Читать книгу Der neue Sonnenwinkel 78 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 3

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Fabian …

Rosmarie hätte wirklich mit allem gerechnet, aber gewiss nicht damit, ihren Sohn in ihrem Wohnzimmer vorzufinden. Sie schaute ihn an, sein ernstes Gesicht, und schon begann sich in ihrem Kopf ein Gedankenkarussell zu drehen. Fabian zu dieser Uhrzeit im Sonnenwinkel? Er müsste doch eigentlich in seinem Gymnasium sein, um dort alles im Griff zu haben und um die Schülerinnen und Schüler der Abi-Klassen zu unterrichten. Es gab nur eine Erklärung, es musste etwas passiert sein!

Sie begrüßte ihren Sohn nicht einmal, sondern erkundigte sich ganz angstvoll: »Ist etwas mit Ricky? Ist mit einem der Kinder etwas passiert?« Es war eine berechtigte Frage angesichts der Kinderschar, da gab es ja immer mal wieder kleinere und größere Katastrophen. Aber deswegen würde er doch nicht persönlich herkommen, nur um ihr zu berichten, dass eines der Kinder sich ein Knie aufgeschlagen hatte oder etwas in dieser Art. Außerdem übernahmen das meist die Frauen, Männer hielten sich in diesen Sachen eher zurück.

»Mama, guten Tag erst einmal, schön, dich zu sehen«, sagte Fabian mit einem leicht ironischen Unterton in seiner Stimme, und Rosmarie wiederholte, noch immer ein wenig abwesend und von ihren Gedanken gequält: »Guten Tag, Fabian. Ja, schön, dich zu sehen.«

Er lächelte, und das erleichterte Rosmarie ein wenig, weil es dann doch wohl nicht ganz so schlimm sein konnte. Sonst hätte er ja nicht gelächelt.

»So, Mama, und nun setz dich erst einmal hin.« Er sagte es und führte sie zu einem Sessel gegenüber, drückte sie beinahe hinein, und nachdem das geschehen war, setzte er sich auch wieder hin.

Rosmarie war augenblicklich wirklich ein wenig durch den Wind, denn die nächste Frage, die sie stellte, lautete: »Wo ist Meta? Warum hat sie dir noch nichts zu trinken gebracht, Fabian?«

Er zuckte die Achseln.

»Ich habe Meta noch nicht gesehen, tut mir leid. Ich kann dir auch nicht sagen, wo sie sich befindet.«

»Und wie bist du überhaupt ins Haus gelangt?« Auch diese Frage war berechtigt, denn Fabian besaß keinen Schlüssel für das Haus seiner Eltern, und wie ein Geist durch geschlossene Türen gehen konnte er ebenfalls nicht.

»Mama, so beruhige dich doch erst einmal. Gerade als ich ankam, wollte eine Frau das Haus verlassen, und ich bat sie, mich hineinzulassen. Doch ehe du dich aufregst, ich habe ihr gesagt, wer ich bin. Und weil sie mir das nicht sofort glauben wollte, habe ich ihr sogar meinen Ausweis gezeigt.«

Rosmarie wusste sofort Bescheid.

»Das war Frau Bredelow, unsere Reinigungskraft, und Meta wird vermutlich mit den Hunden unterwegs sein. Sie nimmt meist Reißaus, wenn Frau Bredelow kommt.«

Fabian war ein wenig genervt, und das sah man ihm auch an. Seine Zeit war begrenzt, und er wollte sich jetzt wirklich nicht mit solchen Nebensächlichkeiten aufhalten.

»Mama, können wir endlich zum Kern der Sache kommen? Bitte, lenk nicht weiter ab, und frag mich jetzt auch nicht, ob ich etwas trinken möchte. Nein, jetzt nicht, vielleicht später, ehe ich wieder nach Hause fahre. Meine Zeit ist bemessen, und ich kann auch nur hier sein, weil ich mit einer Kollegin Stunden in der Schule tauschen konnte.«

»Entschuldige, Fabian«, Rosmaries Stimme klang zerknirscht, sie spürte den dumpfen Schlag ihres Herzens, so aufgeregt war sie. Wenn Fabian sich die Mühe gemacht hatte, in den Sonnenwinkel zu kommen, dann ging es um mehr als nur um einen Husten oder um ein aufgeschlagenes Knie eines seiner Kinder. Und wäre etwas mit Ricky, dann wäre er ganz gewiss nicht hier, um es ihr zu erzählen, sondern er würde keinen Schritt von der Frau, die seine große, seine einzige Liebe war, weichen.

Schon wieder überfielen ihre Gedanken sie, sie nahm nicht einmal voller Mutterstolz wahr, wie gut ihr Fabian wieder aussah in seiner grauen Jeans, seinem grauen Pullover.

»So, Mama, bist du jetzt bereit, mir zuzuhören?« erkundigte er sich, und Rosmarie konnte vor lauter Aufregung nur nicken.

Gleich …

Fabian lehnte sich in seinem Sessel zurück, und dann sagte er etwas, was einem Donnerschlag glich.

»Mama, Stella möchte mit den Kindern wieder nach Deutschland kommen.«

Was hatte er da eben gesagt?

Er hatte etwas über Stella erzählt?

»Fabian, ich, du …«

Rosmarie war so durch den Wind, dass sie einfach nicht in der Lage war, einen vernünftigen Satz auszusprechen.

Stella!

Ihre Tochter, von der sie seit gefühlten Ewigkeiten nichts mehr gehört hatten, niemand, Stella, die mit den Kindern irgendwo in Australien verschollen war.

Rosmarie war jetzt so sehr durch den Wind, dass er es nicht länger mit ansehen konnte. Er erhob sich, ging zu seiner Mutter, setzte sich auf die Kante des Sessels, in dem sie saß, umfasste ihre Schulter und sagte: »Ganz ruhig, Mama, hör mir bitte jetzt einfach mal zu, und dann reden wir über alles, ja?« Das Einzige, was Rosmarie hervorbrachte, war ein Nicken. Fabian erhob sich wieder, ging, nachdem er seiner Mutter noch übers Haar gestrichen hatte, zu seinem Sessel zurück.

»Bist du bereit, mir jetzt zuzuhören, Mama?«

Wieder erfolgte nur ein Nicken.

»Okay, Mama.«

Was dann erfolgte, war unglaublich, Fabian erzählte seiner Mutter, dass Stella sich bei ihm nach einer sehr langen Zeit des Schweigens gemeldet hatte, zuerst bloß, um mit ihm zu reden. Und irgendwann nach vielen langen Gesprächen kam es heraus, dass sie mit den Kindern wieder nach Deutschland kommen wollte.

Sie sollte zwar ruhig sein, ihm zuhören. Doch so einfach war das nicht.

»Und wann wird sie kommen?«, erkundigte Rosmarie sich so aufgeregt, dass ihre Stimme sich beinahe überschlug.

