Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 1 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 9

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Die junge Ärztin Dr. Roberta Steinfeld war an diesem Morgen so richtig entspannt. Zum ersten Mal, seit sie in den Sonnenwinkel gezogen war und die Praxis ihres alten Freundes Dr. Enno Riedel übernommen hatte.

Das sie so entspannt war, lag ganz gewiss nicht daran, dass sie mittlerweile doch tatsächlich schon fünf Patienten hatte.

Das war lächerlich und kein Grund zum freuen. Sie durfte überhaupt nicht daran denken, was früher in ihrer alten Praxis abgegangen war, die sie ihrem Exmann überlassen hatte. Da hatten sie Patienten abweisen müssen, weil die Kapazität erschöpft gewesen war.

Das war vorbei!

Roberta war fest entschlossen, ihre Vergangenheit endgültig loszulassen und nicht mehr daran zu denken, was sie verloren hatte, was gewesen war. Nichts ließ sich zurückholen, nichts ließ sich festhalten, und es brachte auch nichts, in der Vergangenheit zu leben.

Entscheidend war das Hier und Jetzt, und wenn man das gut bewältigte, dann brauchte man sich auch um seine Zukunft keine Sorgen zu machen, die sich immer aus der Gegenwart ergab.

Roberta würde ab jetzt alles auf sich zukommen lassen, es hinnehmen ohne zu jammern. Irgendeinen Sinn musste es doch haben, dass sie ausgerechnet im Sonnenwinkel gelandet war.

Ja, so und nicht anders ­durfte sie es sehen, und sie durfte nicht zweifeln und hadern, weil sie sich zu schnell und zu unüberlegt auf das Abenteuer Sonnenwinkel eingelassen hatte.

Niemand hatte sie gezwungen, die Praxis zu übernehmen. Sie hatte sich freiwillig dazu entschlossen. Und eine große Praxis in der Großstadt war nicht vergleichbar mit der eines Landarztes. Und das war sie jetzt, eine Landärztin. Und das hatte sie vorher gewusst und sich sogar auf dieses Abenteuer gefreut!

Vermutlich war ihre Erwartungshaltung einfach nur zu groß gewesen und demzufolge natürlich jetzt auch ihre Enttäuschung, dass man sich nicht die Türklinke in die Hand gab, um sich von ihr behandeln zu lassen.

Hier gingen die Uhren eben anders.

Es war ja auch nicht alles enttäuschend. Sie hatte wundervolle Menschen kennengelernt, den Professor Auerbach und seine sympathische Ehefrau, und nicht zu vergessen, deren reizende Tochter Bambi. Und dann Inges Eltern, Magnus und Teres von Roth, das waren zwei ganz besondere Menschen.

Wenn Roberta an die beiden dachte, dann wurde ihr ganz warm ums Herz. Die von Roths hatten so getan, als seien sie als Patienten zu ihr gekommen, damit sie den Tag nicht ohne einen einzigen Patienten hatte beenden müssen. Und ihre Tochter Inge hatte sie geschickt.

Alles wirklich ganz warmherzige Menschen, die sich um andere Gedanken machten und helfen wollten.

Es war diese Geste der Menschlichkeit, die Roberta zutiefst berührt hatte, und so etwas erlebte man an Orten, die überschaubar waren, wo jeder jeden kannte und jeder erfuhr, wenn jemand neu hinzukam.

In der Großstadt war das anders. Da kannte man häufig noch nicht einmal seinen nächsten Nachbarn, und es hatte schon viele Fälle gegeben und gab sie immer wieder, dass Menschen wochenlang tot in ihrer Wohnung lagen, ohne dass es jemandem aufgefallen war.

Außerdem hatte sie hier ja wirklich als Ärztin tätig werden können, auch wenn das außerhalb der Praxisräume geschehen war.

Sie hatte so ganz nebenbei während eines Abendessens im Gasthof »Seeblick« einen Herzinfarkt erkannt und der Wirtin durch ihr beherztes, kompetentes Eingreifen das Leben gerettet.

Und ohne sie wäre das kleine Kind im Sternsee ertrunken, weil die Mutter so sehr in ein Gespräch vertieft gewesen war, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass das Kind immer weiter zum Wasser gelaufen und schließlich hineingefallen war.

Welch ein Glück, dass sie das mitbekommen hatte und eingreifen konnte. Sie hatte dem Kind das Leben gerettet.

Und auf noch etwas konnte sie stolz sein. Sie hatte den mürrischen Wirt des Seeblicks als Patienten gewonnen. Er ließ sich jetzt wegen seines extrem hohen Blutdrucks von ihr behandeln, und er hatte ihr sogar versprochen, seine Lebensgewohnheiten zu verändern, sich vor allem mehr zu bewegen und sein Übergewicht abzubauen.

Im Grunde genommen war das alles nichts im Vergleich zu dem, was sie vorher in ihrer alten Praxis alles bewegt hatte.

Stopp! Sie wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Ihr Leben spielte sich hier ab, und für das Leben hier war es bereits etwas. Es war auf jeden Fall besser, als überhaupt nichts vorweisen zu können.

Und auf die Schulter klopfen musste sie sich jetzt nicht vor lauter Begeisterung. Was sie getan hatte, waren Selbstverständlichkeiten. Schließlich war sie Ärztin, hatte den hippokratischen Eid abgelegt. Menschen zu helfen, sie zu retten, das war ihr Beruf, den sie über alles liebte.

Ihre gute Laune hatte nichts mit alldem zu tun. Sie war gut drauf, weil sich bei ihr als Person, nicht als Ärztin, etwas verändert hatte, weil sie dabei war, sich zu verändern.

Sie musste nicht funktionieren wie eine gut geölte Maschine, sondern sie hatte ein Recht darauf, ihr Leben entschleunigt anzugehen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

Das war Roberta bewusst geworden, als sie an ihrem freien Nachmittag stundenlang im Ruderboot auf dem Sternsee unterwegs gewesen war, inmitten von einer Stille, die man fühlen konnte, inmitten einer unglaublichen Natur, die einen einhüllte wie ein weiches, warmes Tuch.

Hätte es diesen Zwischenfall mit dem Kind nicht gegeben, das sie gerettet hatte, dann wäre es für Roberta das ultimative Erlebnis gewesen. Etwas, was sie vor unendlich langer Zeit zum letzten Mal erlebt hatte, als unbeschwerte, junge Studentin, der die Welt offen stand und die die Welt vor lauter Glück ständig umarmt hatte.

Sie hatte nicht geglaubt, zu solchen Empfindungen überhaupt noch fähig zu sein.

Vermutlich lag das auch ein wenig an dem jungen Bootsverleiher Kay Holl, der so unglaublich entspannt, so richtig gut drauf war.

Das war ihr aufgefallen, als sie ihn kennengelernt hatte, und mehr noch nach ihrer etwas anders verlaufenen Bootstour.

Er hatte keine dumme Bemerkung gemacht, als sie pitschnass aus dem Boot geklettert war.

Er hatte das Boot in Augenschein genommen, festgestellt, dass nichts beschädigt war, sondern nur nass.

Er war großzügig gewesen, hatte ihr nicht einmal Geld abgenommen, sondern sie gebeten, doch wiederzukommen.

Ein anderer hätte ihr das Geld abgenommen, vielleicht sogar noch mehr, weil das Boot ja aufgedockt und getrocknet werden musste.

Und ein anderer hätte sie mit Fragen bestürmt oder gar ein paar hämische Bemerkungen gemacht …, ein nasses Boot, eine nasse Insassin. Daraus ließen sich Rückschlüsse ziehen.

Er hatte nichts gesagt, war freundlich und nett gewesen.

Dieser Mann betrieb den Bootsverleih nur in den Sommermonaten, war während dieser Zeit dringend auf schönes Wetter angewiesen, weil sonst niemand ein Boot ausleihen wollte.

Wovon lebte er eigentlich in den übrigen Monaten?

Roberta hatte keine Ahnung, und er schien sich darum keine Gedanken zu machen, sonst wäre er nicht so tiefenentspannt. Und sonst hätte er sich vermutlich auch auf eine so unsichere Geschichte wie diesen Bootsverleih nicht eingelassen.

Roberta war ein wenig irritiert, weil sie sich so sehr für ihn interessierte, an ihn dachte. Keine Frage, er gefiel ihr, weil er so anders war, so beruhigend anders.

Als Mann interessierte er sie nicht, dafür war er zu jung. Und außerdem war eine neue Beziehung das Letzte, woran sie dachte. Nein, von ihm konnte man sich etwas abgucken, was das Leben, ein entspanntes Leben, betraf.

Am Wochenende würde sie sich wieder ein Boot leihen. Sie hatte den Sternsee in seiner ganzen Pracht längst noch nicht ganz erkundet, und es war auch nicht davon auszugehen, dass wieder ein Kind ins Wasser fallen würde, das sie retten musste.

Tja, und ansonsten …

Ansonsten hatte Dr. Rober­ta­ Steinfeld sich entschieden, sich ohne wenn und aber auf den Sonnenwinkel einzulassen, ganz ohne wenn und aber.

Es war noch früh, viel zu früh, um hinüber in die Praxis zu gehen, dennoch stellte Roberta ihre Kaffeetasse weg und erhob sich.

Sie wollte ab sofort auch die Praxis mit anderen Augen sehen, frei von Ehrgeiz, frei von Erwartungshaltungen. Sie wollte sich freuen, da arbeiten zu können wo andere Leute ihren Urlaub verbrachten.

Und Patienten?

Die würden kommen, ganz gewiss. Sie wusste, was sie konnte und das würde sich irgendwann herumsprechen.

Sorgen machen musste Roberta sich nicht, sie würde derweil nicht am Hungertuch nagen müssen, weil sie finanziell ganz gut abgesichert war.

Sie musste nur darauf achten, dass ihre Mitarbeiterin ihr nicht abhanden kam, weil das Nichtstun sie nervte.

Ursel Hellenbrink war ein Juwel. Das hatte Roberta längst erkannt, und sie war glücklich, dass sie diese Frau hatte übernehmen dürfen, dass Ursel Hellenbrink sich hatte übernehmen lassen.

Ursel war nicht nur kompetent. Sie war auch ein ganz wunderbarer Mensch, immer freundlich, hilfsbereit. Und es war ganz rührend, wie sie versuchte sie zu trösten, weil keine Patienten in die Praxis kamen, die bei Enno immer rappelvoll gewesen war.

Das war vorbei.

Sie würde nicht mehr jammern, nicht mehr griesgrämig herumlaufen.

Sie würde Ursel sagen, wie sehr sie sie schätzte und dass sie das gemeinsam durchstehen würden. Einmal musste die Durststrecke vorüber sein, und einmal mussten die Sonnenwinkler sich daran gewöhnen, dass jetzt statt eines Mannes eine Frau da war, um sich ihrer Probleme oder auch nur Problemchen anzunehmen.

Roberta zog ihren blütenweißen Kittel an.

