Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6

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Für einen Augenblick war Rosmarie Rückert wie erstarrt. Zuerst der Schatten, dann der dumpfe Knall …

War es wirklich geschehen, oder hatte sie sich alles nur eingebildet, getragen von dieser Angst um Heinz, die plötzlich da gewesen war?

Rosmarie versuchte, sich zu beruhigen und schob ihr Verhalten darauf zurück, dass halt alles ein wenig zu viel gewesen war – die Auflösung des großen Villenhaushalts in Hohenborn, der Umzug in den Sonnenwinkel …

Rosmarie war eine Frau, die sehr gut organisieren konnte, die tatkräftig war. Doch wenn sie ehrlich war, dann war alles doch ziemlich anstrengend gewesen und ihr war mehr als nur einmal bewusst geworden, dass sie nicht mehr die Jüngste war.

Der Schatten …

Der dumpfe Knall, Schlag, was immer es auch gewesen war, es hatte sie beunruhigt.

Warum stand sie jetzt nicht einfach auf, um nachzusehen? Bis zur Terrassentür, von wo aus es gekommen war, waren es nur ein paar Schritte!

Rosmarie wusste nicht, was sie zurückhielt. Als es allerdings immer unerträglicher wurde, stand sie entschlossen auf, ging zur Terrassentür, riss sie auf, und dann …

Rosmarie schluckte, denn mitten auf den Steinen lag ein großer schwarzer toter Vogel!

Das war jetzt nichts Weltbewegendes, so etwas geschah immer wieder, das hatten sie auch bei der Villa gehabt. Warum war sie jetzt deswegen so durch den Wind?

Rosmarie wusste es!

Und das hing mit dem zusammen, was Heinz ausgesprochen hatte, ehe er ins Schlafzimmer gegangen war, um sich ein wenig auszuruhen.

Sie hatte seine Worte noch im Ohr, die sie so sehr beunruhigt hatten – »solange noch Zeit ist«, dann habe sie nicht mehr diesen Klotz am Bein, jetzt sei alles viel überschaubarer, es könne immer etwas passieren, niemand habe das ewige Leben …

Diese Worte hatten Rosmarie beängstigt, weil sie sich bereits seit einiger Zeit Sorgen um Heinz machte. Es war doch nicht normal, dass ein Mann wie er dauernd müde war, antriebslos.

Und dann jetzt der schwarze Vogel, es musste ein Rabe sein, und er war besonders groß.

Doch das war es nicht, was ihr jetzt durch den Kopf ging. Es war ein Zeichen …, sagte man den Raben nicht nach, sie seien Unheilsbringer?

Die Sorge um Heinz, seine Worte, und nun der Rabe!

Das hatte etwas zu bedeuten, und sie spürte das Unheil förmlich, es nahm ihr den Atem.

Rosmarie steigerte sich in etwas hinein, was sie unter normalen Umständen nicht so gesehen hätte. Es wäre dann für sie ein toter Vogel gewesen, und es hätte ihr leidgetan, dass er gegen die Scheibe geprallt war.

Aber so?

Sie bekam nicht mit, dass sie nicht mehr allein in dem sehr geschmackvoll eingerichteten Raum war. Erst als sie eine Stimme hörte, wirbelte sie herum.

Es war Meta, ihre treue Seele, die mit ihnen in den Sonnenwinkel gezogen war und für die sie extra eine Einliegerwohnung hatten bauen lassen, denn ein Leben ohne Meta wäre für Rosmarie und Heinz unvorstellbar. Meta gehörte zu ihnen, sie war mittlerweile längst so etwas wie ein Familienmitglied geworden.

Rosmarie wurde bewusst, dass sie schrecklich aussehen musste, als Meta sich ganz besorgt erkundigte: »Frau Rückert, geht es Ihnen nicht gut?«

Rosmarie versuchte sich zusammenzureißen, sie konnte Meta doch jetzt nicht erzählen, weswegen sie so durch den Wind war, deswegen deutete sie auf den auf der Terrasse liegenden toten Vogel.

»Das arme Tier«, bedauerte Meta, »wir müssen unbedingt etwas auf die Scheiben kleben, was die Flugrichtung der Vögel ändert, denn sonst werden wir häufig solche Zwischenfälle haben, und das wäre schade um die Vögel. Aber der Garten ist groß, die Scheiben sind es ebenfalls …«

Rosmarie hatte jetzt nicht die Nerven, sich das anzuhören, und sie war froh, dass Meta ihren Satz abbrach, um ihn fortzusetzen: »Ich kümmere mich gleich darum. Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mich noch brauchen, weil ich sonst gern meine Wohnung weiter einrichten möchte. Sie ist so wunderschön, und ich weiß überhaupt nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll, dass Sie das möglich gemacht haben.«

Rosmarie strich ihr über den Arm.

»Meta, wenn sich jemand bedanken muss, dann sind wir es doch, mein Mann und ich. Es macht uns sehr glücklich, dass Sie mit uns hergezogen sind.«

Meta wurde ein wenig verlegen, winkte ab. »Etwas Besseres hätte mir doch überhaupt nicht passieren können. Ich fand den Sonnenwinkel mit diesem unglaublichen See, der fantastischen Ruine Felsenburg als über allem thronende Kulisse schon immer toll. Ich hätte allerdings nicht im Traum daran gedacht, dass ich einmal hier leben würde. So etwas kann sich ein Normalsterblicher überhaupt nicht erlauben.«

Rosmarie schämte sich beinahe ein wenig, dass sie alles als eine Selbstverständlichkeit hinnahm und Meta reinweg aus dem Häuschen war, dabei bewohnte die bloß eine Einliegerwohnung.

