Читать книгу Bettina Fahrenbach Classic 9 – Liebesroman - Michaela Dornberg - Страница 3
ОглавлениеBettina lief mit so viel Schwung aus ihrer Haustür, dass sie beinahe ihren Feriengast umgerannt hätte.
»Oh, hallo, Frau Fahrenbach. Erstaunlich, wieviel Elan Sie bereits am frühen Morgen haben.«
Bettina lachte.
»Das ist normalerweise nicht der Fall … entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie fast zu Boden gerissen hätte …, und überhaupt, zuerst einmal guten Morgen, Frau Dr. von Orthen.«
Sie sah, dass ihr Feriengast sich nicht nur mit einer Umhängetasche, sondern zwei großen Gepäckstücken abmühte.
»Darf ich Ihnen helfen?«, erkundigte Bettina sich und nahm ihr, ohne eine Antwort abzuwarten, schon eine schwere Reisetasche ab.
Christina von Orthen atmete erleichtert auf.
»Danke für Ihre Hilfe. Ich habe mich wohl ein wenig überschätzt. Aber das kommt davon, wenn man faul ist und sich einen Weg ersparen möchte. Ich bin schließlich nicht auf der Flucht und hätte ohne weiteres zweimal gehen können.«
Christina von Orthen trug eine schmale Jeans und ein T-Shirt, über das sie eine lockere, weit geschnittene Weste gezogen hatte. Ihre Füße steckten in bequemen Ballerinas. Sie sah sehr gut aus und wirkte auf Bettina auf jeden Fall sehr viel entspannter als während der Zeit ihres Hierseins.
»Es ist schade, dass Sie abreisen, Frau von Orthen. Sie sind ein sehr netter Feriengast …«, Bettina zögerte kurz, um schließlich fortzufahren: »Ehrlich gestanden sind Sie überhaupt mein erster Gast. Die Appartements im ehemaligen Gesindehaus sind gerade erst fertig geworden.«
»Und sie sind wunderschön, sie haben ein sehr stimmiges Ambiente. Sie werden sehr schnell das Haus voll haben. So etwas spricht sich schnell herum.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr. Ich habe mein ganzes Geld in dieses Projekt gesteckt, nicht auszudenken, wenn …«, sie brach diesen Satz ab. »Entschuldigung, ich will Ihnen wirklich nicht die letzten Minuten hier verderben.«
Sie hatten das Auto erreicht. Bettina half Frau Dr. von Orthen, ihr Gepäck zu verstauen.
Dann standen sich die beiden Frauen gegenüber.
»Es war wunderschön hier, und es hat mir sehr geholfen. Danke auch, dass ich Ihr Bootshaus und Ihr Grundstück am See nutzen durfte. Das war sehr großzügig von Ihnen.«
Bettina winkte ab.
»Nicht der Rede wert. Aber es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat. Vielleicht kommen Sie ja mal wieder?«
Christina von Orthen zögerte mit der Antwort, dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich glaube nicht …, aber das hat nichts mit Ihnen zu tun. Ich wünsche Ihnen bei allem, was Sie tun, viel Glück und Erfolg. Ihr Vater wäre so stolz auf Sie. Er hat es so richtig gemacht, Ihnen den Fahrenbach-Hof mit allem, was dazu gehört, zu vererben. Bei Ihnen ist alles in den richtigen Händen.«
Irritiert schaute Bettina ihr Gegenüber an. Woher wusste sie das? Sie selbst hatte sicherlich nicht mit ihr darüber gesprochen. Gewiss hatte Leni ein wenig geplaudert. Aber was sollte es – es stimmte, was sie sagte.
»Ja, ich glaube, dass es Papa gefallen würde.«
»Ganz gewiss.«
Frau Dr. von Orthen reichte Bettina die Hand. Ihr Händedruck war erstaunlich fest. »Nochmals vielen Dank und Gott möge Sie schützen.«
»Danke, und gute Heimfahrt. Frau Dr. von Orthen, und, wie gesagt, sollten Sie es sich anders überlegen …, hier sind Sie jederzeit herzlich willkommen.«
Christina von Orthen lächelte.
»Danke, schön es zu wissen …, aber nun muss ich fahren. Auf Wiedersehen.«
Sie stieg in ihr Auto. Bettina blieb auf dem Parkplatz stehen, bis ihr Gast das Fahrzeug gewendet hatte und den Weg zum Dorf hinunterfuhr.
Eine wirklich nette Frau. Bettina hätte zu gern gewusst, was sie studiert und in welchem Studiengang sie ihren Doktortitel erworben hatte. Aber das würde ein Geheimnis bleiben. Diese Frage konnte sie ihr nun nicht mehr stellen.
Bettina ging auf den Hof zurück.
Toni kam mit den Hunden von seinem Morgenspaziergang zurück, die sich freudig auf Bettina stürzten.
»Ja, meine Beiden, ich weiß schon, was ihr wollt«, lachte Bettina und holte aus einer auf der Fensterbank stehenden Dose ein ein paar Leckerli hervor.
