Читать книгу Der neue Sonnenwinkel 79 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 3
ОглавлениеManchmal spielte sich etwas bei einem ab, geschahen Dinge, die man an sich nicht kannte, für die man keine Erklärung hatte und die dennoch geschahen. Eine solche Erfahrung machte gerade Werner Auerbach, der weltbekannte, geschätzte und manchmal auch ein wenig überheblich wirkende Herr Professor.
Werner gehörte überhaupt nicht zu den Menschen, die sofort zur Hilfe eilten, die immer zur Stelle waren, auch wenn nur ein welkes Blatt vom Baum fiel.
Werner hatte wirklich keine Ahnung, warum ausgerechnet er Heinz Rückert gesagt hatte, dass sie schnell zur Unfallstelle laufen sollten, um ihre Hilfe anzubieten. Ja, das hatte er tatsächlich gesagt. Das konnte doch nicht er sein! Darüber nachzudenken, lohnte sich nicht, und es drängte ihn wirklich zu dem Ort, an dem sich jetzt immer mehr Gaffer einfanden, die sich nichts entgehen lassen wollten, die am liebsten sofort fotografierten, um die Fotos dann auch gleich ins Internet zu stellen. Werner hasste das, und nun wollte er sich zu diesen Menschen gesellen, die er abgrundtief verachtete. Warum? Darauf hatte auch er keine Erklärung.
Er und Heinz hatten die Unfallstelle erreicht. Heinz bahnte sich resolut einen Weg durch die Menschentraube, die sich angesammelt hatte. Werner war froh darüber, fühlte sich aber dennoch deplatziert. Er war ein Wissenschaftler, für den nur Fakten zählten, alles, was bewiesen werden konnte oder was bewiesen werden sollte. Jemand wie er glaubte nicht an Vorahnungen, an innere Stimmen. Das war Unsinn!
Und warum war er dennoch hier?
Er wusste es nicht. Ein furchtbar zertrümmerter PKW war offensichtlich gegen die Pfosten des Wartehäuschens für den Bus gefahren. Wie es aussah, war der Fahrer des Wagens wegen überhöhter Geschwindigkeit dagegen geprallt, hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.
Was konnten sie hier eigentlich tun?
Gemeinsam einen Kaffee zu trinken, in aller Ruhe miteinander zu reden, wäre gescheiter gewesen. Die Polizei sicherte den Unfallort, Ärzte und Sanitäter wuselten herum.
Es war verrückt gewesen, herzukommen. Was war bloß in ihn gefahren?
Schon wollte er Heinz bitten, mit ihm umzukehren, als der plötzlich ganz aufgeregt wirkte. Eine Person wurde auf eine Krankenbahre gelegt. Das war schlimm, aber so etwas sah man leider immer wieder. Und solange die Menschen nicht zu Verstand kamen, würde es auch nicht aufhören angesichts der Raserei im Straßenverkehr.
Warum also war Heinz plötzlich so durch den Wind?
Heinz packte Werner am Arm, ziemlich heftig, es tat richtig weh.
»Werner …«, er deutete auf die Trage, »das ist …, da liegt … Pamela.«
Was redete Heinz für einen Unsinn. Das konnte doch nicht wahr sein.
Werner war oftmals das, was man einen zerstreuten Professor nannte, doch jetzt war er hellwach, er merkte, dass er eine Gänsehaut bekam, er merkte, wie sein Herz anfing wie wild zu schlagen. Auf der Liege war …, nein, das konnte doch nicht wahr sein …, aber es war wahr!
Die Verletzte, um die man sich bemühte, war seine jüngste Tochter Pamela.
Hatte es ihn deswegen wie magisch hergezogen?
Er hatte keine Zeit, darüber jetzt nachzudenken. Er wollte zu seinem Kind!
Pamela lag dort, blass, mit geschlossenen Augen.
War sie etwa …?
Nein!
Sie war nicht tot, denn Unfalltote transportierte man nicht mit dem Krankenwagen ab, für die gab es ein anderes Fahrzeug, und um Tote kümmerte man sich auf gänzlich andere Weise, um ihnen ihre Würde zu lassen, um sie vor den Augen der Neugierigen zu schützen.
Er wollte zu Pamela eilen, ein Polizist hielt ihn gewaltsam zurück, es gelang Werner nicht, sich loszureißen.
»Lassen Sie mich los«, schrie er aufgebracht und verzweifelt zugleich, »das da ist mein Kind.«
Betroffen trat der Polizist beiseite, ließ Werner durch, Heinz folgte ihm.
Er wollte sich auf die Knie fallen lassen, ganz dicht neben Pamela sein, aber ein Arzt, es konnte auch ein Rettungssanitäter sein, der alles mitbekommen hatte, hielt ihn zurück. »Wir bringen Ihre Tochter jetzt ins Krankenhaus, wenn Sie wollen, dann fahren Sie direkt mit.«
»Was … was fehlt ihr?« wollte Werner wissen, seine Stimme war voller Angst.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, das werden erst die genauen Untersuchungen zeigen, also bitte, lassen Sie uns unsere Arbeit tun.«
»Das stimmt, Werner«, sagte Heinz, »die Hauptsache ist doch, dass Pamela lebt. Soll ich mitkommen? Oder soll ich dich im Krankenhaus später abholen? In deiner Verfassung kannst du dich doch nicht selbst ans Steuer setzen.«
Schon wollte Werner zustimmen, als sein Blick auf und über die Menge fiel, er bekam gerade noch mit, wie eine Frau sich ganz eilig entfernte. Er hatte sie erkannt, Inge hatte ihn einmal auf diese Frau aufmerksam gemacht, die im ganzen Sonnenwinkel als die Morgenpost verschrien war, nicht nur das, sondern dass man sich vor ihr in Acht nehmen musste, weil sie die Tatsachen verdrehte, um wichtig zu erscheinen, um Sensationen zu verkünden, die eigentlich keine waren. Sie wollte immer nur prahlen, wichtig sein. Und ausgerechnet diese Person hatte alles mit angesehen.
Nicht auszudenken, wenn diese Frau zu Inge gehen würde, und das würde sie tun, daran zweifelte Werner nicht einen Augenblick, sie würde Inge zu Tode erschrecken, denn nach deren Schilderungen würde Pamela eigentlich fast schon gestorben sein.
So war es zwar nicht, aber dennoch blieb Werner alarmiert, denn innere Verletzungen konnten sehr schlimm sein.
Rasch erzählte er Heinz von seiner Beobachtung.