Sie sagte, dass man sie heute nicht mehr benötige, dass Heinz und sie ja in den ›Seeblick‹ gehen würden.

»Aber wenn Sie den Vogel …«

Rosmarie musste den Satz überhaupt nicht beenden, denn Meta versprach, sich sofort darum zu kümmern.

Rosmarie wollte überhaupt nicht wissen, was nun mit dem toten Vogel geschehen würde. Sie wollte ihn nur nicht mehr sehen, also ging sie nach ein paar Worten, sie hatte es eilig ins Schlafzimmer zu kommen. Und dort sah sie, dass sich Heinz angezogen quer übers Bett geschmissen hatte, und er schlief.

War er so blass und sah krank aus? Oder sah sie es nur so, weil der Gedanke sie bereits seit einiger Zeit nicht losließ, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sei.

Sie stellte sich vor das Bett, blickte zu ihm hinunter.

Ihm durfte nichts passieren! Sie hatten sich doch gerade erst gefunden und hatten ihre Gefühle füreinander entdeckt, und das nach all diesen Jahren, und sie hatten noch so unendlich viel vor. Sie wollten gemeinsam mit einem Camper die Welt erobern, so zu reisen, das war ihre neue Leidenschaft, und sie würden nur auf sich angewiesen sein, und natürlich wollten sie diesmal Beauty und Missie mitnehmen, und die Wohnung in Paris wartete auf sie, der Urlaub mit Cecile in der Provence stand bevor. Rosmarie freute sich schon sehr auf die unendlichen Lavendelfelder, die mit ihrem Duft der ganzen Landschaft eine gewisse Leichtigkeit, beinahe Fröhlichkeit gaben, und die das Herz mit Freude erfüllten. Zumindest ihr ging es so, und selbst wenn es nicht so wäre. Sie liebte Cecile wie eine eigene Tochter, und um Zeit mit dieser liebenswerten jungen Frau verbringen zu dürfen, würde sie sich mit einer armseligen Hütte zufriedengeben.

Rosmarie beugte sich zu ihrem Mann hinunter, strich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht, berührte sanft seine Wange.

Hatte er es mitbekommen, oder träumte er gerade etwas, was ihm ein leichtes Lächeln auf die Lippen zauberte?

Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie ihn nicht verlieren wollte, und sie würde darauf drängen, dass er sich bei Frau Dr. Steinfeld untersuchen ließ. Und erst danach würde sie aufatmen, oder …

Nein!

Rosmarie rannte beinahe panisch aus dem Schlafzimmer. Sie wollte sich nicht von diesen Gedanken einholen lassen, das mit dem Vogel hatte überhaupt keine Bedeutung. Es war ein Aberglaube, in schwarze Vögel, speziell in Raben, etwas hineinzuinterpretieren.

Für ganz unterschiedliche Kulturen wurde dem Raben die Kraft der Magie zugeschrieben. Und war es jetzt nicht eine Art von Magie, die gerade in ihrem Leben stattfand? Von der erdrückenden und kalten Pracht der Villa waren sie in dieser Haus gezogen, in die Helle, die Leichtigkeit. Und in der indianischen Tradition wurden viele Dinge als schwarz bezeichnet, aber niemals das Böse …

So versuchte Rosmarie sich zu beruhigen, und sie begann sich zu beruhigen, als Meta noch einmal ihren Kopf zur Tür hereinsteckte, um ihr zu sagen, dass der Vogel weg sei.

Raben waren klug, sie hatten gerade bei den Indianerstämmen eine große Bedeutung, doch genug davon, sie lebte mit ihrem Heinz im Sonnenwinkel, und genau da hoffte sie gemeinsam mit ihrem Mann noch viele wundervolle Jahre zu verbringen, in Liebe, mit Zärtlichkeit, Nähe …

Rosmarie wollte jetzt keinen Lebensplan aufstellen, weil sie aus eigener Erfahrung wusste, dass so etwas niemals funktionierte.

Sie trat nochmals an die Terrassentür, es war eigentlich nur aus einem Reflex heraus, weil sie doch wusste, dass sie den toten Vogel dank Meta nicht mehr sehen würde. Doch dafür sah Rosmarie etwas ganz Unglaubliches. An einer Stelle des grauen Himmels zeigte sich ein blutroter Fleck, die untergehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen hinunter zur Erde.

Ja, dachte Rosmarie, und eine unglaubliche Erleichterung erfüllte sie in diesem Augenblick. Wenn man an Zeichen glauben wollte, dann war das jetzt eines, eines für einen Neubeginn voller Schönheit, aber auch Kraft und Verheißung …

Sie entschied sich dafür, nicht mehr an den toten Vogel zu denken, sondern das, was sie da gerade sah, in ihrem Herzen zu behalten …

*

Eigentlich hatte Alma mit einer Freundin aus ihrem Gospelchor einen Einkaufsbummel in Hohenborn machen wollen. Und sie hatte sich sogar darauf gefreut, weil sie sich neue Schuhe kaufen wollte. Doch diese Verabredung sagte sie ab, weil sie viel Wichtigeres zu tun hatte.

