Читать книгу Der neue Sonnenwinkel 37 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 3

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Die gemütliche Wohnküche war der Lieblingsort aller Auerbachs. Und welche Schlachten waren hier nicht schon geschlagen worden. Es hatte Lachen und Weinen gegeben, Diskussionen. Was hatte der große Familientisch nicht alles schon gesehen.

Es war auch überhaupt kein Wunder, dass Jörg Auerbach sich wie selbstverständlich zu seiner Mutter an genau diesen Tisch setzte. Sie hatte sich viele Sorgen um ihren Ältesten gemacht. Dazu gab es auch mehr als nur einen Grund. Ein Familienmensch, und das war Jörg nun mal, hatte schwer daran zu tragen, von seiner Frau verlassen zu werden, und dass die dann auch noch die Kinder mitgenommen hatte in ihr neues Leben in Belo Horizonte, das war grauenhaft. Wie glücklich war Inge gewesen, dass Jörg eine neue Partnerin gefunden hatte. Und dass er jetzt unglücklich war, das hatte er allein zu verantworten. Er hatte sich von Charlotte getrennt, weil deren Sohn ihm immer wieder bewusst gemacht hatte, wie sehr er seine eigenen Kinder vermisste.

Es war eine schreckliche Situation, Inge hatte mit Jörg reden wollen, weil sie es unerträglich fand, wie sehr er litt und sich aufrieb. Und nun war er ihr zuvorgekommen. Er wollte mit ihr reden.

Jörg sah noch immer sehr mitgenommen aus, doch irgendwie wirkte er entschlossen, und er sah nicht mehr so erloschen aus. Das erleichterte Inge sehr. Mütter litten immer mit ihren Kindern, ganz egal, wie alt sie waren. Und Mütter wollten für ihre Kinder immer nur das Beste.

»Möchtest du einen Kaffee, Jörg?«, erkundigte sie sich, denn der stand bei den Auerbachs immer bereit.

»Ja, Mama, gern, und wenn du dann auch noch etwas Süßes dazu hast, da würde ich nicht nein sagen.«

Auch das war bei den Auerbachs kein Problem, und das lag in erster Linie an Werner. Der Professor war eine richtige Naschkatze, und den konnte man strafen, wenn er zu seinem Kaffee nichts Süßes bekam.

Werner war mit seinem Schwiegervater unterwegs, Pamela war in der Schule. Ihre Mutter konnte auch nicht hereinplatzen, die arbeitete heute ehrenamtlich im Hohenborner Tierheim.

Sie waren also allein und ungestört, und Inge ahnte, dass Jörg ihr etwas Folgenschweres sagen wollte. Sie hatte ein wenig Angst davor. Vermutlich trödelte sie deswegen, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, ein wenig herum. Doch immer konnte sie ihm nicht ausweichen. Sie stellte Kaffee und Kuchen auf den Tisch und setzte sich, beinahe mit einer Gottergebenheit. Sie hatte Angst vor dem, was kommen würde. Dabei war es doch genau das, was sie hereinbesehnt, was sie selbst vorgehabt hatte, mit ihm zu reden. Vielleicht hätte sie es wirklich getan, vielleicht hätte sie es auch hinausgezögert, was leider ihre Art war. Jetzt hatte Jörg die Regie in die Hand genommen, und er ließ sich Zeit, trank Kaffee, aß genüsslich etwas von dem Kirsch-Streuselkuchen, lobte ihn. Wenn man so wollte, war es eine Situation, wie sie öfters vorkam.

Und dann ließ Jörg die Bombe platzen.

»Mama, ich werde morgen nach Stockholm zurückfliegen, und ich habe meinen Flug auch bereits gebucht.«

Ihr fiel der Löffel aus der Hand. Sie wusste nicht, womit sie gerechnet hatte, damit nicht. Und das überraschte sie auch so sehr, dass sie erst einmal dazu nichts sagen konnte.

Offensichtlich erwartete Jörg auch keinen Kommentar seiner Mutter.

»Mama, ich fliege in erster Linie zurück, weil ich alles dransetzen will, mich mit Charlotte wieder zu versöhnen, und ich kann nur hoffen, dass sie mir verzeihen wird.«

Nun verstand Inge überhaupt nichts mehr.

»Mama, es war dumm von mir, sie zu verlassen. Ich wusste von Anfang an, dass sie einen Sohn hat, den sie über alles liebt. Und Sven ist ja auch ein großartiger Junge. Ich habe die Probleme größer gemacht, als sie sind, und mich immer tiefer hineingesteigert, dass ich mit dem Jungen nicht umgehen kann, weil er mir den Verlust meiner eigenen Kinder bewusst macht.«

Er hieb mit seiner Kuchengabel in den Kuchen hinein.

»Das war dumm, das war egoistisch von mir. Ich dachte nur an mich, an meine eigene Befindlichkeit. Für Charlotte war es auch nicht einfach, mit einem Kaputten wie mir klarzukommen, der von seinen Altlasten erdrückt wird, unter ihnen leidet. Sie hat sich nicht ein einziges Mal beklagt, sie hat mich aufgehoben, wenn ich am Boden lag, sie hat meine Launen hingenommen, die ungerechtfertigt waren. Sie hat alles für mich getan aus Liebe. Und ich? Ich habe diese Liebe mit Füßen getreten. Mein Gott, Mama, ich bin doch ein erwachsener Mensch. Ich treffe in der Firma weitreichende Entscheidungen, und im Privatleben versage ich. Ginge es hier um einen Job, dann hätte man mich längst entlassen, man wäre über meinen freiwilligen Weggang erleichtert gewesen. Und Charlotte? Die hat um mich gekämpft, sie hat geweint. Und ich? Ich habe nur mich gesehen. Meine Güte, was für ein Narr ich doch war.«

»Du hattest deine Gründe, dich so zu verhalten, mein Junge«, sagte Inge leise. »Es gibt für nichts im Leben eine Gebrauchsanweisung.«

Er blickte seine Mutter an.