In ihrer früheren Praxis war sie in Zivil herumgelaufen. Doch von Enno wusste sie, dass die Leute hier ihren Doktor in Weiß sehen wollten. Wenn sie das brauchten, sie hatte überhaupt kein Problem damit. Früher wäre es ja auch undenkbar gewesen, einen Arzt als Autoritätsperson ohne weißen Kittel zu sehen, das hatte sich geändert, weil man mittlerweile dahinter gekommen war, dass dieser weiße Kittel zwischen Arzt und Patient hinderlich sein konnte, weil er eine Barriere aufbaute.

Ihr Ex lief nur in Weiß herum, weil es ihm stand und er sich in dem weißen Kittel unwiderstehlich fand.

Ach Gott, das alles schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Roberta warf einen letzten Blick in den Garten und entdeckte zu ihrer Freude, dass der Gärtner, den Ursel Hellenbrink ihr besorgt hatte, da bereits eifrig werkelte.

Ach ja, Ursel war wirklich ein Schatz, ein Goldschatz!

Mit einem Lächeln wandte Roberta sich ab, um in die Praxis zu gehen. Sie genoss das Privileg immer mehr, ihren Arbeitsplatz im Haus zu haben.

*

Zu ihrer Verwunderung stellte Roberta fest, dass Ursel Hellenbrink auch schon an ihrem Arbeitsplatz war, in eine Zeitung vertieft, die sie allerdings, als sie ihre Chefin bemerkte, rasch zur Seite legte.

»Entschuldigung, Frau Doktor.«

Roberta begrüßte ihre Mitarbeiterin freundlich, dann sagte sie: »Frau Hellenbrink, wofür entschuldigen Sie sich? Sie sind viel zu früh, und selbst wenn es nicht so wäre, hätte ich überhaupt nichts dagegen, dass Sie einen Blick in die Zeitung werfen, wenn keine Patienten da sind und wenn sonst nichts zu tun ist.« Roberta lächelte. »Über einen Patientenansturm können wir uns derzeit ja leider noch nicht beklagen, und wir können derzeit beide sogar Romane lesen, ohne dass uns jemand zu nahe tritt.«

Roberta dachte an ihre guten Vorsätze. Noch fiel es ihr ein wenig schwer, sich daran zu halten, noch wurde sie immer wieder rückfällig.

»Aber es wird schon, Frau Hellenbrink, davon bin ich überzeugt. Sie müssen nur bei der Stange bleiben. Ohne Sie wäre ich ziemlich aufgeschmissen. Und, auch wenn keine Patienten kommen, um Ihr Gehalt müssen Sie sich keine Sorgen machen. Das ist Ihnen sicher. Das kann ich auf jeden Fall zahlen, ohne dabei selbst am Hungertuch nagen zu müssen.«

Ursel Hellenbrink schaute ihre Chefin ganz entsetzt an.

»Aber Frau Doktor, um Himmels willen, an so etwas würde ich niemals denken. Und ich mache mir keine Sorgen, überhaupt nicht. Ich bin glücklich, bei Ihnen hier in der Praxis arbeiten zu dürfen. Freiwillig würde ich niemals gehen. Und ich finden übrigens, dass der Herr Dr. Riedel maßlos untertrieben hat, als er Sie beschrieb. In Wirklichkeit sind Sie noch viel, viel netter und vor allem noch viel, viel klüger.«

Dieses spontane Lob ließ Roberta erröten, doch vor allem fiel ihr ein riesengroßer Stein vom Herzen, dass sie auf jeden Fall auf Ursel Hellenbrink zählen konnte.

»Danke, Frau Hellenbrink. Ich bin sehr froh darum, dass wir zwei so gut miteinander auskommen, dass die Chemie zwischen uns stimmt. Und, wie gesagt, irgendwann werden auch die Patienten den Weg zu uns finden.«

»Das haben Sie schon. Es ist bereits eingetreten, Frau Doktor. Das Wartezimmer ist hackeknackevoll, wie in alten Zeiten. Bestimmt hängt das mit dem zusammen, was über Sie in der Zeitung stand. War ja auch großartig, das Kind zu retten.«

Roberta, im Allgemeinen wirklich nicht auf den Kopf gefallen, wusste im ersten Augenblick nicht, was ihre Mitarbeiterin da sagte.

Wartezimmer voll?

Wieso stand etwas über sie in der Zeitung?

Und wer hatte das mit der Kindesrettung mitbekommen? So richtig doch nicht einmal die Mutter.

Ein Interview hatte sie auch niemandem gegeben.

Alles höchst merkwürdig!

Ursel Hellenbrink bemerkte die Verwirrung ihrer Chefin, deswegen schob sie ihr kommentarlos die Zeitung zu. Und Roberta glaubte, ihren Augen nicht zu trauen.

Sie ganz groß auf der ersten Seite!

Die ganze Rettungsaktion des Kindes war im Bild festgehalten worden, wie zu lesen war vom einem Landschaftsfotografen, der zufällig in der Nähe gewesen war und natürlich fleißig auf den Auslöser gedrückt hatte.

Das war eine Aufmerksamkeit, die sie nicht wollte, die so überhaupt nicht in ihrem Sinne war.

»Auf jeden Fall hat es die Sonnenwinkler in Bewegung gesetzt«, freute Ursel Hellenbrink sich. »Sie sind nicht nur eine Ärztin, sondern eine Heldin. Das wollen die Leute sich aus der Nähe ansehen.«

Man konnte vom Vorzimmer ins Wartezimmer blicken, ohne gesehen zu werden. Und das tat Roberta jetzt. Sie musste sich selbst überzeugen.

Es stimmte. Das Wartezimmer war gefüllt, dabei begann die Sprechstunde erst eine ganze Weile später.

Ursel stellte sich neben sie.

»Alles Patienten, die immer kommen. Manche, weil ihnen wirklich etwas fehlt, andere, weil die Neugier sie hertrieb. Das war schon zu Dr. Riedels Zeiten so. Das Wartezimmer eines Arztes ist beinahe vergleichbar mit dem Friseur. Man findet die neuesten Zeitschriften, um sich die Zeit totschlagen zu können, bis man dran ist. Oder aber man redet, zuerst über die Krankheit, dann kommt man vom Hölzchen aufs Stöckchen.«

Roberta musste sich erst einmal davon erholen. Noch war sie vor Kurzem jammervoll gewesen, und nun das jetzt.

»Und was tun wir jetzt? Die Sprechstunde vorzeitig beginnen?«, erkundigte sie sich ein wenig ratlos.

Davon wollte Ursel Hellenbrink allerdings nichts wissen.

»Oh nein, Frau Doktor. Das fangen wir erst gar nicht an. Dr. Riedel hat auf die Minute genau pünktlich begonnen, keine Sekunde früher. Und ich denke, dabei sollten wir es belassen.«

Roberta war damit einverstanden. Sie setzte sich auf einen Stuhl, der eigentlich für die Patienten bestimmt war, dann nahm sie sich die Zeitung noch einmal vor, um die Geschichte erneut zu lesen …

Sandra Münster hatte es gut gemeint, als sie, mit der vollen Unterstützung ihres Mannes Felix, eine Empfangsparty für die neue Ärztin geplant hatte, um ihr auf diese Weise zu Patienten zu verhelfen.

Sie war entsetzt gewesen, als Inge Auerbach ihr erzählt hatte, dass niemand in die Praxis ging, dass man die Frau Doktor boykottierte. Nicht nur das, ihre Besorgnis war noch größer gewesen, weil eigentlich allen hätte klar sein müssen, dass man, sollte die Ärztin gehen, so schnell keinen Ersatz finden würde. Wer wollte schon auf dem Land arbeiten, mit mehr Einsatz und weniger Verdienst.

Sie hatte Roberta bereits zweimal verfehlt, und auch heute, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, um die Einladung persönlich zu überbringen, hatte sie kein Glück.

Das Wartezimmer war überfüllt, also kehrte sie um.

Sie wollte gerade zu ihrem Auto gehen, als sie Inge Auerbach entdeckte, die mit Jonny, dem betagten Collie ihrer Tochter Bambi einen Spaziergang gemacht hatte.

Die beiden Frauen mochten sich sehr, und das war von Anfang an so gewesen. Zwischen ihnen hatte sich eine herzliche Freundschaft entwickelt, obwohl es einen ziemlichen Altersunterschied gab.

Sandra, eigentlich Alexandra, und damals noch eine von Rieding, war unvoreingenommen und herzlich auf die Fremden zugegangen.

Und das war der Anfang dieser wunderbaren Freundschaft gewesen.

»Fehlt dir was, Sandra?«, wollte Inge Auerbach besorgt wissen, weil sie gesehen hatte, wie Sandra aus dem Haus der Ärztin gekommen war.

»Nein, ich bin fit, ich wollte Frau Dr. Steinfeld die Einladung überbringen. Aber keine Chance. Du kannst die Patienten beinahe übereinander stapeln, so voll ist es dort.«

»Patienten?«, wiederholte Inge Auerbach. »Du meinst wohl eher die Neugierigen. Aber was soll es, wenn das denn Bann gebrochen hat und sie die Ärztin nicht mehr meiden, dann soll es mir nur recht sein. Sie ist eine so patente Frau, und wie sie das mit der Rettung des Kindes gemacht hat. Wäre nicht zufällig ein Fotograf da gewesen, hätten wir nichts davon erfahren. Sie ist ein Juwel und so was von sympathisch. Nun, du wirst sie kennenlernen.«

»Meinst du, ich soll die Party dennoch geben?«, zweifelte Sandra. »Im Grunde ist sie hinfällig geworden.«

Inge lächelte ihre junge Freundin an.

»Sandra, die Feste bei euch sind immer ein Highlight, und alle freuen sich schon, die ihr eingeladen habt. Ich denke, es wird sich die Gelegenheit bieten, Frau Dr. Steinfeld einzuladen, wenn der erste Ansturm vorbei ist. Ruf sie einfach an, sag, dass du sie privat sprechen möchtest, und dann kann sie mit dir einen Termin ausmachen, oder mach das mit der Ursel Hellenbrink. Die hat alle Termine im Kopf.«

Das wollte Sandra tun.

Dann wechselten sie das Thema, sprachen über Bambi, Manuel und die kleine Ba­bette.

Manuel war nicht Sandras leiblicher Sohn, Felix hatte ihn mit in die Ehe gebracht. Doch bei ihr und Manuel war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, und daran hatte sich nichts geändert. Auch nicht als Babette auf die Welt gekommen war.

Manuel vergötterte seine kleine Schwester, und er war nicht die Spur eifersüchtig.

Da oben im Herrenhaus, in dem Marianne von Rieding, Sandras Mutter, zusammen mit ihrem Ehemann, dem Architekten Carlo Heimberg lebte, und in der traumhaft schön ausgebauten Dependance, die die Münsters bewohnten, war die Welt in Ordnung, wieder, nach vielen Wirrungen.

Und jeder freute sich, dorthin eingeladen zu werden, in die herrliche Residenz unterhalb der verfallenen, mystischen Felsenburg.