»Heinz, du musst unbedingt vor dieser Person bei Inge sein, erzähl ihr bitte, was geschehen ist, berichte ihr schonend von dem Unfall. Ich melde mich dann, wenn ich Genaueres erfahre, ich werde auf jeden Fall bei Pamela bleiben. Also bitte, Heinz, spute dich, laufe zu deinem Wagen.«
Heinz schüttelte den Kopf.
»Das dauert viel zu lange, sieh mal, Werner, dort drüben ist ein Taxistand, ich fahr mit dem Taxi, das geht am schnellsten, und ich werde dem Fahrer sagen, dass ich bereit bin, jeden Preis zu zahlen, wenn er nur ordentlich aufs Gas drückt.«
Insgeheim atmete Werner auf, ein klein wenig nur, denn noch wusste man nicht, wie schlimm es um Pamela stand, die jetzt in den Krankenwagen verfrachtet wurde. Wollte er mitfahren, musste er jetzt einsteigen.
»Danke, Heinz, das ist eine ganz großartige Idee, und bitte, bleib ein wenig bei Inge, muntere sie auf, oder besser noch, schick ihr Rosmarie, die beiden Frauen können es ja ganz hervorragend miteinander.«
Ein Mann kam auf sie zu.
»Wenn Sie jetzt nicht einsteigen, dann fahren wir ohne Sie los.«
Oh Gott, nur das nicht!
Werner klopfte Heinz auf die Schulter, sagte noch mal: »Danke, Kumpel«, dann stieg er in den Krankenwagen, und Heinz rannte mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die andere Straßenseite, ließ sich in das Taxi fallen, und er musste dem Fahrer ein bemerkenswertes Angebot gemacht haben, denn das Taxi raste sofort los, und das vor den Augen der Polizei, doch die war noch immer mit der Sicherung des Unfallortes beschäftigt, sie hatte das Taxi nicht im Visier.
*
Inge war mit sich zufrieden. Heute war ihr alles schnell von der Hand gegangen, es war nicht einmal mehr Bügelwäsche im Korb. Das Essen stand auf dem Herd, Pamela und Werner konnten kommen. So entspannt wie jetzt war Inge lange schon nicht mehr gewesen. Sie hatte es sich mit einem Buch gemütlich gemacht, das sich seit einiger Zeit in ihrem Besitz befand, was sie aber noch nicht hatte lesen können, weil einfach die Zeit dazu gefehlt hatte. Dabei war es spannend, der Buchhändler, bei dem sie sich immer gern beraten ließ, hatte ihr nicht zu viel versprochen. Man konnte sich auf das, was er sagte, hundertprozentig verlassen. Er übte seinen Beruf voller Leidenschaft und Hingabe aus. Er kannte die Inhalte der meisten Bücher, die zu seinem Aufgabenbereich gehörten, las nicht nur den Klappentext, las die Bücher zumindest an. Er liebte die Bücher. Und er konnte auf Anhieb sagen, wo man ein gewünschtes Buch fand, musste nicht erst im Computer nachsehen, ob es überhaupt vorrätig war. Buchhändler oder Buchhändlerin war ein wunderschöner Beruf, den hätte Inge sich für sich selbst auch durchaus vorstellen können. Leider bekam sie immer mehr den Eindruck, dass es meistens reine Buchverkäufer waren, die sich heutzutage immer mehr in den Buchhandlungen tummelten, die man mittlerweile auch eher als Buchfabriken bezeichnen konnte. Es gab kaum noch inhabergeführte Buchhandlungen, die wurden von gigantischen Ketten übernommen oder mussten aufgeben, weil sie es finanziell nicht mehr durchhalten konnten. Es war keine schöne Entwicklung auf dem Buchmarkt. Die Anforderungen an das Personal hatten sich verändert, nicht die Literatur zählte, sondern der Umsatz war wichtig, und deshalb gab es in den meisten dieser unpersönlichen Läden halt lustlose Buchverkäufer und Verkäuferinnen, die sich mit dem, was sie taten, lange schon nicht mehr identifizierten, die keine Leidenschaft für diesen wundervollen Beruf besaßen. Dabei musste zur Ehrenrettung der -verkäuferinnen allgemein gesagt werden, dass die wussten, wo man die Dose Sauerkraut finden würde, wenn man danach fragte. Aber darum ging es nicht.
Ach, es hatte keinen Sinn. Sie würde die Welt nicht mehr verändern, wollte es auch nicht, und solange es noch jemanden gab wie diesen liebenswerten Herrn Krumbiegel, war ihre Welt in Ordnung.
Würde dieser Typ sich besinnen und erkennen, dass die Frau, die er gerade zum Teufel gejagt hatte, im Grunde die einzig Richtige für ihn war? Sie las ihr Buch mit Spannung.
Inge blätterte um, sie wollte es erfahren, als es klingelte. Sie legte ein Lesezeichen zwischen die Seiten, klappte das Buch zu, legte es beiseite. Sie hasste die Unart mancher Menschen, einfach Eselsohren in ein Buch zu machen.
Wer wollte denn jetzt schon wieder etwas von ihr? Mit der Beschaulichkeit war es schon jetzt vorbei, obwohl die ersten Möbelwagen im Neubaugebiet noch nicht einmal angerollt waren. Es hatte sich bei den Handelsvertretern jetzt schon herumgesprochen, dass es im Sonnenwinkel rund ging.
Nun, sie würde keine Zeitungen kaufen, einen neuen Staubsauger benötigte sie nicht, auch keine Versicherung, und spenden an Fremde, für etwas, wovon sie noch nichts gehört hatte, würde sie ebenfalls nicht. Die Auerbachs waren bekannt dafür, großzügig zu sein, und sie gaben wirklich gern. Aber nicht für irgendwelche dubiosen Kanäle. Es waren genügend Betrüger unterwegs. Inge konnte es noch immer nicht fassen, dass es sogar hier im Sonnenwinkel möglich gewesen war, auf einen dieser schäbigen Enkeltricks hereinzufallen.
Sie machte die Tür auf.
Es war kaum zu glauben, was sie da sah. Heinz stand davor, ein wenig atemlos, ein Taxi stand quer vor dem Eingang, und eine Person, die sie nicht mochte, die ihr unangenehm war, stand hinter dem Taxi.
»Heinz«, sagte Inge gedehnt, überrascht zugleich, denn Heinz Rückert gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, die sich bei den Auerbachs die Türklinke in die Hand gaben.
Er war ein wenig verlegen, sagte nichts, und deswegen fragte Inge: »Was hat das zu bedeuten? Wieso steht das Taxi dort, und wie kommt diese unangenehme Frau Schulze hierher?«
Inge erwartete eine Erklärung von ihm, die konnte er ihr nicht vorenthalten. Aber diese Frau war so penetrant, die wich nicht von der Stelle, und der Taxifahrer konnte sie nicht einfach über den Haufen fahren.