»Mama, ich war ein selbstherrlicher Egoist. Schön, ich habe meine Frau und meine Kinder verloren. Dabei geht es mir nicht einmal um Stella. Da ist nichts mehr, Charlotte passt viel besser zu mir als meine Ex. Aber die Kinder, die vermisse ich ja schon sehr. Doch ich bin kein Einzelfall. Es gibt unzählige Trennungen, Leid und Schmerz. Doch das Leben geht weiter, und das Universum dreht sich nicht nur um einen selbst. Man kann es nicht nach sich ausrichten, muss mit den Befindlichkeiten leben. Ich weiß nicht, warum ich mich so sehr in alles hineingesteigert habe. Vermutlich ging es mir zu gut, ich habe mich ausgeruht, alles als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, ich wurde bequem, wollte Charlotte allein für mich haben, nicht im Doppelpack. Wie heißt es so schön, wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen. Ich war nicht nur ein Esel, ich war ein richtiger Hornochse.«

Ehe Jörg nun versuchte, sich weiter zu zerfleischen, sagte Inge: »Jörg, Selbstvorwürfe helfen dir jetzt auch nicht weiter. Ich freue mich, dass du versuchen möchtest, dich mit Charlotte zu versöhnen. Sie ist eine wundervolle Frau, und wir alle mögen sie sehr. Wenn sie dich wirklich liebt, dann wird sie dir auch verzeihen. Es ist mit dir und Charlotte ja alles sehr schnell gegangen, wenn ihr euch …«

Jörg unterbrach seine Mutter.

»Mama, fang jetzt bitte nicht damit an, dass Charlotte und ich uns auf einer Partnerbörse im Internet kennengelernt haben. Das ist ein legaler und für viel beschäftigte Leute der richtige Weg, jemanden zu treffen. Führ bitte nicht an, dass man sich früher auf Tanztees kennengelernt hat. Das ist out, so etwas gibt es nicht mehr. Und weil man einiges von sich preisgeben muss, wussten Charlotte und ich bereits eine ganze Menge voneinander, ehe wir uns zum ersten Male trafen. Dazu hätte es früher mindestens zehn Tanztees gebraucht. Früher war alles anders, doch früher hatten wir auch einen Kaiser, Mama, die Zeiten haben sich geändert, und wer nicht mitgeht, der bleibt auf der Strecke. So einfach ist das.«

Inge bereute, davon angefangen zu haben. Es befremdete sie halt noch immer. Und kein Mensch konnte über seinen Schatten springen. Sie gehörte zu der Generation, in der man halt seinen Partner auf ganz altmodische Weise kennengelernt hatte.

»Jörg, es tut mir leid.«

»Mama, es muss dir nicht leidtun«, versicherte er ganz versöhnlich. »Charlottes und meine Konflikte haben überhaupt nichts mit der Art unseres Kennenlernens zu tun. Ich hätte auch so reagiert, wenn wir uns zufällig, durch die Vermittlung von Freunden, durch eine Anzeige oder wie auch immer kennengelernt hätten. Es liegt an mir allein. In meinem Kopf hat sich da etwas festgesetzt, und da habe ich mich immer weiter hineingesteigert. So einfach ist das. Ich muss lernen, loszulassen. Ich darf nicht weiter am Alten festhalten wollen.«

Inge konnte sich bei seinen letzten Worten ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

»Das hast du leider von mir, mein armer Junge.«

Er lächelte ebenfalls.

»Ach, Mama, wenn ich auch noch deine anderen, all so liebenswerten Eigenschaften geerbt habe, dann kann ich dem Himmel nur danken. Ich kann dir überhaupt nicht oft genug sagen, was für eine großartige Mutter du bist. Du warst immer für uns da, du hast für uns gekämpft wie eine Löwin für ihre Jungen, du hast uns verteidigt, du hattest immer ein Ohr für uns, und es ist dir so hoch anzurechnen, dass du allein es geschafft hast, aus uns die zu machen, die wir sind. Aus allen von uns ist etwas geworden, und damit meine ich nicht einen akademischen Grad, der für Papa so wichtig ist. Nein, ich meine damit Menschen, die ihr Herz auf dem richtigen Fleck haben. Das alles ist nur dein Verdienst allein, denn von Papa hatten wir früher wirklich nicht viel. Er war wie ein liebevoller Besucher, der mit Geschenken vorbeikam. Wir sahen voneinander nur unser Sonntagsgesicht, den Alltag, den haben wir mit dir allein geteilt, nicht mit Papa.«

Inge wollte etwas erwidern, ihren Werner in Schutz nehmen, obwohl alles wirklich stimmte, wie Jörg es gerade erzählt hatte. Sie kam nicht dazu, denn unbemerkt war der Professor in den Raum getreten, er war frühzeitig zurück, weil ein Vortrag, den er gemeinsam mit seinem geschätzten Schwiegervater besuchen wollte, ausgefallen war.

»Ihr habt gerade über mich gesprochen?«, erkundigte er sich, nachdem er sich zu seiner Frau und seinem Sohn an den Tisch gesetzt hatte und Inge automatisch aufgestanden war, um auch für Werner Kaffee und einen Kuchenteller hinzustellen. Wenn man sich so lange kannte wie sie und Werner, dann funktionierte man beinahe automatisch, weil man einander so gut kannte und auch ohne Worte wusste, was der andere wollte.

»Ich habe Mama ein Kompliment gemacht und ihr gesagt, dass sie die beste Mutter der Welt ist, dass wir ihr zu verdanken haben, was aus uns geworden ist, weil wir von dir ja nicht viel hatten.«

Professor Werner Auerbach besaß eine gewisse Eitelkeit, die in erster Linie davon kam, dass er bewundert und geschätzt wurde. Er war jedoch auch ehrlich, und so antwortete er auch direkt: »Das stimmt, mein Junge. Ich muss leider zugeben, dass ich ein grottenschlechter Vater war und die Erziehung von euch eurer Mutter überlassen habe. Ohne sie wäre ich niemals der geworden, der ich bin. Sie hat mir den Rücken freigehalten, sie ist eine unglaublich starke Frau. Dennoch bereue ich manchmal, dass ich alle Verantwortung auf sie abgewälzt habe. Es ist jedoch nichts rückgängig zu machen, und ich habe mich bei eurer Mutter mehr als nur einmal entschuldigt. Aber, und das kann ich voller Stolz sagen, wir waren und wir sind ein wundervolles Team.«

Er blickte Inge an, die sich mittlerweile wieder gesetzt hatte, nachdem Werner versorgt war. Er ergriff ihre Hand, tätschelte sie.

»Es ist ein Geschenk, jemanden an seiner Seite zu haben, mit dem man durch dick und dünn gehen kann.«

Aus seinem Blicken, seinen Worten klang Liebe. Und es stimmte wirklich, die Auerbachs waren ein Team, auch wenn nicht immer alles eitel Sonnenschein gewesen war. Auch bei ihnen hatte es Krisen gegeben, Inge hatte an Trennung gedacht, sie hatte für eine Weile auf getrennten Schlafzimmern bestanden. Sie hatten sich immer wieder zusammengerauft, weil sie ohne einander nicht sein konnten. Und das nach so vielen Ehejahren sagen zu dürfen, das zeugte von Liebe.

