden. Das wusste sie aus Erfahrung, und leider war Alma nicht daheim. Sie war mit ihrem Gospelchor unterwegs und würde erst in der Nacht oder gar morgen früh zurückkommen.

Ein wenig ungehalten riss sie schließlich die Haustür auf. Sie hatte keine Ahnung, wer so spät noch Einlass begehrte, und sie hatte bereits ein paar scharfe Worte auf der Zunge, denn so spät machte man keine Besuche. Es sei denn, es handelte sich um ihren Exmann, der war in jeder Hinsicht schmerzfrei, und eigentlich hatte Max ja angeordnetes Hausverbot. Doch für ihn würde sie keine Hand ins Feuer legen.

Roberta prallte allerdings zurück, als sie sah, wer da vor der Haustür stand. Von wegen Max. Nein, wer da Einlass begehrte, obwohl er einen Haustürschlüssel besaß, das war Lars …, ihr Lars, und mit dem hatte sie nicht einmal ansatzweise gerechnet.

Wieso war er hier?

Sie hatten sich doch eine Auszeit verordnet, und die hatte gerade erst begonnen.

Das hatte ihr jetzt die Sprache verschlagen, sie konnte ihn nur ansehen. Und er sah wieder einmal umwerfend aus, dieser Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen, die sie anstrahlten, als sei die Welt zwischen ihnen in Ordnung, als hätten sie sich gerade erst liebevoll und ohne Zoff voneinander getrennt.

Roberta verstand die Welt nicht mehr, dabei war sie nun wirklich nicht auf den Mund gefallen.

Er reagierte zuerst, er machte ein paar Schritte auf sie zu, und dann nahm er sie einfach in seine Arme, und bei ihr machte es klick, und prompt war die alte Magie wieder da, durchströmten sie Wellen der Liebe.

Sie wehrte sich nicht, es gab kein wenn oder aber, es gab nur dieses unbeschreibliche Gefühl, das allen Verstand ausschaltete, das warm, schön und voller Zärtlichkeit war.

Ihre Blicke versanken ineinander, er verstärkte den Druck seiner Arme, zog sie noch enger an sich heran, und dann küssten sie sich. Es ging überhaupt nicht anders.

Was immer sie auch trennte, worin sie unterschiedlicher Meinung waren. All das gab es in diesem Augenblick nicht mehr.

Liebe brauchte keine Worte.

Liebe kannte keine Grenzen.

Liebe schwebte über allem. Wenn es da bloß nicht den Alltag gäbe!

Sie genoss seine Nähe, seine Wärme, seine leidenschaftlichen Küsse.

Sie verloren jedes Gefühl für Zeit und Raum, und gewiss hätten sie noch eine ganze Weile in der geöffneten Haustür gestanden, wenn draußen nicht ein Auto vorbeigefahren wäre und jemand begeistert gehupt hätte.

Sie fuhren auseinander. Roberta konnte nicht sehen, wer das Auto fuhr, doch ein wenig peinlich war es ihr schon. Es musste um diese Zeit jemand aus dem Sonnenwinkel sein. Hier gab es keine Durchgangsstraßen. Und hier war sie bekannt wie ein bunter Hund, schließlich war sie die Ärztin, die jeder mal in Anspruch nehmen musste.

Und trotz dieser Tatsache hatte sie sich gerade präsentiert wie in der Liebesszene eines Films. Wie peinlich!

Hastig zog sie Lars mit ins Haus, schloss die Tür.

Er schien das eben genossen zu haben, alles.

»Liebes, entspann dich. Es wissen doch alle, dass wir ein Paar sind, und da ist es ja wohl auch selbstverständlich, dass man sich küsst.«

Sie sah das nicht so locker.

»Das muss ja nicht vor den Augen aller sein«, bemerkte sie. Er lachte.

»Liebes, übertreib nicht. Ein einsamer Autofahrer hat uns gesehen, und es schien ihm gefallen zu haben, denn sonst hätte er nicht gehupt. Für mich war das eine Zustimmung.«

Sie sagte dazu nichts, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und das jetzt nicht wegen des Autofahrers, sondern sie fragte sich, warum er die Regeln durchbrochen hatte. Warum war er hier?

Lars neigte ja schon immer dazu, einfach da zu sein, da unterschied er sich nicht von ihrem Ex. Der Unterschied bestand darin, dass sie weiche Knie bekam, wenn sie Lars sah, und dass sie ein Magengeschwür befürchtete beim Anblick von Max.

Er ging ins Wohnzimmer, er kannte sich im Doktorhaus aus, entdeckte den Rotwein auf dem Tisch und rief: »Oh, ein Gläschen Wein würde ich jetzt auch gern trinken.«

Roberta, noch immer durcheinander, holte ein Glas aus dem Schrank, stellte es vor ihn hin, beobachtete, wie er sich Wein einschenkte, dann setzte sie sich. Nicht neben ihn, sondern sie nahm ihm gegenüber in einem Sessel Platz.

Und weil er ganz selbstverständlich tat als sei nichts geschehen, stellte sie ihm die Frage, die sie beschäftigte, seit sie ihn gesehen hatte: »Lars, warum bist du hier? Ich meine …, wir haben …«

Sie hatte auch schon flüssiger gesprochen, doch Lars verwirrte sie in jeder Hinsicht. Sie schwammen zwar in vieler Hinsicht auf einer Welle, in sehr vieler sogar. Doch seine Selbstverständlichkeit, mit der er kam und ging, die konnte sie einfach nicht nachvollziehen. Das war nur etwas, was sie an ihm störte, auch wenn sie zugeben musste, dass es ihr anfangs nichts ausgemacht hatte. Vielleicht stimmte das ja wirklich mit den Werbewochen. Ihre Freundin Nicki behauptete steif und fest, dass es sich nach den Werbewochen erst zeigte, ob eine Beziehung Bestand hatte oder nicht. Lars und sie hatten diese sogenannten Werbewochen längst hinter sich gebracht. Doch sie durfte es sich nicht länger schönreden. Das, was sie wollte, unterschied sich ganz gewaltig von dem, was für ihn im Fokus stand.

Doch nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Lars war gekommen!

Und warum hatte sie törichterweise überhaupt die Frage gestellt, warum er gekommen war. Als wenn das von Bedeutung war.

Er zögerte ein wenig, trank einen Schluck des köstlichen Rotweins, den sie beide liebten, sagte, wie herrlich er doch schmecke, dann blickte er sie an. Und in seinem Blick lag so viel Liebe, dass Roberta eine Gänsehaut bekam.

»Es gibt einen Grund für mein Hiersein, und das hat sich mehr als kurzfristig ergeben. Ich habe morgen einen Termin, und dann muss ich auch schon wieder weg. Doch ich möchte jetzt noch nicht darüber reden, weil mir, ehrlich gesagt, alles ein wenig verworren vorkommt. Warum also über ungelegte Eier reden?«

Er machte eine kleine Pause.

»Ich bin so glücklich, dich bei dieser Gelegenheit sehen zu dürfen, und ich pfeife auf unsere Vereinbarung. Roberta, ich liebe dich so sehr. Und ich habe eine wahnsinnige Angst davor, dich zu verlieren. Es hat sich da bei uns etwas eingeschlichen, was mir Unbehagen verursacht, etwas, was unserer Beziehung die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit nimmt. Was ist geschehen? Ich habe keine Ahnung, und ich habe dir doch auch von Anfang an nichts vorgemacht. Ich habe offen und ehrlich gesagt, wer und wie ich bin. Und an meiner Liebe zu dir hat sich nichts verändert, im Gegenteil, sie ist größer und inniger geworden. Du bist meine Traumfrau, und ich …«

Plötzlich erklang ein klägliches Wimmern, Lars verstummte und Roberta sprang wie von der Tarantel gestochen auf und rannte dorthin, woher das Geräusch gekommen war.

Philip …

Auf Zehenspitzen lief sie in das Zimmer. Der Kleine schlief.

Er musste schlecht geträumt haben.

Roberta hob den Teddy auf, der auf den Fußboden gefallen war, legte ihn neben Philip auf das Kopfkissen, dann deckte sie ihn wieder zu. Er hatte sie aufgestrampelt. Danach strich sie ihm behutsam über das strubbelige Haar und verließ wieder auf Zehenspitzen den Raum. Ehe sie den verließ, warf sie einen zärtlichen Blick auf das Kind.

Sie war nur eine kurze Zeit weg gewesen, doch alles schien verändert.

Lars hatte einen verbissenen Gesichtsausdruck, und das Schweigen, das plötzlich zwischen ihnen herrschte, wirkte belastend.

Zumindest auf Roberta.

Er knüpfte nicht mehr an das an, was er vorher gesagt hatte.

Es gab keine weiteren liebevollen und zärtlichen Worte. Jetzt schwieg Lars beinahe trotzig.

Um das Schweigen zu durchbrechen, und um überhaupt etwas zu sagen, bemerkte Roberta: »Philip scheint nur schlecht geträumt zu haben.«

Er sagte nichts, zuckte die Achseln.

Das Schweigen begann beklemmend zu werden.

»Lars, der Kleine ist nun mal vorübergehend hier, und ich muss mich um ihn kümmern, bin für ihn verantwortlich.«

»Warum erzählst du mir das jetzt? Ich weiß von dem Kind, und ich habe doch überhaupt nichts gesagt.«

»Was soll ich denn dazu sagen?«, begehrte er auf. »Meine Meinung kennst du, daran hat sich nichts verändert. Ich finde es nach wie vor mehr als nur grenzwertig, dass eine Frau in deiner Position plötzlich Babysitterin spielt.«

»Wäre ich nicht eingesprungen, hätte Trixi diesen Auslandsjob nicht annehmen können«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, weil sie spürte, dass die Stimmung zwischen ihnen immer mehr kippte.

Er warf ihr einen erbitterten Blick zu.

»Roberta, ich bitte dich. Dafür bist du doch nicht zuständig. Es gibt Institutionen, wo man ein Kind vorübergehend parken kann. Und wenn nicht, dann hätte deine Freundin Trixi eben daheim bleiben müssen, so einfach ist das. Ehe man Kinder bekommt, muss man sich vorher entscheiden, was wichtiger ist, Karriere oder ein Kind. Beides geht nicht. Aber darüber möchte ich jetzt nicht wieder diskutieren. Das letzte Mal hatten wir deswegen Krach, und das möchte ich nicht erneut riskieren. Roberta, ich möchte wirklich …«

Wieder erklang ein Wimmern. Doch diesmal schien Philip wachgeworden zu sein. Richtig, denn es dauerte nicht lange, da kam er, den Teddy unter den Arm geklemmt, ohne den überhaupt nichts ging bei ihm, ins Zimmer getappt.

Roberta sprang auf, eilte auf Philip zu, nahm ihn in die Arme, hob ihn zu sich empor, und er legte sofort vertrauensvoll seine Ärmchen um ihren Hals.

»Was war denn los, mein Herz?«, erkundigte sie sich sanft. »Hast du schlecht geträumt?«

Er nickte.

»Dann bringe ich dich jetzt wieder in dein Bettchen, und ich bleibe bei dir, bis du wieder eingeschlafen bist, ja, mein Liebling?«

Wieder nickte Philip.

Roberta warf Lars einen entschuldigenden Blick zu, ehe sie Philip zurück ins Bett brachte.

Für Situationen wie diese gab es kein perfektes Timing. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, doch sie hatte überhaupt keine andere Wahl. Ein Traum hatte den Jungen aufgeschreckt, und da konnte sie ihn doch jetzt nicht sich selbst überlassen.

Sie legte ihn ins Bett, sprach beruhigend auf ihn ein, strich über sein Gesichtchen, seine Haare.

Das gefiel Philip, und er schenkte ihr ein anrührendes Lächeln, bei dem die Sonne aufzugehen schien, ehe er wieder einschlief, ihre Hand fest umklammernd.

Roberta wartete noch eine Weile, bis sie ganz sicher sein konnte, dass Philip tatsächlich schlief. Dann machte sie sich aus seiner Umklammerung frei, warf ihm einen letzten zärtlichen Blick zu, ehe sie das Zimmer wieder verließ.

Sie würde es Lars erklären, er musste es verstehen, es zumindest versuchen.

Als Roberta ins Wohnzimmer kam, war von Lars nichts zu sehen. Sein Weinglas war noch fast gefüllt. Sie vermutete, er sei zur Toilette gegangen, doch dann entdeckte sie den Zettel auf dem Tisch, den er irgendwo herausgerissen hatte.

Sorry, ich hatte mir unser Wiedersehen anders vorgestellt. Diese Nummer mit dem Kind, das kann ich nicht. Bleiben wir lieber bei der vereinbarten Auszeit – Lars.

Nichts von Liebe, kein versöhnliches Wort. Lars war gekränkt, und er hatte überhaupt kein Verständnis für Kinder. Das war nicht unbekannt, doch jetzt hatte sie die Bestätigung.

Kälte breitete sich in ihr aus und eine unendliche Traurigkeit. Sie sah den Abgrund, dem sie entgegensteuerten. Aber es gab nichts, womit sich dieser Sturz aufhalten ließ. Ihre Lebensperspektiven, ihre Vorstellungen von einem Miteinander, drifteten immer mehr auseinander.

Das hatte nichts mit Philip zu tun. Durch seine Anwesenheit wurde der Prozess nur noch beschleunigt. Selbst wenn sie ihren Wunsch nach dem Ring an ihrem Finger, nach einem Zusammenleben, nach Kindern zurückstellen würde. Lars würde weiterhin ein Getriebener sein, den es hinauszog. Er war jemand, der, wie man so schön sagte, sein Ding machte. Und sie war für ihn so etwas wie ein Sahnehäubchen, das man nicht immer in seinem Leben brauchte, doch wenn, dann war es angenehm, dann genoss man es. Vielleicht tat sie ihm unrecht. Sie wollte es vielmehr glauben, dass es so war.

Dass er jetzt einfach gegangen war, das war beinahe schon pubertär.

Sie war wie erstarrt. Er hatte sie kurzzeitig in den Himmel gehoben, und dann hatte er einfach losgelassen und sie war böse auf dem Boden aufgeschlagen. Auf dem Boden der Tatsachen.

Lars Magnusson war in erster Linie ein einsamer Wolf. Er brauchte niemanden, er konnte auch gut ohne sie. Denn sie war sich so sicher, dass er nicht immer so lange unterwegs sein musste, dass er früher zurückkehren könnte. Er wollte es nicht, weil nicht sie an erster Stelle in seinem Leben war, sie war, wenn sie Glück hatte, die Nummer Zwei.

Diese Erkenntnis war nicht neu für sie, warum traf es sie heute ganz besonders?

Weil sein Besuch unverhofft gekommen war, weil er diesen Glücksrausch in ihr ausgelöst hatte zu glauben, er könne doch nicht ohne sie sein. Außerdem war sie noch jetzt wie elektrisiert von seinen Küssen, seinen Umarmungen, seiner spürbaren Präsenz.

Liebe konnte verdammt schmerzhaft sein!

Sie zog ihre Schuhe aus, die Beine aufs Sofa, umfasste ihre Knie mit beiden Händen und starrte stumm vor sich hin.

Sie glaubte, den Schmerz körperlich zu spüren.

Sie lauschte, von nebenan war nichts mehr zu hören. Der kleine Philip schlief wieder ganz fest.

Warum war er wach geworden?

Auf diese Frage wusste sie keine Antwort. Fast schien es, als wolle das Schicksal sie herausfordern und prüfen.

Seine Reaktion war panisch gewesen, deutlicher hätte Lars seine Abneigung gegen Kinder nicht ausdrücken können.

Ein Bild tauchte vor ihr auf …

Wie schön wäre es gewesen, sie hätten den Kleinen gemeinsam wieder in sein Bettchen gebracht, hätten gemeinsam gewartet, bis er eingeschlafen war.

Ahnte Lars eigentlich, worum er sich mit seiner strikten Abwehrhaltung eigentlich brachte?

Jetzt kamen ihr doch die Tränen.

Roberta weinte um sich, um Lars, um ihre Liebe, die immer mehr verwehen zu schien. Ihre Liebe, die sie umschloss wie ein warmer, weicher Mantel, wenn sie allein waren, wenn sie sich ihren Gefühlen hingeben konnte.

Sie hatten keinen gemeinsamen Alltag, das wurde Roberta immer mehr bewusst. Wie sollten sie auch, sie lebten ja nicht zusammen, sie waren mal da und mal dort. Und so etwas, das war wie Urlaub.

Sie trug seinen Ring, der leider kein Verlobungsring war, wieder. Sie schaute auf ihren Ringfinger, an dem der Ring verheißungsvoll glänzte.

Einem Impuls folgend, wollte sie ihn erneut abziehen, in die Schublade legen, als sie mitten in ihrer Bewegung innehielt. Ein derartiges Verhalten war töricht, kindisch. Außerdem war alles offen.

Unzufriedenheit allein war kein Grund für eine Trennung, dann müssten die meisten Paare in Bewegung sein.

Musste man nicht um eine Beziehung kämpfen, besonders dann, wenn es die ganz große Liebe war? Und das war es, ohne Zweifel.

Lars Magnusson war ihr Mr Right, und an seiner Liebe zu ihr zweifelte sie ebenfalls nicht. Er liebte sie, und er war bereit, ihr alles zu geben, wozu er bereit war, es geben zu können.

Heirat … Kinder …

Davor hatte er eine geradezu panische Angst, das wies er ganz weit von sich. Und das konnte nicht daran liegen, dass er, ebenso wie sie ja auch, eine gescheiterte Ehe hinter sich hatte.

Es musste etwas in seinem Leben geben!

Ihr Blick fiel auf das Blatt Papier, sie las diese unverbindlichen Worte noch einmal, dann zerknüllte sie den Zettel und warf ihn in den Papierkorb, und sie traf sogar.

Die Worte wollte sie vergessen, sich stattdessen lieber an all die zärtlichen Worte erinnern, die er ihr nicht nur gesagt, sondern die er ihr auch geschrieben hatte.

Schon wollte sie ihr Handy holen und das lesen, was er ihr geschickt hatte und was sie niemals löschen würde, weil alles viel zu schön war.

Lars …

Roberta riss sich zusammen. Sie wollte nicht schon wieder weinen, sondern versank erneut in düstere Grübeleien, in die so verstrickt war, dass sie nicht einmal bemerkte, dass Alma von ihrem Chor gekommen war.

Erst als die beinahe entsetzt ausrief: »Frau Doktor, Sie sind ja noch wach. Wissen Sie eigentlich, wie spät es schon ist?«, zuckte Roberta zusammen, blickte hoch.

Alma bemerkte die beiden Weingläser, die noch immer auf dem Tisch standen, Roberta hatte einfach nicht die Energie aufgebracht, die in die Küche zu bringen, denn ihr Glas leerzutrinken, dazu war ihr die Lust vergangen.

Wenn sie Wein trank, dann, weil es ein Genuss war, nicht aus Frust.

Roberta folgte ihrem Blick, jetzt musste sie Farbe bekennen.

»Lars war kurz hier, er hat morgen einen Termin, und weil Philip angefangen hatte zu jammern und ich mich um ihn kümmern musste, da …, da ist Lars gegangen.«

Alma sagte nichts darauf, doch ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, wie bekümmert sie jetzt war.

Ehe das Schweigen zwischen ihnen unangenehm werden konnte, sagte Alma: »Dann will ich mal die Gläser in die Küche bringen, und Sie, Frau Doktor, sollten jetzt schleunigst ins Bett gehen. Sie haben morgen wieder einen sehr anstrengenden Tag.«

Roberta erhob sich mühsam.

»Und wegen Philip müssen Sie sich keine Gedanken machen, Frau Doktor, ich bin ja jetzt da. Und sollte er wach werden, so werde ich es auch, denn ich habe Ohren wie eine Maus.«

Es war rührend, wie Alma sich bemühte. Und es war sehr, sehr angenehm, dass Alma, solange Philip bei ihnen war, nicht in ihrer eigenen Wohnung schlief, sondern in einem der Gästezimmer.

»Danke, Alma«, sagte Roberta leise, dann verabschiedete sie sich von ihrer treuen Haushälterin, ohne die sie vollkommen aufgeschmissen wäre. Sie bemerkte nicht, wie bekümmert Alma ihr nachblickte.

Es zerriss Alma beinahe, wenn sie sah, wie sehr die Frau Doktor litt, der sie alles zu verdanken hatte, was sie auch niemals vergessen würde. Ohne die Frau Doktor gäbe es sie nicht mehr, dann wäre sie längst schon tot. Sie hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, nein, sie hatte ihr, der Obdachlosen, auch wieder ein Zuhause gegeben, und was für eines. Die Frau Doktor war ohnehin ein so herzensguter Mensch, sie opferte sich für ihre Patienten auf. Sie wurde von ihren Patienten richtig verehrt, aber sie konnte auch etwas. So schnell konnte der Frau Doktor niemand das Wasser reichen.

Nur privat …

Warum ließ der liebe Gott sie nicht endlich ein privates Glück genießen?

Sie hatte eine schreckliche Ehe hinter sich, mit einem Mann, der sie ausgenommen hatte wie eine Weihnachtsgans, von dem sie nach Strich und Faden betrogen worden war.

Er hatte ihr den Herrn Magnusson auf den Weg geschickt. Der war ja schon ein toller Mann, aber was hatte die Frau Doktor von dem, wenn er die meiste Zeit unterwegs war. Und was für komische Sachen er machte, Bücher über Eisbären schreiben, praktisch unter ihnen leben, dann die Vulkane von Island. Warum blieb er nicht einfach da und genoss die Zweisamkeit mit dieser großartigen Frau?

Wusste er eigentlich, welches Glück er hatte?

Andere Männer würden sich die Finger danach lecken, und was tat er? Er suchte immer neue Herausforderungen und trat sein Glück mit Füßen und machte, und das war besonders schlimm, die Frau Doktor unglücklich.

Ehe sie ihr Zimmer aufsuchte, ging Alma noch einmal in den Raum, in dem Philip schlief. Er hatte sich wieder aufgedeckt.

Alma richtete seine Decke, strich ihm liebevoll über das Haar.

»Du bist ein so friedliches Kind, hast bislang jede Nacht durchgeschlafen. Du weißt vermutlich selbst nicht, warum du ausgerechnet wach werden musstest, als der Freund der Frau Doktor hier war, der Kinder nicht gerade leiden kann. Philip, Philip, ich glaube, du hast da Schicksal gespielt.«

Philip lächelte im Schlaf, doch das jetzt ganz gewiss nicht, weil er sich über das, was er unwissentlich getan hatte, gefreut hatte. Er hatte geträumt, doch diesmal war es ein schöner Traum gewesen.

Alma strich ihm noch einmal übers Haar, dann ging sie und vergewisserte sich, dass die Notbeleuchtung brannte, für alle Fälle.

Durch die Türritzen bemerkte Alma, dass im Zimmer der Frau Doktor noch Licht brannte, und das bekümmerte sie sehr. Sie war aufgewühlt, konnte keine Ruhe finden, die Ärmste.

Am liebsten wäre Alma jetzt zu ihr gegangen, hätte sie getröstet. Doch das ging gar nicht. Sie verstanden sich zwar ganz ausgezeichnet, hatten ein enges Verhältnis, aber sie waren und blieben Chefin und Angestellte, auch wenn die Frau Doktor sie das nicht spüren ließ.

Doch Ordnung musste sein.

Alma zögerte einen Augenblick, dann bezwang sie sich und ging in das Gästezimmer. Sie nahm sich ganz fest vor, die Frau Doktor heute besonders in ihre Gebete einzuschließen, mehr als sonst. Irgendwann musste der liebe Gott doch ein Einsehen haben!

*

Ihr Sohn Jörg kam zu Besuch, und Inge war wie immer hocherfreut. Sie liebte ihre Kinder, und für sie war es jedes Mal ein ganz großes Glück, wenn sie sie besuchten.

Jörg, der derzeit in Stockholm lebte, kam meistens nur auf einen Sprung für ein paar Stunden vorbei, und Inge konnte ihr Glück nicht fassen, wenn er hier und da einmal sogar über Nacht blieb.

Sie war mehr als erstaunt, als Jörg sich plötzlich erkundigte: »Mama, kann ich für ein paar Tage bleiben?«

Inge fiel beinahe der Kaffeebecher aus der Hand.

Welche Frage.

»Aber natürlich, mein Junge, du kannst bleiben, solange du willst. Ich freue mich. Seit du in Stockholm lebst, waren es nur kurze Stippvisiten. Glaubst du, dass die Verhandlungen mit den ehemaligen Münsterwerken sich tagelang hinziehen werden?«, erkundigte Inge sich.

»Nö, Mama, das mit den Münsterwerken ist für uns endgültig passé. Wir haben die Verhandlungen abgebrochen, und was letztlich jetzt geschieht, das interessiert uns nicht mehr. Jetzt sind die Werke endgültig gegen die Wand gefahren worden, und auch wenn man jetzt alles für einen Appel und Ei haben kann, wie man so schön sagt, hat das für uns keinerlei Bedeutung. Der Imageverlust ist einfach zu groß. Wir wollten zu einem guten Preis kaufen, als der Ruf noch nicht ruiniert war. Was für ein Glück, dass Felix Münster das alles nicht mehr mitbekommt. Er hat aus der väterlichen Firma ein Unternehmen von Weltruf gemacht, und das haben diese neuen Möchtegernunternehmer zerstört. Aber lass uns bitte nicht mehr darüber reden. Das, was dort geschehen ist und noch geschieht, ist schließlich kein Einzelfall. Mit den Leuten an der Spitze steht und fällt ein Unternehmen. Ich habe keine geschäftlichen Verpflichtungen, ich will einfach nur ein paar Tage Urlaub machen, mit dir, Papa, Pamela und den Großeltern reden, unsere Ricky besuchen, dann will ich viel unterwegs sein, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Ich brauche einfach mal Ruhe, und unser Sonnenwinkel, vor allem unser herrlicher Sternsee, bieten sich an, mal die Seele baumeln zu lassen. Unser Hannes braucht den Jakobsweg, um zu sich zu finden. Ich gebe mich mit unserem See zufrieden.«

Bei Inge gingen urplötzlich alle Alarmglocken an.

Das war neu an Jörg, solche Worte kannte sie nicht von ihrem Sohn. Jörg war jemand, der Herausforderungen liebte, der immer auf der Überholspur war.