»Es sind noch einige Dinge zu regeln, eines der Kinder muss das Schuljahr beenden, das wird in Kürze der Fall sein, und dann wird Stella ihre Zelte in Aus­tralien für immer abbrechen und zurückkommen. Sie werden zuerst bei uns wohnen, das war Rickys Vorschlag, damit Stella ohne Druck eine Entscheidung für die Zukunft treffen kann.«

Rosmarie war hin und weg.

Was für eine wundervolle Neuigkeit. Stella und die Kinder würden zurückkommen. Der liebe Gott hatte ihre Gebete erhört.

Ein Gedanke durchzuckte sie.

Es war ganz wunderbar, was sie da gerade von Fabian gehört hatte, doch änderte sich etwas für sie und Heinz? Würde Stella wieder mit ihnen reden? Oder würde sie weiterhin schweigen und ihnen weiterhin die Kinder entziehen?

Sie hatte viele Fragen, doch sie traute sich nicht, die jetzt zu stellen. Sie wollte Fabian nicht verärgern. Sie schaute ihren Sohn nur an. Um Fabians Mundwinkel glitt ein kleines Lächeln. Er ahnte, was seine Mutter augenblicklich bewegte.

»Mama, Stella möchte so gern auch wieder Kontakt zu dir und Papa aufnehmen. Sie hat nur Angst, dass die Tür zu euch für sie für immer verschlossen bleibt, weil sie sich unmöglich benommen hat. Stella hat ein schlechtes Gewissen.«

»Fabian, wenn du wieder mit ihr redest, sag ihr, dass das törichte Gedanken sind, wir lieben Stella, und wir werden sie mit offenen Armen empfangen. Da kann ich auch für euren Vater sprechen, der vermisst Stella und die Kinder ebenso wie ich, er spricht nur nicht darüber.«

»Mama, das habe ich Stella schon gesagt. Und ich habe ihr auch erzählt, was ihr durchgemacht habt in der ganzen Zeit ihres Schweigens. Stella hat wirklich ein sehr schlechtes Gewissen, und sie hofft sehr darauf, dass ihr ihr verzeihen könnt.«

Rosmarie konnte nur nicken, weil sie emotional einfach zu bewegt war. Noch konnte sie es kaum glauben, was sie da gerade von Fabian erfahren hatte. Doch er war keiner, der einfach nur so daherredete.

»Fabian …, und hast du herausfinden können, warum sie sogar zu Ricky und dir den Kontakt abgebrochen hatte? Über uns will ich ja überhaupt nicht sprechen, weil unser Verhältnis zu Stella leider nicht besonders innig war. Aber du und Stella, ihr wart doch ein Herz und eine Seele, hingt als Kinder wie die Kletten aneinander.«

»Mama, Stella kann sich jetzt selbst nicht mehr verstehen. Sie befand sich in einer Art Sinneskrise, wollte herausfinden, wer sie eigentlich ist.«

Rosmarie sah ihren Sohn an, als habe er gerade in einer ihr völlig fremden Sprache zu ihr gesprochen.

»Mama, Stella hatte sich in Jörg verguckt, seit sie ihn zum ersten Male gesehen hatte. Und ihr ganzes Streben lag damals darin, ihn zu bekommen. Wir wissen, dass es eine ganze Weile gedauert hat, bis ihr Ziel endlich erreicht war. Sie hat das Glück von Ricky und mir gesehen, und so etwas wollte sie auch haben.«

Es war schwer für Rosmarie, diese Worte richtig einzuordnen. Doch sie versuchte es.

»Fabian, korrigier mich bitte, wenn ich es falsch verstanden habe, was du da gerade gesagt hast. Das mit Ricky und dir, das war Liebe auf den ersten Blick. Ihr habt euch ineinander verliebt, ohne etwas voneinander zu wissen. Jörg ist der Bruder von Ricky, doch ich kann mich nicht erinnern, bei Stella ein Interesse an ihm bemerkt zu haben. Hat sie ihn nur genommen, oder besser gesagt, ihn dahingebracht, sie zu nehmen, weil sie auch jemanden von den Auerbachs haben wollte?«

»Mama, bitte zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Es ist auch so müßig, die Vergangenheit hervorzuholen, wie, was, warum es so und nicht anders war. Gewiss hat sie Jörg geliebt oder zumindest bewundert. Und sie hatte ja auch ein großartiges Leben an seiner Seite, Jörg ist ein kluger, herzensguter Mann, dem seine Familie sehr am Herzen lag, bis Stella sie zerstört hat. Das ist leider so. Er hat Karriere gemacht, sie war Hausfrau, auch wenn es eine war, die Personal hatte, sich alles leisten konnte. Jörg machte Karriere, und Stella bekam, so sagte sie zumindest, Minderwertigkeitsgefühle, weil sie zwar Abitur gemacht, aber keinen Beruf gelernt hatte.«

»Fabian, das hat Ricky auch nicht, weil sie sich dafür entschieden hat, Ehefrau und Mutter zu sein. Und das ist sie mit Begeisterung, und das nimmt sie so ernst, dass sie sogar das begonnene Studium schweren Herzens wieder aufgegeben hat, weil sonst die Kinder darunter gelitten hätten. Müssen wir jetzt Angst haben, dass auch Ricky irgendwann auf die Idee kommt, sich verwirklichen zu müssen und dass sie sich die Kinder schnappt und verschwindet?«

Rosmarie hatte es ernst gemeint, doch Fabian begann bei einer derartigen Vorstellung lauthals zu lachen.

»Mama, das wird nie im Leben geschehen, Ricky und ich, unsere Kinder, das ist das größte Glück auf Erden, und das würde niemand von uns zerstören. Dafür bürge ich.« Er wurde wieder ganz ernst. »Außerdem kannst du Ricky und Stella nicht miteinander vergleichen. Sie haben sich zwar gut verstanden, doch das lag in erster Linie an Ricky, weil sie ein so besonderer Mensch ist. Stella hatte schon immer ihre Eigenheiten. Doch Schluss damit, das müssen wir jetzt nicht zerreden. Ich bin gekommen, um dir die wundervolle Neuigkeit mitzuteilen, dass Stella zurückkommen möchte, und das wollen wir gebührend würdigen. Freust du dich, Mama?«

Jetzt konnte Rosmarie nicht anders, sie musste weinen. Es war alles einfach nur schwer zu verkraften.

Wieder wollte Fabian aufstehen, um seine Mutter tröstend in seine Arme zu nehmen, als von der Haustür her ein Getöse zu vernehmen war. Missie und Beauty bellten aufgeregt, sie spürten, dass Besuch da war, und dann kamen sie auch schon in den Raum gestürzt, begrüßten Rosmarie und Fabian, gebärdeten sich dabei wie wild. Auch wenn Fabian nicht so oft zu seinen Eltern kam, spürten die beiden Hundedamen, dass er Tiere liebte, schließlich hatte er früher sogar selber seine geliebten Collies gehabt, von denen er sogar einen Pamela geschenkt hatte, als die noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war.

