Читать книгу Der neue Sonnenwinkel 81 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 3

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Ein anhaltendes Schrillen zerriss die Stille des Augenblicks. Es hörte einfach nicht auf. Und genau das war es, was die junge Ärztin Roberta Steinfeld in die Realität zurückbrachte. Sie öffnete beinahe widerwillig ihre Augen. Und da wurde Roberta bewusst, dass sie in ihrem Bett lag. Sie schreckte hoch. Aber wieso? Da konnte etwas nicht stimmen. Was hatte das zu bedeuten?

Wimmernd sank sie zurück auf ihr Kissen. Ihre Gedanken begannen, sich im Kreis zu drehen, flatterten durcheinander wie aufgescheuchte Hühner, in deren Stall ein Fuchs eingedrungen ist. Ihr Herz klopfte laut und unregelmäßig.

Das Telefon klingelte unaufhörlich, schrill und fordernd. Roberta nahm es noch immer nicht bewusst wahr. Sie begriff immer mehr, dass es keine wundervolle Wirklichkeit gab, sondern, dass es nicht mehr gewesen war als ein Traum, aus dem sie am liebsten niemals mehr aufgewacht wäre. Lars war bei ihr gewesen. Lars, die Liebe ihres Lebens, ihr Seelenmensch. Und jetzt war er nicht mehr da. Sie war allein und fühlte sich unendlich einsam, schutzlos, verlassen.

Frau Dr. Roberta Steinfeld war eine sehr erfolgreiche, toughe Ärztin, die mitten im Leben stand und so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen war. Sie gehörte zu den Menschen, die alles im Griff hatten. Jetzt stand sie total neben sich, hatte den Boden unter den Füßen verloren.

Wie war es möglich gewesen, einen derart realistischen Traum gehabt zu haben?

Roberta atmete ganz tief durch, versuchte, sich an die Ereignisse der letzten Stunden zu erinnern. Es hatte damit begonnen, dass sie ins Bett gegangen war, nachdem sie einen entspannten und sehr ruhigen Abend verbracht hatte, vollkommen unaufgeregt.

Später war sie ins Bett gegangen und war auch sofort eingeschlafen. Irgendwann mitten in der Nacht war sie durch einen Anruf ihrer Freundin Nicki aufgeweckt worden. Nicki war von ihrer Reise aus Japan zurück und hatte noch vom Flughafen aus angerufen. Sie hatte nicht warten können. Sie musste ihrer Freundin Roberta sofort und voller Überschwang verkünden, dass für sie ein Traum in Erfüllung gegangen war. Sie hatte Lennart Hegenbach, den berühmten Bildhauer, nicht nur auf einer Geschäftsreise begleitet, nein, sie waren ein Paar geworden und Nicki war am Ziel ihrer Wünsche angekommen und glücklich wie nie zuvor. Es war doch klar, dass sie diese wundervolle Neuigkeit sofort mit ihrer allerbesten Freundin teilen musste, ganz gleichgültig, wie früh oder spät es auch war. So war sie halt, die Nicki. Roberta konnte ihr deswegen auch überhaupt nicht böse sein. Sie hatte sich mit Nicki aufrichtig gefreut. Bis dahin war alles gut gewesen. Doch was war danach geschehen?

Wirklichkeit und Traum begannen sich miteinander zu vermischen. Roberta hatte sehr große Mühe, es auseinanderzuhalten. Doch das konnte ihr nur gelingen, wenn sie ganz ruhig blieb, ihre Gedanken wieder auf die Reihe brachte. Einfach war es nicht. Und irgendwie war sie auch sauer auf sich, weil dieser Traum, und mehr war es ja leider nicht gewesen, sie so sehr aus der Spur brachte. Also, noch einmal ganz von vorne und ganz ruhig!

Das mit dem zu Bett gehen konnte sie sich ersparen, auch Nickis Anruf. So weit wusste sie ja Bescheid.

Doch danach? Was war dann gewesen? Verflixt noch mal, sie wiederholte sich. Darüber musste sie sich wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Sie hatte noch ein wenig an Nicki gedacht, an das, was ihre Freundin hervorgesprudelt hatte. Sie hatte über deren glückliche Aufgeregtheit gelächelt, sich von ganzem Herzen für sie gefreut, und dann … dann war sie wieder eingeschlafen.

War dieses Telefonat vielleicht der Auslöser für das, was danach geschehen war?

Roberta kannte sich mit sehr vielem aus. Träume, Traumdeutungen, Auslöser für Träume gehörten nicht dazu. Aus diesem Grund verwarf sie diesen Gedanken auch sofort wieder. Es gab keinen Zusammenhang. Zu träumen, das war nicht außergewöhnlich. An manche Träume erinnerte man sich, an manche nicht. Es gab also überhaupt keinen Grund dazu, jetzt einen Film daraus zu machen. Doch so leicht ließ es sich nicht beiseiteschieben. Es beunruhigte Roberta ziemlich, weil es ein so realistischer Traum gewesen war, in dem sie zunächst aufgestanden war, sich geduscht und Kaffee gekocht hatte. Und dann hatte es an der Haustür geklingelt. Sie war zur Tür gegangen, hatte die geöffnet …

Robertas Herzschlag beschleunigte sich erneut. Sie stockte, schluckte, begann zu zittern. Es war kaum auszuhalten. Ihre Augenlider begannen zu flattern. Sie war nicht mehr sie selbst. Dennoch hielt sie es aus. Sie musste es erneut erleben.

Lars hatte vor der Haustür gestanden. Sie hatte ihn regelrecht ins Haus gezerrt. Das sah sie so deutlich vor sich, als sei es gerade erst geschehen. Verrückt, dass sie an eine solche Banalität dachte. Mehr noch erinnerte sie sich allerdings an das, was danach geschehen war … Lars und sie hatten sich ganz tief in die Augen geschaut, danach waren sie sich in die Arme gefallen. Und die Worte, die Lars dann zu ihr gesagt hatte, würde Roberta niemals mehr in ihrem Leben vergessen. Die hatten sich unauslöschlich in ihr eingebrannt.

»Nur die Gedanken an dich haben mich leben lassen, du Liebe meines Lebens.«

Danach hatten sie sich wie zwei Verdurstende geküsst, und die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen. Alles war vergessen, es gab nur noch sie, sonst nichts, und das war mehr als genug gewesen.

Ging es eigentlich überhaupt noch deutlicher? Konnte man so etwas träumen? Nein, das erlebte man, das war Wirklichkeit.

Normalerweise, musste sie leider sofort einschränken, denn es war leider dennoch nur ein wunderschöner Traum gewesen, der für einen Moment wie wirklich erlebt für sie gewesen war. Der Traum lebte in Roberta nach. Wenn sie die Augen schloss, spürte sie Lars, seine Nähe, ja sogar seine Wärme, seine ganze unglaubliche Präsenz, die sie immer in ihren Bann gezogen hatte, weil Lars ein besonderer Mensch gewesen war.