»Guten Morgen, Toni … alles klar?«
»Aber immer. Sag mal, ist die Frau Doktor abgereist?«
»Ja.«
»Hm, ich hab das Auto gesehen. Das war wirklich eine ganz Nette, obschon sie auch ein bisschen komisch war.«
»Das stimmt, aber wir haben doch alle unseren Knall. Wer weiß, was die Leute über uns sagen …, ich gehe auf jeden Fall jetzt zu Leni, vielleicht hat die noch einen Kaffee für mich, und dann gehe ich rüber ins Büro.«
»Ich komm auch gleich. Aber ich gehe sofort ins Lager, um die Horlitz-Bestände zu überprüfen. Ich glaub, da müssen wir noch etwas auffüllen.«
»Es läuft wirklich ganz gut.«
»Du kümmerst dich ja auch, machst ständig neue Aktionen. Sag mal, was mir gerade einfällt, hast du eigentlich schon etwas aus Schottland gehört? Bekommen wir den Zuschlag für Finnmore eleven?«
Bettina zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung, Toni. Wir müssen abwarten.«
»Wenn das klappen würde«, sinnierte er, »und wenn wir dann auch noch unser Kräutergold produzieren könnten …«
»Können wir aber nicht«, unterbrach sie ihn, »weil mein Vater uns die Rezeptur nicht hinterlassen hat. Diesen Traum können wir begraben.«
Er schüttelte den Kopf.
»Irgendwo glaube ich, dass unser wunderschöner Betrieb doch noch zum Einsatz kommen wird. Der Chef wirft doch nichts weg, was seit Generationen im Familienbesitz ist.«
»Toni, was immer Papa damit gemacht hat, das werden wir nicht erfahren. Die Rezeptur ist nicht da, und er wird sie uns nicht vom Himmel herunterschicken. Wir müssen es, so schmerzlich es auch ist, vergessen und versuchen, anderweitig über die Runden zu kommen.«
»Aber ich …«
Sie hatte keine Lust auf eine solche Diskussion. Die hatten sie hinreichend ohne Erfolg geführt, sie hatten die Rezeptur überall gesucht, beim Testamentsvollstrecker nachgefragt. Sie hatte gehofft, sie von ihren Brüdern zu bekommen. Ergebnislos.
»Wir sehen uns später, Toni«, sagte Bettina und ging auf das kleine Häuschen zu, in dem die Dunkels wohnten und für das ihnen ihr Vater lebenslanges Wohnrecht eingeräumt hatte, genau wie für Toni für das von ihm bewohnte Häuschen. Das war eine sehr gute Entscheidung gewesen, die Bettina voll und ganz akzeptierte. Leni, Toni und Arno waren für sie Familie, und sie hatten es verdient, von ihrem Vater versorgt zu werden.
Leni saß am Küchentisch und schnippelte grüne Bohnen. Sie unterbrach sofort ihre Arbeit, als sie Bettina bemerkte.
»Geht es dir besser, Bettina?«, erkundigte sie sich teilnahmsvoll. Leni war es gewesen, die Bettina am frühen Morgen aus einem schrecklichen Alptraum erlöst hatte.
»Ja, es geht mir gut, und ich bin eigentlich nur hier, um dich zu fragen, ob du noch einen Kaffee für mich hast. Ich hatte keine Lust, mir drüben einen zu kochen.«
»Hab ich, dann setz dich mal …, übrigens, Frau Dr. von Orthen ist schon abgereist. Hast du sie auch noch gesehen?«
»Ja, ich habe ihr sogar geholfen, das Gepäck zum Waagen zu bringen. Sie ist wirklich eine sehr nette Frau. Was glaubst du, ob sie wohl Ärztin ist?«
»Hm, könnte sein, sie hat eine ruhige, besonnene Art, aber die haben auch Menschen in anderen Berufen.«
»Wenn sie das nächste Mal kommt, können wir sie ja fragen.«
Leni stellte Bettina die Kaffeetasse hin.
»Ich glaube nicht, dass sie wiederkommen wird.«
»Wie kommst du darauf, es hat ihr hier sehr gut gefallen. Das hat sie mir selbst gesagt.«
»Das hat sie mir auch gesagt, aber als ich sie fragte, ob wir sie wieder als Gast hier sehen werden, hat sie das ausgeschlossen.«
»Dumm von ihr«, sagte Leni und setzte sich. Auch sie hatte sich noch einen Kaffee eingeschenkt. »Heute nachmittag kommt übrigens eine Gruppe von zwölf Leuten. Die bleiben für drei Nächte, muss wohl so eine Art Wanderclub sein. Sie wollen auf jeden Fall jeden Tag wandern.«
»Wie sind sie denn auf uns gekommen?«
»Eigentlich wollten sie in Bad Helmbach übernachten, aber als sie im Fremdenverkehrsbüro unseren Flyer ausliegen sahen, haben sie sich für uns entschieden.«
»Das ist wirklich erfreulich. Auch wenn es nur für drei Übernachtungen ist, kommt bei zwölf Leuten doch etwas in die Kasse. Hoffentlich sind es auch so nette Gäste wie Frau Dr. von Orten.«
»Bettina, manche werden nett sein, andere weniger nett. Es sind Fremde, die es, weil sie bezahlen, verdient haben, freundlich behandelt zu werden. Aber es sind keine Freunde, es ist keine Familie.«
Bettina umfasste mit beiden Händen ihre Tasse.