Doch bei aller Liebe, als Beauty und Missie merkten, dass außer Streicheleinheiten für sie nichts zu holen war, verzogen sie sich beleidigt.

Meta betrat den Raum.

»Herr Dr. Rückert«, begrüßte sie Fabian freudig, bekam mit einem Blick mit, dass Mutter und Sohn beisammensaßen ohne ein Getränk. Das ging nun überhaupt nicht!

»Hat Ihnen denn niemand einen Kaffee angeboten?«, erkundigte sie sich beinahe entsetzt, um sofort fortzufahren: »Wenn Sie einen mögen, den werde ich Ihnen schnellstens servieren.«

»Es wäre großartig«, sagte Fabian lächelnd, der Meta gern mochte. »Und was halten Sie von einem Stück Mohnkuchen dazu?«, wollte Meta wissen. »Den habe ich gerade erst gebacken.«

»Meta, Sie wissen doch, wie gern ich Kuchen esse. Und Mohnkuchen, da kann ich nicht widerstehen.«

Es freute Meta, sie beeilte sich, in die Küche zu kommen, und Rosmarie stellte fest: »Ohne Meta wären wir völlig verloren. Stella mochte sie auch sehr. Was meinst du, Fabian, darf ich Meta erzählen, dass Stella zurückkommen wird?«

Fabian zögerte kurz.

»Ich denke schon, Mama, Meta gehört ja praktisch zur Familie, doch du solltest vorsichtshalber ein Vielleicht hinzufügen.«

Sofort wirkte Rosmarie irritiert und verunsichert.

»Du meinst, dass sie am Ende doch nicht zurückkommen wird, Fabian?«

Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, wie entsetzt sie war, und Fabian ärgerte sich schon über sich selbst. Hätte er das jetzt bloß nicht gesagt. Er versuchte sofort, die Wogen zu glätten.

»Mama, es ist Stellas feste Absicht, sonst wäre ich doch nicht hergekommen, um es dir zu erzählen. Auch wenn ich mit meiner Schwester sehr vertraut bin, würde ich die Hand für sie jetzt lieber nicht mehr ins Feuer legen. Sie war früher ziemlich wankelmütig, weil sie nie genau wusste, ob sie etwas wirklich wollte oder ob sie etwas nur deswegen wollte, weil alle es hatten. Inzwischen ist viel geschehen, wir haben uns aus den Augen verloren, ich weiß nicht, wie sie heute tickt.«

Rosmarie verstand, was Fabian damit andeuten wollte, und sie konnte es sich überlegen, ob sie Meta schon jetzt einweihen sollte, Heinz würde es auf jeden Fall erfahren. Und Rosmarie hoffte sehr, dass er sich ebenfalls von Herzen freuen würde oder ob er nicht mit Vorbehalten an alles herangehen wollte, weil er von Stella zutiefst enttäuscht war.

Sie musste sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, denn erstaunlich schnell kam Meta mit dem Kaffee und dem Kuchen zurück. Die Hunde hatte sie zum Glück in der Küche gelassen.

Fabian bedankte sich, und dann konnten Mutter und Sohn den Kaffee, insbesondere den köstlichen Mohnkuchen essen, den man heutzutage kaum noch bekam und den niemand so lecker backen konnte wie Meta. Nicht einmal Ricky, und die konnte ansonsten beinahe alles.

Und sie unterhielten sich, diesmal etwas entspannter, Rosmarie bedankte sich bei Fabian. »Dass du deswegen extra in den Sonnenwinkel gekommen bist, mein Junge, ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich dafür bei dir revanchieren kann.«

»Mama, freu dich einfach. Ich weiß doch, wie sehr du darunter gelitten hast, von Stella und den Kindern nichts mehr zu hören. Ich bin überzeugt davon, dass du jetzt ruhiger schlafen kannst. Und wir warten einfach ab. Ricky und ich haben ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass unser Haus auch ihr Haus ist und dass sie alle bleiben können, solange sie wollen.«

»Ricky ist ein wahrer Engel«, konnte Rosmarie sich nicht verkneifen zu sagen, und Fabian bestätigte lächelnd: »Mama, das denke ich manchmal auch … Sie und die Kinder sind mein ganzes Glück.«

Er trank noch einen Schluck seines Kaffees, aß aber nicht einmal seinen Kuchen auf. Er hatte es plötzlich sehr eilig, nachdem er auf seine Armbanduhr geschaut hatte.

»Mama, ich würde gern noch bleiben, doch ich muss dringend los. Komm uns doch bald mal besuchen, dann kannst du uns erzählen, wie es in Südtirol war, kannst uns Bilder zeigen. Erholt hast du dich auf jeden Fall fantastisch, das sieht man. Du siehst großartig aus.«

Rosmarie errötete bei diesem Kompliment wie ein ganz junges Mädchen. Solche Worte aus dem Munde ihres Sohnes, die waren überhaupt nicht selbstverständlich. Es hatte ganz andere Zeiten gegeben, an die sie lieber nicht mehr erinnert werden wollte.

»Willst du nichts von dem Kuchen mitnehmen?«, erkundigte sie sich schnell. »Ricky mag Mohnkuchen doch auch sehr gern.«

Ehe Fabian diese Frage beantworten konnte, betrat Meta den Raum, mit einer großen Kuchenbox in der Hand.

»Ich denke, die sollten Sie mitnehmen, Herr Dr. Rückert«, sagte sie. Seit er erwachsen war, hatte sie den Junior niemals mehr bei seinem Vornamen genannt. Das gehörte sich nicht, weil sie mit ihm ja nicht vertraut seit seiner Kinderzeit gewesen war.

»Meta, mit Ihnen kann man trefflich arbeiten. Das ist eine ganz großartige Idee, und ich nehme den Kuchen sehr gern mit. Vielleicht können wir ja den angebissenen Kuchen auf dem Teller auch noch mit dazulegen.«

»Mach dir keine Sorgen deswegen, Fabian«, rief Rosmarie, »den esse ich.«

Fabian bedankte sich noch einmal bei Meta, umarmte sie flüchtig, beteuerte, wie sehr Ricky sich freuen werde. Meta zog zufrieden und strahlend davon, und dann kam seine Mutter an die Reihe.