Sie musste damit aufhören! Aber jetzt dachte sie schon wieder als Vergangenheit von ihm.

Man ging nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben. Und man flüchtete sich nicht in das, was es nicht gab, nicht geben konnte. In diesem Moment war Roberta nicht die erfolgreiche, kluge Ärztin, nicht die hervorragende Diagnostikerin, die häufig selbst ihre Kolleginnen und Kollegen verblüffte. Sie war eine Frau, die die Liebe ihres Lebens verloren hatte, die für einen Wimpernschlag, wenn auch nur im Traum, zu ihr zurückgekehrt war.

Lars … Lars … Lars …

Die Realität sah völlig anders aus. Da hatte er sich davongemacht. Und das auf eine Weise, die zu ihm passte. Er war einfach verschwunden, irgendwo im Nirgendwo, inmitten seiner geliebten Eisbären, über die er geforscht, über die er geschrieben hatte und die ihm vermutlich am Ende zum Verhängnis geworden waren.

»Nur die Gedanken an dich haben mich leben lassen, du Liebe meines Lebens.«

Sie hielt sich die Ohren zu!

Roberta konnte es nicht verhindern, dass ihre Gedanken in eine Richtung gingen, die nicht gut für sie war. Sie konnte es einfach nicht lassen.

Und wenn dieser Traum nun so etwas wie ein Hilferuf gewesen war? Wenn Lars wollte, dass wieder nach ihm gesucht wurde?

Seelen, die miteinander verbunden waren, konnten auch miteinander kommunizieren. Zumindest war Nicki felsenfest davon überzeugt.

Roberta wusste, dass solche Gedanken mehr als gefährlich waren, weil sie einen aus der Realität herauskatapultierten. Alles, was ihr jetzt durch den Kopf schoss, war Wunschdenken. Die Realität war eine ganz andere, denn man hatte nach Lars gesucht, lange und gründlich, vergebens. Man hatte nichts von Lars und seinem Begleiter gefunden.

Es war so gewesen, als wären sie niemals dort gewesen, wo sie hätten sein sollen.

Solveig, seine Schwester, seine einzige Angehörige, die Lars wirklich sehr geliebt hatte, war schließlich irgendwann realistisch genug gewesen, Lars für tot erklären zu lassen. Er lebte nicht mehr. Das musste Roberta sich vor Augen führen, und das war es doch auch, was sie vor diesem irritierenden Traum akzeptiert hatte, wenn auch schweren Herzens.

Aber wenn dieser Traum nun doch etwas wie Wahrheit war?

Ihre Freundin Nicki warf mit Begriffen wie ›ein Zeichen‹, ›Vorbestimmung‹ und ähnlichem nur so herum. Roberta hatte das immer belächelt. War sie voreilig gewesen? Wenn es ein Zeichen gewesen war? Wenn man nur zugänglich sein musste für das Unvorstellbare?

Roberta warf sich von einer Seite auf die andere. Sie schloss die Augen. Sie wollte den Traum zurückholen. Es passte nicht zu ihr. Aber sie war nicht mehr sie selbst, sonst hätte ihr Verstand ihr gesagt, dass es Unsinn war. Ihr Verstand schwieg, und so versuchte sie mit aller Macht, in die Traumwelt zurückzukehren. Irgendwie war genau das ja auch so verlockend. Vielleicht ging der Traum ja weiter, und sie würde eine Antwort auf all die bohrenden Fragen finden. Sie quälte sich. Schließlich wurde ihr bewusst, in was sie sich da verrannte. Das durfte sie niemandem erzählen, man würde an ihrem Verstand zweifeln, der sie augenblicklich tatsächlich im Stich gelassen hatte. Roberta sprang aus dem Bett, viel zu schnell, sie taumelte, ihr wurde schwindelig. Als Ärztin hätte sie wissen müssen, dass es dumm gewesen war. Für einen Augenblick hielt sie inne, dann tapste sie in ihr Badezimmer, sprang unter die Dusche. Und das war jetzt ganz real. Sie weinte. Und während sie das Wasser über ihren Körper laufen ließ, entschied Roberta sich, Solveig anzurufen, ihr von diesem Traum zu erzählen und sie zu bitten, noch einmal eine Suchaktion nach Lars zu starten. Sie konnte es ja leider nicht, weil sie nur die Beinahe-Ehefrau gewesen war, und das zählte leider nicht. Es zählte nicht im offiziellen, im faktischen Leben.

Das Wasser plätscherte an ihr herunter, Roberta nahm es nicht einmal bewusst wahr. Sie schloss die Augen, dachte an Lars, an seine Küsse, Sie dachte an das, was so unglaublich schön gewesen war. Nichts ließ sich zurückholen. Als ihr das bewusst wurde, stellte sie das Wasser ab, stieg aus der Dusche und griff nach einem der schönen weichen Badetücher, wickelte es um ihren Körper, nachdem sie sich abgerubbelt hatte. Dann trat sie vor das Waschbecken, um sich die Zähne zu putzen. Als sie in den Spiegel schaute, erschrak sie. Ihr Gesicht war sehr blass, und ihre Augen schauten ihr müde und irgendwie erloschen entgegen. Es tat weh, sich selbst ins Gesicht zu sehen, und deswegen ließ Roberta es bleiben, vermied jetzt konsequent jeden Blick in den Spiegel.

Was für ein Tag!

Sie war antriebslos und hoffte, ihre Lebensgeister mit einem starken Kaffee ein wenig zu beleben. Also schlurfte sie, ganz wie im Traum, doch diesmal wesentlich langsamer und müder, in die Küche, kochte sich Kaffee. Und als der gekocht war und sie sich mit dem Becher an den Tisch setzte, zitterte ihre Hand. Im Traum hatte es danach jäh geklingelt.

Sie wusste, dass es verkehrt war, immer wieder daran zu denken. Sie konnte es nicht lassen, und aus diesem Grunde nahm ihre innere Aufgeregtheit immer mehr zu.

Sie hatte frei, Alma war unterwegs. Was gäbe Roberta nicht darum, wenn Alma jetzt hier wäre. Die würde sie auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Und weil das nicht ging, musste sie halt versuchen, es selbst auf die Reihe zu bringen. Wenn nicht sie, wer sollte es dann tun? Schließlich war sie Ärztin, dazu noch eine gute. Und darauf musste sie sich besinnen, auf sonst überhaupt nichts.