»Ich muss mich einfach erst daran gewöhnen, dass wir jetzt so eine Art Pension sind, in der Fremde ein und ausgehen. Aber ich musste doch irgendetwas unternehmen, um Geld zu verdienen, und die sonst leerstehenden Häuser auszubauen und zu nutzen, dass Geld in die Kasse kommt. Vielleicht hätte ich mit dem Ausbau warten sollen und wir wären mit Brodersen und Horlitz und vielleicht auch mit Finnmore eleven, falls wir es bekommen, zurechtgekommen?«
»Mach dir darüber keine Gedanken, Bettina. So wie du es gemacht hast, ist es richtig, und dein Vater wäre damit auch einverstanden gewesen. Und wenn uns die Feriengäste stören sollten, dann haben wir doch immer noch die Möglichkeit, diesen Komplex abzutrennen, so dass unsere Häuser abgegrenzt sind. Doch das können wir in aller Ruhe beobachten. Noch müssen wir wegen Überfüllung nicht schließen, und noch sind es keine Invasionen, die uns belagern. Warten wir es ab. Ich freue mich auf jeden Fall, dass wir Zulauf bekommen.«
»Ich auch, und du hast ja Recht, Leni.«
Sie trank den letzten Schluck ihres Kaffees aus.
»Was gibt es heute zum Mittag?«
»Ich mach mal wieder einen Grüne-Bohnen-Eintopf. Da weiß ich, dass die Männer ihn mögen.«
»Und ich mag ihn auch«, sagte Bettina und stand auf. »Bis später dann, und danke für den Kaffee.«
»Wenn du rüber ins Büro gehst, kannst du einen Schlenker zur Remise machen und mir den Arno schicken? Er hat mir schon hundertmal versprochen, im Appartement drei noch einen zusätzlichen Handtuchhalter anzubringen und vergisst es immer wieder. Männer …«
Bettina lachte.
»Über deinen Mann kannst du dich wirklich nicht beklagen, Leni. Der ist ein Goldstück.«
»Weiß ich doch«, murmelte Leni, ehe sie sich wieder ihren grünen Bohnen zuwandte.
Bettina lief über den Hof zur Remise, wo Arno schon erstaunliche Ordnung geschaffen hatte. Jetzt sah man so richtig, wieviel Platz hier war.
»Guten Morgen, Arno, deine Frau möchte dich sehen, und ich sag dir auch gleich, worum es geht … Ich sage nur, Handtuchhalter für Appartement drei.«
»Ach du liebe Güte, damit nervt sie schon lange. Und ich habe es doch wieder vergessen. Na, damit die liebe Seele Ruh’ hat, erledige ich es sofort.«
»Da wird Leni sich freuen.«
Sie wollte die Remise wieder verlassen, weil sie ihren Auftrag ja erledigt hatte, als seine Stimme sie zurückhielt.
»Ach, übrigens, Bettina, hast du schon etwas wegen der Bilder unternommen?«
»Der Bilder? Welcher Bilder?«
»Hast du das schon vergessen? Diese Ölschinken, die Seeschlachten aus der alten Truhe.«
»Du liebe Güte, die hab ich völlig vergessen. Gut, dass du mich erinnert hast. Ich kümmere mich darum. Arno, erhoff’ dir nichts davon. Sie stellen keinen Wert dar. Aber so oder so müssen wir was damit machen, damit sie in der Truhe nicht verrotten. Ich jedenfalls werde sie nirgendwo aufhängen. Möchtest du sie haben? Wenn ja, dann schenk ich sie dir.«
Arno lachte.
»Nö, lass mal gut sein. Leni würde mich aus dem Tempel jagen, wenn ich damit ankäme. Biete sie einem Museum an, vielleicht sind sie interessiert«, schlug er vor.
»Dafür, mein Lieber, fürchte ich, sind sie nicht wertvoll genug. Wie dieser Maler – wie hieß er noch? – überhaupt Spaß daran hatte, so etwas zu malen … Nun, ich kümmere mich um die Bilder, und du dich um den Handtuchhalter.« Sie winkte ihm zu. »Heute Mittag gibt es übrigens einen Grüne-Bohnen-Eintopf.«
»Weiß ich doch, ich hab ihn mir schließlich gewünscht. Die ganzen Tage zuvor gab es doch immer nur das zu essen, was die Kinder mochten. Das war nicht immer mein Ding.«
»Meines auch nicht …, bis später also.«
Auf dem Weg in die Destille überlegte sie, an wen sie sich wegen der Bilder wenden konnte. Sie hatte keine Ahnung und beschloss, Babsi anzurufen, die junge Künstlerin, die ihr bestimmt einen Tip geben konnte.
Dazu musste sie aber vorher noch einmal eines der Bilder herausholen und sich den Namen des Künstlers aufschreiben, der ihr wirklich vollkommen entfallen war.
Doch das hatte keine Eile. Die Bilder hatten, wer weiß, wie lange, in der alten Truhe gelegen, auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht an.
Als sie in ihr Büro kam, sah sie, dass einige Bestellungen angekommen waren, die sie sofort zu Toni ins Büro brachte. Eine Nachricht von Marjorie Ferguson war noch nicht da. Die ließ sich mit ihrer Entscheidung Zeit. Oder gefiel ihr das Konzept nicht?