»Mama, versprich mir bitte, dass du dir jetzt nicht fortwährend Gedanken über Stella machst. Alles wird gut, ich weiß jetzt, wie und wo ich Stella erreichen kann. Wir sind in ständiger Verbindung, Stella ist mir und Ricky gegenüber wieder sehr offen. Ich denke, dass sie uns noch eine ganze Menge erzählen wird, und sobald ich etwas Wichtiges erfahre, informiere ich dich, versprochen.«

Er umarmte Rosmarie ganz fest, und sie flüsterte: »Danke, dass du gekommen bist, um mir das zu sagen. Am liebsten würde ich dich jetzt bitten, mich zu kneifen, damit ich mich davon überzeugen kann, nicht zu träumen … Stella kommt heim. Ich …, wir werden sie sehen und die Kinder, die müssen ja so groß geworden sein …, hoffentlich wissen sie überhaupt noch, wer wir sind.«

Er schob sie von sich weg, weil er jetzt wirklich gehen musste.

»Mama, das muss deine kleinste Sorge sein, mit Schokolade, einer anderen Süßigkeit bekommst du sie sofort auf deine Seite.«

Jetzt mussten sie beide lachen.

Rosmarie begleitete ihren Sohn noch bis zur Tür, und dort blieb sie stehen, bis Fabian mit seiner nicht mehr ganz taufrischen Familienkutsche davongefahren war. Er verdiente genug, sie könnten sich ohne Weiteres ein neues, modernes Auto kaufen, Heinz und sie würden ihnen von Herzen gern eines schenken. Doch das wollten Fabian und Ricky nicht. Für sie war ein Auto kein Statussymbol, sondern nichts weiter als ein Fortbewegungsmittel. Und solange ihr Auto noch fuhr, mussten sie sich keine Gedanken um ein neues machen. Das Geld konnten sie sinnvoller verwenden.

Fabian …

Stella würde kommen …

Auf einmal war ganz schön viel los in ihrem Leben. Wer hätte das gedacht. Rosmarie ging ins Haus zurück. Sie hätte zwar Lust gehabt, den Kuchen ganz gemütlich aufzuessen, auch den Rest des Stückes von Fabian, doch das ging jetzt nicht.

Inge musste die Neuigkeit erfahren, doch die war gewiss noch nicht daheim, und dann würde Pamela aus der Schule zurückkommen, und da war eh keine Zeit mehr, über alles zu reden, den Urlaub, die Veränderung der Verhaltensweise ihres Mannes und natürlich besonders darüber, dass Stella mit den Kindern zurückkommen würde. Inge würde außer sich vor Freude sein, schließlich waren es auch ihre Enkel. Und Stella, na ja, einen Freudentanz würde sie wegen ihrer Ex-Schwiegertochter vermutlich nicht gerade aufführen. Aber Inge war kein nachtragender Mensch, sie würde sich über Stella gewiss nicht negativ äußern, sie würde versuchen, allein schon wegen der Kinder, das Beste aus allem zu machen. Jörg hatte sich ja mit seiner zweiten Ehefrau, wenn man so wollte, verbessert. Diese Handchirurgin passte viel besser zu ihm als Stella, und er war glücklich mit ihr. Auch für Jörg würde es eine große Freude sein. Die Kinder würden zwar nicht bei ihm leben, weil Rosmarie davon überzeugt war, dass Stella sich ohne Grund niemals von ihnen trennen würde. Auch wenn sie in ihrem Leben einiges falsch gemacht hatte. Eines konnte man ihr immerhin nicht vorwerfen. Ihre Kinder standen bei ihr immer an erster Stelle, sie war eine großartige Mutter. Aber Jörg konnte sie sehen. Von Stockholm nach Deutschland zu fliegen, das war nicht die Welt. Aber für ein Wochenende jettete man nicht mal kurz nach Australien, das ging nicht. Außerdem hatte Stella ja niemandem gesagt, wo sie und die Kinder sich überhaupt aufhielten.

Sie wollte nicht zurückdenken!

Stella würde kommen, und dann war die schlimme Zeit vorbei. Weg mit all den Gedanken, die zu nichts führten.

Sie rief Heinz an. Natürlich würde sie es ihm nicht am Telefon erzählen, schließlich hatte sie Stil und Gemüt. So wie Fabian es getan hatte, wollte sie ihm persönlich diese wundervolle Nachricht mitteilen.

Sie rief nicht auf der Büronummer an, weil sie keine Lust hatte, sich mit der Telefonistin lange zu unterhalten. Die war zwar nett, aber jetzt stand ihr wirklich nicht der Sinn nach Small-Talk. Rosmarie wählte die Handynummer ihres Mannes, und sie war sehr erstaunt, dass er sein Handy nicht abgestellt hatte und dass er sich auch sofort meldete.

»Heinz, mein Lieber, ich hoffe, ich störe dich nicht gerade bei einer wichtigen Arbeit. Ich muss dir unbedingt etwas erzählen, doch das möchte ich nicht am Telefon machen. Können wir uns irgendwo treffen? Ich komme dann zu dir nach Hohenborn, entweder in dein Büro, oder wir sehen uns anderswo. Schlag etwas vor, wenn du einverstanden bist.«

Dann geschah etwas ganz Außergewöhnliches!

Ohne zu zögern, ohne sich mit viel Arbeit, wichtigen Terminen herauszureden, erklärte Heinz sofort: »Rosmarie, mein Schatz, du brauchst nicht zu mir fahren. Ich komme nach Hause. Ich setze mich sofort ins Auto und fahre los.«

Was sollte sie dazu sagen? So etwas war noch niemals vorgekommen, seit sie miteinander verheiratet waren, und er hatte noch nicht einmal danach gefragt, weswegen sie mit ihm sprechen wollte.

Heinz war doch nicht etwa krank, oder?

Ein wenig verwirrt setzte sie sich wieder, sie vergaß, dass sie eigentlich ihren Kuchen essen wollte, sie trank ihren Kaffee nicht mehr. Das allerdings war auch nicht schade, denn der war mittlerweile kalt geworden. Und kalter Kaffee war nicht gerade ein Genuss. Sie dachte jetzt auch nicht mehr an Fabian, nicht an das, was er ihr erzählt hatte und was sie unbedingt an Heinz weitergeben wollte. An ihren Mann dachte sie voller Sorge.

Was war nur los mit ihm?

Da stimmte etwas nicht. Es hatte beinahe den Eindruck gemacht, als sei er froh gewesen, einen Grund zu haben, seine geliebte Kanzlei verlassen zu können.

Wie schade, dass sie jetzt nicht mit Inge darüber reden konnte, die würde vielleicht eine Erklärung für das irritierende Verhalten von Heinz parat haben.

Er war hoffentlich nicht krank, fühlte sich erschöpft. In diese Richtung durfte sie ihre Gedanken nun wirklich nicht laufen lassen. Heinz hatte sich im Urlaub hervorragend erholt, er war fit wie ein Turnschuh, und bei ihren Wanderungen war er ihr mehr als nur einmal davongelaufen, und vermutlich hätte sie von ihm nichts mehr gesehen, hätte sie ihn nicht rufend zurückgehalten.

Aber was war es dann?

Heinz kam doch nicht freiwillig einfach so nach Hause, bloß weil sie mit ihm sprechen wollte.