Sie trank von ihrem schwarzen heißen Kaffee. Der war richtig gut, und unter anderen Umständen wäre sie jetzt stolz auf sich gewesen, weil sie das mittlerweile schaffte. Daran dachte sie wirklich nicht, vielmehr beschäftigte sie sich mit dem Gedanken, ob sie sich anziehen, nach draußen gehen sollte oder einfach nur im Haus herumgammeln. Sie hatte frei, keinen Notdienst. Daran hielten sich manche ihrer Patientinnen und Patienten jedoch nicht, und sie fuhr dann doch hin, wenn Hausbesuche erforderlich waren, weil sie wusste, dass sie dann nicht in erster Linie als Ärztin gefragt war, sondern als Seelentrösterin. Wenn man ärztliche Hilfe benötigte, rief man den Vertreter oder die Vertreterin an. Ging es jedoch um menschliche Probleme, dann gab es nur eine Person, und das war die Frau Doktor. Heute würde sie nicht ans Praxistelefon gehen, wenn es klingelte. Sie musste erst einmal versuchen, sich selbst wieder auf die Reihe zu bringen, ehe sie anderen Menschen helfen konnte.

Und sie würde nicht nach draußen gehen! Es war doch absolut sicher, dass man sie mehr als nur einmal ansprechen würde. Und dazu hatte sie weder Lust noch die erforderliche Kraft.

Roberta ging in ihr Schlafzimmer, zog eine Jogginghose an, dazu ein altes, ausgeleiertes T-Shirt, von dem sie sich einfach nicht trennen konnte. So etwas gab es, und man hatte auch keine Erklärung dafür, warum das so war.

Und nun?

Sie verbot es sich, an den Traum und an Lars zu denken. Sie nahm auch keines der Bilder in die Hand, die überall herumstanden. Sie versuchte zu lesen. Es hatte keinen Sinn, die Zeilen verschwammen vor ihren Augen, und sie bekam nicht mit, was sie da überhaupt las. Sie klappte seufzend das Buch zu, machte den Fernseher an, um ihn kurz darauf entnervt auszuschalten.

Musik?

Nein, darauf hatte sie keine Lust, vielleicht noch einen Kaffee, doch dazu hatte sie ebenfalls keine Lust, weil sie dann nämlich hätte aufstehen müssen.

Sie zog die Beine hoch, rollte sich zusammen wie eine Katze, und sie dachte an Lars. Irgendwann war sie ganz woanders, in einer Welt, zu der nur sie Zutritt hatte, einer Welt, in die sie sich nach Herzenslust zurückziehen konnte.

Roberta verlor das Gefühl für Zeit und Raum, befand sich in einer Art Schwebezustand, einer Welt hinter der Welt. Es wurde ihr nicht bewusst, denn die Ärztin in ihr hätte es sonst alarmiert aufgeschreckt.

*

Vielleicht war sie ja auch ein wenig dahingedämmert, denn Roberta fuhr hoch, als eine erboste Stimme sich erkundigte: »Kannst du mir mal verraten, warum du nicht ans Telefon gehst? Ich habe bereits Schwielen an meinen Fingern, weil ich unentwegt versucht habe, dich zu erreichen.«

Roberta hatte einige Mühe, sich zurechtzufinden. Schließlich registrierte sie, dass ihre Freundin Nicki vor ihr stand.

»Nicki … wieso bist du hier?«

»Vielleicht weil ich angefangen habe, mir Sorgen zu machen? Und weil ich dir noch mehr von den wundervollen Begebenheiten erzählen möchte, die ich mit Lennart hatte. Wärst du an das Telefon gegangen, hätte ich mir die Fahrt hierher ersparen können. Schließlich habe ich einen langen Flug hinter mir. Schon vergessen?«

Das klang vorwurfsvoll, sogar ein bisschen beleidigt. Das musste Roberta jetzt wirklich nicht haben. Sie war immer für Nicki da, hörte ihr zu, gab ihr Ratschläge, die dann doch nicht befolgt wurden. Sie war erschöpft, durcheinander, ihre Nerven waren angespannt, und deswegen erwiderte sie ziemlich barsch: »Verflixt noch mal, Nicki, es muss sich nicht immer alles nur um dich drehen.«

Nicki starrte ihre Freundin an. Auf eine solche Weise hatte Roberta noch niemals mit ihr gesprochen. Welche Laus war ihrer Freundin denn über die Leber gelaufen? Nicki wäre unter anderen Umständen jetzt tatsächlich beleidigt gewesen. Doch weil sie sich keinen Reim auf Robertas Reaktion machen konnte, war Nicki stattdessen besorgt. Sie ließ sich in einen der gemütlichen Sessel fallen, blickte ihre Freundin an. Roberta sah wirklich aus wie ein Häuflein Elend. Doch das sprach sie lieber nicht aus, sondern sie erkundigte sich in echter, ungespielter Sorge: »Roberta, komm, erzähl schon. Was ist geschehen?«

Du liebe Güte, dachte Roberta entsetzt. Darüber konnte sie unmöglich sprechen.

Nicki schaute sie herausfordernd an, Roberta riss sich zusammen.

»Nicki, es tut mir leid … äh … alles ist gut.«

Vielleicht würde jemand, der diese kluge, fabelhafte Frau Doktor nur entfernt kannte, sich damit abspeisen lassen. Aber sie doch nicht! Man konnte förmlich riechen, dass etwas nicht stimmte. Nicki als Dramaqueen hatte ein besonderes Gespür dafür.

Es tat ihr leid, dass sie herumgeschimpft hatte, weil Roberta nicht ans Telefon gegangen war, denn dafür musste es einen guten Grund gegeben haben. Und so, wie Roberta aussah …

»Roberta, was soll das? Nichts ist gut. Ich spüre das. Und mir kannst du schon überhaupt nichts vormachen. Wir sind allerbeste Freundinnen, reden über alles. Wir sind eng, so eng, dass kein Blatt Papier zwischen uns passt. Es macht mich sehr traurig, dass du mich jetzt so abspeisen willst.«

Roberta wurde rot vor lauter Verlegenheit. Es war mehr als nur dumm gewesen, nicht gleich mit der Wahrheit herausgerückt zu sein. Sie hatten wirklich keine Geheimnisse voreinander. Aber über einen Traum zu sprechen, den sie für echt gehalten hatte, das war eine Nummer für sich. Sie zögerte noch immer, und Nicki dauerte das Schweigen ihrer Freundin einfach zu lange. Es gab normalerweise nicht viel, was Roberta so sehr aus der Fassung bringen konnte. Ihr kam ein Verdacht, der sie alarmierte.

»Ist dein Ex wieder aufgetaucht und hat unsinnige Forderungen gestellt, die unterhalb der Gürtellinie lagen?«

Ein wenig irritiert schaute Roberta ihre Freundin an.

»Wie kommst du denn darauf, Nicki? Ich habe von Max nichts mehr gehört, und bei unserer letzten Begegnung war er richtig nett und wollte mir sogar helfen. Nein, ich bin überzeugt davon, dass ich auch nichts mehr von ihm hören werde, seit er auf diese Goldmine gestoßen ist, die ihm ein sorgenfreies, mehr noch, ein Leben ermöglicht, bei dem er mit beiden Händen das Geld dieser neuen Frau ausgeben kann.«

Nicki zuckte die Achseln.