Und jetzt zu sich finden …

Sie blickte ihn an, als habe sie ihn jetzt gerade erst zum ersten Mal seit seiner Ankunft gesehen. Vielleicht war es ja auch so, wenn man das Wörtchen ›richtig‹ hinzufügte.

Vorher war sie eigentlich nur entzückt gewesen, überglücklich, Jörg unverhofft in die Arme schließen zu können.

»Jörg, bist du krank?«, erkundigte sie sich angstvoll mit zitternder Stimme.

Er blickte seine Mutter an, mit einem geradezu waidwunden Blick, dann zuckte er die Achseln.

»Krank?«, wiederholte er. »Nun ja, in gewisser Weise schon.«

Welch ein Glück, dass Inge mit ihrem Sohn an dem großen Familientisch saß, sonst hätten ihr in diesem Augenblick die Beine den Dienst versagt.

Was hatte das denn zu bedeuten? So kannte sie Jörg nicht. Der klang ja irgendwie erloschen. Hatte es ihn eingeholt, weil Stella ihn und die Kinder verlassen hatte, mit ihnen und einem anderen Mann nach Brasilien gegangen war? Inge wusste, dass die Scheidung der beiden inzwischen rechtskräftig war. Das war etwas, was die Endgültigkeit, das endgültige Aus einer Ehe bedeutete. Und daran hatte man schon zu knapsen, besonders dann, wenn die Familie das Ein und Alles gewesen war. Jörg liebte seine Kinder, und wie sehr musste es ihn schmerzen, dass sie jetzt, so weit von ihm entfernt, bei einem anderen Mann aufwuchsen. Er hatte, um die Kinder nicht in einen Zwiespalt zu bringen, aus Liebe und aus Fürsorge auf das Sorgerecht verzichtet. Wie sollte das denn auch zu praktizieren sein? Schweden und Brasilien, das lag nicht gerade um die Ecke, da konnte man keine wöchentlichen, nicht einmal monatliche Besuchsrechte regeln. Sie standen in Verbindung miteinander, skypten, schrieben, telefonierten. Sie nutzten alle sich bietenden Möglichkeiten. Doch Jörg hatte bereits bei seinem letzten Besuch gesagt, dass es immer weniger wurde, dass sie, trotz vereinbarter Zeit, anderweitig beschäftigt waren. Ob sie dahintersteckten, oder ob Stella daran drehte, das konnte niemand sagen.

Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Jörg seinen Schmerz überwunden hatte, und Inge wünschte so sehr, dass die Zeit die Wunden heilte, wie man immer so schön sagte.

Auf jeden Fall war es gut, dass ihr Jörg wieder eine Frau an seiner Seite hatte, die unglaubliche, die sehr sympathische Charlotte. Und Inge hatte sich längst damit abgefunden, dass die beiden sich im Internet kennengelernt hatten. So sollten ein viel beschäftigter Manager und eine ebenfalls viel beschäftigte Handchirurgin denn sonst kennenlernen? Menschen, die von ihrer Arbeit mehr oder weniger aufgefressen wurden. Die gingen nicht mal spazieren, setzten sich in ein Café oder besuchten eine Veranstaltung und hielten nach einem Partner oder einer Partnerin Ausschau.

Ja, Charlotte war ein Glücksfall in seinem Leben, und aus diesen Gedanken heraus sagte Inge auch: »Jörg, es ist gut, dass du Charlotte an deiner Seite hast. Was immer dich jetzt auch bedrückt, was immer dir auch fehlt. Gemeinsam schafft ihr alles.«

Jörg antwortete nicht sofort, und das wunderte Inge ein wenig, denn normalerweise begann er von seiner Charlotte zu schwärmen, wenn man die nur erwähnte.

Ein wenig verunsichert blickte Inge ihren Sohn an, und da platzte es aus ihm heraus: »Mama, ich habe mich von Charlotte getrennt.«

Was vorhin beinahe passiert wäre, jetzt geschah es. Inge fiel der Kaffeebecher aus der Hand, der Kaffee breitete sich im Nu auf dem schönen alten Tisch aus.

Inge sprang auf, holte ein Tuch, beseitigte mechanisch das Malheur, während ihre Gedanken sich überschlugen.

Was hatte Jörg da gerade gesagt?

Er hatte sich von Charlotte getrennt?

Sie musste sich verhört haben, so etwas ging doch überhaupt nicht. Das mit Charlotte und Jörg war Harmonie pur, die beiden passten viel besser zusammen als Jörg und Stella.

Inge war vollkommen durcheinander, sie setzte sich wieder hin, hielt das Tuch, mit dem sie den Kaffee aufgewischt hatte, noch immer in der Hand, ohne dass es ihr bewusst war.

Sie blickte vorsichtig ihren Sohn an. Dessen Gesicht schien noch blasser geworden zu sein, um seinen Mund lag ein schmerzerfüllter Zug, sein Blick wirkte erloschen. Er litt. Und nun verstand Inge überhaupt nichts mehr. Er hatte doch gesagt, dass er sich getrennt hatte. Das tat man doch nicht, wenn es Schmerz bereitete.

»Jörg …, ich verstehe nicht …, bitte erkläre mir, was geschehen ist, mein Junge.«

Es dauerte noch eine Weile, ehe Jörg zu seiner Mutter sprach, und seine Stimme war dabei ganz leise.

»Mama, ich habe Charlotte sehr geliebt, ich liebe sie noch immer. Doch ich kann mit ihr nicht zusammen sein. Wie du weißt, hat sie einen zehnjährigen Sohn, Sven, den sie über alles liebt. Er ist auch ein sehr netter Junge, und unter normalen Umständen …« Er brach seinen Satz ab, sein Blick verlor sich im Leeren.

Inge wagte kaum zu atmen, und ehe er weitersprach, ahnte sie die Tragödie.

Klar, Charlotte hatte einen Sohn, der zwar im Internat war, den sie jedoch traf, so oft es nur möglich war. Und da sie und Jörg jetzt ein Paar waren, war es unausweichlich, dass auch Jörg immer wieder auf Sven traf. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was das für ihn bedeutete.

Durch Sven wurde er immer wieder an seine eigenen Kinder erinnert, die er sehr geliebt, doch die er jetzt verloren hatte.

»Mama, Sven kann nichts dafür, er ist wirklich sehr, sehr nett. Und gäbe es nicht die Last meiner Vergangenheit, wären wir auf Dauer prima klargekommen …, ich habe mich bemüht, ich habe versucht, meine Vergangenheit abzuschütteln, mich mit dem jetzigen Zustand abzufinden. Es ging nicht. Je näher ich Sven kennenlernte, umso schlimmer wurde es. Mir wurde immer klarer, was ich verloren hatte, und ich konnte immer weniger damit umgehen. Ich konnte ja auch Sven überhaupt nicht gerecht werden, der unbewusst gewiss mitbekam, dass ich mich nicht auf ihn einlassen konnte, nicht so, wie er es verdient hätte … Mama, das Experiment ist gescheitert. Oder ich habe Charlotte noch zu früh kennengelernt. Wäre sie ohne Anhang, dann hätte es vielleicht funktionieren können. Da wäre der Schmerz meiner Vergangenheit allmählich verblasst, so war alles noch zu frisch, und die alten Wunden sind immer wieder aufgebrochen …, weder Charlotte noch Sven haben es verdient, dass da jemand ist, der Probleme mit seinen eigenen Gefühlen hat … Mama, es ist sehr schlimm, und ich leide unter der Trennung von Charlotte, doch es geht nicht anders. Während meines Aufenthaltes hier werde ich mich auch mal mit Frau Dr. Steinfeld unterhalten und mit ihr darüber reden, ob ich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Und da es da viele Möglichkeiten gibt, bitte ich sie, mir den Weg aufzuzeigen, der für mich der richtige sein könnte. Ich möchte nicht als seelisches Wrack den Rest meines Lebens verbringen.«

Er redete noch weiter, doch all seine Worte rauschten an ihr vorüber wie ein eiliger Bach, den es hinunter vom Berg zog.

Jörg und Charlotte waren getrennt!

Ihr Sohn erinnerte ihn an seine verlorenen Kinder!

Und wie aufgewühlt musste er sein, dass er sogar therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollte. Jörg! Ihr Sohn, der coole Geschäftsmann, für den es niemals Probleme gegeben hatte, sondern nur Herausforderungen und Lösungen.

Eine unbändige Wut auf Stella überkam sie, die das alles verursacht hatte. Und die wusste schon, dass sie Dreck am Stecken hatte, denn sonst hätte sie sich ja mal irgendwo gemeldet. Ihre Eltern wussten ja bis heute nicht von ihr, dass sie einen neuen Weg für sich gewählt hatte, und auch der spärliche Kontakt zu ihrem Bruder Fabian war mittlerweile ganz eingeschlafen, dabei waren die beiden früher ein Herz und eine Seele gewesen.

Ihr armer, armer Junge!

Auch wenn die Kinder erwachsen waren, längst schon selbst Kinder hatten, zerriss es eine Mutter, wenn bei denen etwas nicht stimmte. Und bei Jörg war alles aus dem Ruder gelaufen, in privater Hinsicht. Seine Familie war zerbrochen, die Kinder waren aus seinem Leben verschwunden. Und als sei das nicht schon genug, zogen sich die Schatten seiner Vergangenheit bis in die Gegenwart. Er hatte sich von Charlotte getrennt, weil er unter der Nähe zu ihrem Sohn gelitten hatte, dem er nicht gerecht werden konnte.

Was für ein Durcheinander!

Sie sprachen beide nicht mehr. Es war still in der gemütlichen Wohnküche, nur das Ticken der Uhr an der Wand war zu hören. Und selbst Luna spürte, dass da etwas ganz gehörig aus dem Ruder gelaufen war, dass sie jetzt besser still auf ihrem Kissen liegen blieb, denn niemand würde sich jetzt um sie kümmern, ihr Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten schenken, und an Leckerli war in einer solchen Situation schon überhaupt nicht zu denken.

Die Auerbachs waren immer eine Bilderbuchfamilie gewesen, die in einer heilen Welt gelebt hatten, in der es nur Sonnenschein zu geben schien.

Und plötzlich waren die Risse da!

Zuerst war ihnen ihr Leben ganz gehörig um die Ohren geflogen, als ihre Jüngste, ihr Bambi, wie Pamela damals noch genannt wurde, von Fremden erfahren musste, dass sie keine echte Auerbach war, sondern dass man sie adoptiert hatte. Es hatte viele Scherben gegeben, Verletzungen, und es hatte sehr lange gedauert, bis sie sich wieder versöhnt hatten. Dann die Scheidung von Jörg, jetzt dessen Trennung von Charlotte. Und Hannes war ebenfalls mit einem Knall in der Wirklichkeit gelandet. Er hatte es sich in Australien gemütlich eingerichtet. Die Surf- und Tauchschule, die er zusammen mit seinem Kumpel Steve betrieben hatte, war ein großer Erfolg, Hannes war nicht nur das Werbegesicht für das besondere Surfbrett ›Sundance‹ gewesen, nein, er hatte gehörig daran verdient, und an der zweiten Version hatte er sogar mitgearbeitet. Besser ging es nicht. Er war glücklich mit seiner Freundin Joy gewesen, einer Medizinstudentin.

Und dann war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Auf einem kaum befahrenen Highway hatte ein unachtsamer Autofahrer sein Leben zerstört, es aus allen Fugen platzen lassen, wie all seine Träume.

Niemand hatte das Glück für alle Ewigkeit gepachtet, auch die Auerbachs nicht. Zu dieser bitteren Erkenntnis war Inge nicht erst heute gekommen. Doch Jörgs Eröffnung gerade, die hatte allem noch die Krone aufgesetzt.

Wie sollte es denn weitergehen?

Inge hatte keine Ahnung. Und was für sie als Mutter besonders schlimm war, das war die Tatsache, dass sie nichts tun konnte. Ihr waren die Hände gebunden. Sie konnte für Jörg da sein, alles für ihn tun. Doch sie wusste, dass es nicht ausreichte, einen besonderen Kuchen zu backen oder ein schönes Essen zu servieren. Damit heilte man keinen Seelenschmerz.

Es war Jörg, der in die Gegenwart zurückfand, indem er sagte: »Hast du noch einen Kaffee für mich, Mama? Danach möchte ich gern eine Runde um den See drehen. Mein Fahrrad steht hoffentlich noch in der Garage?«

Das bestätigte Inge, dann stand sie auf, um Jörg einen weiteren Kaffee zu bringen. Sie selbst schüttete sich keinen ein. Und daran konnte man erkennen, wie durcheinander Inge war. Normalerweise ging bei ihr ohne Kaffee überhaupt nichts.

Während er seinen Kaffee trank, warf Inge ihrem Sohn einen liebevollen Blick zu. Auf jemanden wie ihn konnte man sehr stolz sein, und das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass er großartig aussah. Nein, die Auerbach-Kinder hatten alle ein gutes Herz, einen guten Charakter, sie waren klug, fleißig. Sie hätte noch eine ganze Menge guter Eigenschaften aufzählen können.

Die bittere Erkenntnis war doch, dass das alles nicht zählte, dass man sich dadurch nicht einen Freifahrtschein für ein glückliches Leben erkaufte. Es konnte die Guten und die Schlechten treffen. Inge kam immer mehr zu der Erkenntnis, dass man sich zwar bemühen konnte, ein ordentliches Leben zu führen, dass jedem Menschen aber sein Schicksal vorbestimmt war. Ein Schicksal, das man annehmen oder an dem man scheitern konnte.

Ja, ja, stimmte alles. Doch was sich im Kopf abspielte, das war nicht das, was man fühlte.

Nachdem sie Jörg den Kaffee gebracht hatte, stand sie noch einmal auf, stellte eine Schale mit Keksen vor ihn hin. Früher, als die Kinder klein gewesen waren, hatte sie diese mit so etwas ein wenig ablenken können, sei es nun von einem aufgeschlagenen Knie oder einem anderen Kümmernis.

Jörg lächelte seine Mutter an, und dass das etwas war, was heute nicht mehr zog, merkte Inge daran, dass er nicht nach den Keksen griff.

Stattdessen sagte er: »Mama, danke, dass du mir zugehört hast und ein noch größeres Dankeschön dafür, dass von dir keine Vorwürfe kamen. Bitte glaub mir, ich habe mir meine Entscheidung wirklich nicht leicht gemacht, doch niemand kann über seinen Schatten springen. Außerdem muss eine Beziehung für jeden der beiden Partner stimmig sein. Und wenn dann gar noch Kinder im Spiel sind, muss man besonders vorsichtig sein. Ich wäre Sven nie gerecht geworden, und nachdem der Junge bereits eine trübe Erfahrung mit seinem eigenen Vater machen musste, ist es ihm nicht zumutbar, mit jemandem konfrontiert zu werden, der nicht einmal laue Gefühle für ihn entwickeln kann. Und auch für Charlotte wäre es auf Dauer unzumutbar gewesen. Ich kann sie nicht als eigenständige Person sehen, sie und ihr Sohn sind wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Und wenn es ein neues Glück auf ihrem Weg gibt, dann muss es für alle Beteiligten stimmig sein. Mama, es tut mir so unendlich leid, es schmerzt so sehr, dass ich die Erwartungshaltung der beiden nicht erfüllen konnte. Daran kann man sehen, was für ein seelischer Krüppel ich geworden bin.«

Er vergaß, seinen Kaffee auszutrinken, sprang auf, ging auf Inge zu, umarmte sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann verließ er mit einem ›bis später‹ den Raum, und Inge blieb wie erschlagen zurück.

Sie würde Jörg so gern helfen, doch ihr waren die Hände gebunden. Sie konnte es nicht, sie konnte allenfalls für ihn da sein. Doch reichte das, um seinen Seelenschmerz zu lindern? Sie konnte sich nicht einmal damit trösten, dass Jörg nach Hause gekommen war, um seine Wunden zu lecken.

Sie sprang auf, sie hielt es nicht mehr aus.

»Komm, Luna, wir gehen nach nebenan«, rief sie, dann verließ sie, zusammen mit der weißen Labradorhündin, die brav neben ihr hertrottete, ebenfalls das Haus. Und Luna eilte ihr sogar voraus. Sie kannte nicht nur den Weg, nein, sie wusste auch, dass es dort für sie auf jeden Fall diese köstlichen Leckerli gab.

*

Natürlich hatten Teresa und Magnus von Roth ihren Enkelsohn schon begrüßt, doch Teresa war sehr erstaunt, ihre Tochter jetzt allein zu sehen. Wenn eines der Kinder bei ihr war, da nutzte sie jeden Augenblick mit ihnen, und da vergaß sie sogar ihre Eltern, die sie sehr liebte und mit denen sie viel Zeit verbrachte.

»Ist Jörg wieder weg?«, erkundigte Teresa sich.

Inge schüttelte den Kopf, erzählte ihrer Mutter, dass er für ein paar Tage in seinem Elternhaus bleiben würde und das er gerade eine Radtour um den Sternsee machte.

Teresa blickte ihre Tochter ganz erstaunt an. So etwas war seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen. Jörg war immer nur zu Stippvisiten im Sonnenwinkel gewesen, auch, als er noch mit Stella verheiratet gewesen war und in Deutschland gelebt hatte.

Teresa blickte ihre Tochter an, die einen ganz bekümmerten Eindruck machte. Und das passte nicht zu dem Verhalten, das sie sonst an den Tag legte, wenn eines der Kinder da war. Da sprühte sie vor Glück.

»Inge, was ist los?«, erkundigte sie sich deswegen auch, und Inge konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Jörg hatte ihr zwar nicht ausdrücklich gestattet, dass sie mit jemandem darüber reden durfte, was er ihr anvertraut hatte. Doch die Großeltern waren nicht ›jemand‹. Inge war sich sicher, dass es für ihn schon okay war, dass sie darüber sprach. Und das musste sie, weil sie sonst das Gefühl hatte, zu ersticken.

»Mama, Jörg und Charlotte haben sich getrennt. Genauer gesagt, hat er die Trennung vollzogen.«

Dann erzählte Inge ihrer Mutter, was sie von ihrem Sohn gehört hatte.

»Mama, ich finde es ganz schrecklich. Jörg und Charlotte passten so wunderbar zusammen, sie waren so glücklich miteinander.«

»Aber ganz offensichtlich war es nicht mehr so, wenn Sven, ihr Sohn, dabei war. Und der gehört nun mal dazu. Und ehrlich mal, Inge, ich kann Jörg verstehen. Da soll er für ein Kind da sein, ihm Liebe und Aufmerksamkeit schenken, was ein Kind ja auch verdient. Da muss er automatisch an seine geliebten Kinder denken, für die er nicht mehr da sein kann. Es ist bitter für ihn und Charlotte. Aber ich finde, Jörg ist es sehr hoch anzurechnen, dass er sein Glück opfert, um Sven nicht unglücklich zu machen. In einer Kinderseele kann man einen großen und vor allem dauerhaften Schaden anrichten. Für ihn war es gut, Charlotte nach dem ganzen Fiasko, dem Zusammenbruch seiner Ehe, kennengelernt zu haben. Es war leider zu früh. Er hätte erst seine Wunden für sich allein heilen müssen.«

»Mama, das stimmt ja, aber du glaubst nicht, wie sehr Jörg leidet und wie schlimm es in ihm aussehen muss, sonst wäre er doch niemals nach Hause gekommen.«

»Dass er gekommen ist, zeigt, welches Vertrauen er vor allem zu dir hat. Sei jetzt bitte nicht zu traurig und voller Bedauern. Was geschehen ist, das ist geschehen, und so etwas trifft ja nicht nur einen Auerbach. Das passiert ständig, überall auf der Welt, nur meistens nimmt dann niemand Rücksicht auf die Kinder, sondern denkt nur an die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse. Jörg ist ein großartiger Mensch, alle deine Kinder sind es, und du kannst stolz auf sie und auf dich sein. Das zeigt dir doch, dass du alles richtig gemacht hast.«

Die Worte ihrer Mutter taten gut, waren Balsam für ihre Seele.

Luna stupste Teresa an, und die wusste Bescheid, ging zum Schrank, in dem die Leckerli aufbewahrt wurden, und dort langte sie großzügig in das Glas.

Normalerweise hätte Inge jetzt protestiert, doch sie hatte einfach nicht die Kraft dazu. Außerdem hatte sie ganz andere Sorgen, die weitaus größer waren, als jetzt daran zu denken, ob Luna ein paar Leckerli zu viel bekam.

Luna war zufrieden, natürlich hatte sie auch bei Teresa und Magnus von Roth ihr eigenes Kissen. Das musste sein. Und auf das zog sie sich zufrieden zurück, leckte vor Begeisterung ihre Pfoten und dann legte sie ihren Kopf darauf und döste vor sich hin.

Hund müsste man sein, dachte Inge ein wenig neidisch.

»Jörg ist stark, er wird darüber hinwegkommen. Und wer weiß, es ist doch nicht ausgeschlossen, dass sich sein und Charlottes Weg irgendwann wieder einmal kreuzen. Später, wenn Sven nicht mehr auf seine Mutter angewiesen sein wird. Kinder werden schneller erwachsen als man denkt und gehen dann ihren eigenen Weg.

Wenn Jörg und Charlotte einander vorbestimmt sind, dann werden sie erneut zueinanderfinden, oder es wird sich eine andere Möglichkeit ergeben. Sie haben sich ja nicht getrennt, weil sie sich hassen, weil sie es nicht mehr miteinander können. Wenn du so willst, war es eine Trennung aus Liebe.«

Sie seufzte.

»Was ist das für eine Welt, in der wir leben. Früher war es alles anders. Da blieb man zusammen. Heute rennt man bei der kleinsten Kleinigkeit auseinander, nicht Jörg, bei dem war es ein großes Verantwortungsgefühl. Aber ansonsten, man hört ja andauernd was, und dann gibt es die sogenannten Patchworkfamilien aus mein, dein, unser. Du kannst mir sagen, was du willst, Inge. Jemand bleibt da immer auf der Strecke, und meistens sind es leider doch die Kinder. Auch wenn dieser andere Mann, der zum Glück keine eigenen Kinder hat, ganz nett zu Jörgs Kindern sein soll. Er ist nicht der Vater, er ist nicht ihr Fleisch und Blut. Da kann überhaupt keine so enge Bindung entstehen.«

Jetzt musste Inge ihrer Mutter aber widersprechen.

»Mama, es gibt auch ganz schreckliche leibliche Väter, die ihre Kinder prügeln, vernachlässigen, die sie, was am schlimmsten ist, sogar missbrauchen. Solche Kinder sind dann bei einem liebevollen Stiefvater auf jeden Fall besser aufgehoben.« Teresa winkte ab.

»Es gibt immer Ausnahmen von allem. Die schönste, wundervollste Ausnahme ist unsere Liebe für Pamela und ihre Liebe, Zuneigung zu uns allen. Pamela ist für uns alle ein Geschenk, gerade auch jetzt, nach ihrer Rückkehr aus Australien. Zurück zu Jörg. Wir werden uns alle um ihn kümmern, ohne ihm zu nahe zu treten. Zu viel Mitleid und Zuwendung kann erdrücken, und so wie unser Jörg gestrickt ist, sucht er dann das Weite. Ich habe frischen Tee gekocht, mein Kind. Möchtest du einen trinken, oder muss es für dich unbedingt Kaffee sein?«

Teresa kannte schließlich die Leidenschaft ihrer Tochter, die sie nicht immer billigte.

»Tee ist gut, Mama«, sagte Inge.

Normalerweise hätte sie ihrer Mutter jetzt helfen können. Sie kannte sich im Haus ihrer Eltern aus, doch Inge war irgendwie kraftlos, als habe man bei ihr einen Stecker herausgezogen.

Sie sah zu, wie ihre Mutter die Teetassen auf den Tisch stellte, dann die Teekanne. Und sie bewunderte wieder einmal deren Energie, die sie leider nicht geerbt hatte. Sie kam nun mal auf die Oma Henriette, ihre Großmutter väterlicherseits.

Manchmal war es ganz gut, das als Ausrede benutzen zu können.

Der Darjeeling war köstlich, und vielleicht sollte sie sich auch angewöhnen, mehr Tee zu trinken und ihren Kaffeekonsum wenigstens zu halbieren.

Das allerdings war kein Problem, das sie derzeit lösen musste.

Jörg war das Problem, dessen Befindlichkeit. Inge war auf jeden Fall sehr froh, zu ihrer Mutter geflüchtet zu sein. Fast schien es, als flösse etwas von deren Energie zu ihr herüber.

Ihre Mutter war eine so starke Frau, und der gelang es sogar, ein anderes Thema anzuschneiden, und das war das Fest zur Erhaltung des Hohenborner Tierheims. Das interessierte auch Inge, schließlich hatten sie Luna von dorther geholt.

Es tat gut, für einen Moment nicht an Jörg denken zu müssen.

*

Nun also war es amtlich. Dr. Peter Bredenbrock und seine Kinder Maren und Tim würden ihre Zelte im Sonnenwinkel abbrechen und er seine Tätigkeit als Lehrer am Gymnasium in Hohenborn, wo er total unterfordert gewesen war.

Er hatte in erster Linie für seine beiden Sprösslinge nur das Beste machen wollen, doch so richtig geklappt hatte es nicht. Sie waren niemals im Sonnenwinkel richtig angekommen, sie hatten sich arrangiert. Das konnte man auch von ihm sagen, und bei ihm kam dann auch noch die unglückliche Liebe zu Nicki hin.

Sie würden nach San Francisco gehen!

Sophia und Angela von Bergen wussten es bereits, und die beiden Damen waren klug genug, sich für die Bredenbrocks zu freuen. Dass sie es zutiefst bedauerten, weil sie Maren und Tim in ihr Herz geschlossen hatten, dass sie auch deren Vater sehr mochten, das behielten sie für sich.

Das machte es vor allem Tim ein wenig leichter, Abschied zu nehmen, denn er und Angela waren ein Herz und eine Seele.

Maren musste noch ihrer Freundin Pamela Auerbach die Neuigkeit verkünden. Und das schob sie immer wieder auf, weil sie sich ein wenig vor dieser Eröffnung fürchtete. Pamela und sie waren Freundinnen, und deswegen kam es Maren jetzt ein wenig wie ein Verrat an der Freundschaft vor.