Das spürte auch Jörg, und eigentlich konnte er insgeheim seine Eltern nur beneiden, dass sie immer wieder die Kurve gekriegt hatten, dass sie ohne Blessuren davonzutragen durch viele Tiefen gegangen waren und dass die Höhen sie nicht übermütig gemacht hatten.

Seine Ehe mit Stella war gescheitert. Sie war davongelaufen mit einem anderen, und er war mit seinen Schuldzuweisungen sofort da gewesen. Doch gehörten zu allem nicht immer zwei? Vielleicht hatte ihr in der Ehe mit ihm etwas gefehlt. Vielleicht versuchte sie mit diesem älteren Mann das nachzuholen, was ihr in ihrer Kindheit gefehlt, was sie schmerzlich vermisst hatte. Er musste sich darüber nicht mehr den Kopf zerbrechen. Es war vorbei. Sie hatten über das Scheitern ihrer Ehe nicht gesprochen, Stella hatte klammheimlich die Koffer gepackt und war mit dem Mann und den Kindern nach Brasilien gegangen. Und dass sie absolut konfliktscheu war, sah man auch daran, dass sie mit ihren Eltern bis heute nicht darüber gesprochen hatte.

Stella war seine Vergangenheit, seine Gegenwart war gerade unerträglich, und seine Zukunft … Ja, er war sich sehr, sehr sicher, die sollte Charlotte gehören, und er würde alles daransetzen, zu Sven, deren Sohn, ein gutes, vorbehaltloses Verhältnis zu bekommen.

Aus diesen Gedanken heraus sagte er: »Papa, ich fliege morgen nach Schweden zurück, und ich will alles daransetzen, mich mit Charlotte zu versöhnen.«

»Das ist großartig, mein Junge«, rief der Professor ganz spontan. »Charlotte ist eine so großartige Frau, und ich finde, ihr passt so gut zueinander.«

Am liebsten hätte Jörg sich jetzt bei seinem Vater erkundigt, ob er von Charlotte als Mensch begeistert war oder ob es ihn faszinierte, dass sie eine so erfolgreiche Handchirurgin war. Er ließ es bleiben. Was sollte es, er wollte an seinem letzten Tag keinen Streit haben, und seinen Vater konnte man eh nicht mehr ändern. Er war wie er war. Und so schlimm war er ja nun auch nicht, denn seine Familie war ihm sehr wichtig. Und darauf kommt es an.

»Ich würde euch, natürlich unsere Pamela und die Großeltern zum Abschied gern in den ›Seeblick‹ einladen. Wie ich Mama kenne, würde sie sonst jetzt alle Hebel in Bewegung setzen, um ein mehrgängiges Menü auf den Tisch zu zaubern.«

Jörg wandte sich seiner Mutter zu. »Mama, du hast großartig für mich gesorgt, du hast mich, ohne viele Worte zu machen, aufgefangen. Das Essen im ›Seeblick‹ soll auch so etwas wie ein kleines Dankeschön sein.«

Inge hatte Tränen in den Augen, als sie ihm bewegt antwortete:

»Jörg, mein Junge, ich freue mich. Wir gehen alle sehr gern in den Seeblick.«

Sie wandten sich anderen Themen zu. Und das war auch etwas, was alle Auerbachs gemeinsam hatten, sie waren an allem interessiert, und sie unterhielten sich gern.

Wofür ein großer, alter Familientisch nicht wundervoll war.

*

Roberta wurde mitten in der Nacht wach. Sie schreckte hoch, weil etwas sie berührte. Doch ehe sie die Nachttischlampe anknipsten konnte, hörte sie ein weinerliches Kinderstimmchen.

»Ich habe schlecht geträumt, darf ich zu dir ins Bett kommen?«

Es war der kleine Philip. Seit er da war, brannte zwar im Haus überall eine Notbeleuchtung, doch es wunderte Roberta schon, dass er nicht geweint hatte, sondern zu ihr gekommen war. Das bedeutete auf jeden Fall, dass er sich mittlerweile nicht nur im Haus auskannte, sondern dass er angstfrei war und sich wohlfühlte.

»Natürlich, mein Schatz«, rief Roberta und rückte bereitwillig beiseite. »Warum hast du denn nicht gerufen? Alma oder ich hätten dich gewiss gehört und wären sofort zu dir gekommen.«

Philip kuschelte sich an sie, und für Roberta war es unglaublich schön, diesen kleinen, warmen Kinderkörper zu spüren.

»Ich möchte aber lieber in deinem Bett mit dir schlafen, weil ich weiß, dass die bösen Träume nicht zu dir kommen. Sie haben Angst vor dir, weil sie wissen, dass du eine Ärztin bist und mit allem fertig wird, auch mit Träumen.«

Na, wenn das kein Kompliment war!

Gerührt drückte Roberta den kleinen Philip an sich, strich ihm liebevoll über das strubbelige Haar.

»Ich werde alle bösen Träume verjagen, mein Herz, du kannst jetzt ganz ruhig weiterschlafen. Denn wenn du jetzt die Augen zumachst, dann kommen nämlich die guten, die bunten Träume bei dir vorbei.«

Sie hatte es nur dahergesagt, weil sie Angst hatte, er könne auf die Idee kommen, etwas vorgelesen haben zu wollen. Darauf hatte sie keine Lust, doch sie kannte mittlerweile erkannt, dass Philip für jede Überraschung gut war.

Sie hatte ins Schwarze getroffen, der Gedanke gefiel ihm, und ehe er die Augen schloss, erkundigte er sich rasch: »Und kommen auch blaue Träumchen?«

»Ja, Philip, sie kommen in allen Farben, die du haben möchtest. Das ist ja das besondere an Träumen.«

»Dann nehme ich auch noch gelb und grün«, murmelte er, und danach dauerte es nicht lange, und er war wieder eingeschlafen.

Roberta ließ ihn los, und dann musste sie sich ganz an den Rand des Bettes quetschen, denn Philip hatte es sich gemütlich gemacht, und mit ausgebreiteten Armen und Beinen schlief er wieder tief und fest. Im Gegensatz zu Roberta. Die war jetzt hellwach, und viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Es war so bereichernd, den kleinen Philip im Haus zu haben, solange seine Mutter in Amerika war. Doch sie hatte auch längst schon festgestellt, dass ein Kind im Hause zu haben kein Spaziergang durch einen Rosengarten war. Es bedeutete nicht nur eine große Verantwortung, sondern ein Kind beanspruchte sehr viel Zeit. Dabei war der kleine Philip aus dem Gröbsten heraus, und er war für sein Alter sehr selbstständig, was wohl auch nicht ausblieb, wenn man bei einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs.