Rosmarie bekam nicht mit, wie Meta abräumte, sie beantwortete nicht deren Frage, weil sie die überhaupt nicht mitbekommen hatte.

Heinz …

Ihre Gedanken drehten sich ausschließlich um ihren Mann. Seit sie nicht mehr eine gut funktionierende Zweckgemeinschaft waren, sondern zwei Menschen, die ihre Liebe füreinander entdeckt hatten, wollte sie das Leben mit ihm noch recht lange genießen, ihn nicht verlieren.

Heinz musste förmlich geflogen sein, denn Rosmarie atmete erleichtert auf, als sie sein Auto hörte, und wenig später stand er vor ihr, nahm sie in seine Arme.

»Da bin ich, mein Herz.«

Sie spürte seine Nähe, sie fühlte sich wohl, warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Heinz sah erholt aus, die leichte Gesichtsbräune stand ihm gut. Er war auch dynamischer als sonst, sie konnte sich noch sehr gut an die Zeiten erinnern, in denen er schon nachmittags in seinem Sessel eingeschlafen war.

»Schön, dass du gekommen bist, Heinz, doch es hätte mir wirklich nichts ausgemacht, selbst zu dir zu kommen. Du warst lange weg, gewiss türmt sich die Arbeit auf deinem Schreibtisch.«

Hätte sie das jetzt bloß nicht gesagt, denn sein Gesicht verfinsterte sich augenblicklich.

»Nein, Rosmarie, Fehlanzeige. Mein Schreibtisch war blank, es ist ganz offensichtlich, dass man mich nicht mehr braucht. Sie kommen sehr gut ohne mich zurecht.«

Oh, das hörte sich jetzt gefährlich an.

Sie hatten sich mittlerweile gesetzt.

»Heinz, es ist bestimmt schön, nichts aufarbeiten zu müssen.«

Er winkte ab.

»Rosmarie, das ist es nicht allein. In gewisser Weise gebe ich dir ja sogar recht. Vor meinem Urlaub war Herr Hegenbach bei mir, du weißt schon, der Bildhauer, der den ›Seeblick‹ gekauft hat. Lennart Hegenbach hat ständig etwas zu beurkunden, und weil das mit dem ›Seeblick‹ so gut gelaufen ist, will er das nur noch in meinem Notariat machen.«

»Das ist doch großartig, Heinz«, rief Rosmarie.

Er nickte.

»Ja, das ist es, es springen einige Gebühren heraus. Aber Hegenbach wollte mit mir verhandeln, als ich ihn anrief, um ihn über meine Rückkehr zu informieren, darüber, dass wir jetzt die ersten Dinge in Anspruch nehmen können«, er machte eine kurze Pause, schnappte nach Luft, »weißt du, was er mir da gesagt hat?«

Rosmarie schüttelte den Kopf.

»Während meiner Abwesenheit habe er hervorragend mit Dr. Nils Tannhoff zusammengearbeitet, und dabei wolle er es jetzt und in Zukunft auch belassen. Gewiss sei das ja auch in meinem eigenen Interesse, einen so hervorragenden Mitarbeiter zu haben, auf den man sich verlassen könne und der einem einen Großteil an Arbeit abnimmt.«

Uff!

Rosmarie wusste nicht, was sie jetzt dazu sagen sollte. Heinz selbst war es gewesen, der Dr. Tannhoff als seinen Nachfolger aufgebaut hatte. Und das war auch ein nicht nur sympathischer, sondern ein sehr fähiger Mann, der voll und ganz hinter der Kanzlei stand. Eigentlich müsste Heinz sich jetzt freuen, zumal er ihr gesagt hatte, wie anspruchsvoll dieser Bildhauer war. Wenn er es nicht war, wenn für ihn stattdessen eine Welt zusamengebrochen war, gab es eigentlich nur eine einzige Erklärung für sein Verhalten. Heinz war in seinem Ego gekränkt! Bislang hatte er die erste Geige gespielt, war der Zampano gewesen, der alles in der Hand hatte. Und weil es so war, hatte er selbst Dr. Tannhoff in seinem Wirkungskreis beschränkt. Und der war jetzt aus seinem Schatten getreten und konnte endlich einmal beweisen, was in ihm steckte.

Rosmarie konnte ihm das jetzt nicht so sagen, doch sie konnte ihren Mann ganz dezent auf etwas hinweisen, »Heinz, hast du schon vergessen, was unsere Frau Doktor dir sehr ans Herz gelegt hat?Weniger zu arbeiten, mehr auf dich zu achten, mehr …«

Er unterbrach sie.

»Hör bitte auf, Rosmarie, du musst es nicht wiederholen, Frau Dr. Steinfeld war deutlich genug. Und ja, eigentlich ist es gut, dass Nils Tannhoff mir diesen schwierigen Mandanten nicht nur abgenommen hat, sondern sich auch noch richtig gut mit ihm versteht. Es ist nur verdammt schwer, plötzlich im eigenen Laden nicht mehr die Nummer Eins zu sein.«

Rosmarie konnte nicht anders, sie stand auf, ging zu ihm, umarmte ihn von hinten, presste ihren Kopf an seinen.

»Heinz, mein Schatz, für dein Notariat kannst du dir Leute nehmen, die du bezahlst. Da kannst du doch abtreten, schließlich hast du genug gearbeitet, und das Büro gehört dir noch immer, du wirst also immer das letzte Wort behalten …, privat ist es anders, Liebe, Gefühle, die kann man sich nicht kaufen. Ich liebe dich, und für mich wirst du immer die große Liebe sein.«

Er nickte.

»Danke, Rosmarie, zuerst einmal für deine lieben Worte und dann dafür, dass du mich wieder auf die Spur gebracht hast.« Jetzt erinnerte er sich, weswegen er eigentlich nach Hause gekommen war.

»Und was willst du mir erzählen, was du nicht am Telefon sagen wolltest?«

Eigentlich war das nicht der richtige Augenblick, in dem Heinz noch ziemlich frustriert war, aber wann war schon der richtige Augenblick? Sie hielt sich auch nicht lange mit der Vorrede auf, sondern sie sagte ihrem Mann rundheraus, dass Fabian da gewesen war, und dann platzte es einfach aus ihr heraus.

»Stella will mit den Kindern nach Deutschland zurückkommen«, sie fügte nicht das ›vielleicht‹ hinzu. Rosmarie war sich auf einmal sehr sicher, dass Stella ihr Vorhaben auch in die Tat umsetzen würde.

Heinz zeigte keine Reaktion.

War er noch so sehr mit seiner Kränkung beschäftigt, dass er überhaupt nicht mitbekommen hatte, welch wunderbare Neuigkeit sie ihm da verraten hatte?

»Heinz, Stella und die Kinder wollen wieder in Deutschland leben, sie kommen aus Australien zurück.«

Er zuckte die Achseln.