Sie konnte es nicht länger vor sich her schieben. Vor allem hatte sie Angst davor, dass Pamela es von Dritten erfahren könnte. Und das wäre mehr als fatal, zumal Pamela in dieser Hinsicht ja bereits sehr bittere Erfahrungen gesammelt hatte. Weil ihre Eltern so zögerlich gewesen waren, hatte ihre Freundin in einer Eisdiele von zwei geschwätzigen Frauen erfahren, dass man sie als kleines Mädchen adoptiert hatte. Pamela war emotional in einen Abgrund gestürzt, hatte mit den Auerbachs nichts mehr zu tun haben wollen. Und wäre da nicht ihr Bruder Hannes aufgetaucht und hätte sie mit zu sich nach Australien geholt, wo er zum Glück damals noch gewesen war. Inzwischen hatte sich ja bei ihm auch alles verändert.

Maren wurde immer bewusster, dass Veränderungen, das Lachen und Weinen, Glück und Schmerz, Verluste und noch mehr, das alles Leben war.

Sie musste unbedingt mit Pamela reden!

Wenn sie nur wüsste, wann der richtige Zeitpunkt war, wie sie es ihrer Freundin beibringen sollte. Maren war vollkommen gestresst, und dann auf einmal war es ganz einfach, da war der richtige Zeitpunkt da, ungeplant, einfach so.

Die beiden Mädchen hatten sich zu einer Radtour verabredet, das taten sie oft, und ihr liebstes Ziel bei schönem Wetter war der Sternsee.

Heute hatten sie schönes Wetter, die Luft war lau, die Sonne schien, und der Himmel über ihnen war so blau wie das Meer.

Sie waren schon eine ganze Weile nebeneinander her geradelt, hatten sich unterhalten, dann schlug Pamela vor: »Komm, wir setzen uns ein bisschen dort drüben auf die Bank. Ich habe uns auch Wegzehrung mitgebracht, nicht stibitzt, nein, meine Mama hat die Kekse für uns freiwillig herausgerückt.«

Maren war einverstanden, in erster Linie wegen der Kekse, die konnte Frau Auerbach backen wie sonst niemand. Pamela hatte eh ein so großes Glück, eine derart tolle Mama zu haben.

Die konnte einfach alles, und Maren dachte da in erster Linie an das wunderschöne blaue Kleid, das Pamela ihr zum Geburtstag geschenkt hatte und das von deren Mutter genäht worden war.

Pamela …

Sie war so froh, die als Freundin zu haben. Und diese Freundschaft hatte Maren das Eingewöhnen in ihr neues Leben auch viel einfacher gemacht. Der Sonnenwinkel, das Gymnasium in Hohenborn. Das war wahrhaftig für sie und Tim eine neue, eine sehr spezielle Welt gewesen. Aber damit war es ja jetzt vorbei, würde es, genau gesagt, in ein paar Wochen vorbei sein.

Die Mädchen setzten sich, Pamela packte die Kekstüte aus, stellte sie zwischen sie, und dann begannen die Mädchen zu essen.

Die Kekse waren köstlich, in San Francisco würde sie so etwas ganz gewiss nicht mehr haben.

San Francisco …

Der Augenblick war gekommen. Maren wusste auf einmal, dass sie das nicht länger vor sich herschieben durfte. Pamela musste die Wahrheit erfahren, jetzt.

»Pamela, ich muss dir etwas erzählen«, begann Maren vorsichtig, »bei uns gibt es nämlich etwas Neues.«

»Hat dein Papa sich mit der Freundin von der Frau Doktor vertragen?«, erkundigte Pamela sich prompt, die natürlich von Maren gewusst, dass es da etwas gegeben hatte, was leider in die Brüche gegangen war.

Früher wäre es für Pamela undenkbar gewesen, an Trennungen von Paaren zu denken. Mann und Frau gehörten einfach zusammen, und das für immer. Ihre Eltern, ihre Großeltern, ihre Geschwister waren leuchtende Beispiele gewesen. Doch dann hatte es angefangen zu bröckeln, Stella hatte mit den Kindern ihren Bruder Jörg verlassen, ihr Hannes hatte sich von Joy getrennt, die wirklich total cool gewesen war.

»Nö, das ist aus«, drang Marens Stimme in ihre Gedanken hinein, »leider. Nein, was ich dir zu sagen habe, das betrifft meinen Papa, Tim und mich.«

Pamela blickte zur Seite, sie vergaß sogar, den Keks in den Mund zu stopfen, was sie eigentlich vorgehabt hatte. Marens Stimme hatte so anders geklungen.

»Nun sag es endlich, Maren, mache es nicht so spannend.« Maren holte tief Luft.

»Wir werden hier wegziehen …, nach San Francisco, genau gesagt.«

Eine Bombe hätte keine größere Wirkung haben können, selbst dann nicht, wenn sie direkt neben ihnen eingeschlagen wäre. Was hatte Maren da gesagt?

San Francisco …

Das ging doch nicht!

Pamela war jetzt nicht in der Lage, etwas Gescheites zu sagen.

»Aber ihr habt doch das Haus von meiner Schwester und meinem Schwager gemietet«, kam es schließlich aus ihr heraus. Als wenn das jetzt wichtig wäre.

Maren nickte.

»Ja, das stimmt. Das Haus ist auch bereits gekündigt, und da müssen wir auch keine Kündigungsfristen einhalten. Mein Papa und der Herr Dr. Rückert kennen sich ja sehr gut. Und der sagt, dass es überhaupt kein Problem ist, ein solches Objekt sofort wieder vermieten zu können. Doch er und deine Schwester denken jetzt endgültig darüber nach, das Haus zu verkaufen. Sie werden niemals mehr zurück in den Sonnenwinkel ziehen, und in der letzten Zeit hat es doch häufiger einen Mieterwechsel gegeben, darauf haben sie keine Lust mehr. Da gibt es also keine Probleme, in der Schule auch nicht. Wir bleiben noch bis zu Beginn der Ferien, und die stehen uns, wie du selber weißt, in Kürze ins Haus.«

Dann erzählte sie ihrer Freundin von dem neuen Job, den ihr Vater in San Francisco annehmen würde, und dann begann sie einfach nur noch zu schwärmen. Bis sie einen kurzen Blick zur Seite warf und Pamelas verstörtes Gesicht bemerkte.

Sofort hörte Maren auf zu sprechen, und sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte sich in ein Entzücken geredet und dabei nicht einen Augenblick lang daran gedacht, dass sie nicht nur wegziehen, sondern auch ihre Freundin zurücklassen würde.

»Tut mir leid, Pamela«, sagte sie leise und verzichtete darauf, sich jetzt einen Keks aus der Tüte zu angeln, obwohl das schon verlockend war.

Pamela blickte ihre Freundin an.

»Das muss dir doch nicht leidtun. Mit San Francisco kann unser beschaulicher Sonnenwinkel natürlich nicht mithalten, und so richtig gefallen hat es dir hier eh nicht.«

»Aber ich habe dich sehr, sehr gern als Freundin«, antwortete Maren leise, »und dich dann nicht mehr zu sehen, das ist ganz schön blöd. Du warst von Anfang an für mich da, und du hast nicht aufgegeben, als ich ganz schön herumgezickt habe. Glaubst du, dass ich das vergessen habe? Pamela, du wirst mir fehlen, und du kannst mich in den Ferien ja mal besuchen kommen. Mein Papa hätte ganz gewiss nichts dagegen. Er mag dich sehr gern. Und dann können wir gemeinsam etwas unternehmen, und wenn wir uns nur mit einem Klappstuhl auf die Golden Gate Bridge setzen oder unentwegt mit den Cable Cars herumgurken, das macht bestimmt Spaß.«

Pamela blickte ihre Freundin traurig an.

»Danke für dein Angebot«, sagte sie leise. »Komm du erst einmal in San Francisco an, leb dich dort ein. Und dann sehen wir weiter.«

Maren war jetzt ein wenig irritiert, und das sagte sie ihrer Freundin auch.

»Maren, ich weiß, wie das ist. Was glaubst du wohl, was der Manuel und ich alles ausgemacht haben. Und mit dem habe ich meine ganze Kindheit verbracht. Er war für mich so was wie ein Bruder …, von den ganzen Versprechungen ist nichts geblieben. Anfangs standen wir beinahe täglich in Verbindung miteinander, dann wurde es immer weniger. Heute höre ich kaum noch etwas von ihm. Und bei dir wird es nicht viel anders sein. Und wir kennen uns längst nicht so lange wie ich mit dem Manuel.«

»Aber wir kennen uns sehr gut, wir verstehen uns, vertrauen einander alles an. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass wir Freundinnen bleiben, Pamela. Das meine ich ganz ehrlich.«

Pamela malte mit einem Stock Kringel in den Sand.

Sie war traurig, wäre sie jetzt allein, würde sie weinen, das ging jetzt natürlich nicht. Was sollte Maren denn von ihr denken, sie war doch keine Heulsuse.

Sie blickte auf die Kekstüte, da waren noch welche drin, doch ihr war der Appetit vergangen.

Maren Bredenbrock würde also wegziehen. Damit hätte Pamela einfach nicht gerechnet. Sie waren wirklich sehr eng miteinander. Und damit würde es vorbei sein.

Die Sonne schien, der Himmel war blau, es war warm, auf dem See quakten die Frösche, die Enten schnatterten, Boote fuhren vorbei, und stolze weiße Schwäne glitten dahin.

All das nahmen die beiden Mädchen nicht wahr. Sie waren in ihre Gedanken, in ihre Gefühle versponnen.

Abschied, das war nicht nur ein Wort, es war mehr, es war Wehmut, Schmerz.

Wenn Maren ehrlich war, dann hatte sie sich auf ihr neues Leben in San Francisco gefreut, und das nicht nur, weil sie dort ihrer Mutter entrinnen konnte, die wie ein böser Geist in ihrem und in dem Leben von Tim herumgeisterte, die nichts als Unfrieden brachte.

Jetzt mit ihrer Freundin Pamela hier zu sitzen, über die Trennung zu sprechen, das hatte eine ganz andere Dimension.

Die beiden Mädchen blickten nach einer Weile schmerzlichen Schweigens beinahe gleichzeitig zur Seite. Ihre Blicke trafen sich, und dann lagen sie sich in den Armen, und sie weinten. Und weil es beide taten, mussten sie sich auch nicht schämen.

Nach einer, wie es schien, unendlich langen Zeit, lösten sie sich voneinander, und wieder fiel beider Blick auf die Kekstüte.

»Willst du?«, erkundigte Pamela sich.

Maren nickte und rief: »Du auch?«

Auch da kam ein Nicken, und dann langten sie beide in die Tüten und aßen alle Kekse auf, die sich noch darin befanden, und den letzten Keks, den teilten sie untereinander auf.

Das war normal, das musste nicht debattiert werden. Schließlich waren sie Freundinnen …

*

Die Vorbereitungen für das Fest zur Rettung des Hohenborner Tierheims waren abgeschlossen, und die Damen Teresa von Roth, Sophia von Bergen, vor allem Rosmarie Rückert, konnten sich gratulieren. Und auch Inge Auerbach konnte ganz stolz auf sich sein. Sie gehörte zwar nicht zur Festleitung, wenigstens nicht offiziell, doch sie hatte auch eine ganze Menge zum Gelingen des Festes beigetragen. Und nicht zu vergessen Julia Herzog, in deren ›Seeblick‹ alles stattfinden sollte. Die hatte eigentlich die Hauptarbeit, und dabei wollte sie nicht einmal etwas an dem Fest verdienen, sondern arbeitete mit ihren Mitarbeitern zum Selbstkostenpreis.

Für den Ansturm der Gäste reichte natürlich das Restaurant längst nicht aus, und heute nun wurde auf dem großen Terrassengelände ein Festzelt aufgestellt, das Rosmarie Rückert besorgt und deren Mann Heinz die Miete dafür bezahlt hatte.

Sie arbeiteten Hand in Hand, weil das Tierheim kurz vor dem Ende stand, und um es wieder auf Vordermann zu bringen, musste eine ganze Menge Geld in die Hand genommen werden.

Die Leiterin Frau Dr. Fischer wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah. Das Tierheim lag ihr sehr am Herzen, es war ihr Lebenswerk, und sie hatte nicht nur sehr viel Geld von sich privat hineingesteckt, sondern in dem Tierheim steckte auch ihre ganze Arbeitskraft, darin steckte ihre Zeit. Und es ging ja nicht nur um administrative Aufgaben, die Tiere mussten gefüttert werden, sie wurden auch mal krank. Und da war es schon ein ganz großes Glück, dass man keinen Tierarzt, der auch nur kosten würde, bemühen musste. Margot Fischer war Tierärztin, und was für eine gute. Mit ihrer eigenen Tierarztpraxis hatte sie sehr viel Geld verdient, ehe sich dafür entschieden hatte, die Praxis aufzugeben und sie um die Tiere zu kümmern, die niemand mehr haben wollte, die man weggegeben hatte wie ein unmodern gewordenes Kleid für die Kleidersammlung. Und es war ja noch gut, wenn man die Tiere im Tierheim abgab, statt sie irgendwo auszusetzen und ihrem Schicksal zu überlassen. Das kam überhaupt nicht selten vor. Und noch schlimmer war es, sie in der Mülltonne zu entsorgen.

Ohne darüber nachzudenken, kauften sich die Menschen Tiere, verschenkten sie zu Weihnachten oder zu Geburtstagen wie ein Spielzeug, das man wegtun konnte, wenn man es nicht mehr haben wollte.

Tiere waren keine Spielzeuge. Sie hatten eine Seele, und je nachdem, welches Schicksal sie erlitten hatten, hatten sie für immer Verhaltensstörungen und konnten überhaupt nicht mehr vermittelt werden. Dann mussten Frau Dr. Fischer und deren freiwillige Mitarbeiterinnen dafür sorgen, dass sie im Tierheim wenigstens ein einigermaßen würdiges Dasein führen konnten. Und es geschah auch, dass hier und da eines dieser gequälten Tiere wieder Vertrauen zu Menschen fasste.

Julia Herzog bereute nicht einen Augenblick, ihre Zusage gegeben zu haben, sie liebte Tiere, ganz besonders Hunde, war mit einem aufgewachsen, der sie durch ihre ganze Kindheit begleitet hatte. Sie hätte gern wieder ein Tier, doch das ließ sich mit ihrem Beruf einfach nicht vereinbaren. Und so groß ihre Sehnsucht manchmal nach einem treuen Begleiter war, musste sie die unterdrücken. Sie könnte keine tiergerechte Haltung garantieren.

Vielleicht später mal, tröstete sie sich.

Jetzt hatte sie ihren Daniel, der ihr jetzt schon ein wenig leidtat, sie wurde ihm augenblicklich nicht gerecht. Sie konnten kaum noch Zeit miteinander verbringen. Sie war derzeit dabei, sich manchmal selbst in der Kurve zu überholen. Bei all den Vorbereitungen durfte das Tagesgeschäft nicht zu kurz kommen. Und das lief derzeit besser als zuvor. Durch die großen Zeitungsanzeigen, durch den Internetauftritt war natürlich nicht nur Werbung für das Fest gemacht worden, sondern auch sie war dadurch in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Wer es vorher nicht gewusst hatte, kannte jetzt den ›Seeblick‹.

Für das Hohenborner Blatt würde Daniel über das Fest berichten. Julia wusste nicht, ob es ihm wirklich Spaß machen würde. Sie war zwar überglücklich mit ihm an ihrer Seite, und sie liebten sich sehr, verstanden sich immer mehr, wurden immer inniger.

Daniel hatte ihr diese Zweisamkeit einen sehr hohen Preis gezahlt, er hatte sie ganzes bisheriges Leben aufgegeben.

Julia wurde manchmal den Eindruck nicht los, dass er sich das Zusammenleben mit ihr anders vorgestellt hatte, mit mehr Zeit, die sie miteinander verbringen konnten.

Und Zeit war etwas, was sie nicht hatte. Sie konnte sich mittlerweile zwar ausreichend Personal erlauben, doch so einfach war es mit dem Personal in der Gastronomie nicht. Sie hatte zwar treue Mitarbeiter, auf die sie sich felsenfest verlassen konnte. Aber es gab auch welche, die einfach nicht kamen, sich nicht einmal entschuldigen. Besonders launisch waren die Köche. Die ließen sich überhaupt nichts sagen, widersetzten sich dem, was Julia von ihnen verlangte. Und das musste sie tun. Der Gast musste es so bekommen, wie es auf der Karte stand und wie er es kannte. Julia hatte überhaupt nichts gegen eigene Ideen, Kreativität, doch es ging nicht, wenn es mit ihr nicht abgesprochen war und die Teller in die Küche zurückgingen, weil der Gast unzufrieden war.

Julia Herzog befand sich an einem Scheideweg.

Es gab zwei Möglichkeiten, das Restaurant klein und fein zu führen oder es wachsen zu lassen. Es wachsen zu lassen, das war eine Herausforderung. Vor allem wollte sie für den ›Seeblick‹ unbedingt ebenfalls einen Stern erkochen, den Ehrgeiz besaß sie. Und einer der letzten Restauranttester, der im Restaurant gewesen war, war begeistert gewesen.

So etwas forderte einen heraus, besonders, wenn man ehrgeizig war, und davon konnte sie sich nicht freisprechen.

Rosmarie Rückert hatte für das Fest nicht nur die Presse, sondern auch das Fernsehen eingeladen. Da konnte sie sich profilieren.

Sie arbeitete gerade eine Bestellliste durch, als Daniel zu ihr ins Restaurant kam.

Sie begrüßten sich zärtlich, er wollte ihr gerade etwas erzählen, als einer von den Zeltaufbauern zu ihr ins Restaurant kam, ihr ein Problem zeigen wollte.

Sie schenkte ihm ein Lächeln.

»Tut mir leid, mein Schatz, ich muss jetzt nach draußen. Geh doch schon mal in die Küche, hole dir etwas zu essen, denn mit einem gemeinsamen Essen, das wird heute nichts. Das können wir heute knicken. Wenn das Zelt richtig aufgebaut ist, treffe ich den Lieferanten für Tische und Stühle, eine Gärtnerin kommt für die Dekoration vorbei. Es wird spät werden, mein Liebling. Aber wenn das Fest vorbei ist, dann versuche ich, mehr Zeit für uns herauszuschinden.«

Er sah nicht gerade glücklich aus.

Julia ging auf ihn zu, wollte ihn gerade küssen, als die Stimme des Mannes vom Zeltaufbau unwillig sagte: »Frau Herzog, kommen Sie jetzt bitte? Wir wollen fertig werden, meine Männer wollen endlich ihren verdienten Feierabend machen.«

»Tut mir leid, Liebling«, sagte Julia, dann eilte sie dem Mann nach, der das Restaurant wieder verlassen hatte.

So ein Fest auszurichten, das war eine Herausforderung, und leider gab es immer wieder kleine Pannen, die beseitigt werden mussten. Und das war so trotz aller genauer Planung.

Zum Glück war dieses Problem jetzt relativ schnell behoben, und eigentlich wäre ihre Anwesenheit überhaupt nicht notwendig gewesen. Der Mann hatte sich einfach nur absichern wollen, und vielleicht hätte sie das ebenfalls getan, wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre.

Julia wollte ins Haus zurückgehen, als sie eigentlich mehr zufällig bemerkte, dass Daniel zum Parkplatz zu seinem Auto ging.

Julia rannte los, erreichte ihn, blieb vor ihm stehen. »Daniel, wo willst du hin?«, erkundigte sie sich, »du bist doch gerade erst gekommen.«

Er blickte ein wenig unglücklich rein. Vielleicht war er auch genervt.

»Ich fahre in die Redaktion zurück, versuche, dort an meinem Manuskript zu arbeiten. Da habe ich wenigstens meine Ruhe.«

Er war sauer!

»Daniel, innerhalb der nächsten Stunde wird das Zelt komplett aufgebaut sein, dann kehrt Ruhe ein. Und du kannst doch oben in der Wohnung arbeiten. Das hast du bislang doch auch immer getan.«

Er antwortete nicht sofort, spielte nervös mit seinem Autoschlüssel. Ihm war anzumerken, dass er überlegte, ob er jetzt etwas sagen oder schweigen sollte. Ein Parkplatz war nicht unbedingt der richtige Ort für eine Aussprache.

Daniel entschied sich, jetzt zu sprechen. Er war ein Mann der klaren Worte und gehörte nicht zu den Menschen, die alles vor sich herschoben, sei es nun aus Bequemlichkeit oder sei es aus Angst vor der Konfrontation.

»Julia, als ich herkam, wollten wir auf eine gemeinsame Reise gehen. Mittlerweile ist es so, dass du davonfährst und ich entweder auf dem Bahnhof zurückbleibe oder dir hinterher hechele. So habe ich mir unseren Weg nicht vorgestellt. Statt uns näherzukommen, driften wir immer mehr auseinander …, ich komme mir in deinem Leben ziemlich überflüssig vor …, du brauchst mich nicht.«

Sie wollte etwas sagen, ihm widersprechen, und noch während sie über die Worte nachdachte, die sie wählen wollte, fuhr er fort: »Dir ist kein Vorwurf zu machen, Julia. Ich bin zu dir gekommen, ich habe mein Leben aufgegeben, um eines gemeinsam mit dir zu beginnen …, ich stelle immer mehr fest, dass ich nicht mehr als ein Anhängsel für dich bin …, du brauchst niemanden für eine gemeinsame Reise, du bist eine Einzelkämpferin, die mit Volldampf voraus ihren eigenen Weg geht.«

Sie wollte etwas sagen, ihm widersprechen. Sie konnte es nicht, weil vieles, was er sagte, der Wahrheit entsprach. Sie liebte ihn über alles, aber sie liebte auch ihr unabhängiges Leben, sie stellte sich jeden Tag gern der Herausforderung ihres Existenzkampfes. Sie genoss es, geschätzt zu werden, sie war ehrgeizig.

Wenn man das alles bedachte, durfte man sich dann eigentlich auf eine Partnerschaft einlassen? Ja, man durfte es, doch dann ging es nicht, dass der Partner den vollen Preis zahlte. Und das hatte Daniel getan, indem er ohne Netz und doppelten Boden zu ihr gezogen war. Er war das volle Risiko eingegangen, und sie …

Julia schämte sich beinahe. Sie hatte es mehr oder weniger als eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Sie machte ihr Ding, und sie genoss es, diesen liebevollen Menschen an ihrer Seite, nein, wenn sie ehrlich war, neben sich zu haben.

Das war egoistisch.

Er gab, und sie nahm!

»Daniel, lass uns über alles, über uns, reden, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist. Hier auf dem Parkplatz, das ist wahrhaftig nicht der richtige Ort …, es war alles in letzter Zeit ein wenig viel. Ich hatte nicht genug Zeit für dich, doch eines, das musst du mir glauben. Ich liebe dich sehr, ich liebe dich über alles. Und ich bin so glücklich, so froh, dich in meinem Leben zu haben.«

Er warf ihr einen traurigen Blick zu.

Er war verletzt, sie hatte ihn überfordert, sie hatte ihm keinen Platz in ihrem Leben gegeben. Im Grunde genommen hatte sie sich verhalten wie ein kleines Mädchen, das ab und zu ihr Lieblingsspielzeug aus der Ecke holte, mit ihm spielte, um es dann wieder beiseitezulegen.

Daniel war kein Spielzeug. Er war ein Mensch, ein ganz wertvoller dazu.

»Daniel, ich …«

Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn in diesem Augenblick kam der Mann vom Zeltbau um die Ecke und rief: »Frau Herzog, können Sie bitte noch einmal kommen? So wie Sie es haben möchten, ist es nicht machbar, damit würden wir die Sicherheitsbestimmungen unterlaufen.«

Julia warf Daniel einen unglücklichen Blick zu. Diese Störung jetzt, ausgerechnet jetzt, die musste nicht sein. Doch so war es halt, das Leben. Es nahm keine Rücksicht auf Befindlichkeiten.

»Daniel, wir reden später, oder nein …, wir reden morgen. Doch bitte, fahr jetzt nicht weg.«

Er holte tief Luft, wollte etwas sagen, ließ es bleiben, machte eine nicht zu deutende Handbewegung, dann drehte er sich um, ging zu seinem Auto, stieg ein und fuhr los.

Sie hatten ihre erste Krise!

Vermutlich wäre es schon früher dazu gekommen, wenn sie nicht alles unter den Tisch gekehrt hätten. Sie hätten miteinander reden müssen.

Julia spürte, dass sich etwas verändert hatte, und sie spürte ebenfalls, dass es an ihr lag, etwas zu tun.

»Frau Herzog …«

Die Stimme des Mannes klang ungeduldig. Sie setzte sich in Bewegung.

»Sie sind der Fachmann, dann müssen wir jetzt halt eine Lösung finden, mit der uns niemand an den Karren fahren kann. Ich bleibe jetzt am besten bis zum Schluss bei Ihnen. Dann müssen Sie mich nicht immerfort suchen.«

Damit war der Mann einverstanden, doch Julia war ihm wirklich keine große Hilfe, denn sie hörte kaum zu, weil ihre Gedanken in eine ganz andere Richtung gingen. Und die waren bei Daniel.

Sie war sich seiner zu sicher gewesen, sie hatte nur an sich gedacht, und für sie war die Welt vollkommen in Ordnung gewesen.

Der ›Seeblick‹, in dem sie ihre berufliche Erfüllung fand, und dann war da noch Daniel, der Mann für ihr Herz.

Seine Worte vorhin, die hatten sie unglaublich berührt, und sie hatten ihr vor Augen geführt, wie unterschiedlich ihre Interessen doch waren.

Die gemeinsame Reise …

Sie hatten davon geträumt, das hatte ihr Herz berührt, doch Daniel allein hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen.

Julia spürte, wie sich Angst in ihr Herz schlich. Am liebsten hätte sie jetzt alles stehen und liegen lassen und wäre zu ihm geeilt.

Es ging nicht. Das mit dem Zelt musste zu Ende gebracht werden, und dann ging es ja weiter. Und es war ja auch nicht so, dass das eine Qual für sie war. Sie machte es gern, sie war eine Frau, die an den Herausforderungen über sich hinauswachsen konnte. Sie hatte sie immer gedacht, und sie wollte niemals mehr an den Zeit erinnert werden, als es ganz so ausgesehen hatte, dass sie den ›Seeblick‹ vor die Wand fahren würde. Die offenen Rechnungen hatten sich gestapelt, die Gäste waren ausgeblieben, ihr Konzept war zum scheitern verurteilt gewesen. Ein veganes Restaurant! Ohne Rosmarie Rückert hätte sie niemals eine Kehrtwende geschafft, und verrückt war bloß, dass sie jetzt alles anbot. Und wonach verlangten die Gäste mittlerweile am meisten?