»Mit dem Taxi bin ich gekommen, und dass der Wagen so schräg in der Einfahrt steht, liegt daran, dass ich verhindern wollte, dass diese grässliche Person vor mir bei dir klingelt, sie war schon drauf und dran. Ich konnte das gerade noch im letzten Augenblick verhindern.«
Da stimmte doch etwas nicht!
Inges Stimmung veränderte sich augenblicklich, von wegen Gelassenheit und Entspannung, sie war jetzt vielmehr gespannt wie ein Flitzebogen.
»Heinz, was ist passiert? Wieso bist du hier? Und was wollte diese Frau?«
»Inge, können wir bitte erst einmal ins Haus gehen? Dann erzähle ich dir, was geschehen ist.«
Seine Stimme klang ernst, Inge trat stumm beiseite, um ihn vorbeizulassen. Ehe sie die Tür schloss, sah sie, wie diese grässliche Frau Schulze sich endlich bewegte, der Wagen konnte losfahren. Das Gesicht von Frau Schulze sprach Bände, sie war wütend, dass sie nicht das Rennen gemacht hatte, um eine Sensation loszuwerden!
Was für ein Jammer für diese törichte Frau!
Die Auerbachs waren für ihre Gastfreundschaft bekannt, doch Inge spürte, dass das jetzt kein Besucher war, dem sie Kaffee anbieten konnte, zumindest in diesem Augenblick nicht. Sie bot ihm Platz an, und Heinz ließ sich auf einen der Stühle plumpsen.
Luna und Sam hatten wohl gespürt, dass Besuch gekommen war, sie waren zur hinteren Terrassentür gerannt, kratzten, bellten, wollten hereingelassen werden. Normalerweise hätte Inge das auch getan, denn die Hunde mochten Heinz, auch wenn sie ihn nicht so oft sahen. Beauty und Missie von den Rückerts waren ihre Freunde, sie tobten oft miteinander herum. Und weil es so war, liebten Sam und Luna auch Rosmarie und Heinz, schnupperten an ihnen herum, ließen sich streicheln. Diesmal blieb Inge allerdings hart. Die Hunde mussten draußen warten, und die waren auch klug genug, um sehr schnell zu begreifen, dass sie keine Chance hatten. Also trollten sie sich, rannten in den Garten zurück, in dem sie mehr als genug Auslauf hatten.
Inge wollte wissen, was geschehen war. Nichts Gutes, befürchtete sie, und aus diesen Gedanken heraus erkundigte sie sich angstvoll: »Heinz, ist etwas mit Rosmarie?« Diese Frage war berechtigt, denn warum sonst sollte Heinz jetzt bei ihr sein. Aber wie passte das Taxi in das Schema, und die neugierige Frau Schulze, was hatte die damit zu tun? Es machte alles keinen Sinn, aber warum war Heinz dann hier?
Inge setzte sich ebenfalls, sie war jetzt auf alles gefasst, nachdem Heinz zuvor mit dem Kopf geschüttelt hatte. Also war mit Rosmarie alles in Ordnung.
Ehe sie weitere Fragen stellen konnte, musste er ihr ganz behutsam beibringen, weswegen er gekommen war. Doch wo und wie sollte er beginnen? Heinz Rückert war ein Notar, noch dazu ein verdammt guter. Er kannte sich mit Gesetzestexten allerbestens aus, wusste, wie man Verträge aufsetzte. Als Überbringer von Hiobsbotschaften war er dagegen vollkommen ungeeignet. Er wand sich wie ein Wurm, doch es ließ sich nicht länger hinauszögern, Inge saß da wie auf heißen Kohlen, und er wollte es endlich hinter sich bringen. Aber wie sollte er es ihr sagen, ohne dass sie in einen Schockzustand verfiel? Er wusste doch, wie sehr sie Pamela liebte, ihr Nesthäkchen.
»Bitte, Heinz«, rief sie, und ihre Stimme klang kläglich.
»So rede doch endlich, du kommst doch nicht einfach nur hier vorbei, um mit mir Kaffee zu trinken.«
Er zierte sich nicht länger, überlegte sich auch nicht seine Worte, es sprudelte nur so aus ihm heraus. Als er fertig war, schaute er sie betroffen an.
Hatte Inge nicht richtig mitbekommen, was er ihr gerade erzählt hatte? Warum schrie sie nicht, warum saß sie wie versteinert auf ihrem Stuhl?
»Inge …«
Nur die Erwähnung ihres Namens löste die Schockstarre in ihr, in die sie verfallen war. Jetzt reagierte sie, sie wollte sofort ins Krankenhaus zu ihrer Tochter.
»Inge, und das ist es, was Werner nicht möchte. Warum sollt ihr beide dort herumsitzen? Jetzt werden erst einmal alle Untersuchungen bei Pamela gemacht, und das kann dauern. Über den genauen Unfallvorgang werdet ihr auch erst alles erfahren, wenn er abgeschlossen ist.«
Sie hörte ihm kaum zu.
»Heinz, danke, dass du gekommen bist, um es mir zu sagen, doch ich muss jetzt sofort zu meinem Kind.«
Sie sprang auf, Heinz hatte Mühe, sie zurückzuhalten.
»Inge, in diesem Zustand kannst du unmöglich selbst mit dem Auto fahren, und das Taxi ist weg. Lass mich versuchen, Rosmarie zu erreichen, die kann mit dir nach Hohenborn fahren. Wenn du einverstanden bist, rufe ich Rosmarie jetzt an und bitte sie zu kommen, ja?«
Inge war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie war nur voller Angst. Pamela hatte einen Autounfall gehabt, war von einem Auto angefahren worden, ihre leiblichen Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.
Wieder ein Auto …
Wiederholte sich das Schicksal? Auf die gleiche grauenhafte Weise wie damals?
Inge war so durcheinander, dass sie über nichts geordnet nachdachte. Warum regte sie sich so auf? Pamela war nicht tot, nur verletzt, und niemand wusste, ob leicht oder schwer.
Sie hatte nicht mitbekommen, dass Heinz Rückert seine Frau angerufen hatte, dass er ihr knapp erzählt hatte, was vorgefallen war.