Sie war aufgeregt und konnte es noch immer nicht glauben, dass sich für sie ein Traum erfüllen würde. Das, worüber sie sich so sehr ihren Kopf zerbrochen hatte, ohne eine Lösung zu finden, wurde wahr. Und es hatte nur einiger Worte bedurft. Sie dankte dem Himmel, eine so wundervolle Chefin zu haben, die Frau Doktor hatte doch wahrhaftig sofort zugestimmt, als sie von Pia, dem obdachlosen Mädchen, gesprochen hatte und ihrem Wunsch, sie am liebsten bei sich aufzunehmen. Wirklich, es war unglaublich. Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, hatte sie gesagt, sie solle Pia holen. Und genau das würde sie jetzt tun.

Ach, die Frau Doktor, Alma war voller Dankbarkeit, wenn sie an die dachte. Einen so guten Menschen hatte sie noch nie zuvor kennengelernt, und wie sie sich um ihre Patienten kümmerte, sie tat viel mehr als sie musste, sie schaute nicht auf die Uhr, und Alma war sich sicher, dass sie auch nicht alles aufschrieb, sondern vieles umsonst machte, wenn sie wusste, dass die Krankenkassen es nicht übernehmen würden. Alma wollte ja überhaupt nicht mehr daran denken, wie viel Gutes sie von der Frau Doktor erfahren hatte. Ohne die würde sie jetzt nicht mehr leben, in dem düstersten Moment ihres Lebens war die Frau Doktor ihr wie ein Engel erschienen. Sie würde es nie vergessen, und wie ein Engel wollte sie jetzt für Pia alles in die Hand nehmen, das war eine kleine Wiedergutmachung für alles Gute, was sie nicht nur erfahren hatte, sondern auch täglich erfuhr. Sie hatte im Doktorhaus wirklich den Himmel auf Erden. An Pia konnte sie etwas Gutes tun. Doch bei der Frau Doktor? Sie wurde ganz traurig, als ihr bewusst wurde, dass sie deren Herzenswunsch nicht erfüllen konnte. Sie besaß keine magischen Kräfte, sonst hätte sie den Herrn Lars Magnusson längst wieder in das Leben der Frau Doktor gezaubert. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, merkte Alma es täglich, wie sehr die Ärmste litt, sie hatte schließlich Augen im Kopf, außerdem musste man schon das Gemüt eines Fleischerhundes haben um nicht zu sehen, wie es die Frau Doktor innerlich vor Schmerz beinahe zerriss.

Weil sie sich wieder auf einem guten Weg befand, hatte sie dem lieben Gott verziehen und sich mit ihm ausgesöhnt. Das war erst, weiß Gott, nicht so gewesen, denn sie hatte sich immer wieder gefragt, warum sie die Zeche für den Leichtsinn, die Skrupellosigkeit ihres Exmannes hatte zahlen müssen.

Das war Schnee von gestern, sie hatte sich längst mit ihrem Schicksal ausgesöhnt, und die Vergangenheit tauchte nur noch selten in ihren Gedanken auf. Sie hatte eine wunderschöne Wohnung, ein Auto, doch das war nicht das Wichtigste. Sie hatte die beste Chefin der Welt, hatte ihren Gospelchor, hatte ihr Maltalent erkannt, und es waren sogar Galeristen hinter ihr her, um sie unter Vertrag zu nehmen. Doch das war nichts für Alma, sie wollte nicht die Welt erobern, sie strebte nicht nach Geld und Ruhm, das, was sie hatte, das reichte ihr, und wenn sie etwas von dem auf Pia übertragen konnte …

Alma stieg aus ihrem Auto, sie wusste, wo sie Pia finden konnte, und so schön der Park in Hohenborn auch war, heute hatte sie keinen Sinn für die wundervollen Bäume, Sträucher, die sorgfältig angelegten Pflanzungen aller Art.

Sie hatte sie zufällig entdeckt, und sie hatte sich auf unerklärliche Weise zu dem Mädchen hingezogen gefühlt. Sie hatte ihr Geld zustecken wollen, doch das nahm Pia nicht, für ein Getränk und belegte Brötchen hingegen war sie dankbar, und sie hatte auch nichts gegen die warme Wolldecke einzuwenden gehabt, die Alma ihr eines Tages mitgebracht hatte.

Anfangs war Pia ziemlich einsilbig gewesen, doch dann hatte sie deren Geschichte so nach und nach erfahren, und es war eigentlich zu viel, was sie hatte ertragen müssen, eine schwache Mutter, die sich schließlich umgebracht hatte, weil sie das perspektivlose Leben an der Seite eines prügelnden, trinkenden, rabiaten Mannes nicht mehr ertragen konnte. Pia war stark, sie war nicht zerbrochen, doch es war schon schlimm genug, dass sie sich jetzt mit Schuldgefühlen herumschlug, weil sie glaubte, sie hätte den Freitod ihrer Mutter verhindern können.

Abgründe über Abgründe …

Und es war so schrecklich, dass die wohlhabende Gesellschaft so überhaupt nichts von den Menschen mitbekam, die an deren Rande lebte, dahinvegetierte.

Pia …

Alma beschleunigte ihre Schritte, sie hatte das Mädchen so sehr in ihr Herz geschlossen, sie war wie eine eigene Tochter für sie, die sie leider nicht hatte. Doch wenn, dann könnte sie in Pias Alter sein.