Die Favoriten waren eindeutig die veganen Gerichte.

Darum ging es jetzt nicht.

Es ging um Daniel und sie. Sie liebte ihn wirklich über alles. Doch weil er es ihr so einfach gemacht hatte, weil er selbstlos in ihr Leben gekommen war, hatte sie es als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, war glücklich gewesen, hatte sich unglaublich wohlgefühlt. Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht ein einziges Mal an Daniel gedacht hatte, daran, wie er sich fühlte. Und das hätte sie tun müssen. Liebe und Leben funktionierten nicht so, dass einer der beiden seine eigenen Bedürfnisse erfüllte.

Warum hatte er sich denn niemals beklagt?

Oh nein!

Jetzt durfte sie nicht ihm die Schuld in die Schuhe schieben, es war doch vielmehr so …, warum hatte sie denn niemals gefragt?

Es musste sich etwas ändern, direkt nach dem Fest. Sie wollte ihn nicht verlieren, Daniel war ihr Jackpot, und den bekam man, wenn überhaupt, nur ein einziges Mal in seinem Leben.

Der Zeltbauer hatte jetzt zum dritten Male eine Frage an sie gerichtet, ohne dass Julia das wahrgenommen hatte. Jetzt rief er ganz ungehalten: »Frau Herzog, so geht das nicht. Können Sie sich jetzt bitte mal konzentrieren, damit wir weiterkommen?«

Sie zuckte betroffen zusammen, verdrängte alle Gedanken an Daniel, die augenblicklich eh nichts brachten, dann erkundigte sie sich, ganz Profi: »Worum geht es, bitte?«

Der Mann erklärte es ihr noch einmal, und diesmal hörte Julia zu und äußerte ganz konkret ihre Wünsche. Jetzt war sie wieder die verantwortungsbewusste Geschäftsfrau, bei der alles Private zurückstehen musste.

Das Fest zur Rettung des Hohenborner Tierheims musste ein Erfolg werden, in jeder Hinsicht.

Jetzt, da sie auf die Sache konzentriert war, konnte sie konkrete Angaben machen, und jetzt klappte auch alles. Sie war Profi, alles Private musste zurückstehen. Und so sehr sie Daniel auch liebte, so gern sie an ihn dachte. Solche Gedanken hatten jetzt keinen Platz.

*

Wenn man freiberuflich war, noch dazu in einem Gesundheitsberuf, wo es auf Menschenleben ankam, konnte man keine festen Pläne schmieden. Es konnte immer etwas dazwischenkommen, und so war es auch bei Roberta.

Die hatte zwar ihrer Freundin Nicki versprochen, sich den Loft anzusehen, doch dann war der Kollege, der eigentlich den Bereitschaftsdienst machen sollte, ausgefallen. Er hatte sich bei einem dummen Sturz das rechte Handgelenk gebrochen. Roberta würde für ihn also nicht nur den Bereitschaftsdienst übernehmen, sondern auch ein Teil seiner Patienten würde zu ihr kommen, der Rest würde an weitere Kollegen in der Umgebung verteilt werden.

So etwas passierte nun mal, für Roberta bedeutete es nicht nur, auf ein freies Wochenende zu verzichten, sondern Mehrarbeit in der Praxis. Sie wusste jetzt schon nicht, wie sie das alles bewältigen sollte. Und ohne Terminvergabe ging es überhaupt nicht, einmal abgesehen von dringenden Notfällen, die natürlich nicht auf eine Warteliste gesetzt werden konnten.

Die Zeiten, dass man einfach zum Arzt gehen und sich ins Wartezimmer setzen konnte, die waren längst vorbei.

Roberta war sehr froh, dass ihre Freundin Verständnis für die Situation zeigte, nicht nur das, Nicki kam bei ihr vorbei, und das freute Roberta ungemein, nicht nur sie, auch Alma war aus dem Häuschen. Roberta rechnete es Nicki ganz besonders an, weil ja der kleine Philip noch im Hause war, und Nicki hatte zu Kindern ein ziemlich gestörtes Verhältnis. Nicht wie Lars, der die Flucht ergriff, sondern bei Nicki war es eher so, dass sie Angst davor hatte, den Kindern nicht gerecht zu werden.

In ihrem Herzen mochte sie Kinder, das sah man ja auch an dem innigen Verhältnis, das sie zu Maren Bredenbrock hatte. Vielleicht konnte man es auf den Nenner bringen, dass Nicki Angst vor der Verantwortung hatte.

Philip bekam von allem nichts mit. Er freute sich über den Besuch, und Nicki gefiel ihm ganz offensichtlich. Er klebte sehr schnell an ihr wie eine Klette, Roberta und Alma sahen das mit einiger Verwunderung. Sie rissen sich beinahe ein Bein aus, um den kleinen Philip zu bespaßen, und bei Nicki reichte einzig und allein deren Gegenwart.

Alma hatte Philip mit nach Hohenborn genommen, der allerdings viel lieber bei Nicki geblieben wäre. Einzig und allein das Versprechen, ihm ein Eis mit vielen Schokoladenstreuseln darauf zu kaufen, hatten ihn letztlich bewogen, mit Alma mitzufahren.

Die Freundinnen waren allein. Roberta bedankte sich noch einmal dafür, dass Nicki in den Sonnenwinkel gekommen war.

Die wurde ein wenig rot.

»Roberta …, es gibt noch einen anderen Grund, weswegen ich gekommen bin«, sagte sie leise. »Von Maren weiß ich, dass in der Schule Projekttage sind, dass alles den ganzen Tag in der Schule sein werden. Peter ist bereits freigestellt, und er bereitet den Umzug nach San Francisco vor. Es liegt ja alles allein in seinen Händen, ich …, nun, eigentlich ist zwischen uns alles gesagt. Es hat sich auch nichts verändert. Aber ich habe das Gefühl, dass ich noch einmal mit ihm sprechen muss, um dieses Kapitel meines Lebens endgültig abschließen zu können …, seinetwegen bin ich in erster Linie hier.«

Die Freundinnen waren immer offen und ehrlich zueinander, und deswegen hatte Nicki das jetzt auch sagen müssen. Hoffentlich war Roberta nicht zu enttäuscht. Sie hatte sich so sehr über ihr Kommen gefreut, und nun stellte sich heraus, dass es dafür eigentlich einen ganz anderen Grund gab.

Nickis Sorgen waren vollkommen unbegründet.

»Nicki, das finde ich großartig, für euch beide. Es ist eine wirklich gute Idee, noch einmal mit ihm zu sprechen. Ich finde Dr. Bredenbrock so unglaublich sympathisch, und es tut mir wirklich in der Seele weh, dass es mit euch nicht geklappt hat.«

Nicki nickte erleichtert, Roberta war nicht sauer, und das, was ihre Freundin gesagt hatte, konnte sie nur bestätigen.

»Roberta, Peter ist großartig, dennoch …, wenn man sich auf einen anderen Menschen einlässt, dann muss es vorbehaltlos sein, ohne wenn und aber. Das war bei uns nicht so, und ich werde meine Panik nicht vergessen, als er mir unverhofft den Heiratsantrag machte. Normalerweise sind Frauen dann reinweg aus dem Häuschen vor lauter Freude. Bei mir war genau das Gegenteil der Fall, durch diesen Antrag hat er unserer Verbindung die Unverbindlichkeit genommen, sie wurde plötzlich belastend und schwer. Doch das ist Schnee von gestern, es ist vorbei, in meinem Herzen bleiben die schönen Erinnerungen, die Erinnerungen an ihn, an Maren, an Tim.«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, weil in diesem Augenblick das Telefon klingelte, das Praxistelefon, wohlgemerkt, und das bedeutete für Roberta Arbeit.

Wieder lief es anders als gedacht. Es gab zwischen den Freundinnen keine Gemeinsamkeit, Roberta musste weg. Und das nahm Nicki zum Anlass, in das Haus der Bredenbrocks zu gehen, wo sie Peter finden würde. Ein bisschen mulmig war ihr schon zumute. Für einen Augenblick überlegte sie, nicht hinzugehen. Peter wusste nichts von ihrem Kommen, sie waren nicht miteinander verabredet.

Nicki kannte sich, so wollte es sich jetzt nicht einfach machen, sondern sie wollte noch einmal mit ihm sprechen. Würde sie das nicht tun, würde sie dieser verpassten Gelegenheit immer nachweinen.

Auch wenn der Camino ihr nicht das erhoffte Resultat gebracht hatte, auch wenn sie ihre Reise vorzeitig abgebrochen hatte, weil der Rucksack schwer gewesen, sie Rückenschmerzen und Blasen an den Füßen gehabt hatte. Ein bisschen hatte sie über sich schon nachdenken können. Das war auch kein Wunder, auf dem einsamen Weg war sie sich und ihren Gedanken ausgeliefert gewesen. Und da war ihr ziemlich schnell bewusst geworden, dass sie in ihrem Leben sehr gern den Weg des geringsten Widerstandes wählte, dass sie Konflikten am liebsten aus dem Weg ging, ebenso Gesprächen und dass sie hinterher immer jammervoll war und sich mit den Gedanken quälte, was gewesen wäre, wenn …

Sie war es Peter schuldig, sich wenigstens von ihm zu verabschieden. Roberta war weg, sie stand auf, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, dann zog sie sich um. Sie vertauschte ihre Jeans und das lässige T-Shirt gegen ein hübsches buntes Kleid. Peter hatte sie immer gern in Kleidern gesehen, und das spielte zwar jetzt überhaupt keine Rolle mehr. Doch Nicki wollte ihm gefallen. Sie gefiel sich übrigens auch, als sie sich im Spiegel betrachtete. Bis auf die Haare, die waren zwar mittlerweile ein wenig nachgewachsen, doch kurz waren sie noch immer. Und ehrlich gesagt, verwünschte Nicki sich für die Entscheidung, ihre Haare raspelkurz schneiden zu lassen. Sie wusste selbst nicht mehr, was in sie gefahren war. Statt ihre schönen langen Haare abzuschneiden, hätte sie die auch einfach nur hochstecken oder zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden müssen.

Ja, ja, sie und ihre einsamen Entschlüsse!

Da hatte Nicki sich schon so manches Eigentor geschossen! Vorbei war vorbei!

Sie trug noch etwas Lippenstift auf, stäubte sich etwas von ihrem Lieblingsparfüm hinter die Ohren, dann verließ sie das Doktorhaus.

Ein bisschen mulmig war ihr schon zumute.

Gleichgültig war Peter ihr längst nicht geworden, ihre Lebensformen ließen sich bloß nicht zu einem gemeinsamen Weg zusammenfügen.

*

Auch wenn sie sich in keiner Weise beeilt hatte, stand sie schon bald vor dem Haus der Bredenbrocks. Auch wenn es eine beachtliche Siedlung war, so groß war sie nun auch wieder nicht.

Nicki hatte ganz schönes Herzklopfen, als sie das Gartentor aufstieß und den gepflasterten Weg zum Haus entlanglief.

Sollte sie es wirklich tun?

Je näher sie der Haustür kam, umso größer wurden ihre Zweifel, doch dann wurde ihr die Entscheidung abgenommen, weil sich nämlich die Haustür öffnete und Peter herauskam, mit einem Stapel gelesener Zeitungen unter dem Arm.

Er blieb verblüfft stehen, glaubte offensichtlich, seinen Augen nicht trauen zu können. Dann erklang ein ungläubiges: »Nicki?«

Sie wurde rot, und sie registrierte, was für ein gut aussehender Mann er doch war. Er sah sehr lässig aus in seiner dunkelgrauen Leinenhose, dem weißen T-Shirt, unglaublich cool, seine Füße steckten in weißen Leinenschuhen.

Er steckte die Zeitungen in die neben dem Haus stehende Papiertonne, dann eilte er auf Nicki zu, die wie angewurzelt stehen geblieben war, ergriff deren Hände.

»Das ist eine Überraschung, wie schön, dich zu sehen, und du siehst fabelhaft aus«, sagte er, »das Kleid steht dir unglaublich gut.«

Seine Worte klangen ganz anders als seine Blicke sagten. Die alte Faszination war wieder da, doch das durfte er nicht zugeben.

Also sagte er: »Wenn du zu Maren willst, du kommt erst heute Abend aus der Schule.«

Sie blickte ihn an, ihre Blicke versanken für einen Augenblick ineinander, Nicki riss sich zusammen: »Ich möchte nicht zu Maren, ich will zu dir. Dass sie nicht daheim sein wird, das hat sie mir gesagt.«

Er fasste sich.

»Dann komm doch bitte herein«, sagte er, nachdem er sich gefasst und einigermaßen verdaut hatte, dass Nicki zu ihm wollte. »Kann ich dir einen Kaffee anbieten? Und sieh dich bitte nicht genau um, wir sind bereits in Aufbruchstimmung und packen zusammen, was wir mit in unser neues Leben nehmen wollen, und wir …«

Er brach seinen Satz ab. Er redete sich ja um Kopf und Kragen und benahm sich wie ein verwirrter Pennäler beim Anblick seiner Flamme.

Gemeinsam betraten sie das Haus, und es versetzte Nicki doch einen leichten Stich ins Herz, wenn sie sich daran erinnerte, welch schöne Zeiten sie hier verbracht hatte. Schön war es nicht immer gewesen, doch meistens war es ja so, dass man das Unangenehme gern ganz schnell verdrängte.

Es standen Umzugskartons herum, Überseecontainer. Es sah nach Aufbruch auf.

Er bot ihr Platz an, und weil er darauf drängte, ihr etwas anbieten zu wollen, entschied sie sich für ein Mineralwasser.

Als das vor ihr stand, setzte er sich ihr gegenüber, und sie erinnerte sich an die Zeiten, in denen sie nebeneinander gesessen hatten, ganz eng.

Was war das jetzt?

Sie war nicht gekommen, um eine Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Sie wollte noch einmal mit ihm reden, sich dann endgültig von ihm verabschieden. Warum eilten ihre Gedanken immerfort in die Vergangenheit zurück? Die war passé, und in der Gegenwart gab es für sie keine Gemeinsamkeiten mehr.

Er blickte sie an, sie spürte seine Bewunderung.

»Peter, ich bin hergekommen, weil ich finde, dass wir uns noch mal verabschieden sollen. Jetzt ist es ja ein Abschied für immer, denn es ist kaum anzunehmen, dass sich unsere Wege noch einmal kreuzen werden. Ich bin gekommen, um dir für dein neues Leben in Amerika viel, sehr viel Glück zu wünschen. Was Maren mir erzählt hat, das hört sich sehr gut an. Du bekommst endlich wieder eine große Aufgabe, eine Herausforderung. Als Lehrer in Hohenborn warst du doch total unterfordert. In einer Traumstadt eine große Schule nicht nur zu leiten, sondern sie auch noch weiter auszubauen, das ist etwas für dich. San Francisco, da war ich noch nicht. Die Stadt stand früher immer ganz oben auf meiner Liste der Orte, die ich unbedingt besuchen wollte.«

»Du kannst mitkommen, Nicki, uns steht ein großes Haus zur Verfügung mit sehr viel Platz.«

Er hatte es nicht sagen wollen, es war ihm einfach so herausgerutscht, weil selbst jemand wie er seine Gefühle nicht immer unter Kontrolle haben konnte.

»Tut mir leid«, korrigierte er sich sofort. »Das hätte ich jetzt nicht sagen sollen.«

»Ist schon gut, Peter. Ich habe auch manchmal Gedanken, die dich in mein Leben mit einbeziehen. Wir waren ja auch sehr eng miteinander, und die mit dir verbrachte Zeit möchte ich nicht mehr missen. Ich werde immer mit sehr viel Liebe im Herzen an dich, an Maren, an Tim und unsere miteinander verbrachte Zeit denken. Bei mir hat sich auch etwas verändert. Ich arbeite wieder freiberuflich, das andere versprach zwar Sicherheit, doch ich fühlte mich eingeengt. Doch du wirst es nicht glauben, ursprünglich wollte ich ja meine Wohnung aufgeben, um Miete zu sparen. Und weißt du, was daraus geworden ist? Ich zahle keinen einzigen Cent weniger Miete, mit den Nebenkosten wird es sogar, so fürchte ich, noch mehr sein. Doch für mich erfüllt sich ein Traum. Ich ziehe in einen großen Loft in einer ehemaligen Papierfabrik ein.«

Er blickte sie an, lächelte leicht, ehe er sagte: »Warum wundert mich das eigentlich jetzt nicht? Ein Loft, der passt zu dir, zu deinem Freiheitsdrang. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du dort glücklich wirst. Mit einem Partner an seiner Seite kann man alles viel besser genießen, und ich weiß, wovon ich rede. Ehe Ilka, meine Exfrau, die du ja auch kennengelernt hast, sich dafür entschieden hat, Spaß für sich allein zu haben, waren wir eine glückliche Familie. Und trotz dieses Scheiterns ist das noch immer die Lebensform, die für mich die Ideale ist. Klar gibt man ein großes Stück von Freiheit auf, wenn man sich dafür entscheidet, doch man gewinnt sehr, sehr viel mehr. Freude genießt man an der ­Seite eines Partners doppelt, und man sagt nicht umsonst, dass geteiltes Leid halbes Leid ist.«

Er blickte sie an.

»Nicki, wir waren auf einem so guten Weg, und ich bin nach wie vor der Meinung, dass du viel zu früh das Handtuch geworfen hast.«

Er merkte, wie ihre Körperhaltung sich veränderte, weil ihr bei solchen Worten ganz unbehaglich wurde, und deswegen lenkte er sofort ein: »Nicki, ich will dich jetzt zu nichts überreden. Du hast dich entschieden, ich habe es akzeptiert, und auch die Kinder kommen mittlerweile damit klar und machen sich keine Vorwürfe mehr, weil sie zunächst glaubten, sie seien schuld an der Trennung«, er fügte ganz leise hinzu: »Was sie ja letzten Endes für dich auch sind …, nicht Maren und Tim als Personen, sondern wegen der Verantwortung, die man zu tragen hat, mitzutragen hat, wenn man sich auf einen Partner mit Kindern einlässt.«

Sie hätte nicht herkommen dürfen.

Was hatte sie eigentlich erwartet?

Sie wusste doch, dass sie ihn und seine Kinder sehr verletzt hatte, als sie einfach gegangen war. Solche Wunden heilten nicht so einfach.

»Peter, ich fand es ehrlicher, die Reißleine zu ziehen, als noch Zeit dazu war. Ich stand mehr als nur einmal mit dem Rücken zur Wand. Es kann ja sein, dass ich zu feige war, dass ich nicht gewartet habe. Doch Peter, niemand kann über seinen Schatten springen. Und auch wenn ich dich und deine Kinder sehr verletzt habe, würde ich auch heute nicht anders handeln. Man kann nur tun, was man tun kann.«

Sie stand auf.

»Peter, es war mir einfach nur ein Bedürfnis, dir noch einmal zu sagen, was für ein wundervoller Mensch du bist, und ja, auf meine Weise habe ich dich geliebt. Da habe ich dir nichts vorgemacht. Für den letzten Schritt haben meine Gefühle offensichtlich nicht gereicht.«

Sie trat auf ihn zu, sie standen ganz nahe beieinander, es war unausweichlich, es war nicht geplant, doch plötzlich lagen sie sich in den Armen, klammerten sich aneinander, und dann küssten sie sich wie zwei Verdurstende.

Die alte Leidenschaft überkam sie, die vertraute Nähe, das Verlangen …

Es war Nicki, deren Verstand zuerst einsetzte. Das durfte nicht geschehen, wenn sie jetzt nicht ging, dann würden sie unweigerlich zusammen im Bett landen.

Das durfte nicht sein.

Das würde erneut Verwicklungen bringen.

Sie machte sich aus seinen Armen frei, blieb für einen Augenblick mit gesenktem Kopf vor ihm stehen, sie wagte nicht, ihn anzusehen.

»Peter, ich wünsche dir alles Glück der Welt. Ich werde dich niemals vergessen, und das musst du mir glauben.«

Nach diesen Worten rannte sie aus dem Haus, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.

Sie hätte nicht herkommen dürfen.

Ihr Besuch hatte vieles wieder aufgewühlt, bei ihr und bei ihm, und das lag daran, dass sie ihre Liebe nicht ausgelebt, sondern nur abgebrochen hatten.

Da war viel Platz für Verlangen, für Sehnsüchte geblieben, statt, wie es meistens war, der Gleichgültigkeit, schlimmstenfalls dem Hass zu weichen.

Sie weinte, als sie zurück zum Doktorhaus stolperte, und es war ihr vollkommen gleichgültig, dass sie manch verwunderter Blick traf.

Sie war froh, angekommen zu sein, und noch mehr freute es sie, allein zu sein. Das musste sie erst einmal verarbeiten.

Die Begegnung mit Peter Bredenbrock hatte ihr vollkommen den Boden unter den Füßen weggerissen, besonders das Ende, das nun wirklich nicht geplant gewesen war.

Hatte sie einen Fehler gemacht?

Hätte sie ihn nicht verlassen dürfen?

Stopp!

Es gab ja in Beziehungen nicht nur die Momente der Leidenschaft, es gab einen Alltag, und der füllte die meiste Zeit eines Zusammenlebens aus.

Hatte sie schon vergessen, dass sie sich dem nicht gewachsen gefühlt hatte?

Allmählich wurde sie ruhig.

Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, und das Ende jetzt …, sie waren sich sehr nahe gewesen.

Besser konnte man sich ja wohl nicht trennen, oder?

Ihre Gedanken schwirrten durcheinander wie aufgescheuchte Bienen in ihrem Bienenstock.

Auch wenn der Kleine für sie unglaublich anstrengend war, freute Nicki sich, als er und Alma wieder nach Hause kamen.

»Ich habe von Alma ein Eis bekommen«, rief er ihr entgegen, »und guck mal, sie hat mir auch ein Auto gekauft. Ist das nicht toll? So eines wollte ich schon immer haben.«

Nicki bewunderte hingebungsvoll das Auto, bedauerte, kein Eis bekommen zu haben.

Philip beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit, doch Alma war ein sehr feinfühliger Mensch, irgendwann sagte sie: »So, mein Junge, jetzt spielst du erst einmal allein. Ich denke, die Nicki braucht erst einmal eine kleine Stärkung.«

Philip war ein gut erzogenes Kind, er gehorchte, und Alma zog Nicki mit in die Küche und servierte ihr dort nur kurze Zeit später nicht nur einen ganz hervorrangenden Milchkaffee, sondern Nicki bekam auch noch köstliche Pralinen vorgesetzt, die Alma selbst hergestellt hatte. Alma gehörte zu den Frauen, die einfach alles konnten.

Nicki merkte, wie sie sich allmählich beruhigte, vielleicht lag das auch an den Pralinen, die sie in sich hineinstopfte, anders konnte man es nicht bezeichnen.

Und sagte man nicht, dass Schokolade gut für die Nerven war? Da schien etwas Wahres dran zu sein.

Irgendwann blickte Nicki auf.

»Danke, Alma, das war es, was ich gerade dringend gebraucht habe.«

Alma mochte Nicki unglaublich gern, und sie glaubte auch, die Freundin der Frau Doktor ganz gut zu kennen.

Alma sagte jetzt nicht, sie lächelte nur ganz fein, sehr verstehend, und das sagte mehr als tausend Worte es vermocht hätten.

*

Wenn Teresa von Roth sich etwas vornahm, dann zog sie es auch durch.

Sie hatte ihren Plan, die reizende Angela von Bergen mit dem bedauernswerten Berthold von Ahnefeld zusammenzubringen, nicht aufgegeben. Sie hatte es nur aufgeschoben, weil das Fest für das Tierheim erste Priorität hatte. Doch da war jetzt alles in trockenen Tüchern, und jetzt konnte sie ihr Herzensprojekt wieder angehen. Und es traf sich sehr gut.

Sie traf ihren Schwiegersohn allein an. Er bemühte sich, sich einen Kaffee zu kochen, was ja normalerweise seine Inge immer übernahm, doch die war unterwegs.

Teresa hatte nur etwas vorbeigebracht, als sie die hilflosen Bemühungen ihres Schwiegersohnes bemerkte, sagte sie resolut: »Werner, lass mich das mal machen.«

»Das wäre großartig, Teresa«, rief er und trat bereitwillig beiseite.

Es dauerte nicht lange, da war der Kaffee fertig, und da Teresa auch die Leidenschaft ihres Schwiegersohnes für etwas Süßes kannte, stellte sie ihm auch ohne weitere Aufforderung einen Teller mit einem Mandelkuchen auf den Tisch, was er sehr dankbar begrüßte.

Sie unterhielten sich eine Weile, ehe Teresa sich ganz unverfänglich erkundigte: »Hat dein Freund Berthold sich mittlerweile inzwischen bei dir gemeldet?«

Das verneinte Werner.

»Ach Gott, Werner, das ist kein gutes Zeichen«, rief sie. »Das zeigt doch, wie sehr er durch den Wind ist, dabei bräuchte er doch gerade jetzt sehr viel Verständnis und Zuwendung.«

Werner blickte seine Schwiegermutter ein wenig verunsichert an.

»Werner, überleg doch mal. Was würdest du an seiner Stelle tun? Dich an Freunde wenden, nein, das würdest du nicht. Aber wenn Freunde dir die Hand reichen würden, die würdest du doch dankbar ergreifen, oder?«

Werner antwortete nicht sofort, und Teresa fragte sich, ob er erst über ihre Worte nachdenken musste oder ob er einfach zu sehr mit seinem Kuchen beschäftigt war.

Erst als der gegessen war, Werner noch etwas getrunken hatte, wandte er sich an seine Schwiegermutter.

»Vermutlich hast du recht, Teresa. Aber wie du weißt, habe ich mir dummerweise keine Telefonnummer von Bert geben lassen und darauf gehofft, dass er sich hier melden würde.«

Das wusste sie doch alles, und auch das, was sie jetzt sagte, hatte sie bereits schon einmal zum Ausdruck gebracht. Doch Werner war ein zerstreuter Professor, das hatte er vermutlich längst vergessen.