Roberta wollte Philip nicht eine Sekunde missen, und sie mochte nicht daran denken, wie ihr Leben wieder ohne ihn sein würde. Und die Zeit der Trennung würde bald kommen, es war von Anfang an ein Glück auf Zeit gewesen.

Auf jeden Fall hatte Roberta keine Illusionen mehr, und der Gedanke, dass Beruf und Kind mit linker Hand vereinbar sei, den gab es nicht mehr. Sie war zu blauäugig gewesen, und sie konnte sich jetzt nicht mehr verstehen, warum sie so besessen davon gewesen war, Lars unbedingt nicht nur heiraten zu wollen, sondern sie hatte von einer Kinderschar mit ihm geträumt und ihn damit haltlos überfordert. Das wusste sie jetzt.

Warum hatte sie es nicht einfach darauf ankommen lassen? Sie waren so glücklich miteinander gewesen, er war ihr Mr Right, und er war sehr, sehr offen gewesen, hatte ihr niemals etwas vorgemacht. Sie hatte mit ihren Wünschen immer wieder die Grenze überschritten, was ihn panisch gemacht hatte.

Lars zog es immer wieder in die Ferne, damit hatte sie sich abgefunden, doch jetzt die mehrmonatige Beziehungsauszeit, die machte ihr sehr zu schaffen.

Lars fehlte ihr.

Roberta vermisste ihn.

Und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie auf die Zeilen, die sie ihm trotz der vereinbarten Auszeit geschickt hatte, eine Antwort erwartet. Es war nichts gekommen, und was sie am meisten beunruhigt war, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Sein Handy war ausgestellt. Das hatte sie mehrfach erfahren, denn sie hatte ihren Stolz überwunden. Sie hatte angerufen, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn vermisste, wie sehr er ihr fehlte. Und da das Handy ausgestellt war, konnte sie ihm auch nicht schreiben.

Tief in ihrem Herzen nistete sich Angst ein, die sie tapfer zu bekämpfen versuchte, denn mit negativen Gedanken führte man negative Ergebnisse herbei.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Und wenn Lars nun etwas passiert war?

Dieser Gedanke war unerträglich, sie versuchte, dieses Gedankenkarussell abzustellen. Lars befand sich nicht in gefährlichen Gefilden. Sie hätte Angst haben müssen, als er im tiefsten Eis bei den Eisbären gewesen war.

Aber wo war er?

Nicht einmal das wusste sie, und bei Lars konnte sich sehr schnell etwas ändern.

Der kleine Philip machte sich immer breiter, jetzt lag er fast quer im Bett. Roberta traute sich nicht, ihn wieder richtig hinzulegen, aus Angst, sie könne ihn aufwecken. Das wollte sie nicht.

Sie stand vorsichtig auf. Schlafen konnte sie eh nicht mehr, ihre Angst um Lars wurde immer größer, und der konnte sie nur begegnen, indem sie etwas anderes machte.

Sie glaubte zwar nicht an die Wirksamkeit, und es war auch durch überhaupt nichts wissenschaftlich bewiesen. Doch seit Generationen herrschte der Glaube vor, bei Schlaflosigkeit helfe heiße Milch mit Honig. Das kannte Roberta sogar noch von ihrer Großmutter. Auf jeden Fall war es beruhigend, und die Zubereitung der heißen Milch würde sie hoffentlich von ihren Gedanken ablenken.

Als sie jedoch in die Küche kam, staunte sie nicht schlecht. Dort fand sie Alma vor. Und was tat sie? Sie war dabei, gerade Milch in einen Topf zu schütten.

Auch wenn sie nicht gut drauf war, musste Roberta jetzt doch lachen.

»Alma, bitte machen Sie auch gleich eine Milch für mich mit«, rief sie, dann setzte sie sich an den Küchentisch und blickte zu Alma, die geschickt am Herd hantierte.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie bei Vollmond ebenfalls nicht schlafen können«, rief Alma. »Wenn der Mond dick und fett am Himmel hängt, dann ist es aus bei mir, dann bekomme ich kein Auge zu. Und da hilft nichts, keine Meditation, keine Entspannungsübungen.«

Roberta konnte ihrer treuen Haushälterin jetzt schlecht sagen, dass die Angst um Lars sie aus dem Bett getrieben hatte. Sie hatte ja zum Glück ein anderes Ass im Ärmel. Sie erzählte ihr, dass Philip zu ihr ins Bett gekommen war und sich in dem jetzt so richtig breit machte.

Alma war hingerissen, nicht, weil er das ganze Bett für sich in Anspruch nahm, sondern weil er allein durch das nächtliche Haus getalpt war.

»Ach, Frau Doktor, die schöne Zeit ist bald vorbei. Philip wird uns sehr fehlen, nicht wahr?«

Das konnte Roberta nur bestätigen. »Er hat uns ja versprochen, dass er uns immer besuchen wird, und ich denke, er wird Trixi lange genug nerven, bis die uns den Kleinen bringt.«

»Ich kann ihn auch holen«, schlug Alma sofort vor, die den Kleinen abgöttisch liebte.

»Alma, das sagen wir ihm besser nicht. Ich denke, wir dürfen Trixi nicht in die Erziehung pfuschen. Sie hat es schwer genug, alles miteinander zu vereinen. Ich könnte das nicht, und ich bewundere Trixi insgeheim. Wie sie das ohne Hilfe schafft, und jetzt kann sie ja auch nicht mehr im Notfall auf ihre Eltern zurückgreifen, seit ihr Vater krank ist. Und leider sieht es für ihn überhaupt nicht gut aus. Er wird zwar zum Glück kein Pflegefall, aber nach seiner Rückkehr aus der Reha, in der er sich jetzt befindet, wird er in seinen Bewegungen sehr eingeschränkt sein.«

Alma hatte mittlerweile die heiße Milch mit dem Honig zubereitet, stellte einen der hübschen Keramikbecher vor Roberta ab.