Ein wenig atemlos kam Alma an der Stelle an, an der sie Pia immer getroffen hatte, an der Mauer am Ende des Parkes, geschützt von den Steinen und dem mächtigen Hortensienbusch.

Alma hatte so fest damit gerechnet, Pia zu treffen, dass Wellen der Enttäuschung sie durchfluteten. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.

Wo war Pia?

Sie war nicht da, daran gab es keinen Zweifel, und sie konnte sich auch nicht unsichtbar gemacht haben. Dennoch suchte Alma den ganzen Ort ab, vergebens, es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sich hier jemand aufgehalten hatte, nicht einmal ein Fitzelchen Papier.

Ein wenig kopflos begann Alma herumzulaufen, hielt Ausschau, vergebens. Sie war allein auf weiter Flur, und sie wusste auch, dass ihr kaum jemand begegnen würde. Dieser Teil des Parkes war kaum frequentiert, und sie war auch zum ersten Male nur zufällig hergekommen, weil die efeuüberwucherte Mauer sie aus der Ferne fasziniert hatte, ja, und da hatte sie Pia entdeckt, und so war alles gekommen …

Wo war sie?

Diese Frage war in ihrem Kopf wie festgemeißelt, und sie hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen, und das war nötig, denn sie musste sie finden.

Alma begann durch den ganzen Park zu laufen, sie sah Spaziergänger, Mütter mit ihren kleinen Kindern, Menschen, die am Hundespielplatz auf den Bänken ringsum saßen und sich unterhielten.

Zu denen musste sie nicht gehen, die konnte sie alle nicht fragen, was sollte sie denn tun …

»Haben Sie Pia gesehen?«, in den Raum werfen?

Sie hatte hier und da gelesen oder gehört, dass junge Streuner, wie sie allgemein genannt wurden, als seien sie herrenlose Hunde, sich an gewissen Plätzen trafen. Oder gab es in Hohenborn eigentlich so etwas wie ein Obdachlosenasyl für junge Menschen?, schoss es ihr durch den Kopf. Das wäre etwas, was sinnvoll wäre, um einen Teil des Geldes anzulegen, dass Frau Dr. Müller erhalten hatte, um Gutes dafür zu tun. Aber das half ihr jetzt nicht weiter.

Wo war Pia?

Alma begann zu laufen, bis ihr bewusst wurde, dass sie herumirrte wie ein aufgescheuchtes Huhn, das dem Fuchs davonlaufen wollte, der in den Hühnerstall eingedrungen war.

Erschöpft ließ sie sich auf einer Bank nieder. Ihre Freude war in sich zusammengefallen wie ein Häufchen Asche, und nun bekam Alma Angst.

Und wenn Pia nun etwas zugestoßen war?

Ein derartiger Gedanke war nicht abwegig. Es waren nicht nur gute Menschen unterwegs, und ein hübsches, junges Ding konnte sehr leicht zum Opfer werden.

Was sollte sie jetzt tun?

Alma, die eigentlich sehr Resolute, fühlte sich ein wenig überfordert. Sollte sie sich im Krankenhaus erkundigen? Sollte sie zur Polizei gehen? Das war wohl kein so guter Gedanke. Auch wenn Pia gerade mal volljährig geworden war, gehörte sie zu einer Personengruppe, die in der Gesellschaft ganz weit unten angesiedelt war, die man am liebsten ignorierte und über sie hinwegsah, um keine Schuldgefühle zu bekommen, weil es einem gut ging oder weil man sich sonst gar verpflichtet fühlen könnte zu helfen.

Alma wurde sehr schnell klar, dass die Polizei sich nun wirklich nicht um einen Verbleib ­einer Obdachlosen kümmern würde, zumal sie selbst ja über Pia auch nicht gerade viel wusste. Sie wusste, wie sie hieß, hatte nach und nach etwas über diese unglückselige Familienkonstellation erfahren. Doch sie kannte keinen Nachnamen, und sie wusste nicht, woher Pia gekommen war. Stammte sie aus der Gegend hier, hatte der Zufall sie hergespült? War sie mit jemandem hergekommen? Es gab ganz viele Fragen und nicht eine einzige Antwort.

Alma fühlte sich wirklich überfordert, und sie war an ihre Grenzen gekommen, vor allem fühlte sie sich so ohnmächtig, überhaupt nichts tun zu können. Und natürlich kam auch die Enttäuschung hinzu, weil sie sich alles so schön ausgemalt hatte. Sie hatte sogar in ihrer Wohnung eines der Zimmer, das sie vorher nicht genutzt hatte, für Pia hergerichtet, und da hatte sie wirklich an alles gedacht, weil Pia es schön und gemütlich haben sollte. Und nun das …

Alma stand auf und ging zu ihrem Auto zurück, diesmal ganz ohne Eile, sondern sie war enttäuscht, besorgt, ja, vor allem besorgt. Sie stieg ein, überlegte. Was sollte sie jetzt tun? Nach Hause fahren? Anderswo suchen? Doch wo? Sie kannte sich in dieser Szene so überhaupt nicht aus, zumal Pia ja allein gelebt hatte und nicht mit anderen Obdachlosen zusammen.

Alma schreckte zusammen, jemand hupte, weil er ihren Parkplatz haben wollte. Sie startete, dann fuhr sie los, und sie wunderte sich, dass sie aus der engen Parklücke herausgekommen war, ohne ein anderes Fahrzeug zu rammen, so wie sie gerade drauf war. Da konnte man doch ein Ei über sie schlagen.