»Werner, du bist klug, es dürfte für dich ein Leichtes sein, ihn ausfindig zu machen.« Und dann hatte sie eine gute Idee. »Wenn du zu viel am Hals hast, dann kann ich das für dich übernehmen. Ich habe Zeit, und Berthold tut mir leid, wie muss es in ihm aussehen, Frau und Kinder auf einen Streich verloren zu haben. Und wie muss er sich fühlen, mit dem Wissen, dass er nur durch einen ganz dummen Zufall überlebt hat. Wäre für ihn nicht dieser Anruf gekommen, dann hätte er ebenfalls in dem Flugzeug gesessen.«

»Was ihm vermutlich sogar lieber gewesen wäre«, bemerkte Werner. »Dann müsste er als Überlebender jetzt nicht dieses unsägliche Leid ertragen. Aber du hast recht, Teresa, Bert muss geholfen werden. Ich werde mich um eine Telefonnummer, eine Adresse oder sonst was bemühen, doch es kann nicht schaden, wenn du es ebenfalls tust. Danke für dein Angebot.«

Schade, dass Teresa sich jetzt nicht vor Begeisterung die Hände reiben konnte. Bitte schön, es ging doch. Sie hatte ja versucht, Inge darauf anzusetzen, aber da war nichts geschehen. Ihre Tochter kam wirklich nicht auf sie.

Werner wechselte das Thema, und da gab es noch etwas, was ihm sehr am Herzen lag, mehr noch als sein Freund Berthold, und das war sein Sohn Jörg.

Der Professor hatte die tüchtige Handchirurgin vom ersten Augenblick an gemocht, und deswegen hatte es ihn auch sehr betroffen gemacht, von der Trennung von Charlotte zu hören.

»Teresa, was sagst du denn dazu, dass Jörg seiner Freundin den Laufpass gegeben hat?«, erkundigte er sich. »Hat er nicht ein wenig zu empfindlich reagiert? Klar war es von Stella unmöglich, mit den Kindern nach Brasilien zu gehen. Wenn sie ihm so wichtig sind, wenn er so sehr an ihnen hängt, hätte er das unterbinden können, hätte das Sorgerecht beantragen können. Und er hätte auch alle Chancen gehabt, es zu bekommen.«

Wie weltfremd war doch ihr Schwiegersohn …

»Werner, das mit dem Schuldprinzip, das ist Schnee von gestern. Jörg hat ja auch lange darüber nachgedacht, die Kinder zu nehmen. Wie hätte es in der Praxis ausgesehen? Jörg ist ein viel beschäftiger Manager, der weltweit unterwegs ist. Er hätte für die Kinder Personal einstellen oder sie in ein Internat stecken müssen. Ehrlich mal, Werner, dann sind sie doch besser bei der leiblichen Mutter aufgehoben. Stella, dieser dummen Nuss, kann man ja allerlei vorwerfen. Eine schlechte Mutter ist sie nicht, sie liebt die Kinder.«

Werner legte sich ein neues Stückchen Kuchen auf den Teller, und ehe er den aß, sagte er: »Komm, lass uns nicht mehr darüber reden. Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen, eine Frau wie Charlotte wird er so leicht nicht finden.«

Teresa mochte ihren Schwiegersohn sehr, sie verstanden sich ausgezeichnet, doch manchmal konnte sie Werner nicht verstehen. Er würde sich die Welt am liebsten so zurechtzimmern, wie er sie haben wollte. Gewiss lag das daran, dass man ihn als Wissenschaftler hofierte, dass seine Meinung meistens ausschlaggebend war, da verlor man ein wenig den Blick für die Realität.

»Ich denke, dass Jörg augenblicklich nicht der Sinn danach steht, nach einer neuen Frau Ausschau zu halten. Und wenn du mich fragst, ich kann das, was er getan hat, nachvollziehen. Versetz dich bitte mal in seine Lage. Wie wäre es denn für dich, wenn Inge mit den Kindern weggegangen wäre, wenn es eine neue Frau in deinem Leben gäbe, die ein eigenes Kind hat, für das du mehr oder weniger Vaterersatz sein sollst, mit dem du viel Zeit verbringst, während du dich nach deinen eigenen Kindern vor Sehnsucht verzehrst.«

Werner blickte sie an, dann lächelte er: »Ach, Teresa, über so etwas muss ich doch nicht nachdenken, weil meine Inge so etwas nie getan hätte.«

Teresa gab auf.

Sie wollte jetzt mit Werner keine Diskussion anfangen. Gewiss schmerzte es sie sehr, was da mit Jörg und Charlotte geschehen war. Man wünschte seinen Kindern, seinen Enkeln, sogar jetzt seinen Urenkeln alles Glück der Welt. Doch das Leben war für niemanden ein Wunschkonzert. Es gab in jedem Leben Höhen und Tiefen, und auch wenn man es nicht glauben wollte. Es war tatsächlich so, nach Regen kam Sonne. Sie konnte da mitreden, sie und ihr Magnus waren durch den Himmel, aber sie waren auch durch die Hölle gegangen. Sie waren nicht an diesen Herausforderungen zerbrochen, sie waren an ihnen gewachsen. Und das war es, was Teresa ihren Enkeln, die derzeit ziemlich gebeutelt wurden, ob es nun Jörg oder Hannes war, von ganzem Herzen wünschte. Doch sie war sehr zuversichtlich. Es waren starke Menschen. Sie würden es schaffen, jeder auf seine Weise.

Teresa war froh, dass ihr Gespräch jetzt unterbrochen wurde, weil Inge in den Raum trat.

»Oh, habt ihr es euch gemütlich gemacht?«, erkundigte sie sich.

»Deine Mutter hat mich davor bewahrt, die ganze Küche, zumindest die Kaffeemaschine, zu demolieren. Ich hatte eine unbändige Lust auf einen Kaffee, habe versucht, mir einen zuzubereiten, was mich vollkommen überforderte. Zum Glück kam Teresa im rechten Augenblick.«

»Werner, Werner, was würdest du bloß ohne mich machen?«, fragte Inge ihren Mann.

Der blickte sie an, mit einem Blick, der all seine Liebe verriet.

»Ohne dich wäre ich verloren, mein Herz«, antwortete er, was Teresa zum Anlass nahm, sich jetzt zu erheben und sich zu verabschieden.

Sie hatte erreicht, was sie erreichen wollte. Und sie würde auch direkt damit anfangen, nach Berthold von Ahnefeld zu suchen. Es wäre doch gelacht, dass man ihn nicht finden konnte. Und dann …

Dann wusste sie, was zu tun war.

Manchen Menschen musste man einfach zu ihrem Glück verhelfen, und zu diesem Personenkreis gehörte eindeutig Angela von Bergen.

Ehe sie das Haus verließ, drehte sie sich noch einmal um und rief: »Ihr wisst schon, dass wir heute Abend bei uns grillen, nicht wahr? Magnus kann es kaum erwarten, den Grillmeister zu spielen. Und ich hoffe, ihr bringt reichlich Hunger und Appetit mit. Er hat eingekauft, als gelte es eine ganze Kompanie zu beköstigen.«

»Mama, keine Sorge, wir bringen genug Hunger mit, und wir freuen uns auf den Grillabend. Ich finde es auch schön, dass du Sophia und Angela ebenfalls eingeladen hast. Die haben ein wenig Ablenkung nötig, denn das mit den Bredenbrocks geht ihnen schon ziemlich nahe. Maren und Tim waren ja wie die Enkelkinder für Sophia, die sie nicht gehabt hat.«

»Ja, ja, dass die Bredenbrocks gehen, das hat nicht nur die beiden aufgewühlt. Auch unsere Pamela ist ganz schön fertig. Für die ist es schon wieder eine Trennung. Erst Manuel, jetzt Maren. Pamela würde am liebsten alles so behalten, wie es ist. Doch so ist das Leben nicht. Sie wird noch viele bittere Erfahrungen machen. Aber jetzt muss ich wirklich los und nachsehen, ob Magnus wieder daheim ist und was er anstellt. Bis heute Abend also. Und Werner, ich lege los.«

Natürlich wollte Inge direkt wissen, womit, doch sie bekam keine Antwort von Werner, und Teresa bemerkte nur: »Du musst nicht alles wissen, mein Kind. Vergiss heute Abend nicht den Nachtisch mitzubringen. Ich bin sehr überrascht zu sehen, was du dir ausgedacht hast.«

Nach diesen Worten ging Teresa endgültig, und Inge ermahnte ihren Mann, nicht noch mehr Kuchen zu essen, damit er abends tüchtig zugreifen konnte.

Inge freute sich auf jeden Fall auf das Beisammensein bei ihren Eltern. Sie sahen sich zwar täglich, aber ob man etwas gemeinsam unternahm, das war etwas anderes, und gemeinsam zu grillen, das war immer schön, für jeden.

Jörg brauchte Abwechslung, und er war gern bei den Großeltern, und Inge war sich sicher, dass er seinem Opa assistieren würde, wie er es bereits als kleiner Junge gern getan hatte.

Jörg …

Sein Seelenzustand bekümmerte Inge sehr, und sie hätte ihm so gern geholfen. Leider ging das nicht, da musste der Ärmste allein durch.

Weil Werner nicht auf sie hörte, nahm sie den Kuchenteller einfach weg.

»Das reicht wirklich, mein Lieber«, sagte sie, und er widersprach nicht.

*

Roberta war sehr erstaunt, Daniel Sandvoss, den Lebensgefährten von Julia Herzog bei sich in der Praxis zu sehen. Sie kannten sich aus dem ›Seeblick‹, und Daniel war immer ein sehr munterer, aufgeschlossener Mensch gewesen, was für einen Journalisten allerdings nicht ungewöhnlich war. Einen solchen Beruf ergriffen extrovertierte Menschen. Einen lebendigen Eindruck machte Daniel heute nicht auf Roberta.

Er war blass, nervös.

Daniel wirkte auf Roberta irgendwie erloschen.

Nachdem sie ihn begrüßt hatte, erkundigte sie sich nach seinem Befinden, nach dem Grund, der ihn in die Praxis geführt hatte. Daniel machte nicht den Eindruck, als ging er gern zum Arzt, was bei manchen Menschen tatsächlich der Fall war. Doch das war in erster Linie nicht, weil ihnen etwas fehlte, sondern weil sie Ansprache brauchten.

»Ich hätte gern von Ihnen ein Schlafmittel«, sagte er. »Die gibt es zwar freiverkäuflich in der Apotheke, doch ich möchte nicht einfach irgendwas in mich hineinstopfen. Mit Schlaftabletten habe ich noch keine Erfahrung, doch ich muss was nehmen, weil ich nur noch müde bin, das ist für meinen Job nicht zuträglich …, ich befinde mich in einem schrecklichen Kreislauf, nachts kann ich nicht schlafen, tagsüber muss ich mich zusammenreißen, damit mir die Augen nicht zufallen.«

Das hörte sich nicht gut an.

Roberta hielt zwar nicht von den allgemein in den Arztpraxen üblichen Blutdruckmessungen, weil die keine klare Aussagen machten. Die meisten Patienten mussten einen Arzt nur sehen, und schon schoss der Blutdruck in die Höhe. Roberta ließ sich von den Patienten wenigstens einen Monat lag morgens, mittags und abends die Blutdruckwerte aufschreiben. Das reichte ihr, um sich ein Bild zu machen. Jeder Arzt hatte eine andere Vorgehensweise, sie hatte mit ihrer Methode die besten Erfahrungen gemacht.

Sie entschloss sich, Daniel nicht nur abzuhören, sondern auch seinen Blutdruck zu messen.

Er war ein cooler Typ, der sich durch einen Arzt oder eine Ärztin ganz gewiss nicht einschüchtern ließ. Sein systolischer Wert lag bei 190, sein diastolischer Wert bei 100, die Pulswerte waren bei 90.

Roberta hielt sich nicht an die allgemein festgelegten Normwerte von 120/80, Puls 70.

Doch diese Werte waren zu hoch. Weil ihr das Abhören seines Herzens nicht ausreichte, ließ sie ein EKG machen, was ihre Voruntersuchungen bestätigte, es gab Extrasystolen, die Herzrhythmusstörungen anzeigten.

Daniel Sandvoss war ein ziemlich schlanker, durchtrainierter Mann, von dem sie wusste, dass er sich gesund und ausgewogen ernährte, der sich viel bewegte, sogar Marathon lief, der nicht rauchte, nicht trank, abgesehen von hier und da mal einem Glas Wein zum Essen.

Roberta erkundigte sich, was los in seinem Leben sei, ob sich etwas verändert hatte.

Es musste etwas geschehen sein. Er und Julia waren ein Liebespaar wie es im Buche stand, er hatte ihretwegen sein Leben aufgegeben, um mit ihr gemeinsam auf die Reise zu gehen. Sie hatte die beiden so sehr beneidet.

Er zögerte kurz, dann erfuhr Roberta, dass doch nicht alles eitel Sonnenschein im ›Seeblick‹ war, dass er und Julia sich zwar liebten, doch dass sie immer mehr auseinanderdrifteten.

»Ich bin nicht leichtfertig und blauäugig in das Leben mit Julia gegangen«, sagte er, »doch unsere Gemeinsamkeiten werden immer weniger, wir haben keine Zeit mehr, sie auszuleben. Julia ist immer in Aktion.«

»Das mit dem Fest für das Tierheim, das ist schon eine ganz große Nummer«, versuchte Roberta die junge Wirtin zu entschuldigen. Sie hatte Julia sehr gern und bewunderte sie dafür, mit welchem Elan sie bei der Arbeit war. Sie hatte den ›Seeblick‹ zu einem florierenden Unternehmen gemacht, dabei hatte es anfangs wirklich danach ausgesehen, als würde sie das Ganze gegen die Wand fahren.

Er blickte sie traurig an.

»Es ist nicht nur das Fest«, sagte er leise, »wenn das vorbei ist, kommt die Vorbereitung auf den Stern, den sie unbedingt erkochen will. Als ich Julia kennenlernte, wusste ich, dass sie viel Ehrgeiz besitzt und viel Einsatzfreunde für ihren Beruf mitbringt. Sie hätte sich sonst für ihren früheren Chef nicht den Stern erkochen können, sie hat die gesamte männliche Konkurrenz hinter sich gelassen …, seit ihr der ›Seeblick‹ gehört, hat sie sich verändert, sie ist ein Workaholic, sie ist mit ihrer Arbeit verheiratet …, und ich laufe nur so nebenher.«

Diese Worte machten Roberta betroffen, vermutlich in erster Linie, weil sie in Julia und Daniel das ideale Liebespaar gesehen hatte, das auch für sie und ihre Beziehung der Maßstab gewesen war.

An diesem Beispiel hatte sie die Unzulänglichkeit ihrer eigenen Beziehung erkannt. Das hatte sie unzufrieden gemacht, sie hatte alles infrage gestellt.

Vielleicht gab es ja im wahren Leben überhaupt keine perfekte Liebesbeziehung. Davon träumte man, doch die Realität sah anders aus.

Roberta riss sich zusammen.

Sie saß nicht hier, um über ihre Beziehung zu Lars nachzudenken, es ging letztlich auch nicht um Julia und deren Beziehung. Es ging um deren Lebenspartner, der zu ihr gekommen war, weil er gesundheitliche Probleme hatte. Sie war jetzt einzig und allein als Ärztin gefragt, nicht als psychologische Beraterin, auch wenn sie mit Julia, mittlerweile eigentlich auch mit Daniel, befreundet war.

Roberta besprach mit ihrem Patienten dessen gesundheitliche Problem. Er bekam von ihr ein leichtes pflanzliches Mittel, das ihm beim Einschlafen und ihn ein wenig zur Ruhe kommen lassen würde. Ein Blutdruckmedikament bekam er noch nicht direkt von ihr, sondern sie besprach mit Daniel ein paar Verhaltensregeln, und sie wollte ihn in einer Woche wieder in ihrer Praxis sehen.

Auch wenn es sie eigentlich nichts anging, riet sie ihm, sich mit Julia auszusprechen, ihr zu sagen, was für ihn in ihrer Beziehung nicht mehr rund lief. Das versprach er.

Nachdem er gegangen war, brauchte Roberta erst einmal einen Augenblick für sich, ehe sie den nächsten Patienten in ihr Sprechzimmer rief.

Julia und Daniel!

Sie hatte die beiden wirklich glühend beneidet, und eigentlich war es deren Vorbild, was sie in ihrer Beziehung zu ihrem Lars so unzufrieden gemacht hatte.

Eine gemeinsame Reise …

Um die mit Julia antreten zu können, hatte Daniel sein ganzes bisheriges Leben umgekrempelt, er hatte alles aufgegeben, war zu ihr gezogen.

Vielleicht hatte es tatsächlich in den anfänglichen Werbewochen so etwas wie einen Reiseantritt gegeben. Wie es jetzt schien, trafen sich die beiden allenfalls hier und da mal auf den Bahnhöfen.

Lars hatte ihr nie etwas vorgemacht. Sie hatte von Anfang an gewusst, worauf sie sich einließ. Und für ihn hätte es auch ewig so weitergehen können. Sie hatte mehr von ihm erwartet, und das hatte den Riss in ihre Beziehung gebracht. Ihre Erwartungshaltung war für ihn zu groß geworden. Hatte er sich deswegen zurückgezogen? War er deswegen mehr unterwegs, als er vermutlich sein müsste?

Es gab keine Liebe ohne Probleme, und es mussten beide an einem Strang ziehen und sich darüber einig sein, wie ihr gemeinsames Leben verlaufen sollte. Beide. Keiner der Partner durfte bevorzugt, keiner benachteiligt werden.

Alles auf einen Nenner zu bringen, das war ein ganz schönes Stück harte Arbeit.

Sie würde ihre Beziehung zu Lars überdenken, und Julia und Daniel konnte man nur wünschen, dass sie wieder einen Weg zueinanderfinden würden.

Sie atmete tief durch, dann bat sie Ursel Hellenbrink, ihr den nächsten Patienten zu schicken.

*

Zu hohe Blutdruckwerte …

Herzrhythmusstörungen …

Das konnte auch einen coolen Journalisten wie Daniel Sandvoss aus der Spur bringen.

Er hatte es immer verdrängt, doch jetzt hatte er keine andere Wahl mehr. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen.

Wo war die Euphorie ihres Anfanges geblieben?

Er hatte sich nichts vorgemacht. Er hatte wirklich geglaubt, dass man aus Liebe, aus dem Wunsch nach Zweisamkeit, sein Leben verändern konnte.

Wäre mit Julia alles so, wie es anfangs gewesen war, hätte er auch über die berufliche Unterforderung hinwegsehen können. Man konnte nicht alles haben. Irgendwo musste man zurückstecken, und er hatte ja in der Hinterhand auch noch das Buch gehabt, das er schreiben wollte.

Mittlerweile hatte er die bittere Erfahrung machen müssen, dass das Schreiben Kreativität bedeutete, dazu musste man den Kopf frei haben. Das war etwas anderes, als irgendwo eine Wand zu streichen, Nägel in die Wand zu klopfen, Steine zu mauern. Gegen all diese Arbeiten war nichts einzuwenden, die waren höchst ehrenwert. Doch die konnte man auch verrichten, wenn man nicht so gut drauf war, das erforderte handwerkliches Geschick.

Was war nur aus all den Träumen geworden?

Er musste mit Julia reden.

Die blickte ganz erstaunt, als sie Daniel bemerkte.

»Musst du nicht in der Redaktion sein, Daniel?«, erkundigte sie sich.

»Ich habe mir frei genommen. Wir müssen miteinander reden, Julia«, sagte er ernst, von dem Besuch bei der Frau Doktor sagte er nichts.

Da war etwas, Julia spürte es. Doch es war ganz ausgeschlossen, jetzt alles stehen und lieben zu lassen, um mit Daniel zu reden.

»Das können wir, mein Liebling. Aber doch nicht jetzt. Das Restaurant ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Blumendekoration wird gleich geliefert, und da muss ich dabei sein, das kann ich niemandem überlassen. Ich habe da meine genauen Vorstellungen, wie es aussehen soll. Es kann doch nicht so wichtig sind, was du mir sagen willst, oder? Wichtig ist doch nur, dass wir uns lieben.«

Sie umarmte ihn flüchtig, drückte ihm einen ebenso flüchtigen Kuss auf den Mund, schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln, und schon war sie fort.

Daniel blieb wie bedröppelt stehen und blickte ihr hinterher. » … dass wir uns lieben …«

Worte, nichts als Worte. Sie war so sehr in ihrem eigenen Ding, dass sie nicht einmal bemerkte, wie schlecht es ihm ging. Sie hatte nicht einmal gefragt, weswegen er mit ihr sprechen wollte. Und um diese Frage zu stellen, so viel Zeit wäre gewesen.

Noch während Daniel überlegte, ob er nicht doch in die Redaktion fahren sollte, bekam er eine Nachricht. Die wollte er zunächst ignorieren, weil ihm nach überhaupt nichts zumute war. Er fühlte sich nur elend. Vielleicht schlitterte er ja sogar in eine Depression, etwas, was andere Leute bekamen, was er für sich immer ausgeschlossen hätte.

Etwas veranlasste ihn schließlich doch, die Nachricht zu lesen. Und das tat er immer wieder, weil er nicht glauben konnte, was er da las.

Sein früherer Chef bat ihn, nicht nur an seinen alten Posten zurückzukehren, weil sein Nachfolger kläglich gescheitert war, nein, er bot ihm nicht nur viel mehr Kompetenzen, sondern auch noch viel mehr Geld an.

»Daniel, überleg nicht lange, mach dich auf den Weg. Du wirst gebraucht.«

Dann folgte die Unterschrift.

Daniel starrte immer wieder auf diese Nachricht, mit der er niemals gerechnet hätte, zumal sie nicht gerade im Frieden auseinander gegangen waren. Man hatte ihn halten wollen, ihm war sein Privatleben wichtiger gewesen.

Und nun das!

Er spürte, wie er aus seiner Lethargie erwachte.

Zwei Seelen stritten in seiner Brust. Da war die Chance, wieder an seinen Job zurückkehren zu können, zu erheblich verbesserten Bedingungen. Doch auf der anderen Seite war Julia. An seiner Liebe zu ihr hatte sich nichts verändert. Er liebte sie von ganzem Herzen. Es war nur eine große Ernüchterung bei der Art ihres Zusammenlebens eingetreten, oder sollte man sagen, ihres Nebeneinanderlebens?

Aus dem Festzelt heraus drangen Stimmen, ein Gehämmere, aus dem Restaurant kamen Gäste, gingen welche hinein.

Nein, das war kein Ort, um nachzudenken, und das musste er jetzt tun.

Er setzte sich in sein Auto, fuhr nach Hohenborn, ging in sein Büro, und dort angekommen, wusste er, was er auf jeden Fall zu tun hatte. Er würde hinschmeißen. Ja, das würde er. Vorerst war er nicht auf das Gehalt angewiesen, er besaß finanzielle Reserven.

Er übertrug einer Kollegin, die außer sich vor lauter Freude war, den Auftrag, über das Fest im ›Seeblick‹ zu berichten, dann schrieb er seine Kündigung, wobei er gesundheitliche Probleme vorschob, was nicht einmal gelogen war. Dann packte er seine privaten Dinge zusammen, viele waren es nicht, und ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er die Redaktion, das Gebäude.

Dieser Weg war zu Ende.

Weg …

Mit Julia war alles offen. Würde es einen gemeinsamen Weg geben? Würden sie im letzten Augenblick das Ruder herumreißen können, oder würde ihr Weg in einer Einbahnstraße münden.

Ihm wurde ganz schwer ums Herz. In der Regel waren Frauen vielleicht emotionaler, doch wenn es um die Liebe, die Lebensliebe ging, da unterschieden Männer und Frauen sich nicht voneinander.

Der Tod einer Liebe war schmerzhaft.

Als er seine Sachen im Kofferraum seines Autos verstaute, zuckte er betroffen zusammen.

Wohin verirrten sich seine Gedanken? Tod der Liebe, an so etwas wollte und durfte er nicht denken.

Er musste mit Julia reden, sofort!

Die Zeit musste sie sich einfach nehmen, es gab nichts auf der Welt, was nicht warten konnte. Blumenarrangements konnten warten, Herde konnte man ausstellen, damit die sich darauf befindlichen Gerichte nicht verdarben.

Es gab für ihn eine Chance, und es war schon ein wenig merkwürdig, dass die Nachricht genau in dem Moment gekommen war, in dem er ganz tief unten am Boden gewesen war. Das war er merkwürdigerweise jetzt nicht mehr.

Ohne einen Block zurückzuwerfen, fuhr er los. Er wusste, dass er das Redaktionsgebäude von innen nicht mehr wiedersehen würde, und das bedauerte er in keiner Weise.

Als er am ›Seeblick‹ ankam, hatte sich der Parkplatz mittlerweile ein wenig geleert, nur noch wenige Autos standen da, und auch im Festzelt war es recht still.

Das war ein gutes Zeichen. Die Chancen, mit Julia reden zu können, standen gut.

Daniel hatte das Haus noch nicht ganz erreicht, als Julia mit einer Frau an ihrer Seite um die Ecke gebogen kam. Die beiden Frauen unterhielten sich angeregt, und er hörte, wie Julia sagte: »Sie haben großartige Arbeit geleistet, und bringen Sie bitte auf jeden Fall noch ein paar Visitenkarten vorbei, die ich auslegen werde. Ich bin mir sicher, dass man mich auf diese herrliche Dekoration ansprechen wird, und da werde ich Werbung für Sie machen. Wir Frauen müssen zusammenhalten.«

Werbung für jemanden zu machen, das war immer gut, doch Julias letzter Satz ließ Daniel ein wenig zusammenzucken. Das machte so deutlich, als was und wo Julia sich sah …, als eine clevere Einzelkämpferin!

Er blickte sie an, und sein Herz wurde ganz weit vor lauter Liebe. Wie schön sie war mit ihren kurzen braunen Haaren, ihren blitzenden braunen Augen, ihrer schlanken Figur. Julia war nicht groß, doch von ihr ging eine unglaubliche Energie, ging eine unglaubliche Präsenz aus. Es war zu spüren, dass sie in ihrem Element war.

Die Gärtnerin ging.

Julia entdeckte Daniel, den sie zuvor überhaupt nicht richtig wahrgenommen hatte. Das war schon bezeichnend. Sie lächelte ihn an. »Warst du noch einmal weg?«, erkundigte sie sich, viel Interesse lag allerdings nicht in ihrer Stimme.