»Dann weiß ich nicht, was los ist. Ich finde, jetzt ist es allerhöchste Zeit, dass du es mir erzählst.«

Nun hatte sie keine andere Wahl, auch wenn es ihr überaus peinlich war. Andererseits musste ihr vor Nicki nun wirklich nichts peinlich sein. Sie fing an, in aller Ausführlichkeit zu erzählen, und am Ende sagte sie: »Nicki, ich bin überzeugt davon, dass ich nach unserem Telefonat nicht eingeschlafen, sondern aufgestanden bin. Ich habe geduscht, ich habe mir Kaffee gekocht, und dann hat es geklingelt, und Lars stand vor der Tür.«

Lars, Lars, Lars, dachte Nicki bekümmert. Roberta würde niemals aufhören, an ihn zu denken, mal mehr, mal weniger. Musste sie ihre Freundin vor sich selbst schützen?

»Es war ein Traum, Roberta, finde dich damit ab.«

Roberta schüttelte den Kopf.

»Es war kein Traum, denn ich bin nach unserem Telefonat nicht eingeschlafen. Deswegen bin ich jetzt so durcheinander und frage mich, was das alles zu bedeuten hat, wie es zusammenhängt.«

Arme Roberta!

Die war ja wirklich vollkommen durch den Wind!

Als spräche sie zu einem kleinen Kind, erklärte Nicki: »Roberta, du glaubst, nach unserem Anruf nicht wieder eingeschlafen zu sein.« Roberta wollte sofort widersprechen, doch Nicki ließ es dazu nicht kommen.

»Okay, wo hast du, deiner Meinung nach, den Kaffee getrunken?«

Die Antwort kam prompt.

»Hier, an diesem Tisch.«

Nicki nickte.

»Alma ist nicht da, konnte nichts wegräumen. Und ich glaube nicht, dass du deine Kaffeetasse in die Küche gebracht hast, oder? Ich sehe nur die, die vor dir steht. Vermutlich hast du dir den Kaffee erst nach dem Traum gekocht, oder? Und war die Kaffeemaschine benutzt oder unbenutzt?«

Roberta musste nicht lange überlegen, sie stimmte Nicki zu, es hatte keine Tasse gegeben, die Kaffeemaschine war nicht benutzt worden.

Roberta musste eine Patientin oder einen Patienten nur ansehen und wusste schon, was mit ihm los war. Für ihr eigenes Verhalten jedoch hatte sie in diesem Moment keine Erklärung, und alles verunsicherte sie nur noch mehr.

»Nicki«, erkundigte sie sich bang, »bin ich dabei, meinen Verstand zu verlieren?«

Nicki schüttelte den Kopf.

»Nein, die Vergangenheit hat dich wieder mal eingeholt, diesmal mit voller Wucht, weil du noch nicht mit ihr abgeschlossen hast. Auch wenn es sehr schmerzhaft ist, finde dich damit ab, dass Lars nicht mehr am Leben ist. Seine Schwester hat es getan, und das war gut so. An was klammerst du dich eigentlich, Roberta? Dort, wo Lars verschwunden ist, kann niemand überleben. Ich hab dir von Lennart erzählt, meinem Glück mit ihm. Das hast du mit in deine Träume genommen und auf dich und Lars übertragen. Ich bin keine Traumdeuterin, aber so kann ich es mir vorstellen. Das ist auch sehr naheliegend.«

Diese Worte enttäuschten Roberta, weil sie von ihrer Freundin etwas anderes erwartet hatte.

»Du siehst es nicht als ein Zeichen?«, wollte sie wissen. Damit schmiss Nicki doch sonst immer herum. Und wenn das, was sie da erlebt hatte, kein Zeichen war, dann wusste sie wirklich nicht weiter. Sie schaute Nicki an. Und ihre Enttäuschung wuchs ins Unermessliche, als Nicki den Kopf schüttelte und sagte: »Nein, es war ein Traum. Wofür sollte es denn, deiner Meinung nach, ein Zeichen sein?«

Oh Gott!

Wie sollte sie das nun erklären?

»Dass Lars lebt, dass er möchte, dass wieder nach ihm gesucht wird.«

Nicki konnte nicht glauben, dass diese Worte aus dem Mund ihrer Freundin gekommen waren, die sie wegen ihrer Klugheit, ihres klaren Verstandes immer bewundert hatte. Sie war erst einmal nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Und vielleicht war es ein wenig brutal, was dann aus ihrem Mund kam. Sie konnte einfach nicht anders.

»Roberta, Lars ist tot, und das weißt du.«

Es war still im Raum, man hätte das Herunterfallen einer Stecknadel hören können. Nicki bekam ein schlechtes Gewissen, doch sie konnte ihre Worte nicht zurücknehmen, weil sie zutrafen. Sie war sich ihrer Sache absolut sicher.

Irgendwann warf sie Roberta einen verstohlenen Blick zu.

Ihre Freundin sah zum Gotterbarmen aus. Schon wollte sie aufspringen, zu ihr eilen, sie in den Arm nehmen. Es fiel Nicki schwer, diesem Impuls nicht zu folgen. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie das jetzt lassen musste. Damit würde sie Roberta nicht helfen. Was war bloß los mit Roberta? Wie hatte sie sich da so sehr hineinsteigern können, dass bei ihr Realität und Traum ineinander verschwammen? Klar war Lars Magnusson ein besonderer Mann gewesen, aber auf seine Weise auch ziemlich exzentrisch, Er hatte schon sein eigenes Ding gemacht, war als einsamer Wolf seinen Bedürfnissen nachgegangen. Andererseits hatte er natürlich auch Dinge getan, die einem schon den Atem nehmen konnten, die einem imponierten. Da war einmal der gemeinsame Stern, den er für sich und Roberta gekauft hatte und der nun für alle Ewigkeit beider Namen trug. Und das Buch »Sternenstaub«, das er Roberta gewidmet hatte, das war unglaublich. Sie wusste es, denn sie hatte es nicht nur ins Japanische übersetzt. Und er hatte Roberta heiraten, zu ihr ziehen wollen. Robertas Traum wäre in Erfüllung gegangen. Es war nicht dazu gekommen. Und war es das, weswegen sie ihn nicht loslassen konnte? Nicht loslassen wollte? Idealisierte Roberta jetzt diese Etappe ihres Lebens? Machte sie sich etwas vor, was es in Wirklichkeit vermutlich niemals gegeben hätte?