»Ach, Frau Doktor, es trifft immer die Falschen. Die Dreck am Stecken haben, die kommen stets ungeschoren davon.«

Ein solcher Satz, den Roberta sofort bestätigen konnte, kam nicht von ungefähr. Schließlich hatte sie beide sehr schlechte Erfahrungen mit ihren Ex-Ehemännern gemacht. Und Max würde noch immer in ihrem Leben herumgeistern, wenn ihr alter Freund Bernhard dem nicht einen Riegel vorgeschoben hätte. Bernie war in einer geschäftlichen Angelegenheit in den Sonnenwinkel gekommen, die sich zerschlagen hatte, doch für sie war es ein Glücksfall gewesen. Bernie hatte es für sie in die Hand genommen, und Max in die Schranken verwiesen, der hatte sich zwar noch einmal ganz bitterlich beschwert, wie ein gemeinsamer alter Freund so etwas hatte tun können, doch danach war Ruhe gewesen. Max hatte begriffen, dass es für ihn böse Folgen haben würde, sollte er es noch einmal wagen, sie zu behelligen, in welcher Weise auch immer. Und da musste man eines sagen, Dr. Max Steinfeld war sehr kreativ gewesen, er hatte nichts ausgelassen.

Die Milch mit dem Honig war köstlich, sie erweckte Erinnerungen an früher. Und auch wenn das nicht immer eitel Sonnenschein gewesen war, so dachte man nur an das Schöne, was man sogar verherrlichte, während man das Negative verdrängte, was auch nicht richtig war.

Am besten lebte man gut in der Gegenwart, dann konnte die Vergangenheit keine schlechte sein. Und die Zukunft? Die konnte niemand voraussehen, und es kam immer anders als gedacht. Doch bei einer gern gelebten Gegenwart brauchte man sich keine Gedanken um die Zukunft machen. Das Leben bestand immer nur aus der Gegenwart. Eigentlich war das nicht schwer zu begreifen, und dennoch verfing man sich in der Vergangenheit und plante etwas, was höchstens ansatzweise zu planen war, wie beispielsweise eine Berufsausbildung, der Kauf eines Hauses.

Roberta trank schnell, um sich nicht in solche Betrachtungen zu verlieren. Sie hörte Alma zu, die von ihren Chorproben sprach. Ihr Gospelchor hatte einen Preis gewonnen, und nun stand im Raum, dass sie nach Amerika fahren würden, nach Louisiana, wo diese Art zu singen zu Hause war.

Roberta freute sich so sehr für Alma, dass sie mit einer solchen Begeisterung dabei war. Und sie wünschte ihr von ganzem Herzen, dass es mit der Reise in die USA klappen würde.

Für sie allerdings würden trübe Zeiten anbrechen, denn ohne Alma war sie aufgeschmissen.

Roberta merkte, wie eine Schläfrigkeit sich in ihr ausbreitete, und das nutzte sie aus. Sie wollte wieder in ihr Bett, denn es lang ein anstrengender Tag vor ihr, der mit einer normalen Arbeitszeit längst nicht vorbei war.

Alma schrieb das sofort der Wirksamkeit der Milch zu, Roberta sagte nichts dazu, denn warum half es bei Alma nicht? Die war noch immer putzmunter.

Gemeinsam gingen sie in Robertas Schlafzimmer, Alma nahm die Kleinen auf den Arm und trug ihn hinüber in sein eigenes Bett. Roberta hätte sich nicht getraut, sie bewunderte Alma dafür, mit welcher Selbstverständlichkeit die das machte. Sie hatte doch auch keine Kinder, und dennoch wusste sie, was und wie man etwas zu tun hatte.

Alma konnte eben alles, sie war ein Goldstück.

Roberta kuschelte sich in ihr Bett, das ihr jetzt wieder allein gehörte, und es dauerte nicht lange, und sie schlief erneut ein. Mit Gedanken an Lars, doch die waren jetzt nicht beängstigend, sondern voller Liebe. Und es war überhaupt kein Wunder, dass sie von ihm träumte.

*

Zum Abschied von Jörg hatten sich alle versammelt, sogar Luna war außer Rand und Band, und das kam nicht von ungefähr. Jörg war mit ihr ständig unterwegs gewesen, und dabei war auch so manches Leckerli abgefallen.

Pamela hatte heute schulfrei, die Lehrer hatten Zeugniskonferenz. Unbeobachtet von den übrigen Familienmitgliedern war sie aus dem Haus geschlüpft. Sie wollte ihren großen Bruder allein verabschieden.

Sie wartete vor der Haustür, bis Jörg herauskam. Er würde mit einem Mietwagen zum Flughafen fahren, er wollte nicht, dass jemand ihn brachte. Das wünschte man sich vielleicht, wenn man in den Urlaub flog oder aus dem Urlaub kam, ganz gewiss nicht, wenn man ständig weltweit unterwegs war. Da organisierte man sich selbst.

»Hier bist du, kleine Schwester«, rief er erfreut, »ich hatte schon Angst, dich vor meinem Abflug nicht mehr zu sehen.«

»Ich möchte dir zum Schluss auf Wiedersehen sagen«, rief sie, und das belustigte ihn. Das war etwas, was er an Pamela bereits kannte.

Er nahm sie in seine Arme.

»Du hast es geschafft. Dann mach’s mal gut, und pass auf dich auf. Und wenn du dein Zeugnis bekommen hast, dann möchte ich gern die Noten erfahren. Versprochen?«

Sie nickte. Das mit dem Zeugnis interessierte sie derzeit nicht so sehr. Sie wusste ja bereits, dass es gut ausfallen würde. Sie wollte etwas anderes wissen.

»Und Jörg, verträgst du dich wieder mit Charlotte?«, wollte sie wissen. »Ich finde sie so nett, und ihr passt so gut zusammen.«

Er strich ihr über die braunen Locken.

»Ich will alles versuchen«, versprach er, »und wenn es nicht klappt, dann kann ich ihr ja noch sagen, dass es ein Herzenswunsch von dir ist, dass wir wieder ein Paar werden. Das kann ich doch, oder?«

Pamela blickte ihren großen Bruder ein wenig verunsichert an. Veräppelte Jörg sie jetzt?

»Pamela, ich meine es ernst, Charlotte findet dich nämlich zufällig auch sehr, sehr sympathisch. Und sie hat mich sogar immer gedrängt, dich einzuladen. Das kann ich jetzt tun, ob mit oder ohne Charlotte. Die Ferien fangen ja in den nächsten Tagen an, und außer einer kurzen Reise mit den Großeltern ist bei euch nichts geplant. Wie wäre es mit einem Abstecher nach Schweden? Ich würde mich wirklich sehr freuen.«

Pamela überlegte kurz. Das klang schon verlockend, zumal es ohne Maren ziemlich öde werden würde.