Auf jeden Fall musste Rosmarie geflogen sein, so schnell erreichte sie die Villa Auerbach. Sie war nicht zurechtgemacht, trug eine einfache Baumwollhose, ein Sweatshirt. Früher hätte sie so niemals das Haus verlassen, hätte in dieser Kleidung nicht einmal die Post aus dem Briefkasten geholt. Früher, das waren andere Zeiten gewesen. Sie stand jetzt über den Dingen. Es zählten in ihrem Leben ganz andere Dinge als früher, wo sie so oberflächlich gewesen war. Heinz machte ihr die Haustür auf, sie wechselten einen kurzen Blick miteinander, dann war Rosmarie bei Inge, nahm sie in ihre Arme und sagte: »Komm, Inge, ich fahre dich jetzt ins Krankenhaus.«
Rosmarie war gekommen!
Inge warf ihr einen dankbaren Blick zu, dann ließ sie sich hinausführen, wie eine Puppe in Rosmaries schnittigen Sportwagen setzen, ein Überbleibsel aus Rosmaries Vergangenheit. Rosmarie liebte schnelle Autos, und einen Spaß musste man sich doch erlauben.
Rosmarie achtete darauf, dass Inge angeschnallt war, und dann raste sie los, als gelte es einen Grand Prix zu gewinnen. Sie sprachen kein Wort miteinander, Inge saß zusammengesunken auf ihrem Platz, und ihre Gedanken kreisten nur darum, dass Pamela im Krankenhaus lag, angefahren von einem Auto und das auch noch an der Bushaltestelle.
*
Heinz hatte Werner vorgewarnt, und so war der überhaupt nicht erstaunt, als Inge und Rosmarie auftauchten. Inge fiel ihrem Mann in die Arme, und jetzt löste sich ihre unnatürliche Starre, sie begann haltlos zu schluchzen.
Rosmarie stand dabei, sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Obwohl Pamela nicht ihr eigenes Kind war, konnte sie hundertprozentig nachvollziehen, was die arme Inge gerade durchmachte.
Irgendwann beruhigte Inge sich ein wenig, wollte wissen, was mit Pamela nun eigentlich sei, doch wie von Heinz vorausgesagt, konnte Werner seiner Frau nichts Genaues sagen. Pamela wurde immer noch untersucht.
»Rosmarie, wenn du dich um Inge kümmerst, dann versuche ich mal, einen Arzt zu erreichen.«
Rosmarie versprach es, sie setzte sich mit Inge auf eine Bank, hielt deren Hand, während Werner eilig davonging. Irgendwie hatte man das Gefühl, dass er froh war, jetzt etwas tun zu können.
Werner kam nicht zurück, vom Klinikpersonal zeigte sich niemand, und die Zeit ging sehr zäh dahin. Die Zeiger der großen Wanduhr schienen sich nicht zu bewegen.
Rosmarie war froh, dass Inge keine Fragen stellte, und andererseits freute Inge sich, dass Rosmarie nicht versuchte, sie aufzumuntern. In gewissen Situationen war es einfach besser, zu schweigen, da reichte es zu spüren, dass es an seiner Seite jemanden gab, der mitfühlte.
Nach unendlich langer Zeit kamen Werner und eine Ärztin beinahe gleichzeitig bei Inge und Rosmarie an.
»Wer sind die Eltern?«, erkundigte sich die Ärztin. Inge sprang auf, Werner hob, wie früher in der Schule, wenn man sich meldete, den Arm. Als der Blick der Ärztin auf Rosmarie fiel, sagten Werner und Inge beinahe gleichzeitig wie aus einem Mund: »Frau Rückert gehört auch zur Familie.«
Das traf absolut zu. Nachdem dieser Punkt geklärt war, kam die erlösende Nachricht: »Pamela hatte Glück im Unglück, sie war wohl geistesgegenwärtig beiseite gesprungen und war von dem Auto nur gestreift worden. Sie war mit Prellungen, Blutergüssen, Schnittwunden davongekommen. Am meisten hatte es ihre Hände getroffen, weil sie sich vermutlich beim Sturz mit ihnen abgestützt hatte. Doch auch da hat Ihre Tochter großes Glück gehabt, es scheint alles in Ordnung. Morgen wird sich unser Handchirurg die Hände ansehen, es sind noch ein paar Untersuchungen zu machen. Wir möchten Ihre Tochter danach gern noch zur Beobachtung für ein paar Tage bei uns behalten. Sie hatte wirklich ganz großes Glück im Unglück. Es hätte sehr viel schlimmer ausgehen können. Pamela hatte einen Schutzengel an ihrer Seite. Wenn Sie möchten, dann können Sie jetzt nach Ihrer Tochter sehen, aber bitte nicht lange, wir haben ihr etwas zur Beruhigung gegeben, viel sprechen wird sie also nicht mit Ihnen können.«
Für Inge klang das wie Musik in ihren Ohren, sie hätte am liebsten die Ärztin umarmt. Allerdings brachte sie in ihrer Aufregung gerade mal ein knappes »Danke« heraus.
Werner fragte nach der Zimmernummer, darauf wäre Inge jetzt nicht gekommen.
Wenig später standen sie zu dritt, Rosmarie hatte sich diskret zurückhalten wollen, doch das war für die Auerbachs überhaupt nicht infrage gekommen, vor Pamelas Bett.
Beim Anblick ihrer Tochter in diesem Krankenbett musste Inge an sich halten, um sich jetzt nicht auf Pamela zu stürzen, sie in ihre Arme zu nehmen. Und sie hielt auch ganz gewaltsam ihre Tränen zurück.
Pamelas Augen waren geschlossen, ihr schmales Gesicht wurde von ihren wilden braunen Locken umrahmt.
Ein Vergleich drängte sich Inge auf. Pamela lag da wie Schneewittchen im Sarg, nur, dass es kein Sarg, sondern ein Bett war. Pamela hatte das Märchen geliebt und es als kleines Mädchen immer wieder hören wollen.
Schlief Pamela?
Wusste sie, dass ihre Eltern hier waren?
Eine Krankenschwester kam herein, warf einen prüfenden Blick auf Pamela.
»Sie schläft«, sagte sie, »und das wird in den nächsten Stunden auch so bleiben. Gehen Sie nach Hause, hier können Sie erst einmal nichts ausrichten. Ihre Telefonnummer haben wir ja, sollte sich am Zustand Ihrer Tochter etwas verändern, rufen wir Sie sofort an.«
Sie überprüfte hier und da noch etwas, dann nickte sie den Besucherinnen und dem Besucher zu und verließ das Krankenzimmer.
Werner, Inge und Rosmarie blieben zurück.
»Ich bleibe auf jeden Fall hier«, entschied Inge. »Ich möchte bei ihr sein, wenn Pamela wieder aufwacht.«
»Das kann Stunden dauern«, wandte Rosmarie ein, doch Inge war von ihrer Entscheidung nicht abzubringen.