»Ich war in Hohenborn, dort habe ich fristlos gekündigt.«

Sie hatte nicht zugehört, weil sie mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders war. »Der Zugang zum Zelt muss noch geebnet werden«, rief sie einem Mann zu, der sich dort zu schaffen machte. »So kann es unmöglich bleiben, da stolpern die Gäste ja.«

Der Mann versprach, sein Bestes zu geben, danach wandte Julia sich Daniel wieder zu: »Was hast du gesagt?«, erkundigte sie sich.

Er winkte ab.

»War nicht so wichtig. Ich will dich jetzt auch nicht länger stören.«

Sie nickte.

»Ich habe wirklich viel zu tun, wir sehen uns dann später«, rief sie erleichtert, ehe sie davonlief.

Er blieb einen Augenblick stehen, blickte ihr nach, dann trottete er zum Seiteneingang, ging ins Haus.

Er hatte ihr von der Kündigung erzählt, und sie hatte es nicht einmal registriert.

Sagte das nicht alles?

Er begab sich in die Wohnung, und dann ertappte er sich dabei, wie er seine Sachen zusammenpackte. Als er damit fertig war, die Taschen und Koffer vor der Tür standen, wurde ihm erst so richtig bewusst, was er da getan hatte, was er im Begriff war zu tun.

Es ging ihm gesundheitlich nicht gut.

Er fühlte sich verletzt.

Er war mit seinem Projekt, mit der Frau seiner Liebe auf eine gemeinsame Reise zu gehen, gescheitert.

Es tat so unglaublich weh, doch er wusste, dass er nicht darauf warten musste, dass sich etwas ändern würde. Es würde sich nichts ändern.

Julia brauchte ihn nicht, sie brauchte den ›Seeblick‹ und all die Herausforderungen, die damit verbunden waren. Sie hatten von einer Zweisamkeit, einem gemeinsamen Leben geträumt, und es war ein wunderschöner Traum gewesen.

Träume waren nicht die Realität, sie zerplatzten in der Regel.

Ehe er sein Gepäck ins Auto trug, und dabei wurde er von niemandem beachtet, weil alle Leute ringsum anderweitig beschäftigt waren, schrieb er seinem Chef, dass er kommen würde. Und mit allem Weh in seinem Herzen fühlte es sich richtig an.

Liebe bedeutete Zweisamkeit, da durfte nicht einer auf der Strecke bleiben.

Er verabschiedete sich nicht von Julia, sie würde seinen Abschiedsbrief vorfinden, und er konnte nur hoffen, dass sie ihn ein wenig verstehen konnte.

Er fuhr langsam vom Parkplatz herunter, langsam auf den Weg, der ihn immer weiter vom ›Seeblick‹ entfernte.

Noch konnte er zurück!

Noch war nichts passiert. Er könnte so tun als sei nichts geschehen, den Brief in tausend Fetzen zerreißen.

Und dann?

Dann würde sich nichts ändern.

Er konnte Julia keinen Vorwurf daraus machen, dass sie nicht den Platz an seiner Seite eingenommen hatte, den er für sie reserviert hatte.

Er musste sich keinen Vorwurf machen, er hatte sich bemüht, war mit ihr sogar in der halben Nacht in den Großmarkt gefahren, er hatte sich nicht nur bemüht, ihr Leben zu verstehen, sondern er hatte auch daran teilnehmen wollen. Es hatte nichts gebracht.

Er hatte sie geliebt, er liebte sie noch immer, und er würde sie immer lieben. Manche Liebe war halt nicht alltagstauglich. Er wünschte ihr von ganzem Herzen all das, was sie für sich erstrebte. Sie war großartig. Ja, das war sie …, es hätte etwas werden können. Wann war sie zurückgeblieben? Er konnte es nicht sagen. Und es kam ja auch überhaupt nicht darauf an, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es war vorbei …

Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, und vermutlich stieg im Augenblick auch sein Blutdruck in eine gigantische Höhe. Es würde sich ändern, das würde er schon in den Griff bekommen.

Aber das mit der zerbrochenen Liebe …, das würde dauern.

*

Im ›Seeblick‹ boxte derzeit wirklich, wie man so schön und treffend sagte, der Bär. Die Vorbereitungen für das Fest liefen auf Hochtouren, alles nahm immer mehr Formen an, und es versprach, ein unvergleichliches Fest zu werden.

Und im Restaurant schienen sich alle Gäste auf einmal verabredet zu haben, und es kamen auch welche, die Julia bereits eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte.

Es war eine große Herausforderung, doch wenn sie ehrlich war, gerade in solchen Situationen lief sie zu Hochtouren auf.

Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, ging sie hinauf in die Wohnung.

Der arme Daniel …

Sie bekam ein schlechtes Gewissen, der hatte in letzter Zeit wirklich nicht viel von ihr.

Ehe Julia die Wohnung betrat, wurde sie auf einmal von einem merkwürdigen Gefühl beschlichen, ihr Herz klopfte, da war etwas, für das sie keine Erklärung hatte.

Sie stieß die Tür auf, es brannte kein Licht.

Hatte Daniel sich schon ins Bett gelegt? Das wäre ungewöhnlich. Er war eine Nachteule, außerdem wartete er immer auf sie, um wenigstens eine kurze Zeit mit ihr zu verbringen.

»Daniel?«

Er erfolgte keine Antwort.

Sie spürte, wie sie feuchte Hände bekam.

»Daniel?«

Wieder nichts.

Julia machte sich auf die Suche, von Daniel gab es keine Spur. Sie stieß die Schlafzimmertür auf, machte Licht, blieb wie angewurzelt stehen.

Die Schranktüren standen auf, Schubladen waren herausgezogen worden.

Da, wo Daniels Sachen gehangen oder gelegen hatten, gab es gähnende Leere.

Es dauerte eine Weile, ehe Julia realisiert hatte, was das bedeutete.

Daniel war weg.

Sie wankte zum Bett, setzte sich auf die Bettkante, und dann entdeckte sie den Brief, der mitten auf dem Bett lag. Sie erkannte sofort seine ausgeprägte, männliche Handschrift.

Sie starrte den Umschlag an, auf dem ihr Name stand, und sie war nicht in der Lage, nach dem Brief zu greifen, um ihn zu lesen.

Ihre Gedanken überschlugen sich.

Daniel war weg, das konnte sie immer nur denken. Sie war müde gewesen, als sie nach oben gekommen war, jetzt war sie hellwach.

Julia hatte das Gefühl, dass ihre Gedanken sich überschlugen, doch sie nahm nichts davon wahr, verspürte vielmehr eine große Leere, die sich überall ausbreitete und an ihr hochkroch, sie frösteln ließ.

Sie hatte sich nicht genügend um ihn gekümmert, sie hatte ihn nicht in das, was sie tat, einbezogen. Doch das interessierte ihn doch überhaupt nicht, vieles hatte er ihretwegen getan.

Immerhin hatte er das. Und sie?

Es war nicht der Augenblick für Schuldzuweisungen. Sie griff nach dem Briefumschlag, ihre Hand zitterte stark, als sie das eng beschriebene Blatt herauszog, und sie war so aufgeregt, dass zunächst einmal alle Buchstaben vor ihr verschwammen.

Meine Liebste, das bist Du, wirst es für immer für mich bleiben, und ich bereue keine Sekunde der mit Dir verbrachten Zeit. Mittlerweile habe ich jedoch eingesehen, dass wir unterschiedliche Lebenskonzepte haben, die uns immer weiter voneinander entfernen. Ich möchte meine Liebe zu Dir in meinem Herzen bewahren, glutvoll und schön. Ich möchte nicht abwarten, bis nur noch ein Häufchen Asche zurückbleibt.

Julia, Du bist eine wundervolle Frau, danke für die Zeit, die ich mit Dir haben durfte. Dafür werde ich Dir wirklich immer dankbar sein.

Pass auf Dich auf, in Liebe, Dein Daniel.

Er war für immer gegangen, und sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie die Anzeichen nicht bemerkt hatte, dass sie die nicht hatte sehen wollen, denn sie waren da und unübersehbar gewesen.

Daniel hatte selbstlos sein altes, sein erfolgreiches Leben aufgegeben, um mit ihr gemeinsam in ein neues zu starten.

Und sie?

Sie hatte sich darüber gefreut, sie hatte es als eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Sie war glücklich gewesen, seine Liebe hatte ihr Selbstbewusstsein gestärkt, sie hatte sich sehr wohlgefühlt bei dem Gedanken, beides zu haben, ein sehr gut florierendes Restaurant, und den Mann an ihrer Seite, den sie liebte, der sie liebte mit der ganzen Kraft seines Herzens.

Sie hatte an sich gedacht, an ihre eigene Befindlichkeit, doch sie hatte keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es wohl in ihm aussah, wie er sich fühlte. Dabei war er es allein gewesen, der Opfer gebracht hatte.

Liebe war kein Selbstbedienungsladen, in dem sich einer allein das holte, was er mochte.

Liebe war ein ständiges Geben und Nehmen. Julia schämte sich so sehr, als ihr bewusst wurde, dass sie immer nur genommen hatte.

Sie stand auf, holte ihr Handy, versuchte, ihn anzurufen.

Er durfte nicht gehen, sie liebte und sie brauchte ihn doch.

Er meldete sich nicht, stattdessen kam die unverbindliche Durchsage: »Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.«

Er wollte nicht mit ihr reden, er hatte sie aus seinem Leben gestrichen, weil sie ihn überfordert hatte.

Ihr fiel ein, dass er immer wieder versucht hatte, mit ihr zu reden. Und sie hatte ihn immer wieder abgewimmelt.

Oh Gott!

Wie musste er sich gefühlt haben, immer hintenan gestellt zu werden.

Auch wenn die Vorbereitungen für das Fest wichtig, wenn das Restaurant überfüllt gewesen war. Das alles war keine Entschuldigung, Zeit für ein Gespräch wäre immer da gewesen. Sie hatte es sich einfach gemacht, weil das Leben mit dem verständnisvollen Daniel so herrlich einfach gewesen war.

Ein Satz fiel ihr ein, über den sie immer gelächelt hatte, jetzt bewahrheitete er sich für sie. »Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht.«

Wäre er ihr als Warnung bloß früher schon mal eingefallen. Dann hätte sie die Reißleine ziehen können. Sie hatte Daniel und seine große Liebe zu ihr als eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Sie hatte das Leben mit ihm genossen, und er war immer für sie da gewesen.

Nein!

Oh nein!

Sie durfte nicht mehr darüber nachdenken, nicht über diese egoistische Frau, die sie an seiner Seite, neben ihm, gewesen war.

Sie hatte ihr Glück mit Füßen getreten. Sie hatte ihn verloren, dabei liebte sie ihn doch!

Wie gern hätte sie jetzt geweint, doch die Tränen der Erlösung wollten einfach nicht kommen.

Der ›Seeblick‹ war in einer Schieflage gewesen, den hatte sie auf die Spur gebracht, der florierte immer besser. Doch ihre Liebe, das Einzige, was zählte, hatte sie gegen die Wand gefahren, mit Krach und Getöse, und in ihr war nicht eine einzige Alarmglocke angegangen, die sie gewarnt hätte.

Daniel …

Er hatte mit ihr auf eine gemeinsame Lebensreise gehen wollen, und dafür hatte er alles getan.

Sie musste mit den Gedanken aufhören, die sich immer wiederholten und die letztlich in Schuldgefühlen endeten, die sie sich machte.

Sie versuchte erneut, ihn zu erreichen, und wieder kam nur die Ansage. Sie wollte es jetzt noch nicht wahrhaben, weil das ihr ganzes Elend nur noch vergrößern würde. Doch ganz tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie von Daniel nichts mehr hören würde.

Er war plötzlich und still in ihrem Leben aufgetaucht, und ebenso plötzlich und still war er wieder gegangen.

Sie griff erneut nach dem Brief, las ihn wieder und immer wieder, und irgendwann verschleierten Tränen ihren Blick.

Der Platz an ihrer Seite würde fortan leer bleiben, er würde sie nicht mehr umarmen, sie würde niemals mehr seine Liebe, seine Nähe, seine Küsse spüren. Sie würden nie mehr gemeinsam miteinander lachen …

Es tat so unendlich weh.

Vielleicht hätte sie heute noch das Ruder herumreißen können. Er hatte dringend mit ihr sprechen wollen, doch alles andere war ihr wichtiger gewesen.

Sie hatte ihre Liebe verloren …

Jetzt wurde ihr Körper vor Tränen geschüttelt, doch das brachte keine Erleichterung, im Gegenteil, es drückte sie immer tiefer und nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen.

*

Die Auerbach-Kinder hatten schon immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander, bei Ricky und Jörg war es enger, weil sie altersmäßig besser zueinanderpassten, und ebenso verhielt es sich bei den Jüngeren, Hannes und Pamela.

Und so war es auch überhaupt kein Wunder, dass Ricky in seinen schweren Stunden an Jörgs Seite sein wollte. Mit ihrer eigenen süßen Kinderschar war sie gefordert, und da gab es eigentlich kaum Gelegenheiten, ungestört miteinander zu sprechen. So war Ricky in den Sonnenwinkel gekommen, die älteren Kinder waren in der Schule oder Kita, und die kleine Teresa hatte sie bei Oma Holper geparkt, einer hilfreichen Nachbarin, die die Kinder über alles liebte und immer für sie da war. Natürlich waren Inge und Großmutter Teresa sehr enttäuscht gewesen, aber Ricky wollte ungestört mit ihrem Bruder reden. Das respektierte auch die Familie, alle zogen sich zurück, Ricky und Jörg waren allein.

Ricky kam auch sofort zur Sache.

»Jörg, ich habe lange mit Charlotte telefoniert, die ist fix und fertig, und sie leidet so sehr unter eurer Trennung. Ich will mich wirklich nicht einmischen, es geht mich nichts an. Aber du bist mein Bruder, den ich über alles liebe, und Charlotte mag ich sehr gern. Sie ist eine wunderbare Frau. Ihr liebt euch, das kann doch nicht einfach zu Ende sein. Gibt es da wirklich kein Zurück, keinen Weg, der euch wieder miteinander verbindet?«

Jörg hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, die er aber dann unterdrückte. Ricky war ein warmherziger Mensch, und sie meinte es wirklich gut. Das, was sie da gesagt hatte, war nicht besserwisserisch, sie wollte helfen.

Er ließ sich Zeit mit der Antwort.

»Ricky, was glaubst du wohl, wie mir zumute ist? Ich liebe Charlotte. Wir passen zusammen wie Pott und Deckel, doch hier geht es nicht um uns. Es geht um Sven, ihren Sohn. Das ist ein ganz großartiger Junge, und wir verstehen uns blendend. Das Problem ist, dass Sven in mir so etwas wie einen Ersatzvater sieht, was nicht einmal unverständlich ist. Schließlich hat sich sein leiblicher Vater beizeiten aus dem Staub gemacht und ist verschwunden. Ricky, der Junge erwartet etwas von mir, was ich ihm nicht geben kann. Bei jeder Zusammenkunft werde ich an meine Kinder erinnert, und es zerreißt mich beinahe, dass ich sie nicht mehr sehen kann. Die Trennung von Stella und den Kindern ist noch zu frisch. Über Stella bin ich längst hinweg, Charlotte passt viel besser zu mir, in jeder Hinsicht, aber die Kinder, die fehlen mir so sehr … Vielleicht hätten Charlotte und ich uns später kennenlernen müssen, wenn Zeit vergangen wäre, viel mehr Zeit. Dann wäre ich ein wenig über alles hinweg. Aber jetzt … Ricky, es geht einfach nicht. Ich kann, wie gesagt, für Sven nicht das sein, was er erwartet, andererseits liebt Charlotte ihren Jungen über alles, sie versucht, so viel Zeit wie nur möglich mit ihm zu verbringen. Und das bedeutet, dass ich Charlotte nicht allein haben kann, dass Sven der wichtigste Teil ihres Lebens ist. Ich kann das so gut verstehen. Ricky, so traurig es ist, wenn man ein verantwortungsbewusster Mensch ist, dann muss man halt manchmal die Reißleine ziehen, auch wenn es einem sehr ans Herz geht.«

Nach diesen Worten war es eine Weile still zwischen den Geschwistern.

Jörg war anzusehen, dass er an seine verlorene Liebe dachte, und Ricky war voller Mitleid, mit ihrem Bruder, aber auch mit Charlotte, die sie wirklich sehr gern mochte.

Irgendwann begann Ricky zu sprechen.

»Weißt du, Jörg, ich will nicht darüber nachdenken, was Stella da angerichtet hat. Aus reinem Egoismus, nur um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Du warst immer viel zu großzügig, du hättest nicht zulassen dürfen, dass sie das ganze Erbe von Tante Finchen für sich allein behält. Ihr habt in einer Gütergemeinschaft gelebt, da wird alles geteilt.«

Sofort winkte Jörg ab.

»Bitte, Ricky, fang damit jetzt nicht an. Ich bin froh, dass das endlich vom Tisch ist. Stella hat das Vermögen von Finchen geerbt, ich habe davon nicht einen Cent angerührt, und ich möchte auch nicht mehr darüber reden. Was war das für ein Gezanke, weil die Rückerts dachten, ihnen stünde das Erbe zu, nicht Stella. Ricky, du kannst so unendlich froh darüber sein, dass Fabian da total anders ist. Im Grunde genommen hätte ihm eine Hälfte des Vermögens zugestanden, Finchen war auch seine Tante. Aber er hat nicht einen Ton darüber verloren, er war nicht sauer, war zu Stella so nett wie immer. Dazu gehört schon Größe.«

Ricky nickte heftig.

»Ja, ich bin so unendlich stolz auf meinen Fabian, und ich liebe ihn über alles. Unsere Liebe wird immer größer, und wir sind doch ein Beispiel dafür, dass man für immer nicht nur zusammen, sondern auch sehr, sehr glücklich sein kann.«

Er lächelte.

»Ihr seid eine Ausnahme, bei euch war es Liebe auf den ersten Blick. So etwas Großartiges erlebt man nicht jeden Tag, und das erlebt auch nicht jeder. Fabian ist so ganz anders als Stella.«

Sie seufzte.

»Ach, weißt du, Jörg, Fabian kann seine Schwester auch nicht mehr verstehen, dabei waren sie doch immer ein Herz und eine Seele. Das ist vorbei. Er hat nichts für ihre Verantwortungslosigkeit übrig. Wenn man verheiratet ist und Kinder hat, dann trägt man eine große Verantwortung. Da schert man nicht einfach aus, weil man ein bisschen Spaß haben will. Hinzu kommt, dass er nicht verstehen kann, dass Stella sich bis heute nicht bei den Eltern gemeldet hat, um ihnen von der Veränderung in ihrem Leben zu berichten. Rosmarie und Heinz wüssten noch immer nichts, wenn sie es nicht von dritter Seite erfahren hätten. Das ist sehr bitter, zumal die Rückerts ja eine so positive Entwicklung genommen haben. Du weißt ja, welch gestörtes Verhältnis Fabian zu seinen Eltern hatte. Das ist jetzt so richtig gut geworden. Freilich lässt sich die Vergangenheit nicht zurückholen, und die Wunden werden immer bleiben. Aber sie sind alle auf einem guten Weg. Und das freut mich sehr, unsere Kinder sollen nicht nur die Großeltern mütterlicherseits lieben, sondern auch die Eltern ihres Vaters.«

So war sie, die Ricky, immer um Ausgleich bemüht, um häuslichen Frieden. Nicht nur sie konnte froh sein, einen so fabelhaften Mann wie Fabian zu haben, nein, umgekehrt war es ebenso.

»Und meine Kinder sind ins ferne Brasilien, nach Belo Horizonte, verschwunden, ich als Vater kann sie nicht sehen, und die Großeltern, die Urgroßeltern, ebenfalls nicht. Es ist wirklich sehr schrecklich, wenn etwas auseinanderbricht, von dem man geglaubt hatte, es sei für die Ewigkeit bestimmt.«

Ricky legte einen Hand auf den Arm ihres Bruders.

»Jörg, es wird Stella einholen. So etwas bleibt nicht ungestraft, sie hat unendlich viel Schaden angerichtet aus reinem Egoismus.«

Er bekam einen gequälten Gesichtsausdruck. »Ricky, können wir bitte davon aufhören und das Thema wechseln? Erzähl von deiner Rasselbande, ganz besonders die kleine Teresa scheint ja die ganze Familie so richtig aufzumischen, sagt zumindest Mama.«

Ricky blickte ihren Bruder an.

Sollte sie jetzt wirklich anfangen, von ihrer heilen Welt zu berichten?

Zum Glück wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Pamela kam ins Zimmer gepoltert.

»Die Mami und die Omi haben zwar gesagt, dass ich nicht stören darf. Aber das kann doch wohl nicht sein. Ihr seid doch meine Geschwister, und Geschwister untereinander, die stören sich doch nicht.«

Sie blickte ihre große Schwester ein wenig Hilfe suchend an.

»Du bist so selten hier, Ricky. Ich möchte auch etwas von dir haben, ehe du wieder wegfährst. Und guck mal, die Luna, die will dich auch begrüßen.«

Und ob Luna das wollte.

Jörg und Ricky sagten Pamela, dass sie überhaupt nicht störe, und Inge und Teresa merkten ebenfalls sehr rasch, dass sie dazustoßen durften. Auch sie freuten sich jedes Mal, Ricky zu sehen, und so oft kam die ja nun wirklich nicht mehr in den Sonnenwinkel, was ja auch durchaus verständlich war.

Inge warf ihrem Sohn einen vorsichtigen Blick zu. Er sah noch immer ganz bekümmert aus. Was hatte sie denn erwartet? Zaubern konnte Ricky auch nicht.

»Wollt ihr Kaffee und Kuchen haben?«, erkundigte Inge sich, und sie freute sich, dass das von allen begrüßt wurde. So etwas ging bei den Auerbachs immer.

*

Roberta kam von einem Patientenbesuch, und als sie gerade ganz in der Nähe des ›Seeblicks‹ war, entschloss sie sich, einen Abstecher dorthin zu machen.

Das passte auch ganz gut, denn sie war länger unterwegs gewesen, Alma war gerade dabei, den kleinen Philip ins Bett zu bringen, der immer noch etwas vorgelesen haben wollte.

Sie würde also im ›Seeblick‹ eine Kleinigkeit essen, und wenn sie ehrlich war, dann wollte sie in erster Linie nach Daniel sehen, der sich bei ihr nicht mehr gemeldet hatte.

Das Fest zur Rettung des Hohenborner Tierheims war vorüber, und es war ein grandioser Erfolg gewesen. Auf dem Fest hatte sie ihn nicht gesehen, doch da waren so viele Menschen gewesen, mit denen sie sich unterhalten musste. Da hatte sie nicht extra nach ihm Ausschau gehalten. Aber heute würde sie die Gelegenheit ergreifen, ihm zu sagen, dass er das, was sie ihm gesagt hatte, nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Vorausgesetzt, sie hatte mal einen Augenblick mit ihm allein. Sie wusste nicht, inwieweit er mit Julia über den Besuch bei ihr gesprochen hatte, und sie durfte wegen des Datenschutzes nicht darüber reden.

Aber da machte sie sich keine Sorgen, Julia war die Wirtin, nach der immer verlangt wurde, auch wenn mittlerweile genügend Personal vorhanden war.

Der Parkplatz war beinahe vollbesetzt. Vermutlich waren das Gäste, die mehr über das rauschende Fest erfahren wollten, an dem sie nicht teilgenommen hatten, nicht hatten teilnehmen dürfen. Mit einem solch bombastischen Erfolg hatte niemand rechnen können. Es hatte sich ein Vielfaches an Menschen für das Fest interessiert. Doch bei allem Wohlwollen hätte man nicht mehr Leute unterbringen können. Das Festzelt und das Restaurant waren bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Natürlich hatte auch Roberta es sich nicht nehmen lassen, reichlich zu spenden. Und sie würde niemals das glückstrahlende Gesicht von Frau Dr. Fischer vergessen, der Leiterin des Tierheims, als sie ihren Scheck in Empfang nehmen konnte, der sie erst einmal von ihren finanziellen Sorgen befreite.

Roberta ging langsam zum Restaurant, nicht ohne vorher noch von der Terrasse aus einen Blick auf den See geworfen zu haben. Das war jetzt wieder möglich, denn das Zelt war abgebaut worden.

Das Wasser des Sees hatte ein Nachtschattenblau angenommen, das hier und da durch die letzten, späten Strahlen der beinahe untergegangenen Sonne mit goldenen Tupfen versehen wurde.

Die hereinbrechenden Schatten der Nacht verschluckten allmählich das rotgoldene Licht am Himmel.

Es war ein Augenblick der Ewigkeit, der selbst für einen Moment die schnatternden Enten zum Schweigen brachte, das Gekreische der Möwen war verstummt, mit lautlosem Flügelschlag schwebten sie über dem See.

Roberta merkte, wie Ruhe in ihr einkehrte, und es fiel ihr sehr schwer, sich von diesem grandiosen Schauspiel loszureißen.

Schön war es hier oben, wunderschön, wo einem der See praktisch wie auf einem Silbertablett serviert wurde.

Langsam ging sie zurück, ins Restaurant, aus dem gerade Leute traten, die sie kannte, mit denen sie ein paar flüchtige Worte wechseln musste. Ja, ja, sie war hier bekannt wie ein bunter Hund, die Frau Doktor. Das war auch etwas, was Roberta an ihrer neuen Heimat liebte, der nichts von der Anonymität der Großstadt anhaftete, die vorher ihr Zuhause gewesen war.

Wie lange war das schon wieder her.

Sie war angekommen, und für sie gab es mittlerweile zum Sonnenwinkel keine Alternative mehr.

Sie verabschiedete sich, betrat das Restaurant, Julia kam ihr entgegen. Sie war blass, sah sehr schlecht aus, und darüber konnte auch nicht das Make-up hinwegtäuschen, das sie aufgetragen hatte.

Doch sollte man sich darüber wundern?

Julia war über sich hinausgewachsen, sie hatte Großartiges geleistet. Teresa von Roth, Sophia von Bergen, Rosmarie Rückert hatten im Vorfeld viel getan, Heinz Rückert hatte viel bezahlt, doch die Hauptarbeit hatte Julia gehabt, und wenn man dann noch bedachte, dass sie alles zum Selbstkostenpreis ausgerichtet hatte, dann konnte man ihr nicht genug danken.