Pia …

Ihre Gedanken beschäftigten sich nur mit dem Mädchen, und rein mechanisch schlug sie den Weg Richtung Sonnenwinkel ein. Vielleicht war es ja gut, direkt nach Hause zu fahren. Nach Hause …, normalerweise wurde Alma immer ganz warm ums Herz, doch das war jetzt schwer, und sie war sorgenvoll.

*

Eigentlich hätte Roberta bei einer ihrer Patientinnen einen Krankenbesuch machen sollen, bei einer Patientin, die sie mochte. Doch diesmal hatte sie Claire gebeten, das für sie zu übernehmen, und zum Glück gab es da überhaupt keine Probleme. Claire sprang gern ein. Auch wenn sie von den Patienten und Patientinnen immer mehr akzeptiert wurde, hatte sie lange noch nicht den Beliebtheitsgrad von Roberta erreicht. Das musste sie auch nicht, schließlich befanden sie sich nicht in einem Wettkampf, bei dem es darum ging, Siegerin zu werden. Claire war so glücklich, mit Roberta zusammenzuarbeiten, dass sie sich für all das Gute, was ihr widerfuhr, ein wenig erkenntlich zeigen wollte. Und da konnte sie eines auf jeden Fall tun, ihr die Arbeit ein wenig zu erleichtern. Es war unglaublich, was Roberta alles schaffte, was sie auch freiwillig auf sich nahm.

Roberta wartete gespannt auf Alma, die die junge Pia mit ins Doktorhaus bringen wollte. Roberta bereute ihre ganz spontane Entscheidung nicht einen einzigen Augenblick. Sie half, wo sie nur konnte, und in diesem Fall ging es nicht nur um dieses Mädchen, sondern auch um Alma, die jetzt alte Wunden aufarbeiten konnte. Sie hatten nicht mehr darüber gesprochen, doch es gab etwas, was man so leicht nicht heilen konnte, weil die Verletzungen oder der Schmerz zu tief waren. Und wer konnte das besser beurteilen als Roberta? Die sprach auch nicht mehr über den Verlust von Lars, der einfach so verschwunden war. Doch ganz tief in ihr tobte es weiter. Aber sie wollte jetzt nicht an Lars denken. Sie war neugierig auf Pia, und als Roberta hörte, dass aufgeschlossen wurde, rannte sie eilig zur Tür.

Alma kam herein.

»Wo ist Pia?«, erkundigte Roberta sich sofort. Doch als sie Almas betroffenes Gesicht bemerkte, fügte sie leise hinzu: »Wollte sie nicht mitkommen?«

Alma sagte nichts, musste sie auch nicht. Roberta nahm die enttäuscht wirkende Frau in die Arme.

Alma genoss für einen Augenblick die spontane Geste, dann macht sie sich frei, weil sie sich doch nicht einfach von der Frau Doktor umarmen lassen konnte. Wie sah das denn aus? Außerdem ging es doch jetzt nicht um sie, sie war in Ordnung, sie hatte alles, was sie brauchte. Es ging um Pia!

»Sie ist weg«, sagte sie dumpf und machte sich aus der Umarmung frei.

»Wie, weg …«

Dann erzählte Alma ihr alles, nachdem Roberta sie geistesgegenwärtig zu einem Sessel geführt hatte, denn so, wie Alma aussah, konnte sie jeden Augenblick zusammenbrechen.

Alma hatte Tränen in den Augen, als sie Roberta ansah.

»Was soll ich denn jetzt tun? Vielleicht ist sie krank? Vielleicht hat sie …, ist sie …« Sie traute sich nicht, es auszusprechen, doch Roberta beruhigte sie sofort: »Alma, Sie erzählten doch gerade, dass es von Pia keine Spur gibt. Sollte ihr jemand etwas angetan haben, dann glauben Sie doch nicht, dass der alle Spuren beseitigt. Dann hätte er alles liegen lassen. Während Sie uns jetzt einen Kaffee kochen, wenn Sie dazu in der Lage sind, dann rufe ich im Krankenhaus an, und ich werde mich auch bei der Polizei erkundigen. Und um eine Auskunft zu bekommen, werde ich mich an diesen netten Krimi­nalhauptkommissar Fangmann wenden.«

Alma atmete erleichtert auf. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer ab.

»Das würden Sie tun, Frau Doktor?«

Roberta versprach es, und während Alma in die Küche ging, um den Kaffee zu kochen, begann Roberta zu handeln. Die arme Alma, sie konnte sehr gut verstehen, wie enttäuscht die jetzt war. Roberta unterstützte zwar obdachlose Frauen, doch wie die wirklich tickten, das wusste sie nicht, weil sie eben nicht alle über einen Kamm zu scheren waren, sondern weil es die unterschiedlichsten Schicksale gab.

Zuerst rief Roberta in Hohenborn im Krankenhaus an, dort war sie bekannt und wurde sehr geschätzt, und natürlich bekam sie die gewünschten Auskünfte, die man Alma verweigert hätte. Allein schon wegen des Datenschutzes. Es stand sehr schnell fest, dass keine Pia eingeliefert worden war, dass sich die Neuzugänge in den letzten Tagen in beschaulichen Grenzen hielten. Roberta bedankte sich, das war auf jeden Fall erst einmal beruhigend.

Und dass es nicht nur Roberta beruhigte, sondern in erster Linie Alma, das sah man der an, als sie mit den Kaffee ins Zimmer kam, und ihre Chefin ihr alles erzählte, was sie herausgefunden hatte.