Sie versuchte, sich auf eine neue Werbekampagne zu konzentrieren, ließ es aber bald sein. Es war irgendwie nicht ihr Tag. Vielleicht lag das an dem Traum der letzten Nacht, der sie irgendwie noch immer verfolgte. Sie zitterte bei der Erinnerung daran, wie sie auf diesem hohen Berg gestanden war und ihr Vater, Thomas und diese vielen fremden Menschen sie aufgefordert hatten zu springen. Sie spürte beinahe körperlich noch jetzt ihre Angst. Und dann war ihr Bruder Frieder gekommen und hatte sie, dabei diabolisch grinsend, brutal heruntergestoßen …
Sie erinnerte sich an ihren Schrei und daran, dass Leni, glücklicherweise nicht im Traum, sondern ganz real, dagewesen war und sie aus ihrem Alptraum erlöst hatte.
Bettina legte ihren Stift beiseite.
Wie sollte sie diesen Traum deuten?
Warum hatten ihr Vater und Thomas sie aufgefordert zu springen? Warum hatten sie ihre Angst ignoriert und waren ihr nicht zur Hilfe geeilt? Und warum hatte Frieder sie gestoßen?
Bettina wusste es nicht.
Sie wollte sich auch nicht weiter hineinvertiefen, wusste andererseits aber auch, dass an Arbeiten im Augenblick nicht zu denken war. Im Grunde genommen lag ja auch nichts Wichtiges an.
Sie verließ das Büro und beschloss, ein wenig Fahrrad zu fahren, vielleicht machte die Bewegung an der frischen Luft ihren Kopf frei. Sie würde hinauf zur Kapelle radeln und danach kurz ans Grab ihres Vaters gehen. Dort war es so friedvoll, und dort fühlte sie sich ihrem Vater so nah.
Dieser Gedanke beflügelte sie richtig, und während sie kräftig in die Pedalen trat, wurde ihr bewusst, welch priviligiertes Leben sie trotz ihrer Sorgen doch hatte. Sie konnte einfach, wenn es ihr nicht gut ging, ihren Arbeitsplatz verlassen und tun und lassen, was sie wollte. Andere Menschen hatten auch Alpträume, auch Probleme, aber denen konnten sie nicht so einfach entfliehen, die mussten ausharren und mussten ihre Arbeit machen, egal, wie sie drauf waren.
Als sie die kleine Kapelle betrat, die von einem ihrer Vorfahren gebaut worden war, stellte sie fest, dass jemand vor ihr dagewesen war. Auf dem Altar stand ein Strauß frischer weißer Rosen, und es brannten auf der seitlich stehenden metallenen Stellage Kerzen. Aber das verwunderte Bettina nicht. Die Fahrenbacher liebten die Kapelle und kamen einfach hierher, um die Stille zu genießen, um Kerzen anzuzünden, weil sie sich für etwas bedanken, weil sie um etwas bitten wollten. Einer legte Kerzen in das Fach, ein anderer brachte frische Blumen.
Bettina zündete eine Kerze für ihren Vater an, eine aus Dankbarkeit, weil es ihr so gut ging und eine für Thomas, damit er endlich, endlich zu ihr kommen würde.
Es war so unerträglich, den Mann, den man von ganzem Herzen liebte, kaum zu sehen, weil er in Amerika lebte.
Bettina vermisste ihn, sehnte sich so sehr nach seiner Wärme, seiner Nähe.
Als sie sich in eine der alten dunklen, schönen Holzbänke setzte und in die Flammen der Kerzen starrte, murmelte sie geradezu flehentlich: »Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass Thomas bald zu mir kommt …, für immer.«
Sie schloss die Augen und dachte an Thomas und war ganz entsetzt, als sie merkte, dass sie sich nicht mehr, wie sonst ohne weiteres möglich, vollkommen auf ihn konzentrieren konnte.
Beinahe panikartig verließ sie die kleine Kapelle. Sie sah nicht die üppig blühenden Blumen, hörte nicht das Murmeln des Baches, nicht das Gezwitscher der Vögel.
Sie war zutiefst erschüttert, weil es ihr zum ersten Male nicht gelungen war, sich ganz in ihre Gefühle und Gedanken und Träume für Thomas zu vertiefen. Es waren immer wieder andere Bilder aufgetaucht, die nichts mit ihrer Liebe zu tun hatten.
*
Während sie zum Friedhof radelte, beschloss Bettina, Thomas beim nächsten Telefonat vor die Alternative zu stellen, dass entweder er schnellstens nach Fahrenbach kam oder sie zu ihm nach Amerika reisen würde.
Mails und Telefonate waren einfach nicht ausreichend, um ein liebendes Herz zufrieden zu stellen und es zu wärmen.
Als sie ihr Fahrrad an der alten Friedhofsmauer abstellte, bemerkte sie, etwas abseits, versteckt durch dichte, hohe Büsche, das Auto von Frau Dr. von Orthen.
Das war ja merkwürdig!
Unwillkürlich schaute Bettina auf ihre Armbanduhr. Es war fast Mittag, und Frau Dr. von Orthen hatte bereits am Morgen den Fahrenbach-Hof verlassen.
Wo war sie in der Zwischenzeit gewesen?