»Wenn du dich mit Charlotte versöhnst, dann komme ich«, versprach sie.

»Hand drauf«, nagelte Jörg seine kleine Schwester sofort fest, weil es ihn nämlich wirklich freuen würde, sie bei sich zu haben. Und er war sich sicher, dass Schweden ihr gefallen würde.

Pamela gab ihm die Hand, und dann hatten sie nicht mehr viel Zeit miteinander. Die Familie hatte ihn bereits aufgehalten, und jetzt musste er sich sputen, zum Flughafen zu kommen. Der Mietwagen musste abgegeben werden, und er wollte seinen Flieger unbedingt bekommen. Es drängte ihn, zu Charlotte zu kommen, und er musste beten, dass diese großartige Frau sich wieder auf ihn einlassen würde.

Jörg umarmte Pamela, erinnerte sie an ihr Versprechen und sagte: »Also dann, bis bald«, ehe er zu seinem Auto eilte und schnell davonfuhr.

Pamela machten Abschiede traurig, und auch wenn das jetzt ja kein Abschied für immer war, wollte sie nicht zurück zur Familie, die eh alle nur über Jörg und Charlotte sprechen würden.

Es stand ihr noch ein anderer Abschied bevor, und da wusste sie nicht, ob das einer für immer sein würde oder ob sie nicht doch einmal zu den Bredenbrocks nach San Francisco fliegen würde.

Maren und Tim hatten ihre Zeugnisse bereits erhalten, sie waren für die letzte kurze Zeit vom Schulunterricht befreit, auch Dr. Bredenbrock musste nicht mehr ins Gymnasium. Er hatte mit dem Umzug viel zu tun, denn es lastete alles auf ihm.

Es zog Pamela beinahe automatisch zu dem Haus, das ihrer großen Schwester Ricky und ihrem Schwager Fabian gehörte und das die an die Bredenbrocks vermietet hatten.

Das hatte jetzt allerdings ein Ende, denn Rosmarie und Heinz Rückert, Fabians Eltern, würden das Haus übernehmen. Pamela hatte keine Ahnung, ob sie es mieten oder kaufen würden. Das interessierte sie auch nicht. Die Rückerts gehörten mit zur Familie, aber sie hatte nicht viel mit ihnen zu tun, obschon sie ganz nett waren, besonders Rosmarie.

Es interessierte sie, ob Maren jetzt daheim war, denn mit ihrer Freundin wollte sie viel, viel Zeit verbringen.

Als sie ankam, verließ Dr. Bredenbrock gerade das Haus.

»Hallo, Pamela, da wird Maren sich aber freuen«, rief er, er mochte die kleine Auerbach sehr, die ganzen Auerbachs waren nett. »Sie ist nämlich allein, Tim macht mit Angela von Bergen einen Ausflug.«

Pamela mochte Tim gern, er war ein netter Junge. Aber Maren allein anzutreffen war natürlich besser. Die Freundinnen hatten sich viel zu sagen, besonders jetzt, und da konnte ein jüngerer Bruder störend sein.

Sie bedankte sich bei Peter, der zu seinem Auto ging und davonfuhr, Pamela rannte zur Haustür und läutete Sturm.

Ein wenig ungehalten öffnete Maren, doch als sie ihre Freundin bemerkte, begann sie zu strahlen, fiel Pamela um den Hals.

»Das ist Gedankenübertragung, ich habe gerade überlegt, ob dein Bruder schon weg ist und wir uns treffen können, und da stehst du da. Komm rein.«

Gemeinsam gingen sie in das Haus, in dem es überall nach Aufbruch aussah. Alles war verpackt, verkauft, verschenkt, was die Bredenbrocks nicht mit in ihr neues Leben nehmen wollten. Den Rest würde der Spediteur nach dem Abflug von Peter, Maren und Tim in einen Container packen.

Pamela kannte es ja schon, doch es ging ihr jedes Mal erneut an die Nieren, wenn sie das hier sah.

Pamela blickte ihre Freundin an.

»Maren, lass uns zu uns gehen, oder wir können auch eine Fahrradtour machen. Ich finde das hier alles ganz schrecklich, weil es mir so bewusst macht, dass wir keine Zeit mehr miteinander haben.«

Maren nickte.

»Ich finde es auch schlimm, und am liebsten würde ich dich mitnehmen. Ich konnte dich am Anfang ja nicht leiden und hielt dich für eingebildet, aber das ist so anders geworden, ehrlich, Pamela, eine Freundin wie dich hatte ich noch nie. Ich habe mich noch nie mit jemandem so gut verstanden wie mit dir. Es bricht mir wirklich beinahe das Herz, wenn ich daran denke, dass es nur noch Tage sind, ein paar Tage, die in Windeseile vergehen werden.«

Pamela umarmte Maren.

»Ich mag einfach nicht daran denken. Und was das eingebildet betrifft, da dachte ich so über dich, du kamst aus der Großstadt, wirktest so herablassend, ich mochte dich und Tim erst ebenfalls nicht. Ihr wart so unglaublich cool.«

Maren seufzte.

»Ach, das waren wir doch überhaupt nicht. Wir waren einfach nur verunsichert, weil man uns in ein Leben gestoßen hatte, was wir nicht wollten. Tim und ich waren auch aufsässig, wir fanden den Sonnenwinkel öde.«

»Maren, ich weiß ja inzwischen, was ihr hinter euch habt, und ich finde wirklich sehr großartig, wie ihr damit umgegangen seid. Wenn ich denke, dass meine Mama …«, sie brach ihren Satz ab. »Meine Omi sagt immer, dass man die Vergangenheit ruhen lassen soll. Wir sprechen am besten deswegen auch nicht mehr darüber. Es ist eh vorbei. Aber den Sonnenwinkel …, in dem seid i hr nicht so richtig angekommen, nicht wahr?«

Maren wollte ihrer Freundin nichts vormachen, auch wenn der ihre Antwort jetzt nicht gefallen würde.

»Nein, man lebt hier nicht schlecht. Doch freiwillig würde ich niemals herziehen, auch nicht deinetwegen. Da würde ich lieber lange Fahrten auf mich nehmen, um dich zu besuchen.«

Pamela war nicht böse.

»Für mich ist es ein Paradies, und das wird es auch immer bleiben. Unser Sonnenwinkel ist der schönste Platz auf der ganzen Welt.«

Maren holte aus einer Schublade des Küchenschrankes, der ja zum Haus gehörte und bleiben würde, ein paar Schokoriegel, die sie redlich mit ihrer Freundin teilte.