Wer das geschafft hatte, gehörte dazu. Glaubte, dazu zu gehören, denn die Herrschaften waren in keiner Weise von sich überzeugt, sondern offen und herzlich, trotz des vielen Geldes, das Felix mit seiner Fabrik verdiente. Und sie kamen alle mit jedem zurecht.

Den Nimbus, der sie umgab, hatten die Bewohner von Erlenried und Hohenborn geschaffen, die den Sonnenwinkel ausmachten.

»Ich weiß nicht, ob du es bereits weißt, Inge. Doch eure Bambi wird heute nicht mit dem Bus kommen. Felix kommt heute ausnahmsweise mittags mal nach Hause, und er wird sie und Manuel mit dem Auto mitnehmen. Und die Wartezeit auf ihn können sie sich in der Eisdiele bei Palatini vertreiben, auf seine Kosten natürlich.«

Inge lachte.

»Oh, das wird Bambi sehr freuen. Sie ist die reinste Naschkatze. Wenn sie nicht ein so liebreizendes Mädchen wä­re, würde ich ihr den Süßkram ja manchmal verbieten. Doch das bringe ich einfach nicht übers Herz.«

Sandra fiel in das Lachen mit ein.

»Das schaffe ich auch nicht, und bei dir ist es schlimmer. Sie ist euer Nesthäkchen, die Großen sind aus dem Haus, zu denen man vermutlich viel strenger war. Ich hab schon zu Felix gesagt, dass wir es auch so machen sollten wir ihr. ­Irgendwann einen kleinen Nachzügler zu bekommen.«

Inge war bei diesen Worten zusammengezuckt, was Sandra zum Glück nicht mitbekommen hatte.

Es waren so viele Jahre vergangen, ohne dass daran gerührt worden war, ohne dass sie daran gedacht hatten, dass Bambi, eigentlich Pamela, nicht ihr leibliches Kind war, sondern dass ein tragisches Ereignis sie auf ihren Weg gebracht hatte. Der schreckliche Autounfall, bei dem, in einer Massenkarambolage, ihre Eltern ums Leben gekommen waren, war deren Tragik, aber ihr Glück gewesen, denn sie hatten, ohne zu zögern, das einjährige Kind sofort bei sich aufgenommen und es adoptiert.

Sie hätten es Bambi längst sagen sollen.

Zuerst waren sie der Meinung gewesen, dass sie älter werden müsse, um es zu verstehen, dann hatten sie es verdrängt. Wozu daran rühren?

Bambi war ihr geliebtes Mädchen, sie wurde von ihren älteren Geschwistern Ricky, Jörg und Hannes vergöttert.

Sie hatten nicht mehr daran gedacht, zumal Bambi sich als echte Auerbach-Tochter fühlte.

Erst in der letzten Zeit war durch verschiedene Ereignisse daran erinnert worden, und Inge fühlte sich schlecht, dass sie Sandra etwas verschweigen musste, was längst ans Tageslicht gemusst hätte.

Ihre Großen hatten nicht nur einmal gesagt, dass es ihnen irgendwann um die Ohren fliegen würde. Die drei hatten niemals verstanden, dass es ihren Eltern so schwerfiel, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Sie hatten Bambi schließlich nicht jemandem weggenommen, sondern es war für alle Beteiligten ein Glücksfall gewesen, dass es so gekommen war und nicht anders.

Zum Glück musste Inge auf diese Bemerkung nicht eingehen, weil Jonny wie ein Verrückter an seiner Leine zu zerren begann.

Das nahm Inge zum Anlass zu sagen: »Du, ich muss weiter. Unser alter Herr will vermutlich nach Hause auf sein Kissen.«

Sandra konnte ja nicht ahnen, dass das vorgeschoben war. Sie bemerkte lachend: »Für sein Alter ist er noch ganz schön fit. Und er sieht wunderschön aus. Aber Bambi wird sich daran gewöhnen müssen, dass es über kurz oder lang zu Ende sein wird. Jonny hat nicht das ewige Leben, er lebt schon länger, als Tiere seiner Rasse es normalerweise tun.«

Inge seufzte.

»Vor diesem Tag graut es mir schon jetzt, und am liebsten wäre ich dann nicht daheim, wenn dieser Tag kommt. Werner versucht bereits sehr liebevoll, sie darauf vorzubereiten. Und so sehr sie sonst auch auf ihn hört, da stellt sie ihre Ohren auf Durchzug.«

Sandra lachte.

»Das kann unsere Babette ohne einen Anlass dafür zu haben. Es ist ein großes Glück, dass Manuel ein so gutmütiger Junge ist und ihr nachsichtig alles durchgehen lässt. Wäre es nicht so, da hätten wir ständig Radau im Haus.«

Inge stimmte in das Lachen mit ein.

»Ja, sie weiß, was sie will, eure kleine Prinzessin, aber sie sieht auch allerliebst aus, und das weiß sie auch.«

Die beiden Freundinnen verabschiedeten sich voneinander, Sandra stieg in ihr Auto, hupte, winkte, dann brauste sie davon.

Inge sah ihr erst nach, dann ging sie nach Hause.

Noch mal gut gegangen!

Aber es war ein Zeichen gewesen, ein Zeichen dafür, dass sie Bambi endlich die Wahrheit sagen mussten.

Ach, wenn es doch bloß nicht so schwer wäre. Und sie hatte das Gefühl, dass es von Tag zu Tag schwerer wurde, die Last immer größer.

Inge Auerbach war ein gläubiger Mensch, aber auf ein Wunder konnte sie in diesem Fall nicht hoffen.

*

Wie sehr ihre Mutter sich mit einem schlechten Gewissen quälte, davon hatte Bambi Auerbach nicht die geringste Ahnung.

Sie genoss das Beisammensein, und sie genoss den riesigen Eisbecher »Tutti-Frutti«, den sie bewusst gewählt hatte, um sich vor ihrer Mutter rechtfertigen zu können, indem sie ihr sagen würde, dass der größte Teil aus verschiedenen Obstsorten bestand.

Manuel hatte sich lieber für einen Nuss-Karamell-Becher entschieden, mit so ganz ordentlich viel Sahne.

Nachdem Manuel den verlangenden Blick Bambis bemerkt hatte, sagte er: »Du kannst probieren, und wenn du willst, dann können wir auch tauschen.«

Bambi bekam glänzende Augen. »Manuel, das würdest du wirklich tun?«, erkundigte sie sich, nachdem sie mehr als nur einmal probiert hatte.

Manuel war liebenswert, gutmütig, hilfsbereit, und er und Bambi waren seit ihrer frühesten Kindheit, seit er mit seinem Vater in die Depen­dance gezogen war, allerbeste Freunde.

Er war damals ein durch seine schreckliche Tante eingeschüchterter Junge gewesen, und Bambi hatte sich, obwohl sehr viel jünger, seiner liebevoll angenommen.

Das war der Grundstein für ihre Freundschaft gewesen, die mittlerweile schon so manchen Sturm überdauert hatte.

Als Bambi wieder in seinen Becher langen wollte, tauschte er die Eisbecher einfach um.

Er hätte sich niemals für diesen Obstbecher entschieden, doch was tat man nicht aus lauter Freundschaft.

Bambi war ein sehr spontanes Mädchen, sie quietschte nicht nur vor lauter Begeisterung, sondern umarmte Manuel auch ganz stürmisch, was zur Folge hatte, dass er anlief wie eine überreife Tomate.

Er hatte nichts gegen die Umarmungen seiner Freundin, aber doch nicht hier, ausgerechnet im Palatini, wo sich die Schüler trafen, in den Freistunden oder vor oder nach der Schule.

»Du bist der Beste, Manuel«, sagte sie, »und wenn ich noch mal was bestelle, was ich eigentlich nicht mag, dann erinnere mich daran und lasse es nicht zu. Aber weißt du, ich habe eine so liebe Mami, und die möchte ich nicht enttäuschen … Sie mag es nicht, wenn ich mich mit Süßem vollstopfe, aber sie meckert auch nicht wirklich, weil sie mich viel zu lieb hat. Mir geht es ganz schön gut. Ich habe tolle Eltern, tolle Geschwister, und nachdem die aus dem Haus sind, bin ich die Prinzessin auf der Erbse. Da ist ein Mädchen aus unserer Klasse ganz schön arm dran. Sie ist neu bei uns, und ich habe mitbekommen, wie zwei Lehrerinnen sich unterhalten haben, dass sie ein schweres Leben in Kinderheimen hinter sich hat und jetzt von Leuten adoptiert wurde. Die Frau Wieland hat gesagt, dass es ein Glück für das Mädchen ist. Das finde ich nicht. Es geht doch nichts über eigene Eltern.«

Manuel schob in seinem Eisbecher das Zitroneneis beiseite, das er überhaupt nicht mochte.

»Bambi, das darfst du nicht so eng sehen, nicht alle Adoptiveltern sind so böse, wie man das manchmal in Büchern liest. Sieh mal, meine Mama hat nur die Babette als leibliches Kind, meine Mama ist gestorben, als ich noch ein Baby war, deswegen weiß ich nicht genau, wie das mit ihr gewesen wäre. Aber ich glaube ganz bestimmt, nicht anders als mit meiner Sandra-Mama, die ist das Beste, was es gibt, ich liebe sie über alles, und sie liebt mich. Kein bisschen anders als Babette. Vielleicht hat das Mädchen aus deiner Klasse ja auch Glück, und die Leute, die sie adoptiert haben, sind nett.«

Bambi musste erst mal ein wenig von ihrem Eis essen, dann verdrehte sie genüsslich die Augen, brauchte noch etwas davon, ehe sie die Achseln zuckte und sagte: »Ach, weißt du, Manuel, ich möchte jetzt nicht mehr darüber sprechen. Ich wünsche es Melanie, aber ich danke dem lieben Gott, dass ich in die richtige Familie hineingeboren wurde, mit Mama, Papa und mit Ricky, Jörg und Hannes. Der fehlt mir am meisten, und ich kann mir nur wünschen, dass er nicht nach Amerika gehen wird, um dort zu studieren.«

»Das ist doch cool«, bemerkte Manuel und schob seinen Eisbecher, von dem er kaum etwas gegessen hatte, beiseite, »dann kannst du ihn dort besuchen.«

»Ach nö, ich hätte ihn lieber hier. Ich werde, wenn ich Abitur habe, nirgendwohin gehen, ich bleibe für immer hier in unserem Sonnenwinkel, bei Mami, Papi, bei den Großeltern, aber auch bei euch, ganz besonders bei dir.«

Ach, die Bambi!

Manchmal war sie noch so richtig klein, wie gerade jetzt.

»Die Oma Marianne sagt immer, dass alles seine Zeit hat, dass man nichts festhalten kann. Ich werde ganz gewiss nicht für immer hierbleiben, wenn ich das Abi habe, dann gehe ich weg, studiere auf jeden Fall ganz weit entfernt oder im Ausland, so wie Hannes es plant, fände ich auch cool. Kann aber auch sein, dass ich mir, genau wie dein Bruder, erst mal den Wind um die Nase wehen lasse und als Backpacker quer durch die Welt reise.«

»Und eure Fabrik?«, erinnerte Bambi ihn.