»Ja, dann gehe ich jetzt«, sagte Rosmarie, »wenn du was brauchst, ruf mich einfach an, ja?«
Inge nickte, bedankte sich, schaute Werner an, dem anzusehen war, dass auch er jetzt am liebsten gegangen wäre, sich nur nicht so richtig traute. Konnte er Inge in diesem Zustand allein bei Pamela lassen? Würde sie ihm grollen, wenn er ging?
Inge erlöste ihn von seinen Qualen.
»Du musst nicht hierbleiben, Werner, fahr nach Hause. Das Essen steht auf dem Ofen, du musst es nur warm machen, oder geh zu meinen Eltern, die müssen eh erfahren, was passiert ist. Sie werden aus allen Wolken fallen. Und noch etwas, Werner, die Hunde sind im Garten, die musst du ins Haus lassen, und fressen müssen sie auch.«
Man sah Werner an, dass er mit diesen Hinweisen total überfordert war. Das hatte natürlich auch Rosmarie gemerkt. »Werner, ich kümmere mich um alles. Ich fahr schon mal vor, du rufst kurz an, und ich komme vorbei, einverstanden?«
Und ob er das war, Werner war so richtig erleichtert.
Rosmarie verabschiedete sich von Inge, warf einen letzten Blick auf die schlafende Pamela, nickte Werner aufmunternd zu, dann ging sie.
»Es ist richtig nett von Rosmarie«, sagte Inge nach einer Weile.
Er nickte.
»Ja, das ist es, und du …, ich meine, es macht dir wirklich nichts aus, wenn ich jetzt gehe? Etwas tun für Pamela können wir augenblicklich eh nicht, und beide hier herumsitzen …«
Sie erhob sich, legte einen Arm auf seine Schulter.
»Werner, du musst kein schlechtes Gewissen haben, wirklich nicht. Es ist ganz gut, dass ich erst einmal allein hier sitze. Ich muss mir vor Augen führen, was passiert ist und was alles hätte passieren können … Pamela hätte tot sein können wie Heiner und Nancy, ihre leiblichen Eltern.«
Oh Gott!
Wohin verirrten sich Inges Gedanken gerade? Er umarmte sie, streichelte ihr über die Haare, was sehr wohltuend für sie war.
»Inge, Pamela hatte Glück im Unglück, das allein ist es, was zählt und wofür wir dankbar sein müssen. Quäle dich doch nicht, und so tragisch das mit Nancy und Heiner damals auch war, es muss sich nicht wiederholen, und es hat sich ja auch nicht wiederholt, weil Pamela lebt. Du bist mit den Nerven fertig, es hat dich kalt erwischt, und ehrlich mal, vielleicht solltest du mit nach Hause kommen, dich ein wenig ausruhen und dann kannst du gestärkt zurückkehren.«
Inge machte sich aus seiner Umarmung frei.
»Ich bleibe«, sagte sie fest, »und du gehst jetzt am besten, Werner. Guck nicht so, ich bin nicht sauer, halte dich auch nicht für herzlos, aber bitte, vergiss nicht, es meinen Eltern zu erzählen, ja?«
Er versprach es, zögerte kurz, dann ging er tatsächlich. Es machte wirklich keinen Sinn, länger hier herumzusitzen.
Aber Inge konnte stur sein, wenn sie etwas ganz bestimmt wollte …
An der Tür zögerte Werner noch einmal, wollte etwas sagen, besann sich jedoch, drehte sich endgültig um, dann ging er.
Inge war mit Pamela allein und der Stille, die sie umgab, die durch nichts unterbrochen wurde.
Sie war erschüttert, allmählich begriff sie, was geschehen war. Sie sah Pamela vor sich, wie sie lachend und fröhlich am Morgen das Haus verlassen hatte, mit Plänen für den Nachmittag. Und nun lag sie hier. Wie schnell alles vorbei sein konnte, ohne jede Vorwarnung.
Warum ausgerechnet Pamela?
Sie war doch gewiss nicht die Einzige an der Bushaltestelle gewesen. Inge konnte sich das Hirn zermartern und würde doch keine Antwort auf all die Fragen bekommen, die ihr durch den Kopf gingen.
Schicksal …
Nein, sie wollte sich mit so etwas nicht abfinden. Inge setzte sich wieder, zog ihren Stuhl ganz eng an das Bett von Pamela heran, dann streichelte sie ihre Kleine sanft, hielt sie fest, als ihr Blick auf die Hände fiel. Es war nicht lange her, dass Pamela selbst überlegt hatte, später einmal Handchirurgin zu werden. Warum hatte die sympathische Ärztin vorhin erwähnt, dass ein Handchirurg sich Pamelas Hände ansehen müsse. Ausgerechnet die Hände, die man immerfort brauchte.
Inge schluckte, dann begann sie zu beten, das tat sie immer, wenn sie in Not war, und das war sie augenblicklich, ja, das war sie. Inge hoffte, dass Gott ihre Gebete nicht ignorieren würde, weil sie in Normalzeiten eine ziemlich laue Christin war.
Sie zuckte zusammen, als jemand das Krankenzimmer betrat. Es war ein junger Arzt, der sich als Doktor Greiner vorstellte und der die Ablösung war.
Inge wollte ihm ein paar Fragen stellen, doch das blockte er sofort ab. »Tut mir leid, doch da muss ich mir erst einmal die Krankenakte ansehen, so kann ich Ihnen nichts Konkretes sagen.« Er warf einen Blick auf die Geräte, an die Pamela angeschlossen war. »Wenn es Sie beruhigt, alles sieht gut aus.«
Er überprüfte die Lage, erkundigte sich, ob er etwas für sie tun könne, ob sie einen bequemeren Stuhl brauche oder gar ein Bett haben wolle, das man neben das ihrer Tochter schieben könne.
Es klang verlockend, doch Inge wusste, dass sie eh kein Auge schließen würde. Also bedankte sie sich und sagte, es sei nicht nötig. Der Arzt ging, Inge war wieder allein mit Pamela, der Stille und ihrer Angst, die wahrlich kein guter Begleiter war. Sie verspürte irgendwann, wie die Müdigkeit sie übermannte, und nun bedauerte sie doch, nicht wenigstens eines der Angebote dieses netten Arztes angenommen zu haben. Der Stuhl, auf dem sie saß, der war verdammt hart. Sie ließ ihren Kopf auf den Rand der Matratze sinken, und irgendwann schlief sie tatsächlich ein.
*
Inge wurde durch einen Aufschrei geweckt. Für einen Augenblick hatte sie Mühe, sich zurechtzufinden, wusste nicht, wo sie war. Doch die Erinnerung kehrte sehr schnell wieder zurück.