»So was geht immer«, sagte sie, »komm, lass uns direkt einen essen.«

Pamela sah sich entsetzt um.

»Ich liebe Schokoriegel, doch ehrlich mal, Maren, sollen wir die wirklich hier essen? In diesem Chaos?«

»Stimmt, das ist wirklich keine gute Idee, dann lass uns noch mal mit dem Fahrrad um den See fahren. Ich fürchte, es wird eh das letzte Mal sein. Und dann vergiss bitte nicht, dir mein Fahrrad abzuholen. Es ist so gut wie neu, Papa hat es mir gekauft, als wir hier ankamen.«

»Und es ist supercool«, bestätigte Pamela. »Maren, ich habe schon ein richtig schlechtes Gewissen. Du hast mir so viel geschenkt. Eigentlich dürfte ich jetzt nichts mehr annehmen.«

»Pamela, das Fahrrad bleibt so oder so hier. Soll ich es auf die Straße stellen, damit irgendein Fremder es sich mitnimmt?«

Natürlich wollte Pamela das auch nicht, sie umarmte Maren, bedankte sich, dann verließen die beiden Mädchen das Haus.

Ehe sie sich auf die Fahrräder schwangen, Pamela durfte direkt Marens Rad ausprobieren, schnappte die sich das von Tim, das irgendwann ein Freund abholen würde, aßen sie erst einmal einen Schokoriegel. Ein wenig Stärkung konnte nicht schaden.

*

Teresa von Roth zog durch, wenn sie sich zu etwas entschlossen hatte.

Und sie gab vor Erreichen ihres Zieles nicht auf.

Leider musste sie wieder einmal feststellen, dass einem Grenzen gesetzt waren und man nicht direkt alles schaffen konnte. Zumal nicht, wenn man nicht sehr viel über das Objekt seiner Begierde wusste.

Sie hatte sich zwar mit ihrem Schwiegersohn darüber unterhalten, und Werner hatte auch versprochen, sich zu kümmern.

Doch Teresa hätte darauf wetten können, dass Werner es wieder vergessen hatte.

Es lag also allein bei ihr, wenn sie wollte, dass ihr Plan aufging. Und weil es so viele Widerstände gab, wurde sie nur noch verbissener.

Sie musste Berthold von Ahnefeld finden!

Kein Mensch ging in einer zivilisierten Welt einfach verloren!

Wenn sie wenigstens noch ein paar Verbündete hätte, die ihr bei der Suche helfen könnten. Die hatte sie leider nicht, musste es in einem Alleingang stemmen. Nur Sophia wusste von ihrem Plan. Und es hatte sie einige Überredungskünste gekostet, sie davon zu überzeugen. Teresa konnte noch immer nicht verstehen, warum Sophia so zögerlich war. Auf der einen Seite jammerte sie herum, dass ihre Angela allein durchs Leben gehen musste. Sophia wünschte ihrer einzigen Tochter ein neues, vor allem ein richtiges Lebensglück, nachdem Angelas Ehe mit diesem grässlichen Wim Halbach gegen die Wand gefahren war.

Was dachte Sophia eigentlich? Dass die Männer vom Himmel purzelten? Gut, ihr Enkel Jörg hatte eine passable Partnerin im Internet gefunden, mit der er sich hoffentlich wieder versöhnen würde. Doch das war nicht ihr Ding, und Angela würde sich ebenfalls nicht dafür hergeben.

Berthold von Ahnefeld!

Der wäre der richtige Partner für Angela, und Teresa war überzeugt davon, dass dieser einfühlsamen Frau es auch gelingen würde, Berthold wieder ins Leben zurückzuführen. So etwas konnte nicht jeder. Es war ja auch ein schweres Paket, das einer allein nicht tragen konnte. Teresa mochte es sich überhaupt nicht vorstellen, wie Berthold zumute sein musste. Auf einen Schlag die gesamte Familie zu verlieren, Frau und Kinder, mitten aus dem Leben. Und wenn man dann auch noch bedachte, dass es nicht mehr als ein dummer Zufall war, dass es ihn nicht ebenfalls erwischt hatte.

Es war grausam!

Schön, Teresa hatte im Hinterkopf, Berthold und Angela miteinander zu verkuppeln. Aber sie suchte ihn auch, um ihm zu helfen, aus dem Loch herauszukommen. Und der Sonnenwinkel, die wunderschöne Villa ihrer Kinder, wäre der richtige Ort, um die Wunden zu lecken.

Magnus hatte sich Luna geholt, um mit ihr um den See zu laufen. Ehrlich gesagt, Teresa wäre gern mitgegangen. Aber es ging nicht. Sie musste jede Sekunde für ihre Suche nutzen. Sie konnte nicht riskieren, dass Magnus hereingeplatzt kam. Und natürlich würde er sich sofort dafür interessieren, womit sie sich gerade beschäftigte. Das war nicht einmal neugierig. Sie und Magnus hatten nicht das kleinste Geheimnis voreinander. Dass sie das jetzt an ihm vorbei machte, bereitete ihr schon ein wenig ein schlechtes Gewissen. Aber sie hinterging ihn ja nicht, sie wollte etwas Gutes tun. Dagegen hatte Magnus ebenfalls nichts, doch sich in das Leben anderer Menschen einzumischen, zu versuchen, so etwas wie Schicksal zu spielen, das widerstrebte ihm. Dagegen hätte er ganz entschieden etwas.

Ihre anfängliche Euphorie war längst einer leisen Hoffnungslosigkeit gewichen, und ohne eine Erwartung zu haben, setzte sie sich an ihren Computer.

Sie klickte in allen möglichen Foren herum. Eigentlich war es eher ein Zufall, dass sie Gesellschaftsklatsch anklickte. Berthold war abgetaucht, es war also unvorstellbar, dass er auf irgendeinem Event das Tanzbein schwang.

Teresa überflog flüchtig die Spalten, wollte schon weiterklicken, als ihr der Atem stockte.

Es war kaum zu glauben, aber wahr!

Es gab tatsächlich etwas über Berthold von Ahnefeld zu lesen. Natürlich wurde erst einmal in aller Ausführlichkeit über den schrecklichen Unfall berichtet. Das sorgte für Schlagzeilen, erweckte das Interesse der Sensationslustigen, brachte mehr Klicks. Worauf es wirklich ankam, das wurde nur ganz nebenbei erwähnt. Berthold sollte für seine unermüdliche Spendenbereitschaft ausgezeichnet werden, die immer da gewesen war, die nach dem Tod seiner Familie noch zugenommen hatte. Es war ein internationaler Preis, dem er sich nicht entziehen konnte.