Nicki war eigentlich nicht jemand, den man um Rat fragte, was Beziehungen betraf. Sie selbst hatte zu viele gegen die Wand gefahren, war verlassen worden oder hatte ihrerseits den Lover verlassen. Eines allerdings war ihr klar, sie konnte, was Roberta und Lars betraf, nicht länger um den heißen Brei herumreden. Um auf Robertas Gefühle Rücksicht zu nehmen, hatte sie meistens geschwiegen, oder sie hatte lieber über sich selbst geredet, und das ging bei ihr immer. Sie hatte Roberta sich und ihren Gefühlen selbst überlassen. Dafür schämte sie sich jetzt. Warum hatte sie nicht bemerkt, wohin das alles steuerte? Ganz einfach, weil ihre Freundin für sie stark war, weil sie alle Probleme bewältigte. Roberta war Nickis Fels in der Brandung gewesen, auf den man alles abladen konnte. Sie hatte nicht Robertas Verletzlichkeit gesehen, nicht bemerkt, dass sie, was Lars betraf, nicht mehr war als ein Blatt im Wind. Nicki schämte sich dafür.

Nach einer ganzen Weile sagte sie leise: »Roberta, lass es los. Behalte all deine Erinnerungen in deinem Herzen, und räum dein Haus auf. Es ist fast ein Museum für Lars. Wohin man schaut, sieht man seine Fotos, ernst, lachend, mit oder ohne Hut. Überall liegt etwas von ihm herum. Ständig auf alles zu sehen, das frisst dich auf, lässt dich nicht zur Ruhe kommen. Ich bin mir sicher, dass Lars es nicht gewollt hätte.« Eigentlich wollte Nicki noch mehr sagen, doch sie sah, wie Roberta in sich zusammenfiel, wie sie leise vor sich hinweinte. Einem Impuls folgend, wollte Nicki aufspringen, zu ihr eilen, sie tröstend in ihre Arme nehmen. Sie ließ es bleiben. Damit half sie Roberta jetzt nicht. Da musste sie allein durch. Es fiel ihr schwer, so inaktiv zu sein. Und irgendwann hielt Nicki es nicht länger aus. Sie sprang auf, murmelte: »Ich koche uns dann jetzt mal einen Kaffee.«

Sie war sich nicht sicher, ob Roberta ihre Worte überhaupt mitbekommen hatte. Nach einem letzten Blick auf ihre in sich zusammengesunkene Freundin ging sie in die Küche, in der sie sich sehr gut auskannte. Schließlich war sie oft genug hier gewesen, na ja, nicht ganz so oft, wie es hätte sein können. Ihre Meinung über den Sonnenwinkel, in dem sie bisher nicht hatte heimisch werden wollen, musste sie eh revidieren.

Lennart wohnte zwar nicht direkt im sogenannten Sonnenwinkel, sondern nur dicht dabei, aber wenn er und sie …

Stopp!

Nicht, wenn er und sie, sondern weil er und sie künftig hier gemeinsam wohnen würden, zusammen mit seinen drei Mädels und dem Personal. Und das im ehemaligen »Seeblick«, an dem früher schon mal ein Traum für sie begonnen hatte, dem sie allerdings dummerweise entflohen war. Noch mal stopp! Man schlug immer nur den Weg ein, den das Leben einem vorgeschrieben hatte, und man nahm sich viel zu wichtig, wenn man glaubte, selbst alles zu entscheiden.

Sie kochte den Kaffee, sah in den Schrank, entdeckte eine Dose mit Keksen, die nahm sie mit, weil ihr bewusst wurde, dass sie seit ihrer Landung auf deutschem Boden noch nichts gegessen hatte.

Es war total verrückt!

Lennart war unterwegs, Roberta am Boden zerstört, und sie konnte nicht loswerden, was sie bewegte, was sie innerlich beinahe zerriss. Es war neu für Nicki, dass sie sich jetzt um Roberta kümmern musste, nicht umgekehrt, wie es sonst immer der Fall gewesen war.

*

Als Nicki ganz vorsichtig das beladene Tablett ins Wohnzimmer balancierte, entdeckte sie, dass Roberta sich zurückgelehnt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, sie war blass, verweint, sah sehr verletzlich aus.

Was war bloß aus der toughen Frau Doktor geworden, die sonst alles souverän im Griff hatte, die sich nicht anmerken ließ, dass sie sich nicht gut fühlte, dass sie unglücklich, traurig, in welchem Zustand auch immer war.

Roberta hatte immer funktioniert!

Und das konnte eigentlich niemand. Nicki fühlte sich schlecht, denn jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihren ganzen Müll jederzeit gedankenlos bei Roberta abgeladen hatte, weil die so stark, so teilnahmsvoll, so empathisch war. Roberta hatte über sich kaum etwas gesagt, und sie hatte nicht gefragt.

Vorsichtig stellte sie das Tablett ab, Roberta öffnete die Augen, richtete sich auf. Sie versuchte ein kleines Lächeln, das so gar nicht zu dem erloschenen Blick passte. Nicki musste erneut an sich halten, sie jetzt nicht zu umarmen, ihr tröstende Worte zuzusprechen. Trost … denn Trost hatte Roberta früher dringend benötigt, als das Unglück mit Lars passiert war. Und da musste Nicki sich nichts vorwerfen, da war sie für Roberta da gewesen. Doch jetzt … Sie hatte schließlich nur geträumt. »Nur«, ja, das traf zu. Vielleicht wusste Nicki deswegen nicht so genau, wie sie sich verhalten sollte. Aber vielleicht befand sie sich auch jetzt gerade in einem kolossalen Irrtum.

»Danke, Nicki … Vor allem danke, dass du da bist, wenngleich ich ein schlechtes Gewissen habe … Hast du eigentlich schon geschlafen nach diesem stundenlangen Flug?«

Nicki winkte ab.

»Hab ich nicht, doch das hätte ich eh nicht getan, weil ich viel zu aufgeregt bin und weil Lennart mir jetzt schon fehlt, obwohl wir uns doch gerade erst getrennt haben.«

Lennart Hegenbach …

Roberta fiel ein, was Nicki ihr von diesem Mann vorgeschwärmt hatte. Deswegen hatte sie auch versucht, sie telefonisch zu erreichen, um noch mehr zu schwärmen, deswegen war sie auch so unvermittelt hereingeschneit. Und sie hatte das alles kaputt gemacht mit ihrer Jammerei.

»Nicki, magst du mir jetzt von deinem Lennart erzählen?«, wollte sie wissen.

Nicki schüttelte ganz entschieden den Kopf.

»Oh nein, das werde ich ganz gewiss nicht tun. Als ich hereinkam, hast du mir an den Kopf geworfen, dass es nicht immer nur um mich gehen kann. Stimmt genau. Ich habe das viel zu oft ausgenutzt. Jetzt bist du mal an der Reihe. Reden wir über dich.«

Das war Roberta inzwischen schon wieder peinlich.

»Nicki, da gibt es nichts zu reden. Ich werde mich bemühen, nicht mehr daran zu denken, ich muss akzeptieren, dass es nur ein Traum war, der mich voll erwischte, weil er mir so real vorkam.«

Sie hörte sich reden, glaubte sich selbst nicht. Auch Nicki tat es nicht. »Roberta, es hat dich kalt erwischt, und bitte, verdränge es jetzt nicht. Lass uns reden, offen und ehrlich, wie wir es eigentlich gewohnt sind. Und wenn du es allein nicht schaffst, dann hol dir professionelle Hilfe. Ärztinnen sind auch nur Menschen.«

Davon wollte Roberta nichts wissen.