Ja, die durfte jetzt elend aussehen, aber doch irgendwie auch glücklich und zufrieden, aber das war nicht der Fall. Auf den ersten Blick wirkte sie auf Roberta wie erloschen.

Natürlich bekam Roberta ihren Stammplatz, es war auch nicht zu übersehen, dass Julia sich freute. Julia wurde abgerufen, und Roberta hielt Ausschau nach Daniel. Er war nirgendwo zu sehen, und eigentlich hielt er sich um diese Zeit doch meistens im Restaurant auf, um etwas zu essen.

Roberta bestellte ein Rote-Bete-Curry mit Kokos und Kichererbsen, dazu Naan, das frisch gebackene indische Fladenbrot.

Das hatte Roberta schon einmal ganz zu Anfangszeiten bestellt, und sie konnte sich erinnern, dass es köstlich geschmeckt hatte.

Von Julia sah sie nicht viel, die war heute sehr gefragt, aber Roberta wurde aufmerksam bedient, was wollte sie mehr, und ihre Wahl war richtig gewesen. Es schmeckte so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Von Daniel war noch immer nichts zu sehen. Sie wollte auch die Bedienung nicht nach ihm fragen. Doch als Julia endlich an ihren Tisch kam und sich für einen Augenblick zu ihr setzte, erkundigte sie sich.

Roberta hätte mit allem gerechnet, aber wirklich nicht mit dem, was sie jetzt erfuhr.

Julia zögerte einen Moment, dann sagte sie leise und hatte dabei Tränen in den Augen: »Daniel ist weg. Er hat mich verlassen.«

Roberta war wirklich nicht auf den Mund gefallen, im Gegenteil, sie war sehr sprachgewandt, doch das verschlug ihr jetzt die Sprache.

Was hatte Julia da gesagt?

Sie musste sich verhört haben, Julia und Daniel, das Traumpaar …

Julia wurde abgerufen, und das war Roberta ganz recht, denn so hatte sie erst einmal Gelegenheit, diese Neuigkeit zu verdauen.

Daniel hatte Julia verlassen …

Sie sah nach einer Weile doch nicht nur das Traumpaar, um dessen Liebe sie die beiden glühend beneidet hatte. Nein, sie erinnerte sich daran, in welch desolatem Zustand Daniel zu ihr in die Praxis gekommen war, sie erinnerte sich an seine Worte, aus denen man schließen konnte, dass die anfängliche gemeinsame Reise längst keine mehr war, weil einer ausgestiegen war.

Aber sie liebten sich doch, da ging man nicht einfach.

Was war geschehen?

Roberta war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als Julia wieder zu ihr kam.

»Tut mir leid, Roberta«, entschuldigte sie sich. »Heute wollen sie alle was von mir.«

Darauf ging Roberta nicht ein, sie erkundigte sich vielmehr: »Julia, was du da vorhin gesagt hast, das kann doch nicht sein. Daniel und du, ihr liebt euch doch, ihr hattet so viele wundervolle Pläne.«

Julia blickte Roberta ganz traurig an.

»Es ist meine Schuld, ich habe seine Liebe, all sein Bemühen als Selbstverständlichkeit hingenommen. Ich habe unserer Liebe keinen Raum gelassen …, ich habe nur an mich gedacht …, und weißt du, was besonders schlimm ist? Daniel hat einige Male versucht, mit mir zu reden, doch ich habe ihm überhaupt keine Möglichkeit dazu gegeben, ich habe ihn vertröstet. Da hat er die Konsequenzen gezogen und ist gegangen. Ich war so beschäftigt, dass ich nichts davon mitbekommen habe. Als ich endlich nach oben kam, da war er weg …, er hat mir einen Brief hinterlassen, einen Brief ohne Vorwürfe, voller Liebe, aber es ist ein Abschiedsbrief. Es hat von seiner Seite viele Versuche gegeben, unsere Liebe zu retten, doch ich wollte all die Vorzeichen nicht sehen. Ich war mir meiner Sache einfach zu sicher und habe doch tatsächlich geglaubt, dass ich mein Ding machen kann und für die schönen Stunden dann ihn habe. Ach, Roberta, wie vermessen war ich doch. In der Liebe darf keiner auf der Strecke bleiben …, unsere gemeinsame Lebensreise hätte so schön sein können. Was eine gemeinsame Reise bedeutet, das beginne ich erst jetzt allmählich zu begreifen …, es geht nicht, dass einer zwischendurch einfach aussteigt, um sein Ding zu machen, und der andere bleibt zurück. Tja, Roberta, ich hatte das Glück in meinen Händen, doch ich konnte es nicht halten.«

Roberta wusste nicht, was sie jetzt dazu sagen sollte. Sie war erschüttert. Und ehrlich gesagt, hatte sie Julia und Daniel immer als Vorbild gesehen, dem sie nacheifern wollte. Sie war unzufrieden gewesen, weil es bei ihr und Lars nicht so gewesen war.

War ihre Erwartungshaltung zu groß gewesen? Wenn man so wollte, begann jede Beziehung auf einem weißen Blatt, das nach und nach mit Farbe gefüllt wurde.

Das brauchte Zeit, in der man sich wirklich kennenlernte, in der das Vertrauen wuchs, in der die Liebe größer wurde und auch der Wunsch, nicht mehr ohne einander sein zu wollen. Alles direkt haben zu wollen, so funktionierte das Leben nicht, und es reichte auch nicht, Wünsche haben zu wollen, man musste sie auch aussprechen.

Roberta schoss ein Satz durch den Kopf, und sie wunderte sich sehr, dass es gerade jetzt geschah. Vermutlich lag es daran, dass sie wirklich aufgewühlt war – ›Wenn du wirklich Rosen gesät hast, dann werden sie blühen.‹

Waren es bei Julia und Daniel mehr Worte gewesen als Taten? Und wie sah es bei ihr und Lars aus?

In Robertas Kopf drehte sich ein Gedankenkarussell. Sie war froh, dass Julia abgerufen wurde, ehe sie viel zu deren Geschichte sagen konnte. Für manches gab es auch keine Worte.

Sie musste jetzt hier raus, so gern sie sonst auch im ›Seeblick‹ war, heute engte sie es ein, und Roberta fand ganz unglaublich, wie souverän Julia mit allem umging. Sie war Profi durch und durch, ließ sich nichts anmerken. Roberta war sich sicher, dass sie das nicht könnte.

Sie verließ beizeiten das Restaurant, und sie konnte sich von Julia nur flüchtig verabschieden, weil die von einem Gast, der ein großes Familienfest plante, aufgehalten wurde. Und das war gut so.

Roberta trat ins Freie, mittlerweile machte sich Dunkelheit überall breit. Am nachtblauen Himmel zeigten sich die ersten Sterne, die irgendwo, sie wusste nicht einmal, wo er sich derzeit aufhielt, auch für Lars schienen.

Ob er in diesem Augenblick ebenfalls an sie dachte?

Große Sehnsucht nach ihm machte sich breit. All ihre Bedenken waren wie ausgewischt, in ihr gab es nur noch dieses unglaubliche Gefühl, das man Liebe nannte. Eine Liebe, an der sie vorübergehend gezweifelt hatte, die im Begriff gewesen war, sich davonzuschleichen.

Nein!

Ihr und Lars durfte nicht das passieren, was mit Julia und Daniel geschehen war.

Was war mit ihnen geschehen?

Wieso war es zu den Missverständnissen eigentlich gekommen?

Auch wenn es bitter war, sie kannte die Antwort. Es war einzig und allein ihre Schuld, denn Lars hatte von der ersten Sekunde an mit offenen Karten gespielt.

In ihr waren Wünsche wach geworden nach noch mehr Zweisamkeit, nach einem Zusammenleben, dem begehrtem Ring am Finger, nach Kindern.

Sie war von diesen Wünschen beherrscht gewesen, hatte ihn offensichtlich damit überfordert, anstatt ihm Zeit zu lassen und ihr auch. Sie stand unter keinem Zeitdruck, ihre biologische Uhr tickte längst noch nicht. Warum hatte sie die Zweisamkeit mit ihm nicht einfach nur genossen?

Jetzt, da der kleine Philip bei ihr im Doktorhaus war, merkte sie, welche Herausforderung das war und auch welche Zeit es kostete. Dabei hatte sie Alma zu ihrer Unterstützung da.

Warum wünschten Frauen sich eigentlich immer das, was sie gerade nicht hatten?

Warum waren sie hingerissen beim Anblick eines Brautpaares und wünschten sich nichts sehnlicher, als ebenfalls eine Braut in Weiß zu sein?

Und da machte es wirklich keinen Unterschied, ob es ein unbedarftes junges Mädchen war oder eine gestandene Frau mit mehreren Facharztausbildungen.

Verheiratet zu sein, das war wirklich nicht alles. Die Liebe allein zählte, und da hatte sie sich bei Lars nicht zu beklagen gehabt. Es war so unendlich viel, was sie von ihm bekommen hatte, und dennoch war sie wie verrückt gewesen nach dem kleinen Bisschen mehr, das er ihr nicht geben konnte, nicht geben wollte. Es spielte keine Rolle.

Das Märchen vom Fischer und seiner Frau fiel ihr ein, in dem die Frau immer mehr haben wollte, bis sie schließlich alles verloren hatte.

Robertas Herz krampfte sich zusammen.

Was war bloß los mit ihr gewesen? Sie hatte ihn weggetrieben, weil er sich von ihren Wünschen überfordert gefühlt hatte.

Warum hatte sie ihm keine Zeit gelassen?

Es stürmte vieles auf sie ein, ihr wurde ganz schwindelig, doch eines wusste sie in diesem Augenblick. Sie wollte Lars nicht verlieren.

Sie hatten diese Trennung auf Zeit vereinbart, doch das war Roberta in diesem Moment sehr gleichgültig. Noch ehe sie ihr Auto erreichte, holte sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb ihm. Und es mussten auch überhaupt nicht viele Worte sein, es kam einzig und allein darauf an, dass es die richtigen waren: »Mein Liebster, ich liebe dich über alles, und ich möchte nicht, dass unsere Liebe verloren geht. Vergiss all meine törichten Wünsche. Nichts davon ist wichtig. Nichts außer dir, denn du bist mein Leben. Du fehlst mir.

Für immer, deine Roberta.«

Roberta überlegte nicht, sie las nicht durch, was sie da aus einem Gefühl heraus getippt hatte, sie schickte diese Zeilen einfach ab. Und hinterher verspürte sie ein großes Gefühl der Erleichterung.

Sie hatte keine andere Wahl gehabt, sie hatte Lars diese Zeilen schicken müssen. Fast schien es, als sei sie dazu gezwungen worden.

Nachdem das erledigt war, stieg sie in ihr Auto. Sie warf, ehe sie losfuhr, einen letzten Blick zum Himmel. Es schien, als seien die Sterne untergetaucht, und der schmale abnehmende Mond hatte sich hinter einer Wolke versteckt.

Sie fröstelte, und sie war froh, dass Nicki jetzt nicht hier war, für die das sofort wieder ein Zeichen gewesen wäre. Das war Unsinn, ein Zeichen …, wofür denn?

Roberta fuhr los, und sie redete sich ein, dass das komische Gefühl, das sie gerade beschlich, die Traurigkeit, einzig und allein mit Julia und Daniel zu tun hatte. Man wollte nichts hören von zerbrochenen Lieben, man war interessiert an Geschichten von Liebe, die den Himmel erstürmte.

Und sie und Lars …

Sie würden eine neue Seite im Buch ihrer Liebe aufschlagen, und ab da würde es keine Missverständnisse mehr geben, keine einseitigen Wünsche, nur noch ein Gefühl, in das man sich einkuscheln konnte wie in eine warme, weiche Decke.

Als sie am Doktorhaus ankam, lag alles im Dunkel. Sie ging leise ins Haus, und ehe sie sich für die Nacht fertigmachte, schlich sie auf Zehenspitzen in Philips Zimmer. Der Kleine schlief tief und fest, und er schien schön zu träumen, denn ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.

Sie hob sein Schlaftier vom Boden auf, legte es neben ihn, dann deckte sie ihn zu, strich über sein verstrubbeltes Haar. Dann blieb sie noch eine ganze Weile vor dem Bettchen stehen.

Es war eine Bereicherung, Philip im Haus zu haben. Aber Roberta wurde immer bewusster, welche Verantwortung es doch bedeutete, ein Kind großzuziehen, wie viel Zeit man brauchte und wie viele Jahre man zurücktreten musste mit seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Das alles musste man sich vorher sehr genau überlegen. Roberta wurde bewusst, wie blauäugig sie an alles herangegangen war. Wenn man sich für ein Kind entschied, dann war das ein langer gemeinsamer Weg. Da konnte man nicht auf der Strecke stehen bleiben, das Kind in ein Internat abschieben, es Personal überlassen. Das alles tat man nicht, wenn man ein verantwortungsbewusster Mensch war.

Sie hatte Lars mit ihren Wünschen überrannt, und sie hatte ihn überfordert.

Wie gern würde Roberta jetzt das Rad der Zeit ein wenig zurückdrehen.

Man musste dem Getreide Zeit lassen zu wachsen, man konnte nicht an den Halmen ziehen, um das Wachstum zu beschleunigen.

Sie wünschte sich noch immer Kinder, doch sie wusste jetzt, dass es keine Einmann-Show war.

Und die Dinge passierten, wenn es an der Zeit war.

Leise verließ sie das Zimmer, ging in ihre eigenen Räume, und als sie wenig später in ihrem Bett lag, dachte sie mit einem Herzen voller Liebe an Lars, ihren Mr Right, die Liebe ihres Lebens.

Sie wusste nicht, warum sie auf einmal so traurig war.

Ging es an ihr Herz, weil er gerade nicht bei ihr weilte?

Ehe sie das Licht löschte, nahm sie sein Bild in die Hand, das auf ihrem Nachttisch stand, verlor sich in das geliebte Gesicht, und dann küsste sie das Bild. Das musste sein, sie war voller Liebe.

*

Rosmarie Rückert, Teresa von Roth und Sophia von Bergen hatten sich bei Inge zum Kaffee verabredet, und das nicht ohne Hintergedanken. Niemand konnte einen so herrlichen Kuchen backen wie Inge, und letztlich hatte sie ja irgendwo auch zum Festteam gehört.

Rosmarie legte einen Stapel von Zeitungen auf den Tisch und rief: »Nur positive Berichte, und wir drei sind in jeder Zeitung abgebildet. Das war ich früher ja auch, doch jetzt habe ich ein sehr viel besseres Gefühl dabei. Früher hat man über meine Kleidung, meine Frisur geschrieben, diesmal ging es um eine Sache, und ich sag euch, Mädels, das ist ein verdammt gutes Gefühl.«

»Rosmarie, du kannst auch ganz stolz auf dich sein, du hast das Ding geschaukelt, Sophia und ich waren nur Randfiguren, ohne dich hätten wir auch niemals diese Aufmerksamkeit bekommen. Wer kannte uns zwei alte Schachteln denn schon«, gab Teresa neidlos zu.

Das wollte Rosmarie so nicht im Raum stehen lassen, obwohl sie sich schon ziemlich geschmeichelt fühlte.

Es ging eine ganze Weile hin und her, bis Inge sagte: »Nun hört auf, euch gegenseitig zu beweihräuchern. Das Fest war eine Granate, und ihr könnt alle stolz sein, nicht zu vergessen Julia Herzog, die Unglaubliches geleistet hat, und auch Heinz hat mit seiner Großzügigkeit erst einmal den Grundstock für alles gelegt. Ihr habt erreicht, was ihr wolltet. Frau Dr. Fischer hat nicht nur einen ordentlichen Batzen Geld bekommen. Ich finde, viel wichtiger ist doch, dass das Tierheim in den Mittelpunkt gerückt ist, dass man einen Aufruf gemacht hat, sich Tiere nicht zu kaufen wie ein Pfund Zucker, dass man es sich vorher gründlich überlegen soll, ob man die Verantwortung für ein Tier übernehmen will oder kann. Würde man nämlich daran denken, gäbe es nicht die überfüllten Tierheime.«

Die Damen unterhielten sich noch eine ganze Weile über das Thema, das ihnen allen am Herzen lag, und dabei ließen sie sich den von Inge gebackenen Kuchen gut schmecken. Auch der wurde sehr gelobt, und so hatten sie letztlich alle ihre Streicheleinheiten abbekommen.

Die Stimmung war gelockert, fröhlich.

Inge hätte sich am liebsten hinterher die Zunge abgebissen, denn durch ihre Frage war die Stimmung dahin.

»Rosmarie, du sitzt an der Quelle, erfährst, was sich da oben mit dem Herrensitz tut, denn wenn das in trockenen Tüchern ist, bekommst du auch deine Villa verkauft.«

Rosmarie antwortete nicht sofort, ihr war anzumerken, dass es ihr lieber gewesen wäre, Inge hätte nicht ausgerechnet jetzt gefragt.

Spannung, Erwartung breitete sich unter den Damen aus, und Inge wusste, dass jetzt etwas kommen würde, was mit einem Schlag die fröhliche Stimmung zunichtemachte.

Hätte sie doch bloß ihren Mund gehalten!

»Graf Hilgenberg hat verkauft, er hat den vollen von ihm gewünschten Kaufpreis erhalten und dabei einen ordentlichen Schnitt gemacht. Der Käufer scheint Geld ohne Ende zu haben. Das geht auch daraus hervor, dass er auf unsere ursprüngliche Forderung eingegangen ist, und wir können im Haus wohnen bleiben, bis wir etwas Neues gefunden haben. Der Notarvertrag für unser Haus liegt bereit, er muss nur noch unterschrieben werden. Und ja, dann ist für uns der Albtraum vorüber, wir sind den ›Palazzo Prozzo‹, wie unser Fabian das Haus immer verächtlich genannt hat, wirklich los geworden.«

Nach diesen Worten war es still unter den Damen. Sie vergaßen den köstlichen Kuchen, den nicht minder köstlichen Kaffee, denn auch davon verstand Inge etwas.

Es war zu erwarten gewesen, sie hatten damit gerechnet, doch dann tatsächlich die Gewissheit zu haben, das hatte eine ganz andere Dimension, und das machte sprachlos.

Sie freuten sich, dass es den Rückerts tatsächlich gelungen war, die Villa, die sie zuvor wie saures Bier mit erheblichen Abschlägen angeboten hatten, tatsächlich zu verkaufen. Wenn es das bloß wäre.

Jetzt schwebte über ihnen wie ein Damoklesschwert der andere Verkauf, der sie alle betraf.

Der Herrensitz unterhalb der Felsenburg hatte den Besitzer gewechselt, nicht nur das. Auch Graf Hilgenberg hatte zuvor gekauft, hatte Veränderungen vorgenommen, doch die waren innerhalb der vorhandenen Bausubstanz erfolgt.

Jetzt war alles anders.

Jetzt bewahrheitete sich, was vorher alle verdrängt, was sie sich inständig gewünscht hatten, dass es niemals geschehen würde …, nun würde alles abgerissen werden. Und man konnte nur von Glück reden, dass wenigstens die Ruinen der Felsenburg stehen bleiben würden. Die durfte nicht abgerissen werden, weil die unter Denkmalschutz stand. Das war ein schwacher Trost.

Die Stimmung war verdorben, und Inge entschuldigte sich.

»Es tut mir so leid«, sagte sie leise. »Ich hätte nicht davon anfangen sollen, nicht jetzt. Ich habe alles verdorben.«

»Inge, höre mit einem solchen Unsinn auf«, wurde sie direkt von ihrer Mutter zurechtgewiesen. »Der Verkauf stand an, und es ist besser, mit der Wahrheit konfrontiert zu werden, als den Kopf in den Sand zu stecken.«

Inge wurde rot. Sie verstand die Anspielung ihrer Mutter. Es war leider so, dass sie sich immer drückte, wenn es darum ging, die Wahrheit zu bekennen, sich mit etwas, was unerfreulich war, auseinanderzusetzen.

Sophia kam ihrer Freundin Teresa zur Hilfe.

»Inge, deine Mutter hat recht. Jetzt wissen wir Bescheid, jetzt können wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass sich sehr bald schon alles verändern wird. Mit dem Frieden hier wird es bald schon vorbei sein, der Sonnenwinkel wird aus seinem Dornröschenschlaf erwachen. Nichts wird mehr so sein wie es war.«

Rosmarie bestätigte das, denn sie kannte ja die Pläne des neuen Besitzers schon länger. Der würde in der Tat alles ordentlich aufmischen. Hotel, Schönheitsklinik, Spa, Golf- und Tennisplatz, natürlich nicht zu vergessen Schwimmbäder innen und außen.

»Na ja, die Grundstückspreise werden weiterhin steigen«, bemerkte Teresa trocken, »das alles bedeutet eine Aufwertung, aber ehrlich gesagt, ich brauche das nicht. Mir wäre es lieber gewesen, alles bliebe so wie wir es kennen und lieben. Doch das sind Träume. Alles ist der Veränderung unterworfen, und einen Leckerbissen wie das Grundstück da oben lässt sich ein Spekulant nicht entgehen.«

Sie blickte Rosmarie an.

»Und ihr, habt ihr euch Gedanken gemacht, wohin ihr dann ziehen werdet?«, wollte Sophia wissen.

»Am liebsten in den Sonnenwinkel«, antwortete Rosmarie, »das habe ich Inge bereits gesagt. Aber vermutlich kann einem auf der Straße ein Ziegelstein auf den Kopf fallen, ehe man hier etwas bekommt. Das geht doch alles unter der Hand weg, und das wird noch schlimmer werden, wenn das neue Projekt verwirklicht ist.«

Teresa winkte ab.

»Zunächst einmal wird es viel Dreck und Lärm bedeuten, und das will niemand haben, aber warum redest du nicht mal mit Fabian und Ricky?«

Rosmarie blickte ein wenig irritiert drein. Sie konnte nicht nachvollziehen, was Teresa mit dieser Frage bezweckte. Was hatten ihr Sohn und ihre Schwiegertochter damit zu tun?

»Wieso soll ich die denn fragen, Teresa?«

Die trank jetzt erst einmal etwas von ihrem Kaffee, ehe der ganz kalt wurde.

»Ganz einfach, meine liebe Rosmarie. Die Bredenbrocks ziehen aus, und Ricky hat mir erzählt, dass sie ganz schön genervt davon ist, andauernd neue Mieter im Haus zu haben. Sie werden auf keinen Fall noch einmal in den Sonnenwinkel ziehen, und deswegen erwägen Ricky und Fabian diesmal ganz ernsthaft, das zu verkaufen, dann haben sie Ruhe.«

Rosmarie konnte es nicht glauben.

»Das Haus ist schön, natürlich würde ich es umbauen, doch das lässt sich machen. Damit habe ich schließlich Erfahrung. Aber verkaufen, Teresa, bist du dir da wirklich sicher?«

Nun war Teresa beinahe beleidigt. »Meine liebe Rosmarie, ich bin zwar alt, aber ich bin nicht blöd, und ich kann durchaus zwischen verkaufen oder vermieten unterscheiden.«

Rosmarie wollte es sich mit Teresa auf keinen Fall verderben, sie war voller Bewunderung für diese starke Frau, der sie ja auch einiges zu verdanken hatte. Teresa hatte den Anstoß zu ihrer Veränderung gegeben, als sie damals mit ihr ins Tierheim gegangen war.

»Entschuldige bitte, ich wollte dir nicht zu nahe treten«, sagte sie leise.

Teresa winkte großzügig ab, sie war nicht nachtragend, außerdem war ja auch nichts passiert.

»Ist schon gut, aber wenn du wirklich in den Sonnenwinkel ziehen möchtest, dann solltest du dich kümmern. Und wenn du mit deinem Heinz eh viel auf Achse sein willst, wenn ihr auch Zeit bei Cecile in Frankreich verbringen möchtet, dann bietet sich ein Haus hier an. Ich fänd das überhaupt nicht so schlecht, dich in der Nähe zu haben, meine Liebe. Doch was sagt denn dein Heinz dazu? Dem sind doch Statussymbole wichtig. Ich kann verstehen, dass er die Villa in Hohenborn loswerden möchte, sie ist viel zu groß für euch. Aber hier in die Siedlung zu ziehen? Ich weiß nicht, auch wenn sie mehrfach preisgekrönt wurde.«

»Teresa, auch Heinz hat sich sehr verändert. Nachdem er das Gefühl von Freiheit ausgiebig genossen hat, möchte er es wieder erleben. Es ist ihm sehr ernst damit, sich weitgehend zurückzuziehen und nur noch für spezielle Mandanten da zu sein, die ihn als den beurkundenden Notar haben wollen. Wir freuen uns schon auf unsere nächste Reise. Diesmal wollen wir mit dem Wohnwagen und Jeep die skandinavischen Länder erobern und außer Dänemark, Schweden und Norwegen auch bis Finnland fahren. Das wird gewiss ganz spannend, und unsere Beauty und die Missie, die nehmen wir diesmal auf jeden Fall mit. Es ist schon komisch, ich hätte niemals für möglich gehalten, dass uns die beiden Hundedamen so sehr fehlen würden.«

»Ja, an Tiere kann man sich gewöhnen«, bemerkte Sophia, »und Beauty und Missie sind zwei besonders schöne und sehr kluge Tiere«, Sophia legte sich ein Stück Kuchen auf ihren Teller. »Eigentlich ist es unfassbar, dass diese Hunde im Tierheim gelandet sind.«

»Die Luna doch ebenfalls«, wandte Inge ein. »Es sind nicht nur Straßenköter, die man sich holt und wieder abgibt. Im Gegenteil, man kauft einen teuren Rassehund, schließlich will man etwas Besonderes haben. Tier ist Tier, macht gleich viel Arbeit, egal ob mit oder ohne Papieren.«

Sie sprachen über das Tierheim, und es war wohl allen ganz recht, dass das Thema der Veränderung auf dem Herrensitz erst einmal beiseitegeschoben werden konnte.

Die Veränderung würde bald schon spürbar sein, dann mussten sie sich darauf einstellen, und dann würden sich auch die Ausmaße zeigen. Die Schaffung von Arbeitsplätzen war jetzt schon in aller Munde und hatte das Lager gespalten. Manche Bewohner begrüßten die Veränderung, doch es hatte sich längst herausgestellt, dass es nicht die Eigentümer, sondern die Mieter von Häusern waren, die dafür stimmten. Das verwunderte niemanden, denn die zogen irgendwann ja auch wieder weg.