Sie hatte ihn gefunden.

Teresa bekam hektische rote Flecke im Gesicht, sie sprang auf. Jetzt musste sie Werner nur noch bewegen, zu der Preisverleihung zu fahren und dann Berthold am besten direkt mitzubringen.

Was für ein Zufall!

Sie hatte keine Ahnung, wieso sie das angeklickt hatte, freiwillig wäre das wirklich nicht geschehen. Es hatte so sein sollen.

Welch ein Glück, dass sie und ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und jetzt leider nur noch Pamela so dicht beieinander wohnten. Das hatte unglaubliche Vorteile, und es war einfach ein Segen, für sich zu sein und doch dicht beieinander. Dafür waren Magnus und sie unendlich dankbar, weil das ja überhaupt keine Selbstverständlichkeit war. Wenn sie sich in Hohenborn war, ging sie auch immer in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden. Das ließ sie sich nicht nehmen, und wenn das jetzt mit Berthold wirklich klappen sollte, was ihr Herzenswusch war aus mehreren Gründen, dann käme es ihr auf eine weitere Kerze wirklich nicht an.

Teresa von Roth war entschlussfreudig, nicht unbedacht. Jetzt war sie es. Sie stolperte einfach los, in Hausschuhen und ohne wenigstens eine Strickjacke überzuziehen, weil es draußen heute ziemlich kühl war.

So kopflos, den Hausschlüssel von der Villa der Auerbachs mitzunehmen, das war sie allerdings nicht. Und so stand sie wenig später ein wenig atemlos in der geräumigen Diele, und da ihre Tochter Inge Ohren wie eine kleine Maus zu haben schien, stand die dann auch direkt vor ihr.

»Mama, was ist los? Du bist ja ganz aufgeregt.«

Teresa gab ihrer Tochter keine Antwort, sondern erkundigte sich: »Ist Werner daheim?«

So ganz verstand Inge die Frage ihrer Mutter nicht, denn Werners Auto stand vor der Tür, außerdem hatte er, als sie gemeinsam zusammen am Tisch gesessen hatten, lauthals verkündet, dass er sich in den nächsten Tagen mit seinem Manuskript beschäftigen müsse, um keinen Ärger mit seinem Verlag zu bekommen.

»Ja, Mama, aber er arbeitet.«

Teresa wusste, dass Werner nie gestört werden wollte, wenn er sich in seinem Allerheiligsten befand, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie drehte sich kommentarlos um, rannte zu Werners Arbeitszimmer, drückte die Türklinke hinunter und ging, trotz der Proteste ihrer Tochter, hinein.

Erstaunt und ein wenig unwillig blickte Werner von seiner Arbeit hoch.

»Teresa, du kommst ungelegen. Hat Inge dir nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte?«

»Ja, Werner hat sie, und es tut mir unglaublich leid, dass ich dich dennoch störe. Ich würde es ganz gewiss nicht tun, wenn es nicht so wichtig wäre. Ich habe Berthold von Ahnefeld ausfindig gemacht.«

Werner blickte seine Schwiegermutter fragend an.

»Na und?«

Er hatte es vergessen, sie hatte richtig vermutet.

»Werner, wir sind überein gekommen, dass du dich um diesen armen Mann kümmern, ihn in den Sonnenwinkel einladen möchtest, um ihn von seinem großen Leid abzulenken. Und ich hatte dir versprochen, dir bei der Suche zu helfen. Um dir einen Gefallen zu tun, habe ich alles hintenan gestellt, habe unermüdlich gesucht.«

Dass sie es in erster Linie im eigenen Interesse getan hatte, das musste er ja nicht wissen, und das würde sie ihm auch ganz gewiss nicht auf die Nase binden.

Ihre Worte zeigten Wirkung, Werner bekam sogar ein schlechtes Gewissen.

»Tut mir leid, Teresa, ich hatte es vergessen. Welch ein Glück, dass du drangeblieben bist. Auf dich ist halt Verlass. Und? Du hast ihn ausfindig gemacht?«

Teresa erzählte ihm, was sie ausfindig gemacht hatte, und sie fragte Werner zum Schluss nicht, sondern sie stellte es einfach in den Raum. »Natürlich musst du zu dieser Preisverleihung fahren, und dann bringst du Berthold am besten direkt mit. Wenn man einem am Boden liegenden Menschen helfen kann, dann muss alles andere zurückstehen. Ich bin ja so froh, dass du mir da gewiss zustimmen und es ebenfalls so sehen wirst.«

Werner hatte es anders gesehen, hatte das Treffen mit Berthold auf die lange Bank geschoben, weil er anderweitig beschäftigt war. Das kam jetzt natürlich nicht infrage. Wie würde er denn vor seiner Schwiegermutter dastehen? Vor allem ging es auch überhaupt nicht, nachdem sie sich so sehr bemüht hatte.

Teresa merkte, dass sie Werner ein wenig auf ihre Seite gezogen hatte, in trockenen Tüchern war längst alles noch nicht.

»Werner, ich nehme dir gern alles ab, ich reserviere einen Flug, ein Hotel, sorge dafür, dass du Zutritt zu dem Ort bekommst, an dem die Verleihung stattfindet. Ich kann mich ja als deine Sekretärin ausgeben, und du als der berühmte Professor Auerbach bist eh eine Bereicherung für alles. Bitte, sieh in deinem Terminkalender nach, wie es um deine Zeit bestellt ist.« Sie nannte ihm das genaue Datum, das sich ihr direkt beim ersten Lesen eingeprägt hatte.

Sie überrannte Werner, das war ihr klar. Doch manchmal wurden Schlachten nur auf diese Weise geschlagen.

Wenig später hatte sie seine Zusage, sie ging um seinen Schreibtisch herum, umarmte ihren Schwiegersohn, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

»Werner, du bist ein großartiger Freund, irgendwann wird Berthold es dir danken, wenn sein Leben wieder in ruhigeren Gewässern verläuft. Bitte, wende dich wieder deiner Arbeit zu, ich kümmere mich um alles.«

Nach diesen Worten verließ sie das Arbeitszimmer. Inge wartete noch immer in der Diele auf ihre Mutter.

»Und? War Werner ungehalten?«, erkundigte sie sich besorgt, doch als sie in das Gesicht ihrer Mutter blickte, musste sie verwundert feststellen, dass sie darauf ein leichtes Triumphgefühl feststellen konnte. Jetzt verstand sie überhaupt nichts mehr.

Der neue Sonnenwinkel 37 – Familienroman

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