»Es ist halt schwer, man kommt nicht darüber hinweg, weil es ein ewiger Schmerz ist.« Nicki widersprach.

»Man kommt darüber hinweg, liebste Freundin, man darf sich nur nicht in dem Schmerz vergraben. Und genau das ist es, was du tust, womit du nicht aufhörst.«

Roberta sagte nichts.

»Roberta, man kann sich auch nicht in seine Arbeit flüchten, denn das genau ist es, was du tust. Tritt wieder ein ins Leben. Du bist eine so wundervolle Frau. Ich bin überzeugt davon, dass es auch noch für dich eine wundervolle Überraschung bereithält.«

Roberta sagte noch immer nichts, doch Nicki ließ sich nicht beirren.

»Roberta, sieh mich doch an. Ich geriet meistens an die verkehrten Männer. Und auch wenn meine Wahrsagerin es aus den Karten gelesen und es mir vorausgesagt hat, wusste ich ganz tief in meinem Herzen, dass Lennart der Richtige für mich ist, dass es vorher eben deswegen mit niemandem geklappt hat, weil ich auf ihn warten sollte.«

Insgeheim atmete Roberta auf. Das war wieder einmal typisch Nicki., die es trotz aller Versprechen nicht lassen konnte, zu Kartenlegern, Hellsehern, Wahrsagern, Kaffeesatzlesern und allem zu gehen, was sich auf diesem Markt tummelte und den Leuten geschickt mit falschen Versprechen das Geld aus der Tasche zog. Sie sagte jetzt lieber nichts. Das Gespräch hatte eine andere Wende genommen, glücklicherweise. Roberta ermunterte ihre Freundin, über Lennart zu reden, und Nicki willigte schließlich ein. Ehrlich mal, das war es, was sie derzeit am meisten bewegte und was sie am liebsten laut in die ganze Welt hinausposaunt hätte.

Roberta war froh, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt stand. Es stimmte vieles von dem, was Nicki gesagt hatte. Doch so nah man sich als Freundinnen auch war, alles ließ sich nicht gemeinsam auf die Reihe bringen. Dazu waren die Menschen einfach zu verschieden, hatten unterschiedliche Ansichten.

Lars…

Der Traum, der so real gewesen war…

Sie war damit noch nicht fertig, doch sie musste es allein aufarbeiten, niemand konnte ihr helfen. Aber es war ganz wundervoll zu wissen, dass es da Menschen gab, denen man voll vertrauen konnte, die auch voll hinter einem standen. Nicki war da zweifelsfrei die Nummer Eins, und direkt dahinter kam Alma. Liebe Menschen, die Roberta niemals hätte missen wollen.

Das war gut so, doch Roberta wusste, dass sie weder mit Nicki noch mit Alma darüber sprechen würde, dass sie Solveig anrufen wollte, damit die noch einen Versuch unternahm, Lars zu finden. Sie würde sich an den Kosten beteiligen, sie würde die Kosten, wenn es sein musste, ganz übernehmen. Das war ihr augenblicklicher Plan. Und wenn das alles wieder nichts brachte, dann hatte sie keine andere Wahl, dann würde sie loslassen. Doch die Bilder, einfach alles, was sie sonst an Lars erinnerte, nichts davon würde sie entfernen. Sie lebte damit. Und von wegen Museum. Da irrte Nicki.

Ihr Blick fiel auf das Foto, das neben der wunderschönen Lampe stand, die sie gemeinsam mit Lars gekauft hatte.

Er lächelte sie an, und sie ertappte sich dabei, dass sie, wenn auch ganz zaghaft, zurücklächelte.

Was für ein Glück, dass Nicki das nicht mitbekam. Die war jetzt ganz in ihrem Element.

Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Roberta wünschte ihrer Freundin von ganzem Herzen, dass Nicki diesmal ihren Mr Right gefunden hatte.

Im Grunde war es wirklich schön, dass sie gekommen war …

*

Es klingelte heftig an der Haustür der Villa Auerbach. Inge war sich für einen Augenblick nicht sicher, ob sie das einfach ignorieren sollte. Seit immer mehr Menschen auf den Hügel in das Neubaugebiet zogen, klingelte es häufiger. Der Sonnenwinkel war aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Man hatte ihn entdeckt als einen Ort, an dem man unter Umständen Geschäfte machen konnte.

Es klingelte erneut, diesmal anhaltender, fordernder. Entnervt erhob Inge sich, ging zur Haustür, um die zu öffnen. Ehe sie etwas sagen konnte, flog ihr jemand um den Hals, und eine muntere Frauenstimme rief, ganz so, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt: »Hallo, meine liebe Inge, da bin ich wieder.«

Es dauerte einen Augenblick, ehe Inge Auerbach sich von ihrer Überraschung erholt hatte, denn sie hätte wirklich mit allem gerechnet, mit dieser Besucherin allerdings gewiss nicht.

»Rosmarie, wieso bist du nicht in Paris?«, erkundigte Inge sich schließlich nicht besonders geistreich.

Die Besucherin lachte.

»Ich kann deine Verwirrtheit verstehen, meine liebe Freundin, ich würde vermutlich nicht anders reagieren. Auch wenn es in Paris wieder einmal ganz großartig war, weil Cecile alles gab, hielt ich es mit den Gedanken an Stella nicht länger dort aus. Sie war so lange weg. Wie müsste es sich für Stella denn anfühlen, vor verschlossener Tür zu stehen? Das wollte ich unbedingt verhindern.«

Deswegen also war Rosmarie zurückgekommen?

»Komm erst mal rein, Rosmarie«, erklärte Inge, dann zog sie ihre Besucherin ins Haus. »Wir müssen ja nicht die ganze Nachbarschaft unterhalten.«

Das war eine unpassende Bemerkung, denn die Auerbach-Villa befand sich in einer exclusiven Lage, weil es sie bereits gegeben hatte, ehe die später preisgekrönte Siedlung gebaut worden war.

Rosmarie folgte ihr, und Inge registrierte, dass Rosmarie großartig aussah.

Das Outfit, das sie trug, stammte eindeutig aus Paris. Man musste einfach neidlos den Franzosen zugestehen, dass sie etwas von Mode verstanden.

Neidisch war Inge nicht. Sie war kein Modefreak, doch mit sicherem Blick stellte sie fest, dass sie das Modell durchaus nachnähen könnte, wollte sie aber gar nicht. Es reichte schon, dass Pamela sie immer wieder dazu drängte, etwas nachzunähen, was irgendein Idol von ihr trug. Das hatte allerdings nachgelassen. Pamela wurde älter, und sie begann, ihren eigenen Stil zu entwickeln, und die Schwärmerei für jemanden nahm ebenfalls ab. Jetzt war Pamela nur daran interessiert, irgendwann ein gutes Abitur zu machen. Erstaunlicherweise wollte sie noch immer Handchirurgin werden wie ihre Schwägerin Charlotte. Ach ja, Pamela war schon ein wahrer Sonnenschein. Doch um die ging es gerade nicht, sondern um Rosmarie, die so plötzlich hereingeschneit war.