»Und für wie lange?«, erkundigte er sich.

Das war alles, was Heinz dazu einfiel? Manchmal konnte Rosmarie ihren Mann nicht begreifen.

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen, Heinz? Freust du dich denn gar nicht?«

Tief in seinem Herzen war Dr. Heinz Rückert, der bekannte Notar, schon ein Gefühlsmensch, doch er zeigte es nur selten. Rosmarie hatte viele Jahre gebraucht, ehe sie dahintergekommen war.

»Ehrlich mal, Rosmarie, meine Freude hält sich in Grenzen. Taucht einfach ab, nachdem sie ihre Ehe wegen eines anderen Mannes zerstört hat, mit dem sie es auch nicht aushielt. Und nun will sie auftauchen, als sei nichts geschehen. Vermutlich hat sie die Erbschaft von Tante Finchen verbraten, und nun weiß sie nicht mehr, wie es weitergeht. Sie hat ja nichts gelernt, und sie kann zwar ganz gut Kuchen backen, was arbeiten heißt, weiß sie jedoch nicht. Jörg hat sie zu sehr verwöhnt.« Er blickte seine Frau erneut an. »Und deswegen hast du mich herbestellt? Das hättest du mir auch am Telefon sagen können. Andererseits war ich froh, das Büro unter einem Vorwand verlassen zu können.«

Das Büro war ihm wichtiger als seine Tochter, das konnte und wollte Rosmarie einfach nicht glauben. Sie wollte jetzt aber auch keinen Streit mit Heinz beginnen.

Sie schwiegen sich an, sie musste erst einmal mit ihrer Enttäuschung fertig werden. Ja, es war nicht gut gelaufen mit Stella, obwohl die früher mal die Einzige gewesen war, die sie besucht hatte, regelmäßig, sogar mit selbst gebackenem Kuchen. Wenn sie ehrlich war, dann musste sie allerdings zugeben, dass das keine Besuche gewesen waren, weil sie ihre Eltern sehen wollte, sondern Stella hatte sich nur irgendwie verpflichtet gefühlt. Das war schon ein erheblicher Unterschied. Mittlerweile war viel Zeit vergangen, mit Fabian lief es jetzt richtig gut. Er sprach nicht mehr über die Vergangenheit, in der sie und Heinz wirklich keine guten und liebevollen Eltern gewesen waren. Das war vorbei, und wenn sie sich bemühten, dann würden sie sich auch mit Stella aussöhnen können. Fabian war damals viel unerbittlicher gewesen, mit Stella war der Umgang einfacher. Zumindest war es früher so gewesen. Und sie hatte ein gutes Herz gehabt. Sie war die Person gewesen, die sich liebevoll um Tante Finchen gekümmert hatte, ohne zu ahnen, dass die nicht das arme Hascherl war, als das sie sich immer ausgab, sondern dass sie sehr viel Geld gebunkert hatte. Sie alle hatten es nicht geahnt, sondern waren sehr erstaunt gewesen, und Heinz und Rosmarie waren zunächst auch ziemlich sauer gewesen, dass Finchen Stella alles vermacht hatte. Auch diese Zeit war längst vorbei, an die Person, die hinter dem Geld her war wie der Teufel hinter der armen Seele, wollte sie nicht mehr erinnert werden. Sie hatte längst eingesehen, dass Stella es verdient hatte, das war auch die Meinung von Fabian, der bei Finchen leer ausgegangen war.

Es war Heinz, der wieder das Wort ergriff.

»Warten wir erst einmal ab. Wenn sie hier auftaucht und Geld braucht, das werden wir ihr natürlich geben. Wir können sie und die Kinder schließlich nicht im Regen stehen lassen. Und es ist gut, dass sie zunächst zu Fabian und Ricky geht, die verstehen sich beide gut mit Stella. Ist ja schon erstaunlich, dass Ricky das mitmacht, schließlich hat Stella ihren Bruder jämmerlich im Stich gelassen.«

»Heinz, von Ricky ist es sogar ausgegangen. Sie ist ein so wundervoller Mensch, nicht nachtragend, jederzeit hilfsbereit.«

Heinz Rückert war mit Komplimenten wirklich sehr wählerisch, doch jetzt machte er eines: »Das ist sie in der Tat, Fabian hatte ein großes Glück mit ihr an seiner Seite. Und wie sie den Haushalt schmeißt, mit den Kindern umgeht, das macht ihr so schnell niemand nach. Wir hatten wirklich ganz großes Glück mit ihr«, wiederholte er sich, und Rosmarie fügte hinzu: »Heinz, es geht nicht um uns dabei, unser Fabian hat mit Ricky das große Los gezogen. Und er hat mir vorhin noch versichert, dass wir bei ihnen niemals mit einer bösen Überraschung rechnen müssen, weil es eine ganz große Liebe ist, von der sie getragen werden. Ist es nicht schön, dass wenigstens eines unserer Kinder seinen sicheren Hafen gefunden hat?«

Jetzt wurde er wirklich sentimental, der dröge Notar, denn er erklärte doch tatsächlich, und das im Brustton der vollen Überzeugung: »Nicht nur Fabian, mein Liebling, das große Los gezogen habe ich auch mit dir.«

Rosmarie war gerührt, konnte gar nichts darauf erwidern. Das war auch überhaupt nicht nötig, denn manchmal konnte man es auch fühlen, dass Liebe in der Luft lag.

*

Was Margret Fischer ihr gesagt hatte, ging Teresa nicht mehr aus dem Kopf. Und wieder einmal machte sie die Erfahrung, dass, wenn man ganz intensiv an etwas dachte, Dinge geschahen, zu einer Art Selbstläufer wurden.

Sie wollte Simone helfen, hatte jedoch keine Ahnung wie. Und so sehr sie auch darüber nachdachte, sie fand keine Lösung. Leider waren auch alle Bemühungen, andere Menschen einzuschalten, ins Leere gelaufen. Es war einfach so gut wie unmöglich, eine hübsche, aber dennoch bezahlbare Wohnung zu finden.

Diesmal hatte Teresa den Bus genommen, weil ihr Auto zur Wartung in der Werkstatt war. Das war glücklicherweise überhaupt kein Problem, weil es zwischen Hohenborn und Erlenried, dem Sonnenwinkel, eine ganz ausgezeichnete Verkehrsanbindung gab, nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, für die sogar ein Schulbus fuhr, und den auch die Erwachsenen schon mal benutzen konnten, wenn er nicht voll war.

Natürlich hätte Magnus sie sofort geholt und gebracht, doch das musste nun wirklich nicht sein.

Teresa hatte heute früher im Internat Schluss gemacht, irgendwie hatte sie sich nicht mehr auf die Arbeit, die ihr sonst immer unendlich viel Spaß machte, konzentrieren können.