Die gute Laune der Damen war dahin, und Inge konnte sich insgeheim noch so ärgern. Geschehen war geschehen. Nun hatte sie mal etwas angestoßen, und das war auch nicht richtig.

Sie verabschiedeten sich voneinander, und insbesondere Rosmarie hatte es sehr eilig, wegzukommen.

Das, was sie da gerade erfahren hatte, das ließ ihr überhaupt keine Ruhe. Das musste sie unbedingt mit Heinz besprechen, und dann würde sie Ricky anrufen. Ja, sie würde zuerst mit ihrer Schwiegertochter sprechen. Rosmarie hatte längst herausgefunden, dass die stets die bessere Ansprechpartnerin war, besser als Fabian, ihr Sohn.

Der Sonnenwinkel …

Sie hätte selbst nicht gedacht, dass sie einmal dorthin ziehen wollte. Anfangs hatte sie die Augen verdreht, hatte alles verspießt und langweilig gefunden.

Nachdem sie sich von den drei Damen verabschiedet hatte, konnte Rosmarie es nicht lassen, am besagten Haus vorbeizufahren, das ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter gehörte und das sie am Anfang ihrer Ehe bewohnt hatten.

Es war ein hübsches Haus mit einem sehr schönen Garten.

Und es lag ein wenig zurückgesetzt und besaß einen großen Vorgarten mit Bäumen, einer hohen Hecke, die kaum Einsicht bot. Auch wenn es sich um eine Siedlung handelte, so hatte der Architekt doch sehr darauf geachtet, dass nicht alle Häuser gleich aussahen, und auch die Grundstücke waren verschieden groß. Siedlung war nicht das, was man sich allgemein darunter vorstellte. Es waren individuelle, architektonisch besondere Häuser.

Rosmarie parkte gegenüber dem Haus, blickte es sich sehr lange an, so lange, dass man schon auf sie aufmerksam wurde und eine Frau aus der Nachbarschaft sogar auf sie zugelaufen kam und sich erkundigte, ob sie ihr helfen könne.

Das bewog Rosmarie, rasch weiterzufahren, doch das war auch ein Zeichen dafür, dass man nicht so anonym wohnte, sondern dass man aufpasste.

Wollte sie das wirklich?

Andererseits konnte man sich zurückziehen, neugierige Menschen gab es überall. Wenn sie Teresa, Sophia, Inge oder die Frau Doktor betrachtete, die waren freundlich und nett zu jedermann, waren beliebt, ohne täglich irgendjemanden aus der Nachbarschaft an ihrem Tisch sitzen zu haben.

Sie und Heinz lockte die Ferne, Frankreich sollte ihre zweite Heimat werden, da langte so ein Haus im Sonnenwinkel alle Male. Und sie kauften keine Katze im Sack, Rosmarie wusste, was in das Haus zusätzlich hineingesteckt worden war. Nicht von ihnen, das musste sie zu ihrer Schande gestehen. Da hatten die Auerbachs tief in die Tasche gegriffen.

Rosmarie wollte überhaupt nicht mehr daran denken, wie sie und Heinz damals noch drauf gewesen waren. Wie Dagobert Duck hatten sie auf ihrem Geldsacke einerseits gesessen, andererseits hatte sie das Geld sinnlos aus dem Fenster geworfen.

Nein.

Sollte nicht mehr daran denken, das musste eine andere Frau gewesen sein.

Sie fuhr rechts an den Straßenrand, dann rief sie nicht Heinz an, sondern ihren Sohn. Dort musste sie von ihrer Schwiegertochter allerdings erfahren, dass Fabian mit den Kindern unterwegs war, dass er sogar die kleine Teresa mitgenommen hatte.

»Wenn du also vorbeikommen möchtest, Rosmarie, dann musst du allerdings mit mir allein vorliebnehmen«, rief Ricky. »Aber du weißt doch, du bist jederzeit herzlich willkommen.«

Das stimmte mittlerweile sogar, wobei Ricky von Anfang an weniger Probleme im Umgang mit ihrer Schwiegermutter gehabt hatte.

Rosmarie überlegte nicht lange.

»Einverstanden, Ricky, wenn es dir nichts ausmacht, dann komme ich mal kurz vorbei. Ich möchte gern etwas mit dir besprechen, und eigentlich bin ich sogar ganz froh, dass Fabian nicht daheim ist. Allerdings dauert es ein wenig, ich bin derzeit noch im Sonnenwinkel. Doch ich beeile mich.«

Jetzt war Ricky schon ein wenig neugierig, denn ihre Schwiegermutter hatte aufgeregt geklungen. Was sie wohl mit ihr zu besprechen hatte? Früher hätte sie sich das erklären können, da hatte sie sich mit Rosmarie besser verstanden als Fabian mit seiner Mutter. Doch das hatte sich längst verändert, Mutter und Sohn waren sich nähergekommen, sie waren auf einem guten Weg.

»Fahr langsam, Rosmarie«, rief Ricky. »Es dauert noch eine Weile, bis Fabian mit den Kindern zurückkehren wird.«

Sie beendeten das Telefonat, Rosmarie gab Gas, und Ricky überlegte, was ihre Schwiegermutter wohl mit ihr besprechen wollte. Es lag kein Geburtstag an, Rosmarie erkundigte sich immer bei ihr, was sie schenken könnte. Und das war ja auch nicht verkehrt, sie kannte die Wünsche der Kinder, konnte sie weitergeben, und Rosmarie und Heinz landeten jeweils einen Volltreffer.

Das war nicht immer so gewesen, früher hatte Rosmarie alles Mögliche zusammengekauft, viel und teuer, und sie und Heinz waren immer ganz enttäuscht gewesen, dass die Kinder die teuren Geschenke kaum beachtet hatten. Das hatte sich wirklich zum Glück sehr geändert. Sie waren schon auf dem richtigen Weg, die Rückerts untereinander, schließlich war aus Ricky Auerbach eine Ricky Rückert geworden, etwas, was sie nie, nie bereut hatte. Fabian war ihre große Liebe. Sie bekam noch immer Herzklopfen, wenn er sie in seine Arme nahm und küsste, daran änderten auch die Kinder nichts. Zunächst geplante Wunschkinder und dann eines, das ungefragt einfach beschlossen hatte, auf die Welt kommen zu wollen, die kleine Teresa, aller Sonnenschein.

*

Manchmal überlegte und überlegte man, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, und dann wurde einem die Entscheidung abgenommen.

Rosmarie schien geflogen zu sein, denn sie war unglaublich schnell da, und dann hielt sie sich auch überhaupt nicht lange mit der Vorrede auf, sondern kam auf den Grund ihres Besuches. Sie erzählte, dass die Villa endlich einen Käufer gefunden hatte, dass sie sich mit dem Gedanken anfreunden könnte, in den Sonnenwinkel zu ziehen.

»Sieh mal, Ricky … Heinz und ich wollen auf entspannte Weise die Welt kennenlernen, und Cecile ist überglücklich, dass wir endlich ihr Angebot angenommen haben, in ihrem großen Haus mitten in Paris eine Wohnung zu beziehen. Wir müssen nichts Großes mehr haben, die Villa war der größte Fehler unseres Lebens, und so etwas werden wir ganz gewiss nicht mehr wiederholen. Wir können froh und dankbar sein, dass sich jemand gefunden hat und wir den Klotz an unserem Bein loswerden …, deine Oma hat gesagt, dass ihr beabsichtigt, eure Wohnung im Sonnenwinkel zu verkaufen, stimmt das?«

Ricky nickte.

»Ja, weswegen möchtest du das wissen, Rosmarie?«

Die holte tief Luft, dann sagte sie überzeugt, und das war sie plötzlich auch: »Das Haus wäre perfekt für uns. Ich bin hergekommen, damit du es mal mit Fabian besprichst …, wir würden das Haus gern kaufen.«

Ricky hätte mit allem gerechnet, damit allerdings nicht. Aber warum eigentlich nicht? Dann blieb das Haus in der Familie, sie müssten keine Angst haben, den Kaufpreis nicht zu bekommen, ihre Schwiegereltern schwammen im Geld, was ihnen zu gönnen war. Fabian verdiente genug, sie kamen zurecht, und sie dachten niemals daran, was sie eines Tages erben würden.

Es stellte sich sehr schnell heraus, dass Ricky nicht abgeneigt war, und je länger die Frauen darüber sprechen, umso begeisterter wurden sie beide.

Jetzt galt es nur noch, Fabian zu überzeugen, da hatte Rosmarie überhaupt keine Sorge, dass Ricky das schaffen würde, und sie musste mit Heinz reden, da musste sie sich ebenfalls keine Gedanken machen.

Die Rückerts würden, wenn alles klappte, in den Sonnenwinkel ziehen.

Und es war merkwürdig, es fühlte sich verdammt gut an.

Über Geld wollte Ricky nicht sprechen, man würde sich schon einig werden.

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, und wie Rosmarie es bei den Damen plötzlich sehr eilig gehabt hatte, erging es ihr jetzt nicht anders. Sie musste weg, sie wollte zu Heinz.

Ehe Rosmarie ging, steckte sie noch etwas in die Sparschweine der Kinder, das tat sie immer. Doch diesmal war es im Überschwang ihrer Gefühle sehr viel mehr, eigentlich zu viel. Doch Ricky, die normalerweise protestiert hätte, sah großzügig darüber hinweg.

Rosmarie schien sich tatsächlich zu freuen. Fabian würde aus allen Wolken fallen, wenn er diese Neuigkeiten erfuhr. Vom großen, exklusiven, bombastischen ›Palazoo Prozzo‹ in den Sonnenwinkel.

Das hätte Ricky früher niemals für möglich gehalten, und sie hätte darauf auch nicht einen einzigen Cent gewettet. Jetzt erschien es ihr vorstellbar. Das Haus passte zu der neuen Lebensführung ihrer Schwiegereltern.

Manchmal war Ricky so richtig froh, wenn sie mal ein paar Stunden für sich allein hatte. Heute war es anders. Da sehnte sie die Rückkehr ihrer Familie so richtig herbei, vor allem die von Fabian. Sie musste unbedingt mit ihm reden.

*

Sie wollten nicht alles mit in ihr neues Leben nehmen. Was jetzt noch da war, das wurde verschenkt oder nach der Abreise abgeholt.

Pamela und Maren waren allein, sich voneinander trennen zu müssen, wurde für die beiden Mädchen immer schwerer. Und so sehr Maren sich insgeheim auch auf das neue Leben in San Francisco freute, dass sie Pamela zurücklassen musste, das brach ihr beinahe das Herz. Sie hatten beide ziemlich nahe am Wasser gebaut, und wenn Tim nicht gerade dabei war, dann weinten sie auch.

Pamela hatte sich schon eine ganze Menge Erinnerungsstücke ausgesucht, und sie würde ebenfalls alle Elektrogeräte bekommen, weil es in Amerika ganz andere Stromanschlüsse gab.

Pamela hatte ihrer Freundin ein wunderschönes Medaillon geschenkt, in dem sich ein Bild befand, auf dem sie unbeschwert und lachend zu sehen waren. Da waren sie gut drauf gewesen, und da hatte noch niemand an Trennung gedacht.

Pamela war heute besonders wehleidig.

»Weißt du, Maren, es ist ja nicht nur so schlimm, dass ihr jetzt weggeht, nein, schlimm ist, dass sich auf einmal alles verändert. Um das Riesengrundstück wird ein Zaun gebaut, es steht jetzt bereits fest, dass niemand mehr zur Felsenburg hinaufwandern darf. Und wenn ich daran denke, dass die Häuser, in denen ich mit Manuel und auch Hannes so oft gewesen bin, in denen wir Kakao getrunken und gespielt haben, sehr bald nicht mehr da sein werden, dann könnte ich nur noch schreiend herumlaufen. Warum verbietet das niemand? Wunderschöne Häuser werden einfach abgerissen, und ein Golfplatz, ein Tennisplatz, so etwas gehört da auch nicht hin. Dafür werden wunderschöne alte Bäume einfach abgeholzt. Wenn ich das Sagen hätte, bei mir gäbe es das alles nicht. Und soll ich dir mal was sagen, Maren?« Pamelas Stimme wurde immer leiser. »Ich konnte nicht anders, ich musste es Manuel schreiben, es war schließlich mal sein Zuhause …, ich glaube, ihn regt das nicht so auf wie mich. Er hat nur geschrieben, dass das schade ist, doch dass der neue Besitzer machen kann, was er will, und wenn der alles verändern will, dann kann er das auch tun …, damit war es für ihn erledigt, und dann hat er nur noch von dem neuen Pferd geschwärmt, das sein Vater für ihn gekauft hat und mit dem er nun auf Turniere geht. Apple­blossom, ein teures Springpferd. Weißt du, das ist auch so etwas. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass Manuel sich für Pferde interessiert und vor allem, dass er mit denen ganz wagemutig über hohe Hindernisse springt. So einer war der Manuel nicht ….«, ihre Stimme war immer leiser geworden, und dann kam noch ein kaum hörbares: »Ich muss mich damit abfinden, dass ich Manuel verloren habe.«

Pamela war unglücklich, traurig. Maren rückte näher an ihre Freundin heran, nahm sie in die Arme.

»Er weiß doch, wie sehr du das alles hier liebst, und ich bin überzeugt davon, dass es ihm ebenfalls an die Nieren geht. Aber was soll er denn tun? Es gehört der Familie nicht mehr, alle sind ganz weit weg. Da kann er doch nur ganz cool tun, um deinen Schmerz nicht noch mehr zu vergrößern.«

Pamela blickte ihre Freundin an, an eine solche Möglichkeit hatte sie überhaupt noch nicht gedacht.

»Meinst du?«, erkundigte sie sich hoffnungsvoll.

Maren nickte entschieden.

»Ich bin überzeugt davon, und Jungen können Gefühle eh nicht so zeigen, das sehe ich doch an meinem Bruder. Tim sagt so oft etwas ganz anderes als er denkt … Pamela, du darfst so etwas nicht denken. Du hast Manuel nicht verloren, wie du auch mich nicht verlieren wirst. Die Zeit mit dir war wunderschön, ich werde nichts davon vergessen. Und wie soll es denn erst Manuel ergehen, mit dem du die ganze Kindheit verbracht hast? Nein …«, wiederholte sie noch einmal ganz entschieden, »das mit ihm und dir, das ist längst nicht vorbei. Und soll ich dir mal etwas sagen? Irgendwann wird Manuel wieder in deinem Leben sein.«

Pamela drehte sich abrupt zur Seite. Sie war ganz aufgeregt. »Maren, sagst du das jetzt nur so, oder meinst du das wirklich?«, erkundigte Pamela sich. »Du musst mir die Wahrheit sagen.«

Maren war keine Hellseherin, doch merkwürdigerweise war sie in diesem Augenblick ganz fest davon überzeugt, dass Pamela und Manuel sich einmal wiedersehen würden, und das sagte sie ihrer Freundin auch im Brusston der Überzeugung.

Pamela hatte Tränen in den Augen, als sie leise sagte: »Das wäre schön, doch ich wünsche mir ebenfalls, dass wir uns wiedersehen werden, meine Eltern haben nichts dagegen, dass ich euch mal in den Ferien besuchen werde. Die habe ich bereits gefragt.«

»Und ich habe mit Papa gesprochen, und der hat gesagt, dass du jederzeit kommen kannst. Und weißt du was? Sogar Tim würde sich freuen … San Francisco wartet auf uns, Pamela.«

Die Mädchen umarmten sich, für einen Augenblick war der Trennungsschmerz weg.

Für Maren war der Gedanke schön, dass mit Pamela ein Stückchen Heimat mit in ihr neues Leben kommen würde. Und Pamela …, die malte sich gerade aus, wie alle aus ihrer Klasse Kopf stehen würden, wenn sie erfuhren, dass sie nach San Francisco fliegen würde, und gerade die Mädchen, die sie nicht leiden konnte, die würden vor lauter Neid zerplatzen.

Und das mit Manuel.

Maren hatte das gewiss nicht nur so einfach dahergesagt, so eine war die nicht. Vielleicht tat es ihm ja auch ganz doll weh, was da geschehen würde, wo er glücklich gewesen war.

Und Jungens waren ja wirklich anders als Mädchen.

Leichte Zweifel hatte sie noch.

»Maren, ob das alles so stimmt, was du über Manuel gesagt hast, das weiß ich nicht. Aber dich werde ich in deiner neuen Heimat besuchen, ganz gewiss. Und wenn ich den Sonnenwinkel nicht so sehr lieben würde, könnte ich mir sogar vorstellen, ein Auslandsschuljahr bei euch zu machen.«

Schon wollte Maren jubelnd zustimmen, als Pamela abwinkte.

»Es geht wirklich nicht, Maren, ich weiß ja, wie es ist, wenn man weg ist, wie du weißt, war ich in Australien. Und dort war es superschön, aber mein Sonnenwinkel, der hat mir gefehlt, ich hatte viel Heimweh, und daran wird sich niemals etwas ändern. Und deswegen werde ich wahrscheinlich auch nicht studieren. Da müsste ich ja von hier weg.«

Jetzt widersprach Maren.

»Pamela, sag so etwas nicht. Du bist so klug, du musst studieren, und wenn du mit dem Studium fertig bist, dann kannst du wiederkommen. Die Frau Doktor lebt hier, hat hier ihre Praxis. Was immer du mal werden willst, du kannst dich hinterher ebenfalls hier niederlassen. Außerdem kannst du deine Meinung ändern …, früher dachte ich auch, dass ich niemals von meinem Zuhause weggehen würde, und dann ist alles anders gekommen. Die Sophia sagt immer, dass es eh kommt, wie es kommen soll, dass unsere Wege vorbestimmt sind, und wenn wir die gehen, dann kann uns nichts passieren. Die Sophia, die wird mir ebenfalls fehlen, und die Angela auch. Die waren für uns wie Familie. Die Sophia sagt immer, dass wir sie im Herzen behalten sollen, das will sie ebenfalls tun, und einen besseren Platz gibt es nicht. Was man im Herzen hat, das behält seinen Platz für immer …, weißt du was, Pamela? Sophia und Angela habe ich in meinem Herzen, aber du, du bist da auch drin.« Sie nickte und bestätigte noch einmal: »Ehrlich, Pamela.«

Spätestens jetzt wären die beiden Mädchen sich wieder weinend in die Arme gefallen, wäre Tim nicht plötzlich aufgetaucht.

Normalerweise hätte Maren jetzt ihren Bruder angefaucht, ob er nicht anklopfen könne. Stattdessen sagte sie: »Pamela, sieh dich noch einmal um. Nimm, was du noch gebrauchen kannst. Gerade unter den Büchern wird es gewiss noch einige geben, die dich interessieren.«

Sofort mischte Tim sich ein: »Pamela, bei mir gibt es auch noch ganz coole Sachen, die zurückbleiben. Vielleicht ist da ja auch noch was für dich.«

Maren verdrehte die Augen.

»Tim, hast du schon vergessen, dass Pamela ein Mädchen ist? Was soll sie, bitte schön, von dir haben wollen? Spielzeugautos, eine elektrische Eisenbahn?«

Manchmal war Maren so gemein, ja, da waren noch Spielzeugautos, und die Eisenbahn gab es ebenfalls noch. Doch damit spielte er schon sehr, sehr lange nicht mehr. Er liebte seine Schwester wirklich, aber manchmal …

Er wollte besser nicht darüber nachdenken, was er manchmal mit ihr machen könnte. Das war jetzt wirklich nicht nötig gewesen. Er mochte Pamela gern, was sollte die denn jetzt von ihm denken?

»Tim, von dir hätte ich tatsächlich sehr gern etwas«, sagte Pamela in diesem Augenblick.

Interessiert blickte er sie an.

»Ich hätte gern ein schönes Foto von dir, das ich mir in einem schönen Rahmen gern hinstellen würde.«

Er blickte sie ungläubig an.

»Ehrlich, Tim, du bist der Bruder meiner allerbesten Freundin, und wir hatten doch auch schöne Zeiten miteinander, oder stimmt das nicht?«

Da konnte Tim nur nicken.

Die Pamela, die war wirklich supernett, so eine Schwester müsste man haben, dachte er ein wenig unvorsichtig.

»Wenn du willst«, sagte er schließlich und hatte vor Aufregung ganz rote Ohren.

»Ich will«, bestätigte Pamela, »und wenn du kein gescheites Foto findest, noch ist es Zeit, von uns welche zu machen, denn ich hoffe ja wohl, dass ihr auch ein Foto von mir mit nach Amiland nehmen werdet.«

Und wie sie das wollten.

Tim rannte los, holte die Kiste mit den Fotos, die er besaß, viele waren es nicht, denn die meisten waren natürlich auf seinem Handy, und Maren ging es nicht viel anders.

Also nahmen sich alle drei ihre Handy vor, und dann fanden sie auch Fotos, die ihnen alle gefielen, und ganz zum Schluss machten sie noch ein Selfie, auf dem sie alle drei zu sehen waren.

Ja, es hatte sich eine ganze Menge verändert. Heute ging alles ruckzuck, früher musste man zum Fotografen gehen, um ein Foto von sich machen zu lassen, oder ein Film musste zum Entwickeln weggebracht werden.

Und weil es gerade so gemütlich war, blieb Tim einfach bei den beiden Mädchen, und die brachten es einfach nicht übers Herz, ihn wegzuschicken. Vielleicht war das auch gut so, in seiner Gegenwart mussten sie sich zusammenreißen, konnten nicht weinen. Was sollte Tim denn sonst von ihnen denken, schließlich waren sie älter.

Aber das machte nichts, denn wenn sie an ihren Abschied dachten, dann flossen die Tränen ganz von selbst.

Abschiede waren wirklich schrecklich …

*

Der neue Besitzer des Herrensitzes hatte sich noch nirgendwo vorgestellt, doch er hatte es ziemlich eilig, denn Bäume wurden abgeholzt, und die Dependance war bereits den Baggern gewichen, dieses wunderschöne mit sehr viel Liebe und sehr viel Geld gebaute Haus.

Daran durfte man überhaupt nicht denken, vor allem würde es noch viel schlimmer sein, wenn sich die Bagger erst einmal in das Herrenhaus fraßen.

Welch ein Glück, dass man es nicht sehen, sondern nur hören und es sich nur vorstellen konnte.

Es war alles abgesperrt, fast schien es, als solle dort oben eine Welt für sich entstehen.

Werner nahm es, wie es schien, ziemlich gelassen. Doch Inge nahm es mit. Sie gehörte eher zu den Menschen, für die es wichtig war, etwas zu erhalten. Und da oben war alles erhaltenswert.

Für Inge war es so, als würde dem Sonnenwinkel das Herzstück genommen. Das Herrenhaus, die Dependance, das waren Institutionen gewesen, wenigstens früher, als die alten Besitzer noch da gelebt hatten. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sich mit dem Grafen Hilgenberg vieles geändert. Er hatte sich schon abgegrenzt, aber immerhin hatte er, wenn auch nicht über das Grundstück am Herrenhaus vorbei, allen einen Zugang zur Felsenburg geschaffen.

Vorbei …

Das war für immer vorbei.

Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken, das tat einfach zu weh. Sie hatte genug mit ihren eigenen Problemen zu tun, von denen noch das kleinste war, dass ihre Pamela ganz schrecklich darunter litt, dass die Bredenbrocks wegziehen würden. Maren und sie hatten sich so richtig gut angefreundet.

Da war noch ihr Hannes, der kein einziges Lebenszeichen von sich gab. Klar, er hatte ausdrücklich gesagt, dass er sich nicht melden würde. Doch er war nun schon so lange fort, wenigstens ein Kärtchen, eine Mail, ein paar Worte. War das zu viel verlangt? Während seiner Weltreise war er an den entferntesten Winkeln gewesen, und dennoch hatte er es immer geschafft, sich irgendwie zu melden.

Wie es ihm wohl ging?

Ob er einen Weg für ein weiteres Leben gefunden hatte, oder irrte er ziellos herum?

Nein, nein, nein!

In solche Gedanken wollte sie sich nicht verlieren. Das würde sie noch mehr beunruhigen.

Schließlich war das nicht ihre einzige Baustelle, die ihr den Schlaf raubte.

Jörg …

Ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie sah, wie er litt.

Er hielt sich nun schon ein paar Tage in seinem Elternhaus auf, doch Inge wurde das Gefühl nicht los, dass es mit ihm immer schlimmer wurde.

Er litt!

Er war wortkarg!

Er aß kaum etwas, wurde immer schmaler. Sie würde so gern mit ihm reden, doch ihre Mutter sagte, sie solle den Jungen in Ruhe lassen, wenn er etwas zu sagen habe, dann würde er es auch tun.

Inge liebte ihre Mutter über alles. Manchmal konnte sie diese allerdings nicht verstehen. Wie konnte sie still sein, wenn sie sah, wie schlecht es Jörg ging?

Inge war sehr entschlossen, auf niemanden mehr zu hören, sondern sie wollte sich nur auf sich verlassen, wie damals, als alle auch dagegen geredet ­hatten. Sie hatte sich nicht beirren lassen, sondern hatte Pamela den langen Brief geschrieben, mit dem Ergebnis, dass Pamela nach Hause zurückgekehrt war.

Eigentlich konnte Inge sich auf ihre Intuition verlassen. Und es gab auch Dinge im Leben, die musste man mit niemandem absprechen. Wenn man sich sicher war, konnte man auch Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen. Und Inge war sich sicher. Sie sah, sie spürte die Hilferufe ihres Großen.

Was immer die anderen auch sagten, sie würde nicht mehr darauf hören, keine Rücksicht mehr nehmen.

Sie würde mit Jörg reden!

Sie wusste nicht, wo er sich aufhielt, er kam und verschwand wieder, ganz wie er es wollte.

Und noch während sie ganz intensiv an ihn dachte, ging die Tür auf, Jörg trat ins Zimmer, sehr ernst, aber irgendwie auch gefasst.

»Mama, gut, dass du da bist. Ich muss unbedingt mit dir reden«, sagte er.

Inge merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, was gleich kommen würde, das würde mehr als nur ein Mutter-Sohn-Gespräch sein …

Der neue Sonnenwinkel Box 7 – Familienroman

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