Er zuckte die Achseln. »Das ist Papas Fabrik, das ist sein Ding. Kann sein, dass ich mal bei ihm einsteige, kann aber auch sein, dass ich etwas ganz anderes machen werde. Papa sagt, dass er mir keine Steine in den Weg legen wird, und der Meinung ist auch Mama.«

Solche Gespräche führte Bambi nicht gern, natürlich wusste sie, dass auch ihre Kindheit im Sonnenwinkel einmal vorüber sein würde, sie war es ja beinahe schon. Und natürlich würde sie weggehen, zumindest, um zu studieren. Aber nein, reden wollte sie jetzt darüber nicht.

Es ging auch überhaupt nicht, denn draußen wurde gehupt.

Felix Münster war genommen, um seinen Sohn und Bambi abzuholen und sie mit nach Hause zu nehmen.

Bambi hatte ihren Eisbecher ausgelöffelt, als sie sah, dass »Tutti-Frutti« fast unberührt war und man es beinahe schon trinken konnte, weil das Eis geschmolzen war, bekam sie ein schlechtes Gewissen.

»Manuel, tut mir leid. Es war ganz schön egoistisch von mir, dein Eis zu essen. Ich hab nicht drüber nachgedacht, dass dir Fruchteis und Obst nicht schmecken könnten.«

Sie standen auf, gingen zur Tür, es traf sie mancher Blick, in erster Linie allerdings Bambi, die wirklich sehr hübsch war, und der so mancher Junge bereits jetzt schon begehrliche Blicke zuwarf.

Zum Glück bemerkte Bambi das noch nicht, Manuel allerdings schon.

Als sie am Tisch von Kalle Hoger vorübergingen, der in Bambi so richtig verknallt war, legte Manuel seiner Freundin eine Hand auf die Schulter und sagte ganz cool: »Bambi, entspann dich, ist alles okay. Du weißt doch, für dich tu ich alles.«

Bambi seufzte: »Ach, Manuel, du bist ein solcher Schatz.« Und Kalle wurde vor lauter Zorn rot im Gesicht.

*

Monika Lingen, die Wirtin des Seeblicks hatte Glück gehabt. Roberta hatte ihr das Leben gerettet. Und sie hatte sich von ihrem Herzinfarkt schon recht gut erholt. Aber sie durfte das Krankenhaus noch lange nicht verlassen, und wenn, dann nicht um nach Hause zu gehen, sondern erst einmal in die Reha.

Monika war nicht nur eine hervorragende Köchin, sondern sie war die Seele des Gasthofs, und ihr Mann Hubert war ohne sie hilflos und verloren.

Zum Glück gehörte er zu den wenigen Männern, die sich das auch eingestehen konnten, ohne dass ihnen ein Zacken aus der Krone brach.

Die Stammgäste kamen noch immer, aber diejenigen, die nur gekommen waren, um die Köstlichkeiten zu genießen, die Monika an ihrem Herd zauberte, blieben natürlich aus.

Wie sollte es weitergehen?

Hubert, nun fest in Behandlung von Roberta, hatte mit der Ärztin gesprochen, und die hatte ihm klar gemacht, dass die alten Zeiten auch nach der Reha nicht zurückkommen würden.

Ein Herzinfarkt war kein Schnupfen oder etwas anderes, was in ein paar Tagen oder Wochen vorbei war.

Sie mussten miteinander reden!

Das hatte die Frau Doktor ihm deutlich gemacht, und er hatte es versprochen, auch wenn er eher zu den Menschen gehörte, die den Kopf gern in den Sand steckten und etwas lieber aussaßen.

Er hatte nie Monikas Power gehabt.

Er hatte einen besonders schönen Blumenstrauß gekauft und eine von den Glanzzeitschriften, die seine Monika so sehr liebte und wo sie kaum die Zeit gehabt hatte, sie zu lesen, sie hatte oftmals kaum darin blättern können, weil sie keine Zeit gehabt hatte oder zu müde gewesen war.

Jetzt hatte sie Zeit, und er war bereit, alles für sie zu tun. Er war so froh und dankbar, dass sie diesen Herzinfarkt überlebt hatte. Nicht auszudenken, was sonst passiert wäre.

Sie lag in einem Einzelzimmer, und sie lächelte, als sie ihren Besucher erkannte.

»Hubert, nicht schon wieder Blumen«, sagte sie, »das ist doch nicht nötig, aber schön sind sie. Und eine Zeitschrift hast du auch mitgebracht. Du verwöhnst mich.«

Er zog sich einen Stuhl an ihr Bett, gab ihr einen Kuss, ehe er sich hinsetzte.

»Nein, Monika, das hätte ich mal eher tun sollen. Für mich war alles selbstverständlich. Die Frau Doktor hat mir die Augen geöffnet und mich auf die richtige Spur gebracht. Ich habe heute früh mit ihr geredet, und jetzt bin ich hier, weil ich es ihr versprochen habe.«

»Und der Seeblick?«, erkundigte seine Frau sich sofort.

»Den mache ich erst heute Abend wieder auf.«

Das war so ungewöhnlich, so neu.

»Aber die Gäste, Hubert«, rief sie.

Er nahm ihre schmale Rechte in seine großen Hände.

»Seit wir den Gasthof bewirtschaften, haben wir an nichts anderes mehr gedacht, immer nur an den Seeblick, an die Gäste. Dabei sind wir auf der Strecke geblieben und haben es nicht einmal bemerkt. Wir haben niemals an uns gedacht …, dein Zusammenbruch war ein Schock, der mir noch jetzt in den Gliedern sitzt. Ich hätte dich beinahe verloren. Moni, so kann es nicht weitergehen, die Frau Doktor hat recht, wir müssen etwas verändern.«

Monika Lingen blickte ihren Ehemann ganz erstaunt an. So hatte er in all den Jahren, in denen sie den Gasthof bewirtschafteten, niemals geredet. Für ihn hatte immer nur die Arbeit gezählt, und es war nicht einmal ein Urlaub von wenigstens einer Woche drin gewesen. Nun diese Kehrtwendung.

»Aber was, Hubert? Was sollen wir verändern?«

Er zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht«, sagte er ein wenig hilflos. »Wir haben doch beide schon lange keine Wünsche geäußert, und wenn mal was kam, verlief es schnell im Sande. Wir haben niemals an uns gedacht. Ich denke, das müssen wir wieder lernen, und wir müssen uns ganz ernsthaft überlegen, wie unser Leben weitergehen soll.«

»Wie bisher, nur ein wenig langsamer«, meinte sie. »Vielleicht machen wir die Restauration erst abends auf. Tagsüber bieten wir nur kleine Gerichte an. Das erspart viel Arbeit. Und die meisten der Gäste, die tagsüber kommen, wollen doch eh nur etwas trinken oder Kaffee und Kuchen bestellen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht die Lösung. Ich kenne dich. Du würdest wieder herumwuseln wie früher, als sei nichts geschehen. Du bist dem Tod, dank der Frau Doktor Steinfeld, gerade noch von der Schippe gesprungen. Das ist eine Gnade, ein Geschenk des Himmels. Ein solches Glück soll man nicht ein zweites Mal herausfordern.«

Er beugte sich vor, streichelte ihr Gesicht.

»Moni, ich liebe dich. Ich möchte dich nicht verlieren, ein Leben ohne dich wäre für mich unvorstellbar.«

Monika Lingen freute sich über solche Worte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann er das »Ich liebe dich« zum letzten Mal ausgesprochen hatte.

Aber sie war auch ein wenig irritiert. Ihr Mann hatte den Schalter so vollkommen umgekippt. Er verhielt sich so anders.

Ehe sie etwas sagen konnte, wurde angeklopft, die Tür aufgerissen, eine Krankenschwester kam ins Zimmer gestürmt und sagte: »Frau Lingen, der Herr Professor will Sie sehen, und es steht auch noch eine Untersuchung aus, die er Ihnen nicht ersparen kann.«

Sie wandte sich an Hubert.

»Tut mir leid, Herr Lingen, dass ich Ihre Frau entführen muss.«

Dafür hatte er natürlich Verständnis, erhob sich, die Schwester schob einen Rollstuhl ans Bett, und als Monika protestieren wollte und sagte, sie könne allein gehen, wehrte die Schwester ganz entschieden ab.

»Sie laufen genug herum, aber der Weg zum Untersuchungsraum ist entschieden zu weit. Also, keine Widerrede, meine Liebe.«

Monika gehorchte und die Schwester war zufrieden.

Ehe sie gemeinsam das Krankenzimmer verließen und in verschiedene Richtungen gingen, sagte die Schwester: »Herr Lingen, Sie müssen mal ernsthaft mit Ihrer Frau reden und ihr begreiflich machen, dass ein Herzinfarkt nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist.«

Er versprach es, und er war froh, dass er schon einmal damit angefangen hatte, mit seiner Moni zu reden.

Es war fünf nach Zwölf, der Zeiger der Uhr ließ sich nicht zurückdrehen, was geschehen war, war geschehen. Aber man konnte ihn anhalten und durch bewusste Lebensführung das Weiterticken in die richtige Bahn bringen.

Als er zum Aufzug ging, war er niedergeschlagen. Er wusste wirklich nicht, wie alles weitergehen sollte, er wusste nur, dass ihnen ihr Leben derzeit ganz schön um die Ohren flog, seiner Moni und ihm. Wobei er nur einen Warnschuss erhalten hatte, sie aber war getroffen worden, ausgerechnet seine Moni.

Es musste alles anders werden, das stand fest, und sie würden auch eine Lösung finden.

Der Aufzug kam, hielt mit einem sanften Ruck an, und er besann sich. Er stieg nicht ein, sondern nahm die Treppe. Das war auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung.

*

Professor Heribert Bohland war ein anerkannter Herzspezialist, und er war auch nicht einer dieser Halbgötter in Weiß, sondern ein sehr herzlicher Mensch, dem das Wohl der ihm anvertrauten Patienten am Herzen lag.

Er war sogar schon einige Male mit seiner Familie im Seeblick zum Essen gewesen und war stets ganz begeistert gewesen. Doch er hatte auch mitbekommen, welche Knochenarbeit die nun vor ihm sitzende Frau da leistete.

Er hatte mit Monika Lingen die Befunde durchgesprochen, auch das Ergebnis der letzten, gerade erfolgten Untersuchung.

»Frau Lingen, es sieht gut aus. Sie hatten Glück, und wenn Sie gewisse Regeln einhalten, können Sie hundert Jahre alt werden, aber das nur, wenn Sie eine hundertprozentige Kehrtwendung machen. Alles was war, das geht nicht mehr. Sie haben Raubbau mit Ihrer Gesundheit getrieben und auf keines der Warnsignale Ihres Körpers geachtet. Ich will jetzt nicht mit erhobenem Zeigefinger weiterreden, und ich kann Ihnen auch keine Vorschriften machen. Sie sind kein Kind, sondern eine erwachsene Frau. Und Sie sind bei Frau Dr. Steinfeld in den allerbesten Händen, sie ist eine ganz großartige Kollegin. Sie wird alles für Sie tun, Sie müssen sich nur daran halten, was die Frau Doktor Ihnen sagt.«

Das alles klang nicht ermutigend, aber wenn sie sich an alles hielt und eine Kehrtwendung machte, drohte keine Gefahr. Hundert Jahre konnte sie werden, das wollte sie überhaupt nicht, aber ein paar Jährchen wollte sie schon noch leben, ehrlich gesagt, mehr als nur ein paar Jährchen.