Und dann hatte sie erst einmal Mühe, sich zu sortieren, sie glaubte, durch einen Fleischwolf gedreht worden zu sein, jeder Knochen tat ihr weh.
Aber das war schnell vergessen, sie wandte sich Pamela zu, von der der Aufschrei gekommen war.
»Pamela, Liebes, alles ist gut.«
Inge hatte keine Ahnung, woran Pamela sich erinnern konnte, was der Grund für diesen Schrei gewesen war.
»Nichts ist gut«, schrie Pamela. »Meine Hände, was ist mit meinen Händen.«
Inge versuchte, ihre Tochter zu beruhigen.
»Nichts weiter. Alles wird wieder gut.«
Pamela hielt ihre Hände hoch.
»Und was ist das hier?«, wollte sie wissen, und ihre Stimme war immer noch ungewöhnlich laut.
»Liebes, es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, ein Handchirurg wird sich das alles ansehen.«
Ach, hätte sie das jetzt bloß nicht gesagt, Pamelas Stimme wurde jetzt richtig hysterisch.
»Handchirurgin«, schrie Pamela, »das kann ich nun nicht mehr werden.«
Was sollte Inge darauf antworten?
»Pamela …«
Pamela ließ ihre Mutter überhaupt nicht zu Wort kommen, sie jammerte, sie weinte. Inge musste sich das hilflos mit ansehen. Sie versuchte, ihre Tochter zu beruhigen, dabei hatte sie jetzt auf nichts mehr Lust als auf einen schwarzen Kaffee, der ihre Lebenskräfte wieder erwecken sollte.
Das Frühstück wurde gebracht, für Pamela allerdings, und beinahe gleichzeitig war Visite. Chefarztvisite diesmal. Der Chefarzt war ein Mann mittleren Alters, der von Pamelas Geschrei in keiner Weise beeindruckt war, sondern sich erkundigte: »Was ist los, junge Dame? Nach Freudengebrüll sieht das nicht gerade aus, dabei solltest du froh sein, noch einmal so glimpflich davongekommen zu sein. Du weißt überhaupt nicht, was für ein Glück du hattest. Und du kannst stolz auf dich sein. Von der Polizei haben wir nämlich gerade erfahren, dass es dich überhaupt nicht getroffen hätte, wenn du nicht hinzugesprungen wärest, um ein paar von den kleineren Schülerinnen und Schülern zur Seite zu schubsen. Die hätte es ohne deine Heldentat voll erwischt, du selbst wurdest dabei leider noch gestreift.«
Davon hatte Inge überhaupt nichts gewusst, ihre Pamela war also eine Lebensretterin. Das war etwas, worauf man stolz sein konnte, vielleicht später, jetzt wollte Inge ihre Tochter erst einmal beruhigen, doch das ging erst nach der Visite, sie konnte da nicht einfach dazwischenfunken.
Offensichtlich hatte Pamela ihre Ohren auf Durchzug gestellt, denn sie wirkte in keiner Weise stolz wegen des Lobes. Sie blickte vielmehr den Arzt an und rief: »Und meine Hände?« Sie hielt sie ihm klagend entgegen.
»Die dürften dein kleinstes Problem sein, junge Dame. Da sind andere Körperteile ganz anders betroffen. Weswegen machst du wegen deiner Hände ein solches Geschrei? Hast du Angst, dass deine Fingernägel abgebrochen sind?«
Pamela schüttelte den Kopf, dass die Locken nur so flogen. »Nein, aber ich möchte Handchirurgin werden, und für diesen Beruf sind die Hände nun einmal der wichtigste Körperteil.«
Jetzt herrschte allgemeines Erstaunen.
»Soso, Handchirurgin werden willst du«, sagte der Professor. »Und wie kommst du bitte schön auf diesen doch sehr speziellen Beruf?«
Pamela richtete sich ein wenig auf, ihr Gesicht war dabei schmerzverzerrt, dann aber sagte sie voller Stolz: »Weil meine Schwägerin die allerbeste Handchirurgin der Welt ist, und deswegen möchte ich das auch werden.«
Der Professor lachte.
»Dann lass das mal unseren Doktor nicht hören, der hält sich nämlich auch für den allerbesten Handchirurgen der Welt.« Pamela blieb unbeeindruckt.
»Aber Charlotte ist es wirklich, sie hat sogar Behandlungsmethoden entwickelt, über die sie vor ganz vielen Kolleginnen und Kollegen einen Vortrag halten durfte.«
»Beeindruckend«, erklärte der Professor, doch so, wie er das gesagt hatte, schien er nicht ganz so beeindruckt davon wie Pamela zu sein, aber er fügte immerhin noch etwas Nettes hinzu: »Ich bin zwar kein Handchirurg, aber ich kann dir versprechen, dass deine Hände kein Hinderungsgrund für deinen Berufswunsch sein werden. In erster Linie ist es der Kopf, du weißt schon, dass du ein richtig gutes Abi machen musst, um diese Studienfach zu studieren?«
Pamela schob sich noch ein wenig weiter nach oben, sagte mit schmerzverzerrtem Gesicht: »Das weiß ich ganz genau, und ich bin sehr gut in der Schule, das war ich auch schon, ehe ich mich entschloss, Handchirurgin zu werden.«
»Ja, wenn das so ist.«
Man merkte dem Arzt an, dass er richtig Spaß an Pamela hatte. Er stellte ein paar Fragen, sagte etwas zu dem ihn begleitenden Tross, dann verließen sie das Zimmer wieder.
Handchirurgin werden wollte Pamela. Sie war von Charlotte sehr fasziniert, und in Pamelas Alter identifizierte man sich leicht mit seinem Idol, mit jemandem, dem man besondere Fähigkeiten zuschrieb. Das konnte sich ändern, und vor Inges Tochter lag noch ein weiter Weg. Über deren Berufswunsch sprechen wollte sie jetzt nicht mit ihr, das, was sie über den Unfallhergang erfahren hatte, bewegte Inge weit mehr. Pamela war eine Lebensretterin! Und dafür hatte sie ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.
Ihre Pamela …
Doch ehe sie mit ihrer Tochter darüber sprechen wollte, wurde erst einmal gefrühstückt.
Dafür, dass sie krank war, aß Pamela mit einem erstaunlich guten Appetit. Und dann kam ein guter, besser noch, ein rettender Engel ins Krankenzimmer. Es war eine der jungen Schwestern, und die sagte zu ihr: »Gewiss haben Sie doch auch Lust auf ein Frühstück, nicht wahr?«
Sie stellte für Inge ein Tablett auf den Tisch, lächelte sie an, Inge konnte sich gerade noch bedanken, dann verschwand diese gute Fee wieder.