»Alma, so, und jetzt machen Sie sich bitte keine unnötige Sorgen. Das Mädchen kann sich nicht in Luft aufgelöst haben, und wenn sie sich noch in Hohenborn aufhält, dann werden wir sie finden, das verspreche ich Ihnen, Alma.«

Wie selbstverständlich hatte Roberta alles zu ihrer eigenen Sache gemacht.

Alma nickte dankbar, doch innerlich war sie noch immer sehr aufgewühlt. Das erkannte man daran, wie sehr ihre Hand zitterte, als sie ihre Tasse zum Mund führen wollte.

Roberta hätte zwar jetzt ganz gern erst einmal in aller Ruhe ihren Kaffee ausgetrunken, doch Alma blickte sie an wie ein waidwundes Tier, und einem solchen Anblick konnte man einfach nicht widerstehen, Roberta konnte es nicht. Also rief sie den Kommissar an und hatte Glück, ihn sogar direkt zu erreichen, was bei einem Beamten der Mordkommission nicht immer der Fall war. Die mussten nicht nur neue Morde aufklären, doch auch in arbeitsintensiver Kleinarbeit alte Verbrechen aufklären.

Und Henry Fangmann konnte sich in eine Sache verbeißen wie ein Terrier in die Wade eines Menschen, den er nicht mochte. Das wusste sie von Inge Auerbach, die mit dem Kommissar in Verbindung stand. Und von der wusste sie auch, dass Fangman sich außerhalb seines Jobs um gestrauchelte, straffällig gewordene junge Menschen kümmerte, um sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Und er hatte Inge auch ermuntert, sich einzubringen, was sie auch tat.

Mit diesem Hintergrundwissen konnte Roberta natürlich auch ganz ehrlich sein.

Sie erzählte dem aufmerksam zuhörenden Henry Fangmann von Pia und dass sie das Mädchen ins Doktorhaus holen wollten.

»Das ist großartig, Frau Doktor Steinfeld«, rief er sofort geradezu begeistert. »Wenn noch mehr Menschen eine solche Einstellung hätten, dann kämen viele der Jugendlichen von der Straße und bekämen vor allem eine Chance, in der Gesellschaft, die sie verlassen haben, wieder anzukommen.«

Es tat Roberta jetzt leid, dass sie seinen Enthusiasmus bremsen musste.

»Tja, Herr Fangmann, das Problem ist nur, dass das Mädchen verschwunden ist.«

Nach diesen Worten erzählte sie dem Kommissar, was sie von Alma erfahren hatte.

»Wir sind nun ein wenig ratlos, und auch wenn es nicht zu Ihrem Aufgabenbereich gehört, Herr Fangman …, könnten Sie sich bei Ihren Kollegen mal umhören?«

Er wollte noch einmal wissen, wo genau Pia sich aufgehalten hatte, Roberta gab den Telefonhörer weiter an Alma, damit die es ihm genau erklären konnte. Nachdem das geschehen war, reichte sie den Hörer an Roberta zurück, die bedankte sich schließlich nach ein paar Worten beim Kommissar, legte auf.

Sie hatten zwar noch nichts erreicht, doch es war einiges in Bewegung geraten, und der Sonnenwinkel war nicht so groß, um nicht doch etwas von den Zwischenfällen mitbekommen zu haben, die sich hier ereignet hatten. Wahrscheinlich hatte man es gerade deswegen mitbekommen, weil zum Glück hier nicht viel Kriminelles geschah. In einer Großstadt, in der an jeder Ecke etwas passierte, war man abgebrühter, ging schnell nach den ersten Augenblicken der Betroffenheit zur Tagesordnung über.

»Und wann wird er sich kümmern?«, wollte Alma wissen.

»Herr Fangmann hat es versprochen, und ich denke, er wird sich auch daran halten. Nur drängen dürfen wir ihn nicht. Er hat in erster Linie Kapitalverbrechen aufzuklären, und zum Glück müssen wir darüber nicht reden. Alma, ich bin ganz überzeugt davon, dass man Pia finden wird, und vermutlich wird es für ihr Verschwinden eine ganz einfache Erklärung geben.«

Alma blickte die Frau Doktor an. Glaubte sie das wirklich, oder sagte sie es nur, um sie zu trösten?

Roberta war wirklich keine Gedankenleserin, doch sie spürte förmlich, was sich da gerade in Alma abspielte.

Sie versuchte alles, Alma zu beruhigen. Doch gerade, als sie Alma sagen wollte, dass sie in der Praxis an ihrem Schreibtisch noch etwas tun wollte, rief Henry Fangmann an. Er hatte sich wirklich sofort bemüht, und das war ihm hoch anzurechnen. Doch was er zu sagen hatte, das klang nicht gut, und Roberta blickte ganz besorgt Alma an und überlegte insgeheim, wie sie ihr beibringen sollte, was sie da gerade erfahren hatte.

Die ahnte bereits, dass es nichts Gutes war und bekam fast schon so etwas wie eine Schnappatmung. Vielleicht war das jetzt übertrieben, schließlich war Pia nicht ihr eigenes Kind. Aber es gab Situationen im Leben, da war man einfach nur emotional berührt, und das war unabhängig von einem Verwandtschaftsgrad.

Alma starrte ihre Chefin an wie ein hypnotisiertes Kaninchen.