Sie war nicht dumm und sie war nicht lebensmüde.

»Ich werde über alles nachdenken«, sagte sie, »zumal mein Mann auch bereits einige Andeutungen machte.«

Er nickte zufrieden.

»Ich möchte Sie jetzt noch eine Woche hier behalten, und dann habe ich schon mit einem alten Freund gesprochen, der eine sehr gute Reha-Klinik leitet, in der Sie ganz hervorragend aufgehoben sein werden. Es ist bereits ein Zimmer für Sie reserviert.«

Er erklärte ihr noch etwas, dann war das Gespräch beendet, der Professor wollte eine Schwester rufen, damit sie zurück in ihr Zimmer gebracht werden konnte. Doch davon wollte Monika nichts wissen.

»Ich möchte allein zurückgehen, ich verspreche, es ganz langsam zu tun und, wenn erforderlich, unterwegs auch Pausen einzulegen. Ich muss über einiges nachdenken, das kann ich am allerbesten, wenn ich mich dabei bewege.«

Er war einverstanden.

»Geht mir auch so«, sagte er, »denken Sie auf jeden Fall auch darüber nach, dass wir nur dieses eine Leben haben.«

Dann verabschiedete er sich von ihr, sie verließ sein Zimmer und setzte sich langsam, so wie besprochen, in Bewegung.

Das Gespräch war gut verlaufen, er hatte ihr keine Angst gemacht, ihr aber eindeutig klargemacht, dass sie in eine andere Richtung gehen musste.

In welche?

Sie hatte keine Ahnung.

Sie sah eine Bank und setzte sich erst einmal hin, nicht, weil das Laufen sie anstrengte, sondern weil allmählich Erinnerungen in ihr hochkamen, die sie jahrelang verdrängt hatte.

Hubert und sie hatten sich beim Studium kennengelernt und sofort ineinander verliebt. Sie waren jung und unternehmungslustig gewesen und hatten sehr schnell festgestellt, dass es noch etwas anderes geben musste als einen Hörsaal einer Universität.

Er hatte das BWL-Studium angefangen, weil ihm nichts besseres eingefallen war, und sie war dem Drängen ihrer Eltern gefolgt. In den Semesterferien hatten sie auf einem Kreuzfahrtschiff einen Job als Animateure angenommen und waren durch die Karibik geschippert, hatten Spaß gehabt, viel gesehen und dabei auch noch Geld verdient.

Nach dieser Kreuzfahrt waren sie das gewesen, was man Studienabbrecher nannte.

Hier und da waren sie noch auf Schiffen gewesen, wenn es interessante Reisen waren, ansonsten waren sie durch die Welt gereist und hatten die Jobs angenommen, die sich boten, um das Geld für die Weiterreise zu haben. Sie hatte ihr Hobby, das Kochen, zu ihrem Beruf gemacht und es sogar bis in die Küche des Waldorf Astoria in New York geschafft, wo man sie ungern hatte gehen lassen.

Irgendwann hatten sie festgestellt, dass man in Montevideo oder in Kapstadt, in Neuseeland, Australien, Kanada oder wo auch immer auf der weiten Welt auch nur in Betten schlafen konnte.

Sie hatten vieles gesehen, waren ein wenig müde geworden, und da bekamen sie die Nachricht von der Erbschaft. Hubert hatte von einem Onkel nicht nur ein Mehrfamilienhaus geerbt, sondern auch ein stattliches Vermögen.

An das Mehrfamilienhaus gingen sie nicht ran, weil das ihre Altersabsicherung war, doch für das Geld kauften sie den Gasthof »Seeblick«, weil sie zu dem Zeitpunkt nichts weiter haben wollten als Ruhe.

Und dann waren sie in eine Tretmühle geraten, in der sich das Rad immer schneller zu drehen begann. Sie waren, ohne es zu merken, vom Alltag aufgesogen worden, waren träge geworden, was ihre eigenen Bedürfnisse betraf.

Wie hatte es dazu kommen können?

Sie wusste es nicht. Es war ein schleichender Prozess gewesen.

Das Schrecklichste war, dass sie einander verloren hatten, ohne es zu merken.

Hubert hatte sich hinter seinem Tresen verschanzt, eifrig mit seinen Gästen gebechert, mehr als nötig gegessen und sich kaum bewegt.

Und sie?

Sie hatte sich in der Küche ausgetobt und da so eine Art von Profilneurose entwickelt, die darin mündete, dass sie niemanden an den Herd ließ, dessen alleinige Herrscherin sie sein wollte, bis zur Erschöpfung und bis zum Zusammenbruch, der beinahe tödlich geendet hätte.

Warum hatten sie das alles zugelassen?

Warum waren sie beide ihre eigenen Wege gegangen, die für sie beide nicht gut gewesen waren?

Auch diese Frage konnte sie sich nicht beantworten. Eine Antwort könnte vielleicht sein, dass sie in den Jahren ihrer Wanderschaft zu sehr aufeinandergeklebt hatten und danach ein wenig Abstand nötig gewesen war.

Sie stand wieder auf, ging langsam weiter.

Als er die drei Worte »ich liebe dich« ausgesprochen hatte, war ihr bewusst geworden, wie sehr sie ihn ebenfalls liebte. Er war träge geworden, hatte an Gewicht erheblich zugelegt, sein Blutdruck stimmte nicht, aber er war noch immer der Mann, auf den sie sich eingelassen hatte. Er würde sie wieder besuchen, und dann würde sie ihm diese drei Worte zuflüstern, und dann …

Dann würden sie gemeinsam überlegen, wie es mit ihnen weitergehen, wohin ihr Weg sie führen wollte.

Weg vom Seeblick?

Noch war es unvorstellbar, doch es sah ganz danach aus, und dann würden sie keine Studienabbrecher sein, sondern … Wie sollte man es nennen? Berufsaussteiger? Existenzabbrecher?

Es war zu früh, sich darum Gedanken zu machen.

Was immer auch geschehen würde, sie würden es Seite an Seite tun. Sie und Hubert waren ein gutes Team, das hatten sie bewiesen, es vorübergehend nur vergessen.

Sie lebte, und das allein war es, was zählte.

Und Hubert war an ihrer Seite, ihr Hubert …

Ein weiches Lächeln umspielte ihre Lippen, wenn sie an ihn dachte. Und das war ein gutes Zeichen.

*

Stella Auerbach war ein ausgesprochener Familienmensch. Sie genoss es, für ihren Mann und ihre beiden Töchter da zu sein, und sie sah es auch als ihre Pflicht an, mit ihren Eltern, den Schwiegereltern und dem Rest der Familie in Kontakt zu sein.

Böse Zungen würden jetzt behaupten, dass ihr das auch die Erbschaft von Tante Finchen eingebracht hatte.

Doch zu Stellas Rechtfertigung musste gesagt werden, dass sie sich fürsorglich um Finchen gekümmert hatte, die schwierig gewesen war, um nicht zu sagen, unleidlich. Sie hatte Finchen eingekleidet, ihren Kühlschrank gefüllt und ihr hier und da sogar Geld zugesteckt. Niemand hatte ahnen können, dass Finchen ein Vermögen unter dem Kopfkissen gebunkert hatte, das Stella vermacht worden war.

Für Fabian, Stellas Bruder, der leer ausgegangen war, war das vollkommen in Ordnung gewesen.

Für alle anderen auch, nur nicht für die Rückerts, Stellas und Fabians Eltern. Die hatten es ganz unmöglich gefunden, waren der Meinung gewesen, zunächst einmal stünde ihnen das Geld zu. Sie hatten jedoch zum Glück Finchens Testament nicht angefochten. Das hätte sie ins Gerede gebracht, und das wollten sie auf keinen Fall. Heinz und Rosmarie Rückert waren sehr auf ihren guten Ruf und ihre gesellschaftliche Stellung bedacht. Sie waren schließlich wer in Hohenborn. Sie hatten es doch auch überhaupt nicht nötig, sie ­waren das, was man als sehr wohlhabend, vielleicht sogar reich, bezeichnen konnte. Aber es war vermutlich wirklich so, dass jeder, der bereits mehr als genug besaß, immer noch mehr haben wollte, den Hals einfach nicht vollkriegen konnte.

Ja, die Rückerts …

Sie waren nett, keine Frage, aber sie dachten halt in erster Linie an sich, an ihre eigenen Bedürfnisse, da hatten sich wirklich die Richtigen gefunden.

Stella hätte an diesem Nachmittag lieber etwas anderes unternommen, anstatt ihre Eltern zu besuchen. Doch diese Nachmittagsbesuche zu festen Zeiten hatten sich eingebürgert, und Stella traute sich nicht, daran zu rütteln. Ihre Eltern, ganz besonders ihre Mutter, würden das nicht verstehen, sie wäre beleidigt.

Wie anders waren da doch ihre Schwiegereltern, die Au­erbachs. Bei denen konnte man absagen, konnte man Termine kurzfristig verschieben. Die waren in jeder Hinsicht pflegeleicht. Sie waren offen, herzlich, liebevoll. Und zuerst lag ihnen das Wohl ihrer Kinder, Schwiegerkinder und Enkel am Herzen.

Stella hatte sich vom ersten Augenblick an bei den Auerbachs heimisch gefühlt, aufgenommen und verstanden.

Wahrscheinlich hatten ihr Bruder Fabian und sie sich auch aus diesem Grunde sofort in zwei der Auerbach-Sprösslinge nicht nur verliebt, sondern sie auch geheiratet.

Sie und Jörg Auerbach waren ein Paar, und Fabian war mit Ricky sehr, sehr glücklich.

Wärme und Herzlichkeit hatten Stella und Fabian bei ihren Eltern niemals kennengelernt. Für den Notar Rückert und seine Frau war immer nur ein Leben nach Außen wichtig gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts verändert. Warum sie überhaupt Kinder hatten, diese Frage konnten sie sich vermutlich nicht einmal selbst beantworten. Wahrscheinlich waren Fabian und Stella für sie so etwas wie Statussymbole, die halt dazugehörten. Und Familien machten sich auf Fotos immer gut.

Sie und Fabian waren mit Kinderfrauen groß geworden, die sich um ihre Bedürfnisse gekümmert hatten, die dagewesen waren bei Krankheit und kleinen Kümmernissen.

Es war gut gegangen. Und deswegen waren die Rückerts fest davon überzeugt, alles richtig gemacht zu haben.

Stella fuhr vor der eleganten Villa vor, parkte.

Es war nicht ihr Elternhaus, das war verkauft worden, und sie und Fabian fragten sich noch immer, welcher Teufel ihre Eltern geritten hatte, sich eine so große, moderne Villa bauen zu lassen, die sie allein bewohnten.