Außerdem wollte sie nach Sophia sehen, die sich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht hatte. Vielleicht litt sie ja mehr unter der Trennung von Angela, als sie wahrhaben wollte.

Um diese Zeit war der Bus ziemlich leer, Teresa hatte Zeit, Muße, sich die Landschaft anzusehen. Natürlich kannte sie alles, sie kannte es so gut, dass sie es zeichnen könnte. Aber dennoch nahm man verschiedene Dinge ganz anders wahr, als wenn man mit dem Auto vorüberraste.

Es war schon schön hier. Das stellte sie immer wieder fest, und sie konnte sich auch überhaupt nicht vorstellen, nochmals anderswo zu leben. Es war ja zudem ein ganz großes Privileg, die Familie gleich nebenan zu haben. Es ging ihr gut, sie konnte dem Schicksal sehr dankbar sein.

Sie war bester Laune, als sie im Sonnenwinkel ausstieg, es war nicht weit bis zu ihrem Haus. Noch immer in Gedanken wollte sie die Straße überqueren, als sie mit jemandem zusammenstieß. Sie blieb stehen, um sich zu entschuldigen, und da sah sie eine Frau vor sich, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.

»Frau Steinhoff, das ist jetzt aber eine sehr angenehme Überraschung, Sie zu sehen. Ich dachte schon, Sie hätten unserem Sonnenwinkel den Rücken gekehrt. Bitte entschuldigen Sie vielmals, dass ich Sie so angerempelt habe.«

Hermine Steinhoff freute sich sehr, Teresa von Roth zu sehen, von der sie eine ganz hohe Meinung hatte.

»Ich war einige Zeit verreist, aber immer kann man nicht unterwegs sein, wenn man ein eigenes Haus besitzt. Da muss man schon mal nach dem Rechten sehen, nicht wahr? Ich hätte das Haus ja schon längst verkauft, doch irgendwie hänge ich daran. Mein Mann hat es mit eigenen Händen erbaut, und das bereits, ehe die schicken Architektenhäuser gebaut wurden, die ja auch einen Preis bekommen haben. Damit kommt mein Haus natürlich nicht mit, doch es erfüllt seinen Zweck, und mein Paul hat darauf geachtet, dass nur die besten Materialien verbaut wurden, da hat er an nichts gespart.« Sie seufzte. »Paul war ein sehr vernünftiger, sparsamer Mensch, er hat gleich zwei Wohnungen eingebaut, von denen eine nur kurz vermietet war. Und ehrlich gesagt, Frau von Roth, ich war froh, dass die Leute wieder ausgezogen sind. Die haben nichts als Ärger gemacht und waren laut.« Sie seufzte erneut. »Ich glaube, es ist sehr schwer, einen gescheiten Mieter oder eine Mieterin zu finden. Deswegen zögere ich auch, doch fände ich jemanden, dann könnte ich auch mehr verreisen. Es macht mir unendlich viel Spaß, das nachzuholen, was wir früher nicht konnten, weil das Geld dazu nicht vorhanden war. Paul und ich hatten es uns so schön ausgemalt. Dass ihn ein betrunkener Autofahrer zusammenfahren würde, damit konnte niemand rechnen. Ich gäbe alles her, wenn ich meinen Paul wieder an meiner Seite hätte. Ich kann mich nur damit trösten, dass wir niemals Streit hatten. Es wäre undenkbar, wenn wir uns verkracht hätten. So haben wir uns liebevoll verabschiedet, und dann …«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Frau von Roth, bitte entschuldigen Sie, ich will nicht jammervoll sein. Es ist ja auch schon so lange her. Zwischendurch überkommt es mich immer wieder. Vielleicht sind meine Reisen ja auch nur eine Flucht, weil ich die Einsamkeit, die Stille im Haus nicht ertragen kann.«

Teresa mochte Hermine Steinhoff sehr, und das nicht, weil sie eine eifrige Spenderin für das Tierheim war. Doch heute hörte sie ihr kaum zu, weil es in ihrem Kopf begann zu kreisen.

Im Haus Steinhoff stand eine Wohnung leer!

Das war ein Zeichen, ein Wink des Schicksals. Sie hatte Hermine Steinhoff treffen müssen, und es war nicht so, dass man nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein konnte, das ging auch umgekehrt, nämlich, zum richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Eigentlich war der Termin in der Werkstatt für heute überhaupt nicht vorgesehen gewesen, sie hatte ursprünglich einen späteren Bus nehmen wollen.

Es hatte so kommen müssen!

Teresa wurde richtig aufgeregt, und das passierte nicht so leicht und nicht so oft.

»Frau Steinhoff, wenn Sie wirklich eine Wohnung vermieten möchten, ich hätte da jemanden für Sie …, eine sehr angenehme junge Frau. Sie arbeitet im Notariat Rückert, und, und sie hilft als Freiwillige auch im Tierheim aus. Frau Dr. Fischer ist total begeistert von Simone Rettinger. Sie sucht dringend eine Wohnung, weil ihr derzeitiger Vermieter Eigenbedarf angemeldet hat.«

»Frau von Roth, das hört sich gut an, und wenn Sie jemanden empfehlen, dann kann man Häuser drauf bauen.«

Jetzt bekam Teresa doch ein schlechtes Gewissen, Simone war kein unbeschriebenes Blatt, und es war auch keine Bagatelle, einen Drohbrief zu schreiben.

Weil sie nichts sagte, blickte Hermine Steinhoff sie ein wenig verunsichert an.

»Frau von Roth, stimmt was nicht?«

Sie musste sich zusammenreißen.

»Oh doch, alles bestens, ich frage mich jetzt nur, ob Frau Rettinger auch in den Sonnenwinkel ziehen möchte, derzeit wohnt und lebt sie in Hohenborn.«

Hermine Steinhoff machte ein enttäuschtes Gesicht, und deswegen rief Teresa: »Wissen Sie was, ich werde mit Frau Rettinger reden, sie fragen. Und wenn sie interessiert ist, kann sie sich für einen Besichtigungstermin bei Ihnen melden. Die Wohnung …, ist der Mietpreis hoch? Ich frage Sie das, weil die Mieten hier ja explodieren, seit dieses Neubaugebiet bald fertig ist. Man hat von den Preisen gehört, die man dort erzielen kann und glaubt sofort, das hier unten bei uns anpassen zu können.«

Hermine Steinhoff war erleichtert.