Und was wollte sie auf dem kleinen Friedhof, auf dem nur Leute aus dem Dorf und von den umliegenden Bauernhöfen, die zu Fahrenbach gehörten, beerdigt wurden?
Bettina zögerte.
Wie sollte sie sich verhalten?
Einfach zum Grab ihres Vaters gehen oder später wiederkommen?
Nun, es konnte ja auch sein, dass Frau Dr. von Orthen den Friedhof überhaupt nicht besuchte, sondern nur zufällig hier parkte.
Es konnte ja auch durchaus sein, dass sie sich entschlossen hatte, noch einmal die Gegend zu durchstreifen und einen langen Spaziergang zu machen, ehe sie nach Hause fuhr.
Als Bettina durch das schmiedeeiserne Tor ging, entdeckte sie Frau Dr. von Orthen. Sie musste unmittelbar vor ihr angekommen sein, denn Bettina sah sie den kiesgeharkten Weg entlanggehen, in der rechten Hand eine langstielige rote Rose.
Was hatte das zu bedeuten?
Wem brachte sie eine rote Rose?
Das tat man doch nur für jemanden, den man kannte, der einem etwas bedeutete.
Aber jemand aus Fahrenbach?
Bettinas Gedanken überschlugen sich.
Jemandem Blumen auf das Grab zu bringen war eine Sache, eine andere jedoch war, jemandem eine rote Rose zu bringen. Rote Rosen waren das Symbol der Liebe.
Und das passte irgendwie nicht. Frau Dr. von Orthen und jemand aus Fahrenbach? Wer denn? Es war unvorstellbar, denn meist lebten hier Familien, die fest verwurzelt waren. Niemand würde sich in eine kultivierte Frau verlieben und mit ihr ein Verhältnis anfangen.
Bettina wurde überhaupt nicht bewusst, dass sie den Weg verließ und hinter einem üppigen, mannshohen Strauch Schutz suchte.
Was sollte sie jetzt tun?
Zurückgehen, damit Frau Dr. von Orthen nicht das Gefühl hatte, verfolgt zu werden?
Sollte sie ihren Schritt beschleunigen und ihren ehemaligen Feriengast ganz zwanglos begrüßen?
Sie erinnerte sich auf einmal, daß sie Frau Dr. von Orthen schon mal auf dem Friedhof begegnet war, ohne dem Treffen eine Bedeutung beizumessen.
Aber heute?
Schuld war die rote Rose!
Was sie jetzt tat, war ihr überhaupt nicht bewusst. Sie kam hinter ihrem Strauch hervor, um sich sofort hinter den nächsten zu schleichen.
Kleine Kinder machten auf diese Weise ihre Indianerspiele, um sich an ihre Opfer heranschleichen zu können, um sie schließlich zu überfallen.
Sie wollte sich aber auf niemanden stürzen, um ihn zu überfallen. Irgendwie war ihre Neugier geweckt. Sie wollte sehen, wem sie die Rose bringen wollte.
Frau Dr. von Orthen ging langsam und in Gedanken versunken ihres Weges. Es war der Weg, den Bettina auch gehen musste, um zum Grab ihres Vaters zu kommen.
Frau Dr. von Orthen würde gleich das schlichte Holzkreuz erreicht haben. Dann musste sie sich entscheiden. Entweder musste sie es umrunden, um dann weiter geradeaus zu gehen oder sie musste nach rechts oder links abbiegen. Die linke Abzweigung führte auch zum Familiengrab der Fahrenbachs.
Bettina hielt den Atem an, vor dem Kreuz verharrte Frau Dr. von Orthen kurz, dann bog sie nach links ab.
Bettina atmete tief durch. Jetzt würde es für sie nicht mehr so leicht sein, Schutz hinter hohen Hecken zu finden. Aber wenn sie es schaffte, unbemerkt zu bleiben bis zu dem kleinen Gerätehäuschen, dann hatte sie von dort aus einen Blick bis zum Familiengrab.
Vorsichtig überquerte sie den Weg und atmete auf, als sie Schutz hinter der weißen steinernen Wand fand.
Ohne Eile und ohne etwas bemerkt zu haben, setzte Frau Dr. von Orthen ihren Weg fort.
Bettina lugte vorsichtig um die Ecke.
Frau Dr. von Orthen blieb vor dem Familiengrab der Fahrenbachs stehen. Das bedeutete nichts. Unabhängig davon, dass es ein wunderschön gepflegtes Grab war, hatte sie ja einige Tage auf dem Fahrenbach-Hof verbracht.
Aber dann beugte sie sich herunter, sammelte heruntergefallene Blütenblätter auf, dann legte sie die Rose auf das Grab ihres Vaters.
Bettina konnte nicht glauben, was sie da sah. Frau Dr. von Orthen und ihr Vater? Welchen Zusammenhang gab es da?
Es hatte im Leben ihres Vaters keine Frau gegeben, das hätte sie schließlich gewusst.
Aber die rote Rose war ein Indiz.
Bettina merkte, wie ihre Handflächen feucht wurden, wie sie abwechselnd blass und rot wurde. Sie stand da wie erstarrt und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander.
Ihr Vater und Frau Dr. von Orthen?
Vielleicht hatte ja nur sie sich in ihn verliebt, und er hatte davon nichts gewusst?