Wegen der Leute?

Um Reichtum zu demonstrieren?

Stella fand die Villa schrecklich, und da stimmte sie mit ihrem Bruder, mit dem sie nicht immer einer Meinung war, vollkommen überein.

Sie holte aus ihrem Kofferraum die Käsetorte, die sie extra für ihre Eltern gebacken hatte, dann ging sie zu dem etwas pompösen Eingangsportal und klingelte.

Weder sie noch Fabian besaßen einen Schlüssel zu der Villa ihrer Eltern. Sie hatten sich auch nicht darum bemüht.

Ihr Vater öffnete die Tür, blickte sie vorwurfsvoll an und sagte noch vor der Begrüßung: »Du bist spät dran.«

Stella blickte auf ihre Armbanduhr. Sie wusste, wie ihre Eltern drauf waren, und deswegen fuhr sie immer viel zu früh los, um solche Bemerkungen zu vermeiden.

»Papa, es sind keine fünf Minuten, und für den Stau, der wegen eines Auffahrunfalls entstanden war, kann ich nichts, ich konnte ihn auch nicht voraussehen.«

Heinz Rückert gab seiner Tochter die Hand, er ließ es nicht zu, dass man ihn umarmte. Stella konnte sich nicht daran erinnern, sich als kleines Mädchen irgendwann einmal in die Arme ihres Vaters gekuschelt zu haben. Er hatte sie immer auf Distanz gehalten, und sie hatte auch nicht das Bedürfnis gehabt.

Sie folgte ihrem Vater in den sogenannten Salon, der mit teuren und gewiss auch schönen Möbeln ausgestattet war. Doch es war eine kalte Pracht, und man kam sich unwillkürlich vor wie in einem Vorzeigezimmer eines exklusiven Möbelhauses.

Ihre Mutter saß bereits am Tisch, auch ihr Blick war vorwurfsvoll, immerhin reckte sie ihrer Tochter das Gesicht entgegen, damit sie ihr einen flüchtigen, angedeuteten Kuss auf die Wange hauchen konnte.

Typisch!

Stella war diese Art von Begrüßung gewohnt und regte sich deswegen auch nicht mehr darüber auf. Es hatte eine lange Zeit gegeben, da sie das sehr verletzt hatte. Und sie war nur widerwillig zu ihren Eltern gegangen. Jörg hatte ihr zugeredet, und er hatte gesagt, dass es ihre Eltern waren, dass sie diejenige sein musste, die nachzugeben hatte.

»Ich habe eine Käsetorte gebacken, Mama«, sagte Stella.

Rosmarie Rückert zog eine Augenbraue hoch.

»Käsetorte?«, wiederholte sie gedehnt.

Stella biss sich auf die Unterlippe, um eine heftige Erwiderung zu verhindern.

»Mama, wir haben darüber gesprochen. Du hast sie quasi bei mir bestellt. Ich kann sie wieder mitnehmen, Jörg und die Mädchen werden sich freuen.«

Rosmarie winkte ab.

Sie trug erlesenen Schmuck.

»Nein, ist schon gut. Du backst ja nicht schlecht, wenngleich ich sagen muss, dass Ricky das besser kann. Aber die fühlt sich ja zu Höherem berufen, und deswegen wird von ihr vermutlich so schnell nichts kommen.«

Wieder typisch!

Einen Seitenhieb musste ihre Mutter ihr immer versetzen, und offensichtlich hatte sie sich noch nicht damit abgefunden, dass Ricky trotz ihrer vier Kinder studieren wollte.

Das Mädchen kam herein, Rosmarie sagte, dass der Kaffee serviert werden könne und dass sie bitte den Kuchen auf einen Kuchenteller legen solle.

Das Mädchen ging hinaus, Stella setzte sich, und sie fühlte sich schlecht, weil sie sich nicht vorkam wie bei ihren Eltern, sondern irgendwo als eine Besucherin, die einen Pflichtbesuch absolvierte. Wobei das mit dem Pflichtbesuch sogar stimmte.

»Und, wie geht es den Kindern?«, erkundigte Heinz Rückert sich, der auf jeden Fall zu seinen Enkelinnen eine bessere Einstellung hatte als zu seinen Kindern.

»Nele darf an einem Malwettbewerb teilnehmen, und Caro schreibt eine Eins nach der anderen.«

»Das hat sie aber nicht von dir«, sagte prompt ihr Vater, und ihre Mutter bemerkte: »Sie heißt Carolin, nennt sie gefälligst auch so, dieses Caro ist albern.«

»Sie möchte aber so genannt werden, weil sie Carolin doof findet«, entgegnete Stella.

»Seit wann haben denn Kinder das Sagen? Wenn sie vom Eiffelturm springen will oder euch auffordert es zu tun, pariert ihr dann, Stella?«, ereiferte sich ihr Vater. »Kinder müssen wissen, wo es längs geht. Aber ja, zwei Mädchen, da lässt man so manches durchgehen. Ihr müsst noch einen Sohn bekommen. Wie sieht es denn damit aus?«

Stella seufzte.

Dieses Thema schnitt ihr Vater nicht zum ersten Mal an. Bislang hatte sie ihm ausweichend geantwortet, doch das wollte sie nicht länger.

»Papa, unsere Familienplanung ist abgeschlossen. Die Mädchen sind aus dem Gröbsten raus, und ich habe keine Lust, noch einmal von vorne anzufangen.«

»Wieso das denn nicht? Du hängst doch eh nur zu Hause rum, da kommt es auf ein Kind mehr oder weniger nicht an. Und außerdem kannst du dir dank Finchen auch Kinderfrauen erlauben.«

Stella musste sich zusammenreißen. Sie war drauf und dran aufzustehen und zu gehen, nur, das könnte einen dauerhaften Bruch bedeuten, weil ihre Eltern sehr nachtragend sein konnten. Und das wollte sie wegen ihrer Töchter verhindern.

»Jörg und ich wollen unsere Kinder aufwachsen sehen, und wir wollen ihnen liebevolle Eltern sein. Das ist uns bislang gelungen, und jetzt kommt die Zeit, da wir mit ihnen reisen, ihnen die Welt zeigen und erklären können. Darauf freuen wir uns alle.«

Das Mädchen brachte den Kuchen, appetitlich angerichtet auf einem Silberteller, und den Kaffee.

Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater stürzten sich auf den Kuchen, doch es kam kein Wort des Lobes. Das allerdings kannte Stella bereits. Von ihrer Schwiegermutter würde Stella dann erfahren, dass Rosmarie ihr ganz stolz berichtet hatte, dass Stella nur für sie allein einen ganz wunderbaren Kuchen gebacken hatte.

Sie nahmen sich beide ein zweites Stück der Käsetorte, und das war für Stella endgültig das Zeichen, dass es ihren Eltern schmeckte.

Ihr Vater griff das vorausgegangene Thema wieder auf, denn für ihn war das mit den Enkeln noch nicht abgeschlossen. Auch wenn es ein Auerbach sein würde, gehörte ein Junge einfach noch dazu, auch wenn er seine beiden Enkelinnen wirklich sehr gernhatte.

»Welch verrückte Welt, die eine will mit vier Kindern an der Backe noch studieren, weil sie plötzlich das Gefühl hat, sich verwirklichen zu wollen, und dir, die überhaupt nichts macht, ist ein drittes Kind undenkbar.«

»Ihr habt auch nur zwei Kinder bekommen«, erinnerte Stella ihre Eltern.

»Nun ja, wir hatten Glück und haben das bekommen, was wir wollten. Weitere Kinder wären nicht möglich gewesen wegen all unserer gesellschaftlichen Verpflichtungen.«

Das schlug dem Fass wirklich den Boden aus.

Mit ihren Eltern wurde es immer schlimmer.

Stella war wütend.

»So wie ihr drauf seid, hättet ihr überhaupt keine Kinder bekommen dürfen. Ihr habt euch nicht gekümmert.«

Rosmarie holte tief Luft, ehe sie etwas sagen konnte, fuhr Stella fort: »Mama, hast du uns jemals eine Geschichte vorgelesen? Hast du je mit uns gesungen?«

Rosmarie sagte nichts, lief nur rot an.

»Wir müssen keine alten ­Kamellen vorholen, Mama«, Stella entschloss sich, es nicht auf die Spitze zu treiben, ­zumal es ohnehin nichts bringen würde. »Nele und Caro«, sie betonte es nachdrücklich, »sind Wunschkinder. Jörg und ich wollten nie mehr als zwei Kinder haben, weil wir auch Zeit füreinander brauchen. Wir haben keine gesellschaftlichen Verpflichtungen, aber wir lieben es, beisammen zu sein, miteinander zu reden oder einfach nur die Nähe des anderen zu genießen. Das ist wichtig für uns, das gibt uns viel. Und wir treffen uns auch gern mit Fabian und seiner Familie.«

Sie hatten nicht mitbekommen, dass es geklingelt hatte, Fabian stand plötzlich im Raum und erkundigte sich: »Habe ich da meinen Namen gehört?«

Welch ein Glück, dass Fabian so unverhofft gekommen war, der konnte dafür sorgen, dass alle wieder herunterkamen, ganz besonders sie. Stella war heute ein wenig auf Krawall gebürstet und wollte nicht länger eine Faust in der Tasche machen.

Fabian begrüßte seine Schwester und seine Eltern, die keine Freude zeigten, was eigentlich normal wäre, sondern ein wenig Verwirrung.

»Waren wir verabredet?«, erkundigte Rosmarie sich, für die es unerträglich gewesen wäre, so etwas vergessen zu haben. Fabian lachte.

»Nein, Mama, entspann dich, du hast nichts vergessen, und ich habe mir erlaubt, einfach so hereinzuplatzen. Ehrlich gesagt, weil ich gehofft hatte, dass Stella ihre berühmte Käsetorte gebacken und mitgebracht hat. Ich hatte an meiner früheren Schule einen Termin. Dort will sich eine Studienrätin aus privaten Gründen verändern, und ich suche händeringend jemanden für die Fächer Geschichte und Philosophie. Sie scheint eine gute Lehrerin zu sein, und ich hoffe, dass sie sich dafür entscheiden kann, an meine Schule zu kommen.«

Stelle verstand sich ausnehmend gut mit ihrem Bruder, was gewiss daher rührte, dass sie als Kinder nur sich gehabt hatten.

»Natürlich wird sie kommen«, sagte sie sofort, »du bist ein fantastischer Schulleiter, und deine Schule hat, dank dir, einen ausgezeichneten Ruf. Schön, dass du da bist, Fabian.«

Rosmarie klingelte, ließ ein weiteres Gedeck bringen, und dann genoss Fabian erst einmal den Kuchen.

»Himmlisch«, sagte er, »wärest du nicht meine Schwester, würde ich dich allein wegen deiner Käsetorte heiraten.«

»Ricky backt sie besser«, wiederholte Rosmarie sich.