»Komm, setz dich, Rosmarie«, bat Inge, nachdem sie die gemütliche, große Wohnküche erreicht hatten, den Lebensmittelpunkt der Auerbachs.

Das hätte Rosmarie allerdings auch ohne diese nette Aufforderung von sich aus getan. Sie kannte sich schließlich aus in der Villa Auerbach.

Ungefragt schenkte Inge auch Kaffee für Rosmarie ein, holte aus einem Schrank selbst gebackene Kekse, die sie auf eine hübsche Silberschale legte, schob sie Rosmarie gleichfalls zu. Und die griff sofort beherzt hinein, sie wusste, welche Backkünstlerin Inge war.

»So, Rosmarie, und jetzt spann mich bitte nicht länger auf die Folter. Ihr seid tatsächlich vorzeitig zurückgekommen, weil Stella unerwartet im Sonnenwinkel auftauchen könnte?«

Sofort wurde sie von Rosmarie korrigiert. »Nicht wir sind zurückgekommen, sondern lediglich ich bin es. Heinz ist in Paris bei Cecile geblieben. Er ist ein wenig sauer auf mich, und irgendwo kann ich ihn auch verstehen. Ich war es schließlich, die ihm in den Ohren lag, diese Frankreichreise endlich zu unternehmen. Und es war von Anfang an herrlich, nicht nur, weil Cecile alles für uns getan hat. Paris ist halt eine Stadt, in der man träumen, schwelgen und lieben kann. Heinz und ich unternahmen auch viel gemeinsam. Es war beinahe wieder so wie bei dieser wundervollen Reise mit dem Camper, bei der wir unsere Liebe zueinander entdeckten. Wie du weißt, war danach vieles wieder abgeflacht, weil der Alltag uns irgendwann eingeholt hatte. Wir waren ganz schön verliebt. Na ja, Paris heißt bestimmt nicht zufällig die Stadt der Liebe.«

Inge schüttelte den Kopf. Sie verstand Rosmarie nicht.

»Und auf all das hast du wegen Stella verzichtet?«

Rosmarie trank etwas von ihrem Kaffee, nahm sich einen Schokoladenkeks von der Schale, danach bemerkte sie kleinlaut: »Es ist nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich war fest davon überzeugt, dass Heinz mit mir zurückkommen würde. Sein Verhältnis zu Stella ist wohl noch gestörter als gedacht. Er ist der Meinung, dass wir uns nicht nach Stellas Wünschen richten müssen, sondern sie sich nach unseren. Wir müssen nicht springen, weil sie sich dazu bequemt hat, ihre Zelte wieder in Deutschland aufzuschlagen, nach einer sehr langen Zeit des Schweigens.«

Inge überlegte nicht lange.

»Rosmarie, Heinz hat recht.«

Man sah Rosmarie an, dass sie jetzt eine andere Antwort erwartet hätte.

Sie war ein wenig enttäuscht. »Inge, wir sind doch die Eltern und Großeltern.«

Inge nickte.

»Klar seid ihr das. Doch das bedeutet wirklich nicht, dass ihr euer Leben nach Stella ausrichten müsst. Denk an meine Worte von neulich!«

Inge hatte ja recht, dennoch blieb Rosmarie bei ihrer vorgefassten Meinung.

»Aber jetzt ist sie wieder da, und ich möchte Stella und meine Enkelkinder so schnell wie möglich sehen.«

Inge gab ihr einen Dämpfer, und das bestimmt nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil sie Stella kannte. Schließlich war die mal ihre Schwiegertochter gewesen.

»Rosmarie, immer vorausgesetzt, Stella möchte das ebenfalls. Ich weiß zwar von Ricky, dass Stella zwar mal in den Sonnenwinkel kommen möchte, um uns alle zu sehen. Aber wann das sein soll, das steht in den Sternen. Es kann recht bald sein oder noch eine Weile dauern.«

Rosmarie schluckte.

»Auf jeden Fall werde ich dann daheim sein«, bemerkte sie ein wenig bockig, um dann leise hinzuzufügen: »Es war ein wenig unüberlegt von mir, meine Zelte in Paris abzubrechen, nicht wahr?«

Das konnte Inge nur bestätigen, doch sie hatte keine Lust, jetzt noch ewig über dieses Thema zu sprechen.

»Jedes Ding hat zwei Seiten, Rosmarie. Wenn du so willst, bin ich auf jeden Fall eine Gewinnerin, denn du hast mir gefehlt. Ich bin froh, dass du wieder hier bist.«

Rosmarie lächelte.

»Du hast mir auch gefehlt, wenngleich es in Paris wirklich unvergleichlich schön war. Cecile ist ein wunderbarer Mensch, und es kann nicht schaden, dass Heinz jetzt allein Zeit mit ihr verbringen kann. Sie ist schließlich seine Tochter, und die beiden haben eine ganze Menge nachzuholen, weil sie sich erst kennengelernt haben, als Cecile bereits erwachsen war.«

»Ja, das ist wirklich schade. Ceciles Mutter hat Vater und Tochter um etwas gebracht, was nicht nachzuholen ist. Und so etwas ist sehr, sehr schade. Es kommt ja leider öfter vor, als man denkt. Menschen werden einander vorenthalten, es wird gelogen, und das alles, weil man nicht an die anderen, die Betroffenen denkt, sondern rein egoistische Ziele verfolgt. In Ceciles Leben war es ein wenig anders, das darf man schon sagen. Du weißt es besser als ich, dass Heinz und seine Adrienne voneinander getrennt worden waren. Das war tragisch, dennoch hätte Adrienne nicht bis kurz vor ihrem Tod damit warten dürfen, Cecile über ihren Vater aufzuklären. Doch bitte, lass uns davon aufhören. Es geht uns nichts an, mich schon überhaupt nicht, und wenn man so will, ist es ja zu einem versöhnlichen Ende gekommen. Missie und Beauty habt ihr ja hier im Sonnenwinkel zurückgelassen. Die müssen sich doch wahnsinnig gefreut haben, dich endlich wiederzusehen.« Rosmarie lachte.

»Das zu glauben, wäre ja sehr schmeichelhaft für mich, doch ich bin überzeugt davon, dass ihr Interesse eher den ihnen mitgebrachten Leckerli galt als mir.«

Das Thema Stella war damit vorerst einmal vom Tisch, und es gab ja auch wirklich eine ganze Menge, worüber sie reden konnten. Auf jeden Fall war es schön, dass Rosmarie wieder daheim war, darüber freute Inge sich, und ehe sie erneut Kaffee einschenkte, holte sie weitere Kekse, denn der Bestand auf der Silberschale hatte bereits auf erschreckende Weise abgenommen.