Aber diese Frau war nicht so etwas wie eine Stalkerin, die aus irregeleiteten Gefühlen jemanden verfolgte.
Was auch immer, wenn sie jetzt nichts unternahm, würde sie es niemals erfahren.
Sie atmete tief durch, dann kam sie aus ihrem Versteck hervor und ging zum Grab ihres Vaters. Unter ihren Füßen knirschte jetzt, weil sie nicht mehr achtsam sein musste, der Kies.
Frau Dr. von Orthen blickte zur Seite. Entsetzen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie Bettina entdeckte, und jetzt war sie es, die abwechselnd rot und blass wurde und vor lauter Verwirrung nicht weiterwusste.
Als Bettina schließlich neben ihr war, hob sie nur hilflos die Achseln.
»Es tut mir leid«, sagte sie mit vor innerer Anspannung heiser klingender Stimme.
Bettina schluckte.
Was tat ihr leid? dass sie sich jetzt hier begegnet waren, dass sie dabei ertappt worden war, wie sie eine rote Rose auf das Grab eines Verstorbenen gelegt hatte?
Bettina spürte, wie das Blut in ihren Schläfen klopfte. Sie hätte mit allem gerechnet, aber doch nicht damit, dass es zwischen Frau Dr. von Orthen und ihrem Vater eine Verbindung gab.
Sie war nicht in der Lage, etwas zu sagen, auch Frau Dr. von Orthen sagte nichts.
Sofort füllten sich die Augen der neben ihr stehenden Frau mit Tränen.
»Ich habe …, ich habe …, ich habe Hermann geliebt.«
Diese Eröffnung zog Bettina fast den Boden unter den Füßen weg.
Es war ihr überhaupt nicht bewusst, dass sie die Andere mit sich zu der in der Nähe des Grabes stehenden Bank zog, auf die sie sich auch immer setzte, wenn sie Zwiesprache mit ihrem Vater halten wollte.
Sie saßen stumm nebeneinander, bis wieder Bettina es war, die das Wort ergriff.
»Mein Vater …, ich meine, mein Vater und …, Sie … ich verstehe nicht …, ich wusste nicht …«
Sie stammelte herum wie jemand, der nicht in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Aber diese Eröffnung, der Gedanke, dass es im Leben ihres Vaters eine Frau gegeben hatte, verwirrte sie total.
Christina von Orthen atmete tief durch, knetete mit ihren Händen herum.
»Es tut mir wirklich so leid …, ich hätte nicht damit gerechnet, Sie jetzt hier zu treffen …, es war so unnötig …«
»Das glaube ich nicht. Es musste wohl so sein, dass ich hier aufgetaucht bin. Schließlich geht es um meinen Vater, den ich sehr geliebt habe. Bitte, erzählen Sie mir, was da zwischen Ihnen und ihm war. Ich hatte keine Ahnung …«
»Ich weiß.«
Christina von Orthen machte noch eine kleine Pause, versank in Erinnerungen, ehe sie mit leiser Stimme zu sprechen begann: »Hermann und ich lernten uns vor mehr als fünf Jahren auf einem Flug nach Paris kennen. Er wollte weiterfliegen nach Bordeaux und ich mir ein paar Tage Paris ansehen … Hermann erlitt einen Schwächeanfall, und ich versorgte ihn … ich bin Ärztin … In Paris begleitete ich ihn, auf seinen Wunsch hin, ins nächste Krankenhaus, wo er nach einem ambulanten check up wieder entlassen wurde. Er lud mich zum Essen ein …«, sie seufzte, »und so nahm alles seinen Anfang. Wir verstanden uns auf Anhieb gut. Hermann verschob seine Weiterreise. Wir verbrachten zwei Tage in Paris, er zeigte mir, da er sich sehr gut auskannte, alles. Dann fuhr er weiter nach Bordeaux und nach seiner Rückkehr verbrachten wir noch drei Tage in Paris. Vom ersten Augenblick an war eine besondere Magie zwischen uns. Wir konnten es nicht glauben und wir wollten es auch nicht wahrhaben, dass wir in unserem Alter eine solch wunderbare Liebe erleben durften, dieses Verstehen ohne Worte, dieses Fühlen, diesen Gleichklang der Herzen … Ich hatte mich nach dem Tod meines Mannes in die Arbeit vergraben, und Hermann hatte, nachdem er von seiner Frau verlassen worden war, sein Herz sorgsam verschlossen. Und da standen wir nun wie zwei ungläubige Kinder vor der Allmacht der Liebe.«
»Aber, wenn …«
Wieder konnte Bettina nicht aussprechen, was sie dachte, nämlich, dass, wenn ihr Vater und Frau Dr. von Orthen sich so unsterblich ineinander verliebt hatten, nichts daraus geworden war.