»Nein, Mama, nicht besser …, anders. Aber erst einmal komme ich nicht in den Genuss eines von meiner Frau gebackenen Kuchens. Ricky ist voll mit den Vorbereitungen für das Studium beschäftigt.«

»Es hat noch nicht einmal begonnen, und schon kriegt sie es nicht geregelt«, wandte prompt Heinz Rückert ein, der von dieser Idee ebenso wenig hielt wie seine Frau. Welch verrückte Idee, plötzlich studieren zu wollen, und das als Mutter von vier Kindern!

»Sie bekommt es geregelt, Papa. Ricky ist eine Strategin im Planen und Koordinieren. Wir müssen uns keine Sorgen machen, sie bekommt alles unter einen Hut. Und Kuchen, den kann man auch kaufen, wenn man ihn unbedingt essen will. Ich finde es großartig, dass Ricky etwas für sich tun will. Und meine volle Unterstützung hat sie auf jeden Fall. Wir werden übrigens nun doch noch in den Urlaub fahren.«

»Das auch noch?«

»Wohin?«

»Ich freue mich.«

Die Stimmen schwirrten durcheinander, und das nutzte Dr. Fabian Rückert, um rasch einen Schluck Kaffee zu trinken.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, sagte er: »Wir fahren wieder nach Frankreich, genau gesagt in die Bretagne, auf die Halbinsel Quiberon. Dort fühlen wir uns wohl, dorthin fahren wir gern, und Monsieur Crespel von der Agentur hat uns sofort angerufen, als ein Ferienhaus, auf das wir scharf waren, wieder im Angebot war, weil die Leute, die es haben wollten, aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten mussten. Der Mann hatte einen Betriebsunfall und liegt im Krankenhaus. Tja, was des einen Leid ist des anderen Freud.«

»Ist das nicht alles ein bisschen viel?«, wollte seine Mutter wissen. »Man kann nicht alles haben.«

Fabian warf seiner Mutter einen langen Blick zu.

»Das sagst ausgerechnet du, Mama?«

Stella hätte sich niemals getraut, so etwas zu sagen, Fabian schon, doch ihrem Sohn gegenüber waren die Rückerts auch nachsichtiger.

Warum auch immer, sie schienen es eher mit den Jungens zu haben.

Die Lage entspannte sich immer mehr, weil Fabian es einfach nicht zuließ, dass jemand etwas in den falschen Hals bekam und die Stimmung eskalierte.

Er war wirklich ein guter Lehrer, der ganz entspannt auch seine Eltern und seine Schwester im Griff hatte.

Heinz Rückert hätte es viel lieber gesehen, dass sein Sohn in seine Fußstapfen getreten wäre. Doch Fabian hatte sich durchgesetzt, sie nicht, und deswegen war sie vermutlich auch ein wenig auf der Strecke geblieben, weil die Erwartungshaltung ihres Vaters, die plötzlich auf ihr lag, sie erdrückt hatte.

Konnte es sein, dass er sich Enkel wünschte, weil er hoffte, dass einer von ihnen seine Nachfolge antreten würde?

Dieser Gedanke schoss Stella plötzlich durch den Kopf, und das machte ihr so richtig bewusst, wie zwanghaft ihre Eltern doch waren.

Letztlich wurde es doch noch ein schöner Nachmittag, es wurde sogar gelacht. Und als Stella den Rest des Käsekuchens wieder mitnehmen wollte, weil er doch nicht so besonders schmeckte, erlebte sie eine Überraschung. Ihre Eltern wollten davon nichts wissen.

Gemeinsam mit Fabian verließ Stella die Villa.

»Gut, dass du gekommen bist. Du hast mich gerettet, Fabian«, sagte sie und umarmte ihn. »Es wird immer unerträglicher mit ihnen, zu allem kommt jetzt ganz offensichtlich auch noch der Altersstarrsinn.«

»Schwesterlein, du musst dir nicht alles zu Herzen nehmen, und du musst nicht auf alles eingehen, was sie sagen. Irgendwann beruhigen sie sich wieder. Sie sind halt wie sie sind. Grüß Jörg und die beiden Grazien, und wenn das Wetter so bleibt, dann könnten wir eigentlich auch mal wieder grillen. Das finden alle Kinder toll.«

Stella nickte.

»Und meine ganz besonders euren Pool. Aber das mit dem grillen ist eine gute Idee. Ich erkläre mich auch bereit, für das Fleisch zu sorgen und für Salate und einen Nachtisch. Ricky hat wirklich eine Menge an der Backe. Ich wundere mich immer wieder, wie sie das schafft und dabei auch noch so gut aussieht und stets gut gelaunt ist. Ihr seid so eine richtige Vorzeigefamilie, kluge, schöne Eltern, vier liebreizende Kinder, eines besser geraten als das andere. Du hast Glück gehabt, Bruder. Und es war sehr klug von dir, Ricky sofort sicherzustellen, als die Auerbachs in den Sonnenwinkel gezogen sind. Es gab noch andere junge Männer, die heiß auf Ricky waren.«

»Aber sie wollte nur mich. Es war halt die magische, die unvergleichliche Liebe auf den ersten Blick. Auch wenn es mit dir und Jörg anders gelaufen ist, und ihr einen kleinen Anlauf gebraucht habt, beklagen musst du dich auch nicht. Ich finde, sie sind etwas Besonderes, die Auerbachs, und wir hatten beide Glück, in diese herzliche Familie einheiraten zu dürfen.«

Das konnte Stella nur bestätigen.

»Wir hatten außerdem großes Glück, dass wir nicht auf unsere Eltern gekommen sind. Warum sind sie bloß so? Haben sie Angst, Gefühle zu zeigen? Es stimmt doch alles nicht, diese protzige Villa in ihrem Alter, dieser Geiz. Sie sind nicht mehr die Jüngsten, glauben sie, das ewige Leben zu haben? Warum fangen sie nicht einfach an zu leben? Ich verstehe das nicht.«

»Ich auch nicht, Schwesterherz, aber ich habe aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen. Sie sind wie sie sind, wir werden sie nicht ändern, und ich fürchte, sie von sich aus auch nicht. So, ich muss, lass uns telefonieren, wann wir das mit dem Grillen starten wollen.«

Fabian umarmte seine Schwester noch einmal ganz herzlich, dann stieg er in sein Auto und fuhr los.

Ehe Stella in ihr Auto stieg, warf sie einen Blick zurück. Ihre Mutter stand am Fenster und blickte mit verkniffenem Gesicht nach draußen.

Ach Gott, warum machte sie sich das Leben so schwer? Warum stand sie sich selbst im Weg?

Stella winkte ihr zu, doch ihre Mutter zeigte keine Reaktion.

Welche Laus war ihr nun schon wieder über die Leber gelaufen?

Es war doch alles recht friedlich abgegangen, seit Fabian gekommen war.

Konnte sie nicht ertragen, dass sie und ihr Bruder sich so herzlich zugetan waren, dass sie sich umarmten?

Sie würde auch ihre Mutter gern umarmen, ganz gewiss, doch die müsste es zulassen.

Es hatte keinen Sinn, Stella stieg ebenfalls in ihr Auto und dann fuhr sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sie fühlte sich müde, erschöpft wie nach einem langen Arbeitstag, dabei war sie nur für ein paar Stunden bei ihren Eltern gewesen.

Stella wollte nicht schon wieder Vergleiche anstellen, doch es ging nicht anders.

Die Auerbachs waren so ganz anders.

Wenn sie von denen kam, da war sie beschwingt, gut gelaunt, und da war sie innerlich voller Liebe.

Ach, wie gern würde sie sich so fühlen, wenn sie von ihren Eltern kam.

Vielleicht sollte sie es ganz gelassen angehen wie ihre Schwiegereltern. Obwohl sie so ganz anders waren, hatten sie es doch geschafft, zu den Rückerts sogar so etwas aufzubauen wie ein loses freundschaftliches Verhältnis.

Sie nahmen sie wie sie waren und ließen es zu einer Konfrontation gar nicht erst kommen. Es war nicht so, dass sie brenzlige Themen vermieden, überhaupt nicht. Sie vertraten nur ruhig und bestimmt ihre Meinung, und wenn Rosmarie, die in erster Linie dazu neigte, sich zanken zu wollen, dann wechselten sie das Thema.

Vielleicht kam sie ja auch mal dahin, sich wenigstens nicht mehr über ihre Eltern zu ärgern.

Stella freute sich, nach Hause zu kommen, zu ihrem Mann und zu ihren beiden Süßen.

*

Roberta konnte es noch immer nicht glauben, was praktisch über Nacht geschehen war.

Die Patienten gaben sich die Türklinke in die Hand, und es waren bei Weitem nicht nur Neugierige, sondern Menschen, die wirklich krank waren, die Enno bereits seit Längerem behandelt hatte.

Sie war in ihrem Element, endlich konnte sie zeigen, was sie so drauf hatte. Und in einem Fall korrigierte sie sogar, natürlich ohne es dem Patienten zu sagen, Ennos Diagnose. Für sie war es keine langwierige Geschichte. Sie würde den Mann rasch wieder auf die Beine bringen.

Jetzt sah Roberta auch, wie gut ihre Mitarbeiterin war, und wie schnell und umsichtig sie arbeiten konnte. Und sie war bei den Patienten beliebt.

Es fing an, ihr so richtig Spaß zu machen, und sie bereute es nicht mehr, in den Sonnenwinkel gekommen zu sein.

Natürlich machte sie auch Hausbesuche, und das rechnete man ihr hoch an.

Ihr alter Freund Enno hatte sich da ein wenig gedrückt, und diese Hausbesuche vermieden, wenn sie zu vermeiden gewesen waren. Nur wenn es unumgänglich gewesen war, hatte er sie natürlich gemacht.

In gewisser Weise war er zu verstehen.

Der Arbeitstag in einer Arztpraxis war lang und anstrengend, und wenn man Familie hatte, wollte man die knappen freien Stunden mit seiner Frau und seinen Kindern verbringen.

Für Roberta war es einfacher. Sie musste nur für sich selbst sorgen. Wobei sie sich da allerdings auch ganz sträflich vernachlässigte, sich mit einem Butterbrot begnügte, weil sie sich nicht dazu aufraffen konnte, etwas für sich zu kochen. Sie hatte einfach nicht die Energie dazu, zumal sie zwar sehr gern sehr lecker aß, jedoch selbst keine begnadete Köchin war. Das gab sie offen zu. Also dieses Problem musste sie noch lösen, und sie hoffte auch da auf Ursel Hellenbrinks Hilfe.

Es war sehr schade, dass sie sich im »Seeblick« nicht mehr verwöhnen lassen konnte. Da war das Angebot sehr spärlich geworden, seit Monika Lingen sich in der Reha befand.

Und wie würde es da danach werden? Nach ihrer Rückkehr?

Für die Gäste sah es nicht gut aus, die jammerten, weil sie natürlich erst einmal ihre eigenen Bedürfnisse sahen, fantastisches Essen zu einem überaus günstigen Preis zu bekommen.

Roberta freute sich, weil ihre Worte sowohl bei ihm als auch bei ihr auf fruchtbaren Boden gefallen waren.

Hubert und Monika Lingen wollten und würden etwas verändern. Was genau, das wussten sie noch nicht. Doch das war durchaus verständlich.