*

Als Sophia von Bergen das kombinierte Wohn- und Esszimmer betrat, blieb sie verblüfft stehen.

Der Tisch war geradezu festlich gedeckt, darauf stand nicht nur das Geschirr, das sie nur zu besonderen Gelegenheiten hervorholten.

Es gab frische Brötchen, Croissants, Toast, besondere Marmeladen, köstlichen Aufschnitt, ja sogar Räucherlachs war zu sehen, nicht zu vergessen, frisch gepresster Orangensaft. Und ein schöner Blumenstrauß fehlte auch nicht.

»Da bist du ja endlich, kleine Langschläferin«, rief Angela, lief auf ihre Mutter zu, umarmte sie, gab ihr einen Kuss.

»Oh, ich bin schon sehr lange wach, habe ein wenig herumgetrödelt, gelesen, weil ich dich nicht stören wollte. Doch sag, mein Kind, was hat das zu bedeuten? Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand von uns Geburtstag hat. Und auch sonst gibt es nichts, was man gebührend feiern müsste.«

Angela ließ ihre Mutter los, sie war ein wenig verlegen.

»Mama, so setz dich erst einmal, und sag mir bitte, was du trinken möchtest, Tee oder Kaffee? Es steht beides parat.«

Sophia setzte sich, sie war gerührt, alles war wirklich wunderschön, und es fehlte an nichts. Trotzdem beschlich sie ein Gefühl des Unbehagens.

»Tee bitte«, sagte Sophia, die es kaum erwarten konnte, zu erfahren, welchen Anlass es für diesen besonders gedeckten und besonders bestückten Tisch gab.

Angela schenkte ein, viel zu langsam, wie es Sophia in ihrer Ungeduld schien. Sie selbst nahm Kaffee, setzte sich. Sophia wollte nicht länger warten.

»Angela, was ist los?«

Sie hätte noch mehr fragen können, denn ihre Neugier war mit dieser einen Frage längst nicht befriedigt. Sie verkniff es sich.

Es war eine einfache Frage, doch wie es schien, hatte Angela Schwierigkeiten, die zu beantworten.

»Muss denn immer etwas los sein, wenn man es sich nett macht, Mama?«

Sophia kannte ihre Tochter nur zu gut, um zu wissen, dass es damit nicht getan war.

»Nein, natürlich nicht, mein Kind. Doch wenn man jemanden so gut kennt wie ich dich, dann weiß man, dass etwas dahintersteckt.«

Angela errötete, doch dann lächelte sie.

»Mama, dir kann man wirklich nichts vormachen. Also gut, es gibt einen Anlass … zuerst einmal, Jean Pierre wird nicht in den Sonnenwinkel kommen, und das bedauert er sehr, weil er dich sehr gern persönlich kennengelernt hätte.«

Eigentlich hatte Sophia gerade zu ihrer Teetasse greifen wollen. Das ließ sie erst einmal bleiben.

»Er kommt nicht?«

Tausend Gedanken und Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Und eben das, glaubte Angela, erraten zu können.

»Mama, keine Sorge, zwischen Jean Pierre und mir ist es nicht aus. Es …«, sie brach ihren Satz ab, erkundigte sich stattdessen, »sollen wir nicht erst einmal ganz gemütlich frühstücken, und hinterher reden wir über alles?«

Das hätte Angela jetzt nicht sagen dürfen. Es stand also doch etwas im Raum, etwas, was wichtig zu sein schien. Wie sollte sie dann genüsslich in ein Lachsbrötchen beißen oder ein Croissant essen? Das ging jetzt überhaupt nicht.

»Angela, spann mich bitte nicht länger auf die Folter, sondern sage mir, was geschehen ist. Hat es damit zu tun, dass dein Freund nun nicht kommen wird?«

Sie hatte haargenau ins Schwarze getroffen, denn Angela nickte. Und dann geschah erst einmal überhaupt nichts, weil Angela in ein Brötchen mit Himbeermarmelade biss und sich ganz viel Zeit damit ließ. Sie wollte Zeit gewinnen, keine Frage. Und auch wenn sie wie auf heißen Kohlen saß, konnte Sophia ihre Tochter jetzt nicht zwingen, gefälligst schneller zu essen oder es erst einmal ganz zu lassen. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Angela hatte den letzten Bissen ihres Brötchens kaum heruntergeschluckt, als Sophia sagte: »Und jetzt schieß los, erzähl.«

Nun hatte sie keine andere Wahl mehr. Außerdem, es war besser, es sofort hinter sich zu bringen. Wenn nur der Anfang nicht so schwer wäre! Angela wusste, dass ihre Mutter sehr enttäuscht sein würde.

»Mama, es hat sich etwas in unseren Plänen geändert. Das ist auch der Grund, warum Jean Pierre nicht herkommt. Unsere Reise beginnt früher als geplant.«

»Was heißt früher?« Diese Bemerkung konnte Sophia sich einfach nicht verkneifen.

»Nächste Woche, ich habe also noch eine ganze Menge zu tun, vor allem muss unsere Frau Doktor prüfen, ob irgendwelche Impfungen vorher noch erneuert werden müssen.«

Sophia saß wie versteinert da. Angela war doch gerade erst wieder nach Hause gekommen, und nun wollte sie schon wieder weg?

»Mama, es tut mir unendlich leid, ich hatte es mir ja auch anders vorgestellt. Aber Jean Pierre ist auch bloß ein kleines Rädchen innerhalb eines umfassenden Geschäftssystems. Er muss sich dem fügen, und da ich ihn begleiten werde, muss ich es ebenfalls tun.«

Sophia konnte noch immer nichts sagen, Wellen der Enttäuschung überfluteten sie.

Angela bekam ein schlechtes Gewissen.

»Mama, an den Tatsachen hat sich ja nichts geändert, alles beginnt nur früher.«

Sophia winkte ab. »Ist schon gut.« Diese drei Worte hatte Sophia sich mit ersterbender Stimme hervorgepresst.

»Mama, ich verschwinde doch nicht für immer. Egal, wohin meine Reise auch gehen wird, das hier wird immer mein Zuhause bleiben, auch wenn ich nicht immer anwesend bin. Aber du, liebste Mama, du wirst für immer den allerersten Platz in meinem Herzen haben, das ist gewiss.«

Sophia war gerührt, dennoch konnten diese liebevollen Worte nicht die Enttäuschung, die in ihr war, hinwegspülen. Aber sie durfte es Angela auch nicht zu schwer machen, sie musste sich zusammenreißen.

»Und wo fängt die Reise an? In Botsuana, wie geplant?«, wollte sie wissen und tat sehr interessiert. Tatsächlich bewegte es sie viel mehr, dass jede Reise sie und Angela voneinander trennte.

Der neue Sonnenwinkel 81 – Familienroman

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