Kaffee …
Inge konnte sich nicht daran erinnern, wann sie schon einmal einen nicht einmal guten schwarzen Kaffee mit solch einem Genuss getrunken hatte.
Es ging hier wirklich zu wie in einem Taubenschlag, doch diesmal kam keiner der Ärzte oder der Ärztinnen herein oder sonst jemand vom Personal, es war Werner.
»Du warst ja die ganze Nacht über nicht zu Hause«, sagte er vorwurfsvoll und blickte Inge an, dann wandte er sich an seine Tochter: »Und du machst mir vielleicht Sachen.«
Pamela schien es wirklich schon wieder recht gut zu gehen, denn sie kicherte und bemerkte: »Papi, wie es scheint, tue ich beinahe alles, um deine Aufmerksamkeit zu erregen.«
Er lachte.
»Das nächste Mal aber bitte etwas einfacher, mein Mädchen, so etwas halten meine Nerven nämlich nicht noch einmal aus. Ich soll dich von den Großeltern grüßen, die kommen später auch bei dir vorbei. Wie geht es dir? Was sagen die Ärzte?«
»Der Chef war gerade hier und hat gesagt, dass ich auf jeden Fall Handchirurgin werden kann, das mit meinen Händen sieht schlimmer aus, als es ist.«
Der Professor war mehr als irritiert.
»Du willst was werden, Pamela?«
»Du hast es richtig gehört, Papi, Handchirurgin, genau wie unsere Charlotte.«
Werner zog sich einen der Besucherstühle heran, setzte sich und erkundigte sich: »Und wann hast du das beschlossen, Pamela?«
»Als Charlotte bei uns im Sonnenwinkel war.«
»In dieser kurzen Zeit hast du dich mit dem Thema ernsthaft beschäftigt.«
Pamela nickte so heftig, dass die Locken nur so flogen.
»Papi, manchmal reicht eine Sekunde aus, und es macht Klick.«
»Ja, wenn das so ist, dann herzlichen Glückwunsch, mein Mädchen, Handchirurgin ist ganz bestimmt kein schlechter Beruf.«
Sofort widersprach Pamela. »Er ist sogar der schönste von der ganzen Welt«, erklärte sie im Brustton der Überzeugung.
Inge sagte nichts dazu, denn bis es so weit sein würde, floss noch sehr viel Wasser bis zum Meer. Jetzt war sie erst einmal froh, dass das Unglück letztlich doch noch recht glimpflich abgelaufen war. Wusste Werner eigentlich schon, welche Heldentat seine Jüngste da vollbracht hatte? Sie hätte es ihm jetzt gern erzählt, sie hätte Pamela gern dafür über alles gelobt. Sie ließ es bleiben, weil sie ihre Tochter nicht verlegen machen wollte. Mit Lob konnte Pamela nicht so gut umgehen, es sei denn, das Lob stammte von Hannes, ihrem Lieblingsbruder.
Der Hannes …
Der musste es ja auch noch erfahren, und Ricky, Jörg. Inge stand auf, entschuldigte sich bei Pamela und Werner, dann ging sie hinaus. Handys waren wirklich nicht so ihr Ding, doch manchmal waren sie halt nützlich, so wie jetzt gerade. Vielleicht hatte Werner sie auch schon informiert, egal, sie alle wussten bestimmt noch nicht, dass Pamela eine Lebensretterin war, und das teilte sie ihren Kindern jetzt voller Stolz mit. Ja, sie war schon etwas Besonderes, ihre Pamela, das Kind ihrer Herzen …
*
Roberta wusste, dass Ursel Hellenbrink von sich aus niemals damit anfangen würde, höchstpersönliche Dinge über sich zu erzählen. Das gehörte sich einfach nicht, und dabei blieb Ursel.
Jetzt allerdings bot sich für Roberta die Möglichkeit, einfach nachzufragen. Wenn sie das tat, dann hatte Ursel auch überhaupt keine Probleme damit, offen und ehrlich zu sein. Sie verehrte ihre Chefin über alles, sie vertraute ihr, sie mochte sie sehr, Ursel war unendlich froh, für sie arbeiten zu dürfen. Mit Dr. Riedel war die Zusammenarbeit sehr gut, mit Frau Dr. Steinfeld war sie viel, viel besser.
Es war Feierabend, sie saßen zusammen, um noch etwas zu besprechen, was die Praxis betraf. Es war alles klar geregelt, und es funktionierte gut. Leni Wendler hatte keinen besonderen Spaß an dem Organisatorischen, es war auch durchaus für sie okay, wenn Ursel sie einteilte. Sie war eh am liebsten draußen bei den Patientinnen und Patienten, die sie betreuen konnte, weil sie dafür ausgebildet war und die nicht die Hilfe der Frau Doktor benötigten.
Und Ursel?
Die war der gute Geist der Praxis, fleißig, freundlich, bei allen Patientinnen und Patienten gleichermaßen beliebt. Und Roberta wäre aufgeschmissen ohne Ursel. Ja, sie hatten Glück, dass sie es alle so gut miteinander konnten, sie waren das perfekte Team. Das war keine Selbstverständlichkeit, und das wussten sie.
Ursel legte die letzte Krankenakte weg, lächelte ihre Chefin an und sagte: »Geschafft, Frau Doktor.«
Roberta nickte.
»Ja, das haben wir …, mit der Arbeit … Ursel, möchten Sie darüber sprechen, wie es mit Ihnen und Herrn Schlösser gelaufen ist, Ihrem ehemaligen Lebensgefährten? Bitte, halten Sie mich nicht für neugierig, ich nehme Anteil an Ihrem Leben. Doch wenn Sie nicht mögen, dann müssen Sie mir natürlich nichts sagen. Doch Sie haben ja damit begonnen, und wenn es …«
Die Frau Doktor!
Es war nicht höflich, doch jetzt musste sie sie einfach unterbrechen, ehe die Ärmste sich um Kopf und Kragen redete.
Die Frau Doktor und neugierig, niemals, sie war der emphatischste Mensch, den sie kannte. Sie war nicht umsonst Ärztin geworden, sondern weil Menschen sie interessierten, deren Schicksale.