Man gab ein Leben mit all seinen Gewohnheiten nicht so einfach auf. Da waren viele Überlegungen anzustellen, und man musste sich klar darüber sein, wohin die Reise gehen sollte.

Bei allem Unglück brauchten die Lingens sich finanziell um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Doch wenn es möglich wäre, würden sie leichten Herzens und ohne zu zögern das Mehrfamilienhaus gegen Monikas Gesundheit eintauschen. Gesundheit ließ sich mit allem Geld der Welt nicht kaufen.

Auch heute hatte Roberta einen langen, anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Und das ohne Pause, denn mittags hatte sie rasch noch Hausbesuche gemacht, und den letzten, den sie tagsüber nicht geschafft hatte, hatte sie jetzt hinter sich gebracht.

Sie war ganz schön fertig, doch es war eine Erschöpfung, die ihr auf jeden Fall lieber war als eine, die vom quälenden Nichtstun herrührte.

Sie war hungrig, müde. Und eigentlich war ihr danach, sich daheim auf ihr Sofa zu werfen und sich vom Fernsehen berieseln zu lassen und dabei vermutlich einzuschlafen, ohne von einem Film etwas mitzubekommen.

Nein, das konnte es nicht gewesen sein.

Es war windig, doch das Wetter war stabil, keine dunkle Wolke am Himmel.

Roberta entschloss sich, sich am See noch ein wenig den Wind um die Ohren wehen zu lassen.

Ihren Gedanken, am Wochenende zu rudern, hatte sie nicht in die Tat umsetzen können, weil anderes zu tun gewesen war.

Vielleicht am nächsten Wochenende, nahm sie sich vor. Aber an einem Spaziergang konnte sie niemand hindern.

Am See angekommen sah sie, dass einige Boote draußen waren, obwohl es schon recht spät war.

Bestimmt waren es auch Leute, die den ganzen Tag über gearbeitet hatten und jetzt einfach dieses Gefühl von Freiheit und frischer Luft genießen wollten.

Ach, die hatten es gut.

Sie lief los, und es wurde ihr überhaupt nicht bewusst, dass sie den Weg Richtung Bootsverleih nahm. Um sich jetzt ein Boot zu leihen, dazu war sie nicht richtig angezogen, und auch zu müde, um sich ins Zeug zu legen. Zum Rudern war es zu windig, aber segeln, ja, das wäre es. Das liebte sie ebenfalls, und früher, als ihre Welt noch in Ordnung gewesen war, hatten ihr Exmann Max und sie viel Zeit auf dem Boot verbracht. Es war anders geworden, als Max lieber links und rechts des Weges Affären mit Frauen, teils sogar Patientinnen, angefangen hatte und als ihm ein Segelboot nicht gut genug gewesen war. Er hatte von einem schnittigen Motorboot mit allem Komfort, mit mehreren Schlafkojen und Kabinen geträumt.

Ach, Max.

Seit sie im Sonnenwinkel lebte, dachte sie kaum noch an ihn. Das war ein anderes Leben gewesen, das sie nicht mehr zurückhaben wollte. Nicht mehr brauchte, weil ihr längst bewusst war, dass sie, ohne eine Gegenleistung zu bekommen, einen sehr hohen Preis bezahlt hatte.

Schnee von gestern, würde ihre Freundin Nicki burschikos sagen.

Nicki und Max waren keine Freunde gewesen. Er hatte nichts von ihr gehalten, weil er sie nicht anbaggern konnte, und Nicki hatte ihn durchschaut und dafür verachtet, weil er auf Kosten ihrer allerbesten Freundin ein richtiges Drohnendasein führte.

Tatsächlich Schnee von gestern …

Roberta hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie den Bootsverleih erreicht hatte.

Kay Holl war damit beschäftigt, ein Segelboot startklar zu machen.

Sie wollte umkehren, doch das vereitelte er, indem er gerade in dem Augenblick aufblickte, als sie diesen Gedanken in die Tat umsetzen wollte.

Sie war nicht mehr gekommen, hatte sich nicht gemeldet, doch er tat so, als sei sie gerade erst gestern da gewesen.

Er richtete sich auf, kam ihr ein paar Schritte entgegen, lachte.

»Hi, schön dich zu sehen«, in Sportlerkreisen duzte man sich einfach, und dagegen hatte Roberta auch nichts einzuwenden. »Lust auf eine Runde auf dem See? Der Wind ist einfach zu gut, ich kann nicht widerstehen.«

Roberta zögerte.

Lust hatte sie eigentlich schon, aber …

Ehe sie über das »aber« nachdenken konnte, fuhr er fort: »Das ist eine Einladung.«

Sie sah an sich herunter.

»Die Schuhe ziehst du aus, und eine Jacke habe ich für dich, draußen kannst du nicht in diesem Blüschen auf dem Boot sitzen.«

Für ihn war alles so einfach, so selbstverständlich. Er hinterfragte nichts, war nicht beleidigt, dass sie, trotz ihres Versprechens, nicht gekommen war. Auf einmal fühlte Roberta sich unternehmungslustig und unglaublich jung.

Sie stimmte in sein Lachen mit ein, und während sie sich bereits die Schuhe auszog, sagte sie: »Ja, eine gute Idee, ich nehme die Einladung dankend an. Es ist gefühlte Ewigkeiten her, seit ich zum letzten Mal in einem Segelboot saß.«

Er grinste. »Das verlernt man auch nicht, und ich denke, dass du gut bist, ich freue mich. Also los.«

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie das Boot ins Wasser schieben konnten, und dann ging es los. Er war ein Ass, und sie war auch nicht schlecht. Bei einer Segelregatta hätten sie gute, nein, sehr gute Karten gehabt, den obersten Platz auf dem Siegertreppchen zu erobern.

*

Als sie sich nach diesem ­unglaublichen Bootstrip ihre Schuhe wieder anzog, ihm seine Jacke zurückgab, fühlte Roberta sich wie an Weihnachten und Ostern zugleich.

Alles war von ihr abgefallen.

Sorgen?

Welche Sorgen denn?

Stress?

Was war das?

Natürlich hatte es Spaß gemacht, auch ihm zu zeigen, dass sie ebenfalls etwas vom Segeln verstand. Der Wind, die frische Brise, das wilde Gekreische der Möwen. Alles war­ ganz wunderbar gewesen, doch das Unglaublichste war die Gegenwart dieses Mannes gewesen, der ruhig, entspannt, kompetent …

Sie hörte auf, er war nicht zu beschreiben, weil er so anders war.

Jemand wie dieser Kay Holl war ihr noch nie zuvor begegnet.

Sie würde gern mehr über ihn erfahren, doch sie traute sich nicht, Fragen zu stellen, weil sie nicht als neugierig erscheinen wollte, zumal er überhaupt nichts wissen wollte.

Seiner Einladung auf einen Wein widerstand sie. Sie hatte noch nichts gegessen, schon der erste Schluck würde seine Wirkung haben.

Sie lehnte ab, entschuldigte sich damit, nach einem langen Arbeitstag müde zu sein.

Jetzt hätte er einhaken können, das hätte vermutlich jeder andere getan, hätte sich erkundigt, was sie denn so machte.

Von ihm kam keine Frage, er sagte nur: »Schade, dann eben ein andermal. Es war schön mit dir.«

Sie hatte einen Kloß im Hals, nickte, bedankte sich nochmals, dann hastete sie davon.

Kein besonderer Abgang, doch es war nicht nur dass sie hungrig war, es war auch seine Gegenwart, die sie irritierte.

Schade, dass er nicht älter war.

Du liebe Güte, wohin verirrten sich ihre Gedanken?

Kein neuer Mann, keine Probleme!

Dennoch, eines interessierte sie schon … Wer war er?

*

Roberta hatte ihr Haus beinahe erreicht, als mit quietschenden Bremsen ein schnittiger Sportwagen neben ihr hielt, eine junge Frau ausstieg, auf sie zukam.

»Frau Dr. Steinfeld?«

»Ja, ich bin Roberta Steinfeld«, antwortete sie und musterte die Frau. Wer war sie? Sie hatte sie bislang noch nicht gesehen.

»Und ich bin Sandra, eigentlich Alexandra Münster und wohne dort oben.«

Sie zeigte in Richtung Felsenburg, die nicht zu übersehen war, weil diese alte Burgruine die ganze Gegend dominierte.

Roberta wusste sofort Bescheid, denn Enno hatte auch über die Leute von »da oben«, wie er sich ausgedrückt hatte, gesprochen, allerdings nur Gutes.

Dann erzählte sie Roberta, dass sie bereits einige Versuche unternommen hatte, sie einzuladen, aber immer gescheitert war, weil sie nicht daheim gewesen oder die Praxis überfüllt gewesen war.

»Ich bin froh, Sie jetzt zufällig zu treffen, Frau Doktor«, sagte Sandra, »wir möchten Sie nämlich einladen, zu einem kleinen geselligen Beisammensein unter Freunden und guten Bekannten, das allerdings schon am Sonnabend stattfinden soll …, ich weiß, dass man Einladungen nicht so kurzfristig ausspricht, doch, wie gesagt, ich konnte Sie nicht erreichen und wollte Sie auf jeden Fall persönlich einladen.«

Eine reizende Frau, Roberta nahm die Einladung dankend an. Von Enno wusste sie, dass er und seine Frau keine dieser Einladungen ausgelassen hatten.

Es war eine nette Geste, Sie mit einzubeziehen.

Sandra freute sich, doch ihr war anzusehen, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte und dass es ihr ein wenig peinlich war, darüber zu sprechen.

Schließlich fasste sie sich ein Herz.

»Frau Doktor, da gibt es noch etwas, was Sie wissen sollten, ehe es Ihnen von anderer Seite zugetragen wird und Sie es …, nun ja, banal ausgedrückt, in den falschen Hals bekommen.«

Roberta konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Von Enno wusste sie, dass die Bewohner vom Erlenhof, dem Herrenhaus, Marianne von Rieding und ihr Mann Carlo Heimberg und die Münsters, die in der Dependance lebten, hochangesehene Leute waren, von denen konnte überhaupt nichts Negatives kommen.

»Und was sollte ich wissen, Frau Münster?«, erkundigte Roberta sich.

»Nun … nun, wir konnten es nicht fassen, wie sehr die Leute hier Sie ignorierten. Von Professor Auerbach wussten wir, welch ein Glück es für uns ist, eine so hochqualifizierte Nachfolgerin für den Doktor Riedel zu bekommen. Und Inge Auerbach hat mir halt erzählt, dass niemand in die Praxis kommt.«

Ehe Roberta ihr erzählen konnte, dass sich das mittlerweile geändert hatte, fuhr Sandra fort: »Ich … wir … hatten die Idee, für Sie so eine Art Willkommensparty auszurichten, damit Sie Menschen kennenlernen, damit man vor allem Sie kennenlernt …, nun, im Grunde genommen ist die Party überflüssig, die Praxis brummt, seit es da diesen Artikel über Sie gab.«

Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 1 – Familienroman

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