»In unserem Alter hat man keine Eile, da genießt man jeden Augenblick der Gemeinsamkeit, genießt die Liebe, die frei ist von Erwartungshaltungen, von Forderungen … ich hatte meinen Beruf, Hermann die Firma. Wir verbrachten Urlaube miteinander, manchmal nur Wochenenden, wir telefonierten täglich miteinander … Wir wussten, dass wir unser Leben miteinander verbringen wollten. Aber es sollte ein Neuanfang werden. Er sollte nicht in mein Leben eintauchen, ich nicht in seines. Wir wollten das Abenteuer des totalen Neuanfanges genießen, frei von Altlasten … Meine Praxis aufzugeben war kein Problem für mich, aber Hermann konnte den Absprung nicht finden. Nicht weil er es nicht wollte, sondern weil seine Söhne sich nicht als würdige Nachfolger für sein Lebenswerk erwiesen. Ihr Bruder Jörg war immer voller Pläne, die er kaum realisierte, und Ihr Bruder Frieder machte Ihrem Vater besonders viele Sorgen. Er konnte sich nicht in das Vorhandene einfügen, sondern war immer voller neuer Ideen, die nicht in das Konzept passten. Er wollte immer alles, immer mehr, ohne etwas dafür zu tun. Es gelang Ihrem Vater nicht, ihn zu ernsthafter Arbeit zu bewegen. Und so hoffte er von Jahr zu Jahr, und so verging die Zeit …, bis Hermann schließlich resignierte und loslassen wollte, egal, was immer sich auch daraus entwickeln würde. Er wollte seinen Söhnen die Firmen überlassen, Ihrer Schwester die Villa mit allem, was dazu gehörte und Ihnen den Fahrenbach-Hof, und es sollte endlich für uns ein gemeinsames Leben geben. Wir wollten reisen und uns dann überlegen, wo wir sesshaft werden wollten. Wir hatten unseren Hochzeitstermin schon festgelegt …«, ihre Stimme brach ab. »Es hat …, es hat nicht sollen sein.«
Bettina war zutiefst erschüttert. Aber sie war auch treuherzig. Wenn sie nicht zufällig zum Friedhof gekommen wäre, hätte sie es niemals erfahren.
Ihr Vater und Frau Dr. von Orthen in tiefster Liebe verbunden, die sogar durch eine Hochzeit gekrönt werden sollte.
Nach einer langen Zeit des Schweigens ergriff Bettina das Wort.
»Warum hat Papa seine Liebe geheim gehalten? Warum hat er nicht darüber geredet? Nicht einmal mit mir, wir waren uns doch stark verbunden? Ich habe meinen Vater geliebt und hätte mich doch mit ihm gefreut.«
»Ich weiß, Hermann wusste es auch …, aber Ihre Geschwister, die hätten Angst bekommen, die hätten mich als Erbschleicherin gesehen … Das alles wollte Hermann vermeiden. Er hätte sich erst offenbart nach der Verteilung seines Vermögens … Es ist ja schließlich auch so gekommen, wie er es gedacht hat und wie es von Ihren Geschwistern auch erwartet worden war …«
Wieder Schweigen.
Wieder war Bettina es, die das Wort ergriff.
»Frau Dr. von Orthen, wenn wir uns hier nicht zufällig begegnet wären, hätten Sie es uns …, mir …, nie gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum auch? Nachdem ich erfahren hatte, dass Ihr Vater umgebettet worden war, wollte ich nur noch einmal Abschied von ihm nehmen und auch die Plätze kennenlernen, die ich aus seinen Erzählungen kannte. dass Sie auf dem Hof Ferienappartements vermieten, war für mich einesteils ein Glückstreffer, andererseits eine große emotionale Belastung.«
»Deswegen waren Sie oft so traurig, so geistesabwesend.«
»Es war manchmal unerträglich. Da Hermann mir besonders den Hof, Fahrenbach, den See, das Bootshaus in den glühendsten Farben geschildert hatte, war er so präsent, dass es körperlich weh tat. Ich hatte zeitweilig das Gefühl, er müsse irgendwie um die Ecke biegen, mich in die Arme nehmen und mir sagen, dass er überhaupt nicht tot sei, dass alles nur ein böser Traum von mir gewesen war … Aber es war leider kein Traum … Etwas besser ging es, nachdem sie mir erlaubt hatten, mich auf dem Seegrundstück und im Bootshaus aufhalten zu dürfen. Dort konnte ich so richtig Abschied von ihm nehmen … Danke nochmals dafür …, und bitte entschuldigen Sie … wäre ich nicht so sentimental gewesen, noch einmal zurückzukommen, obschon ich bereits auf der Autobahn war, wäre mein kleines Geheimnis gewahrt geblieben.«
»Ich bin froh, dass es so gekommen ist, und ich bin, obwohl ich es erst einmal verarbeiten muss, glücklich, dass Papa noch eine Liebe gefunden hat …, und ich bin froh, dass Sie es sind … Sie waren mir von Anfang an sympathisch.«
Sie lächelte.
»Danke … Sie haben mir auch gefallen, und Sie sind genau so, wie Hermann Sie geschildert hat. Er mochte all seine Kinder, wenngleich er sich ständig ihretwegen Sorgen machte. Aber Sie, Bettina – ich darf Sie doch so nennen? – Sie waren das Kind seines Herzens.«
Bettina konnte nicht anders, sie brach in Tränen aus und merkte überhaupt nicht, wie sie Schutz suchte an Christina von Orthens Schulter, die ihr beruhigend über den Rücken strich.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Langsam richtete sie sich auf, setzte sich wieder gerade hin, strich sich übers Haar.