»Frau Doktor, danke, dass Sie mir zuhören wollen. Unser letztes Gespräch vor meinem Urlaub war sehr gut für mich, weil Sie mir da etwas erzählt haben, was sehr hilfreich für mich war und worauf ich selbst nicht gekommen wäre.«
»Ursel, ich höre Ihnen gern zu. Wenn Sie mögen, können wir auch in meiner Wohnung nebenan miteinander reden. Dort stört uns niemand, denn Alma ist mit ihrem Gospelchor unterwegs in Irland, sie haben dort einen Auftritt.«
Ursel lächelte, sie mochte Alma Hermann sehr gern, sie duzten sich schon lange. Sie waren sich nicht nur sehr sympathisch, sondern die beiden Frauen verband die große Verehrung und Liebe zu ihrer Chefin.
»Alma geht in ihrem Gospelchor richtig auf, und der scheint ja auch so richtig gut zu sein, denn sonst hätten sie nicht diese vielen Auftritte. Aber zu Ihrem Vorschlag. Meinetwegen können wir gern hierbleiben, die Praxis ist nicht nur mein Arbeitsplatz, nein, ich bin gern hier, es ist so etwas wie mein zweites Wohnzimmer. Im Grunde genommen ist es mehr, denn hier verbringe ich mehr Zeit als in meinem eigenen Wohnzimmer.«
Da konnte Roberta nicht widersprechen.
»Ursel, das haben wir gemeinsam. Also bleiben wir hier.«
Roberta fragte sich, was sie jetzt wohl erfahren würde, wie Ursel sich entschieden hatte. Man sollte sich zwar nicht in die Angelegenheiten anderer Menschen einmischen, weil einen das nichts anging, aber das Schicksal von Ursel lag ihr sehr am Herzen, weil sie ein ganz besonderer Mensch war. Und was Frank Schlösser sich da erlaubt hatte, war einfach ein No Go. So ging man nicht mit einem Menschen um, den man praktisch sein ganzes Leben kannte und die meiste Zeit davon miteinander verbracht hatte. Sie musste sich da heraushalten, sie musste versuchen, objektiv zu bleiben, was gar nicht so einfach war.
»Und ich erzähle Ihnen gern, wie das mit mir und Frank ausgegangen ist. Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht und natürlich auch viel geredet. Frank hat eingesehen, dass er einen ganz großen Fehler gemacht hat, dass das Gras in Nachbars Garten auch nicht grüner ist. Er hat kapiert, dass man eine Vertrautheit, eine Liebe, die vielleicht nicht mehr so prickelnd ist wie am Anfang, nicht einfach wegwirft.« Sie blickte Roberta an. »Wie auch immer, es ist passiert. Frank sitzt jetzt zwischen zwei Stühlen. Das mit der anderen Frau ist aus. Doch ich kann nicht einfach mit flatternden Fahnen zu ihm zurückkehren. Ich liebe ihn, ich habe ihn immer geliebt. Wenn ich ihn sehe, geht mein Herz auf. Aber er hat mich einfach zu sehr verletzt, ich habe unendlich gelitten. Das möchte ich niemals mehr, und das ist auch etwas, was ich keiner Frau wünsche. Nicht einmal meiner ärgsten Feindin. Man soll verzeihen können, jemandem eine zweite Chance geben.« Sie machte eine kurze Pause, spielte mit dem Kugelschreiber, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie schaute ihre Chefin erneut an. »Ich bin dazu auch bereit, doch so, wie Frank sich das vorstellt, kann es für mich nicht funktionieren. Er kann sich nicht wieder auf unser ehemals gemeinsames Sofa setzen und alles ist gut. Wenn, und das ist im Grunde genommen auch mein sehnlichster Wunsch, müssen wir einander ganz behutsam nähern und all die Scherben beseitigen, die überall herumliegen.«
»Ursel, das ist eine kluge Entscheidung von Ihnen, und wenn Ihr Frank es wirklich ernst meint mit einem Neuanfang, wird er darauf eingehen.«
Ursel nickte.
»Er hat es vor. Auf jeden Fall steht eines fest, nämlich, dass das mit der Arbeit auf den Bohrinseln für ihn wirklich für immer vorbei ist. Er hat sogar als Ingenieur bereits einen guten Job angenommen, in der großen Maschinenfabrik am Rande von Hohenborn. Das ist ideal, und wohnen kann er in seinem Elternhaus, da gibt es viel Platz, seit alle Schlösser-Kinder flügge geworden sind. Klar zieht man als Erwachsener, noch dazu einer, der weltweit gearbeitet hat, nicht gern wieder in sein ehemaliges Kinderzimmer ein. Doch da muss er durch oder sich eine eigene Wohnung suchen.«
»Was nicht nötig ist«, wandte Roberta ein, »wenn es ihm ernst damit ist, wieder mit Ihnen leben zu wollen.«
»Er will es, und deswegen beißt er die Zähne zusammen und wohnt wieder daheim.«
»Und seine Eltern freuen sich bestimmt.«
Ursel blickte ihre Chefin zweifelnd an.
»Ich weiß nicht, die hatten es sich für sich allein gemütlich gemacht.«
Roberta lachte.
»Oh, das meine ich nicht, sondern ich dachte daran, dass sie glücklich sind, weil ihr Sohn zu Ihnen zurückkehren will. Mit der anderen Frau waren sie doch überhaupt nicht einverstanden, weil Sie immer deren erste Wahl waren.«
Ursel nickte.
»Ich glaube, Franks Mutter zündet jeden Tag ein Kerzchen an und betet darum, dass wir wieder ein Paar werden. Und ehrlich mal, sie hat das mit den Kerzen, glaube ich, auch praktiziert, dass es mit Frank und der anderen Frau auseinander geht. Das nur nebenbei. Frau Doktor, ich möchte Sie nicht aufhalten, danke, dass ich es Ihnen erzählen durfte. Wie gesagt, Frank und ich werden uns treffen, miteinander ausgehen, ins Kino, wir werden versuchen, wenn auch in getrennten Wohnungen, einen Alltag miteinander zu leben. Und ich finde, das allein schon ist ganz schön aufregend. Einen gemeinsamen Alltag kennen wir ja nicht. Als Frank auf den Bohrinseln gearbeitet hat, war unsere gemeinsame Zeit, die wir miteinander verbringen durften, bemessen. Und da waren wir wahrlich mit anderen Dingen beschäftigt, als uns Gedanken darüber machen zu müssen, ob wir den Stromanbieter wechseln sollen, den Urlaub lieber in Schottland statt in der Toscana oder in der Bretagne verbringen. Es ist neu, spannend, aufregend …, schauen wir mal.«
»Ursel, ich freue mich für Sie, und ich bin jederzeit für Sie da.«
Ursel strahlte ihre Chefin an.
»Frau Doktor, das weiß ich, und es ist sehr beruhigend für mich, auch, dass ich mit Ihnen reden darf. Sie sind klug, haben immer gute Ratschläge.«