Warum hörte die so lange zu?

Warum nickte sie jetzt?

Und warum erwähnte sie jetzt ihren Namen, dachte Alma verwundert, und was sollte sie besonders gut können?

Ihre Gedanken drehten sich immer schneller wie ein Karussell, das Fahrt aufgenommen hatte.

Endlich beendete die Frau Doktor das Gespräch, Alma hing wie gebannt an ihren Lippen. »Und was hat er gesagt?«, erkundigte sie sich mit vor Erregung heiser klingender Stimme.

Und dann kam eine Erklärung, die niemand in Betracht gezogen hätte.

Man hatte Pia von ihrem Platz vertrieben!

Ein Parkwächter hatte alles, was nicht in der Verordnung für die Benutzung des Parks stand, entfernt.

Und dazu gehörte auch Pia, vielleicht ganz besonders die, weil man nicht wollte, dass der Park, was ganz schnell mal der Fall sein konnte, besiedelt wurde von Leuten, die man dann so schnell nicht wieder wegbekommen würde.

»Und wo ist sie jetzt?«, erkundigte Alma sich angstvoll, diese Erklärung hätte sie eigentlich beruhigen sollen, doch sie war weit davon entfernt.

Roberta zuckte die Achseln.

»Das weiß niemand, für das Ordnungsamt ist nur wichtig, dass der Park gesäubert ist, und man wird künftig darauf achten, dass sich da niemand mehr niederlässt.« Schon wollte Alma ganz enttäuscht eine Bemerkung machen, als Roberta das verhinderte, indem sie fortfuhr: »Herr Fangmann will uns helfen, Pia zu finden, hilfreich wäre für ihn, ein Bild von ihr zu haben. Sie können doch eines zeichnen, nicht wahr, Alma, und das werde ich ihm dann faxen oder mailen.«

Und ob Alma das konnte, sie sprang auf, wollte den Raum verlassen, um Papier und Stifte in ihrer Wohnung zu holen, doch Roberta hinderte sie daran.

»Ich habe alles hier, Alma«, sie stand auf, holte aus einer Schublade Papier und Stifte, und dann sah sie ganz fasziniert zu, wie der Stift nur so über das Papier flog und nach und nach das Gesicht eines jungen Mädchens entstand, eines gut aussehenden jungen Mädchens mit kurzen strubbeligen Haaren und großen Augen, die fragend in die Welt blickten So also sah Pia aus, dachte Roberta, als Alma ihr das Blatt reichte. Es war unglaublich, was Alma da in kurzer Zeit geschaffen hatte, und wieder einmal wurde Roberta bewusst, was für eine Künstlerin Alma doch war. Aber sie hatte kein schlechtes Gewissen mehr wie anfangs, als das Talent hervorgetreten war. Sie hatte Alma nicht aufgehalten, im Gegenteil, sie hatte sie ermuntert. Und dieses Talent nur zum Vergnügen nutzen zu wollen, war Almas Entscheidung gewesen. Jetzt allerdings war es ein Segen. Sie rief Henry Fangmann an, und der bat sie, ihm ein Fax zu schicken, dann nannte er die Nummer, und er versprach erneut, sich umgehend zu kümmern. Roberta bedankte sich, sie verabschiedeten sich voneinander, sie schickte das Fax.

»So, Alma, und jetzt können wir wirklich nichts mehr tun«, sagte Roberta, »und Sie machen sich bitte keine Gedanken mehr, wenn jemand Pia finden kann, dann ist es die Polizei, und es wird für die dank Ihrer Zeichnung leicht sein. Es ist wirklich großartig, wie sie Pia gezeichnet haben. Ich kenne sie ja nicht, doch jetzt kann ich sie mir genau vorstellen.«

Alma wurde rot vor lauter Verlegenheit, und das nahm sie zum Anlass, sich jetzt zu trollen. Gut, es war alles ganz anders verlaufen als gedacht, doch jetzt war sie erst einmal froh, dass sie sich nichts Schlimmes mehr vorstellen musste, obwohl es schon schlimm genug war, einfach verjagt zu werden. Doch dazu hatte, wer immer es auch gewesen war, das Recht.

Roberta blieb allein zurück, und insgeheim atmete auch die auf. Es hätte wirklich alles mögliche passiert sein können. Aber jetzt, da Pia nicht gekommen war, musste sie sich an die Arbeit machen, denn es blieb immer viel unerledigt zurück. ­Außerdem wollte sie sich noch einmal ausführlich mit der Akte eines Blutdruckpatienten beschäftigen, den sie in Verdacht hatte, es mit der Einnahme seiner Tabletten nicht ganz genau zu nehmen.

*

Claire war mit ihren Krankenbesuchen durch, und es freute sie sehr, dass Robertas Patientin mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen war. Das konnte man nicht als Selbstverständlichkeit voraussetzen, denn Roberta wurde von ihren Patientinnen und Patienten geradezu vergöttert, jetzt erwartete man eigentlich nur noch, dass sie über Wasser gehen konnte. Claire neidete ihr das nicht, weiß Gott nicht, da sie Roberta kannte, wusste sie nur zu genau, was für eine begnadete Ärztin sie war, vor allem eine unwahrscheinliche Diagnostikerin. Dafür hatte sie Roberta schon immer bewundert. Das ganze Ärzteteam hatte in schwierigen Fällen herumgerätselt, und da hatte Roberta bereits die richtige Diagnose befunden. Für jeden Arzt war es ein ganz großes Glück, mit einer solchen Person arbeiten zu dürfen, denn etwas färbte immer ab.