»Oh, Frau von Roth, wenn es darum geht, dann machen Sie sich mal keine Sorgen. Ginge es mir um das Geld, dann hätte ich längst schon wieder vermietet. Mir kommt es darauf an, jemanden zu finden, der vertrauenerweckend ist und der auch mal ein Auge auf das Haus hat, wenn ich verreist bin. Und natürlich muss ich mich mit der Mieterin oder dem Mieter verstehen. Es sind zwar zwei abgeschlossene Wohnungen, doch man lebt dicht beieinander, da muss man sich verstehen.«

»Frau Steinhoff, es ist ganz wunderbar, dass wir uns jetzt begegnet sind, es musste so sein. Und ehrlich mal, ich bin überzeugt davon, dass Simone Rettinger Ihnen gefallen wird. Sie ist wirklich sehr nett.«

»Was Sie über diese Dame erzählt haben, hört sich gut an, eine Frage noch, gibt es einen Herrn Rettinger?«

»Den gab es, Frau Steinhoff, doch der hat sich mit einer anderen Frau aus dem Staub gemacht, seine Ehefrau einfach aussortiert, weil es ihm nach etwas Frischem war.« Hermine Steinhoff war empört.

»Ich werde so etwas niemals verstehen. Zum Glück war mein Mann treu wie Gold, für ihn konnte ich wirklich nicht nur eine Hand, sondern beide Hände ins Feuer legen. Wenn man heiratet, da gibt man sich doch ein Versprechen. Ach die arme Frau. Ich kann mir vorstellen, dass sie am Boden zerstört ist, und dann muss sie auch noch aus ihrer Wohnung. Frau von Roth, sie soll kommen, wenn sie sich für ein Leben hier entscheidet, egal, ob heute, morgen übermorgen.«

Teresa versprach, sich sofort darum zu kümmern. Schon wollte sie sich verabschieden, weil es bei ihr daheim schließlich auch noch jemanden gab, ihren Magnus, dessen Geduld oftmals auf eine harte Probe gestellt wurde, da hielt Hermine Steinhoff sie zurück. »Einen Augenblick noch, Frau von Roth, ich muss Ihnen etwas sagen, doch bitte halten Sie mich nicht für verrückt. Eigentlich wollte ich mir die Beine ein bisschen in Richtung Felsenburg vertreten. Bewegung ist schließlich wichtig. Doch dann zog es mich irgendwie hierher. Es sollte wohl so sein, dass wir uns treffen …, und wissen Sie was? Ich habe auf einmal ein richtig gutes Gefühl, mit Frau Rettinger, so heißt sie doch?« Teresa nickte, und Hermine fuhr fort: »Ich habe ein richtig gutes Gefühl.«

Am liebsten hätte Teresa jetzt bekannt, dass sie ähnlich gedacht hatte, doch das verkniff sie sich, weil es dann endlose Diskussionen auslösen würde. Und ehrlich gesagt, wollte sie im Sonnenwinkel nicht als jemand bekannt werden, der Vorahnungen hatte, an Vorbestimmungen oder wie man es auch nennen wollte, glaubte. Man sah sie hier als eine alte, toughe Dame, und so sollte es bleiben.

»Irgendwie habe ich auch ein gutes Gefühl«, sagte sie nur, dann aber verabschiedete sie sich mit dem Versprechen, Simone sofort anzurufen.

»Und Sie können mir ja auch Bescheid sagen, ob es geklappt hat, Frau Steinhof. Meine Nummer haben Sie ja.«

Hermine begann zu strahlen, denn sie verehrte Frau von Roth sehr. Ja, sie hatte die Telefonnummer, doch sie hätte sich nie getraut, einfach so bei ihr anzurufen.

Teresa eilte nach Hause, und Hermine hatte keine Lust mehr, sich die Beine zu vertreten, auch sie ging zurück. Sie wollte sich nämlich gleich mal die Wohnung ansehen, die sie vermieten wollte. Eigentlich musste die in Ordnung sein. Ein bisschen frische Farbe für die Wände war angebracht, doch das war dann die Entscheidung des Mieters, in diesem Fall hoffentlich der Mieterin. Sie war schon ziemlich aufgeregt. Auf jeden Fall würde sich für sie ein Problem lösen. Sie würde auch mal irgendwo, wo es wärmer war, überwintern können, ohne sich Sorgen um das Haus machen zu müssen. Was für ein Glück, dass sie die großartige Frau von Roth getroffen hatte!

*

Teresa war ein wenig enttäuscht, Magnus nicht daheim anzutreffen. Weit konnte er nicht sein, vermutlich war er bei den Auerbachs, er besuchte vor allem Inge gern, nicht nur, weil sie seine Tochter war, die er über alles liebte, sondern weil es bei ihr auch immer irgendwelche Köstlichkeiten zum Naschen gab.

Oder aber Pamela hatte ihren Großvater überredet, etwas mit ihr zu unternehmen, und dazu war Magnus immer bereit, denn er war Wachs in den Händen seiner Enkelin.

Ihre Enttäuschung hielt sich allerdings in Grenzen, denn nun konnte sie ungestört Simone Rettinger anrufen, die hoffentlich an ihr Telefon ging.

Teresa zog ihre Jacke aus, hängte sie ordentlich auf. Sie hasste es, wenn Leute ihre Sachen einfach irgendwo hinwarfen. So viel Zeit musste sein, es aufzuhängen. Sie zog ihre ­Straßenschuhe aus, schlüpfte in ihre bequemen Pantoffeln. Und dann nahm sie sich auch noch die Zeit, sich ein Glas Mineralwasser einzuschütten. Dann machte sie es sich in ihrem Lieblingssessel bequem, rief Simone an.

Sie hatte Glück, Simone meldete sich sofort.

»Sind Sie noch an Ihrer Arbeitsstelle, Frau Rettinger? Oder können Sie reden?«

Frau von Roth machte es ja spannend, Simones Herz begann zu klopfen. Noch hatte sich ihr schlechtes Gewissen wegen des dummen Drohbriefes nicht beruhigt, und sie hatte in ihrem Unterbewusstsein auch noch immer Angst, Frau von Roth könne es sich anders überlegen und sie doch noch anzeigen, weil schließlich das, was sie sich da erlaubt hatte, nicht entschuldbar war. Solche Gedanken waren töricht, wenn sie das im Sinn gehabt hätte, hätte sie es sofort getan und ihr nicht eine Arbeit besorgt und die Möglichkeit, im Tierheim zu helfen.

»Ich habe Feierabend, Frau von Roth, und ja, ich kann reden.«

Teresa freute sich.

»Frau Rettinger, würden Sie unter Umständen auch in den Sonnenwinkel ziehen, also nach Erlenried?«

Die Antwort, die sie bekam, erstaunte Teresa sehr, denn Simone rief: »Das würde ich sofort tun, denn es ist ja wie im Urlaub, direkt bei dem unvergleichlichen Sternsee zu wohnen. Aber im Sonnenwinkel findet man ja noch schlechter eine Wohnung als in Hohenborn. Das liegt ja zum Teil daran, dass dort meistens Einfamilienhäuser stehen, und eine Wohnung in diesem Neubaugebiet zu bekommen, das kann man sich abschminken. Dort werden Mieten verlangt, die sich ein Normalsterblicher überhaupt nicht leisten kann.«

Der neue Sonnenwinkel 78 – Familienroman

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