»Entschuldigen Sie meinen Ausbruch …, irgendwie ist alles zuviel. Ich brauche Zeit, um es zu begreifen … Warum nur hat Papa, wie er es immer getan hat, die Pflicht vor die Liebe gestellt?«
»Weil es sein Naturell war. Kein Mensch kann über seinen Schatten springen.«
»Aber er hat sich und Sie auch um so vieles gebracht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das dürfen Sie nicht so sehen …, wenn wir uns nicht begegnet wären, hätten wir nicht das Wunder dieser späten Liebe erlebt. Wir haben diese Liebe genossen und waren dankbar für jeden Augenblick, den wir miteinander verbringen konnten. Wir waren uns aber auch nahe, wenn wir nicht beisammen waren. Hermann und ich waren Seelenpartner …«, jetzt war sie es, die nicht weitersprechen konnte, weil sie von ihren Gefühlen überwältigt worden war. Und diesmal nahm Bettina sie in die Arme.
Zwischen ihnen war eine merkwürdige Verbundenheit, sie verstanden sich ohne Worte, weil der Berührungspunkt zwischen ihnen ein Mensch war, den sie beide sehr geliebt hatten, jede von ihnen auf ihre Weise.
Eine Friedhofsbesucherin ging grüßend an ihnen vorbei und brachte sie in die Gegenwart zurück.
»Tja, dann werde ich jetzt wohl aufbrechen«, sagte Christina von Orthen.
»Frau Dr. von Orthen, jetzt, wo ich das von Papa und Ihnen weiß …, möchten Sie nicht etwas als Erinnerung mitnehmen? Sie können sich aussuchen, was Sie möchten …, vielleicht sogar Papas Sessel aus dem Bootshaus?«
Sie hatte sich erinnert, mit welcher Ehrfurcht Frau Dr. von Orthen sich in diesen Sessel gesetzt hatte, wie behutsam ihre Hände über die Lehnen geglitten waren.
»Danke, das ist lieb, Bettina. Aber ich brauche keine Erinnerungen dieser Art. Ich habe Hermann im Herzen, und dort wird er immer bleiben, dieser wunderbare Mann, die Liebe meines Lebens.«
Sie sprach so wunderbar über ihren Vater, dabei war er doch eigentlich feige gewesen, sich nicht zu seiner Liebe zu bekennen. Fünf Jahre hatte es gebraucht, bis er endlich den Entschluss gefasst hatte, Christina von Orthen zu heiraten. Und dann war es zu spät gewesen, da hatte das Schicksal eingegriffen. Ihr Vater wusste nichts mehr davon, aber die Frau seines Herzens würde es mit sich herumtragen müssen, dass seine Zögerlichkeit sie um ein gemeinsames Glück gebracht hatte.
»Und Sie sind nicht sauer auf Papa, weil er so gezögert hat?«
»Nein …, ich habe ihn einfach nur geliebt so wie er war, mit all seinen Stärken und all seinen Schwächen. Niemand ist vollkommen, und man muss abwägen, was wichtig ist … kein anderer Mann hätte mir diese aufrichtige Liebe schenken können, keinem anderen hätte ich mich so verbunden gefühlt … Ach, ich muss es Ihnen doch noch sagen, Sie wissen, wie wunderbar Ihr Vater war.«
Sie stand auf.
»Ich wollte Sie nicht verwirren, aber wer weiß … Vielleicht musste es ja auch so kommen. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, und bleiben Sie so, wie Sie sind … Sie gleichen im übrigen nicht nur äußerlich ihrem Vater. Sie haben auch viel von seinem Wesen, seinem Charakter geerbt.«
Bettina wurde geradezu panisch.
»Sie können doch jetzt nicht gehen, Frau Dr. von Orthen, nicht jetzt, wo wir uns …, ich meine, wo ich erfahren habe, dass Sie und Papa …, ich meine …, wir müssen uns unterhalten. Können Sie nicht bleiben? Mir alles erzählen?«
»Bettina, was wichtig ist, habe ich Ihnen erzählt. Alles weitere wären nur Worte … Manches kann man auch zerreden. Behalten Sie einfach nur als Erinnerung, dass Ihr Vater ein ganz besonderer Mann war und dass er und ich unendlich glücklich miteinander waren, auch wenn wir nicht so sehr viel Zeit miteinander verbringen konnten. Aber wissen Sie, es kommt bei Gefühlen nicht auf die Quantität an, sondern auf die Qualität …«, sie reichte Bettina die Hand, »leben Sie wohl, und halten Sie das Glück fest, wenn es bei Ihnen anklopft.«
Bettina wusste, dass es keinen Sinn machen würde, jetzt noch weiter zu drängen. Sie stand auf und nahm Christina von Orthen ganz spontan in den Arm.
»Danke für Ihre Offenheit, und danke, dass Sie meinen Papa glücklich gemacht haben.«
Tränen verschleierten ihren Blick, ihre Stimme versagte.
Christina von Orthen strich ihr über das Haar, dann ging sie davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Bettina sank auf die Bank zurück und starrte hinüber auf das Grab, auf dem wie ein leuchtendes Mal die rote Rose lag.
»Papa, warum hast du es mir nicht gesagt? Wir waren uns doch so sehr verbunden. Ich hätte mich so sehr für dich gefreut, und ich hätte schon dafür gesorgt, dass du dich für die Liebe und nicht für die Pflicht entschieden hättest.«