Claire wollte gerade am Haus der Kepplers vorbeifahren, als sie ganz spontan auf die Bremse trat. Sie hatten in der Praxis nichts mehr von Astrid Keppler gehört, und weder Roberta noch sie hatten sich weiter gekümmert. Dazu hatten sie überhaupt keine Zeit.

Aber jetzt, Claire wusste auch nicht, was sie veranlasste, aus ihren Auto auszusteigen, auf die Klingel zu drücken, zu warten.

Nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet, von Astrid persönlich, dabei hatte Claire eigentlich erwartet, dass die nette Hausangestellte öffnen würde oder die Kleine.

Astrid erkannte Claire, ihr Gesicht bekam einen entsetzten Ausdruck, und dann stammelte sie: »Ich …, aber ich …, ich habe Sie nicht gerufen.«

»Nein, Frau Keppler«, antwortete Claire. »Ich kam zufällig vorbei«, genau, wie es bei Roberta einmal gewesen war, »und da wollte ich nach Ihnen sehen.«

Sichtbar waren auf jeden Fall die Schrammen und die blaugelben Verfärbungen der Stirn.

Astrid Keppler schien aufzuatmen, Claire konnte sich sogar des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich freute, denn sie bat Claire herein, und sie hatten noch nicht einmal das stylische Wohnzimmer erreicht, als Astrid sagte: »Gut, dass Sie gekommen sind, Frau Dr. Müller, und gut, dass Sie mir den Kopf gewaschen haben, Sie und Frau Dr. Steinfeld. Es war egoistisch von mir, Sie zu rufen.«

Sie nahmen Platz, Astrid bot ihr etwas zu trinken an, doch Claire lehnte ab, so lange wollte sie nun auch nicht bleiben, und es war auch kein Freundschaftsbesuch, sondern insgeheim machte sie sich Sorgen um diese junge Frau, die offensichtlich mit ihrem Leben nicht zurechtkam.

In erster Linie war sie Ärztin, und deswegen erkundigte sie sich nach dem Befinden der Patientin.

Astrid wurde rot.

»Dass Sie mich das noch fragen, nachdem sowohl Sie als auch Frau Dr. Steinfeld wissen, dass ich mir die Verletzungen selbst zugefügt habe, wobei das mit dem verstauchten Fuß dumm gelaufen ist. Das wollte ich nicht, doch dass ich mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen bin, das habe ich …« Sie brach ihren Satz ab, und Claire fragte nicht, sie wusste schließlich alles.

»Wo ist denn Ihre kleine Tochter, Frau Keppler?«, lenkte sie ab.

»Die wollte unbedingt mit zu Frau Wolfram und auch bei der schlafen. Ich weiß nicht, was ich an mir habe, weil niemand mehr bei mir sein will.«

»Frau Keppler, ab einem gewissen Alter, wenn sie aufgehört haben sie fremdeln, finden alle Kinder es großartig, anderswo zu schlafen. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass es bei mir ebenfalls so war, ich wollte unbedingt immer mit einer Tante mitgehen.«

Astrid seufzte.

»Tante, aber nicht mit einer fremden Frau«, bemerkte sie.

Darauf wollte Claire jetzt wirklich nicht näher eingehen. »Frau Keppler, es spielt keine Rolle, ob man miteinander verwandt ist oder nicht, es ist eine Sache des Vertrauens, des Zutrauens. Ich kenne Frau Wolfram zwar nicht näher, doch auf mich macht sie einen sehr freundlichen, zuverlässigen Eindruck.«

Wieder seufzte Astrid, und Claire bereute schon, hergekommen zu sein.

»Ja, das ist sie.«

»Sehen Sie, dann müssen Sie sich auch keine Sorgen machen. Jetzt sind Sie ungestört, und vielleicht sollten Sie diese Gelegenheit nutzen, sich ein paar Gedanken um sich zu machen, was Sie aus Ihrem Leben machen möchte. Sie sind jung, und es kann nicht sein, dass Sie nur danach trachten, wie Sie sich verletzen können, um Ihren Ehemann zu zwingen, zu Ihnen zu kommen. Frau Keppler, ich weiß nicht, was sich bei Ihnen abspielt, doch das, was Sie tun, das ist …, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, ungesund. Was immer für Probleme Sie auch haben, Sie müssen darüber reden. Und wenn Sie etwas loswerden wollen, dann bin ich bereit, Ihnen zuzuhören. Vielleicht finden wir gemeinsam einen Weg aus diesem Dilemma.«

Astrid blickte sie dankbar an.

»Frau Doktor, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist, doch wenn etwas passiert, dann ist Oskar zur Stelle, und das ist es doch, was ich möchte. Er hat sich so verändert, und es kann nicht an mir liegen, denn wenn wir uns sehen, dann ist alles in Ordnung, dann spüre ich sein Verlangen nach mir. Und das ist es auch, was uns anfangs miteinander verband. Wir lernten uns bei einer Vernissage kennen. Ich fing zufällig einen seiner Blicke auf, und dann war es um uns geschehen. Wir konnten nicht voneinander lassen, und so war es die ganze Zeit über, bis …«, sie machte eine kurze Pause, »bis er plötzlich mehr arbeitete, auch mal über Nacht wegblieb, und dann mussten wir Knall auf Fall umziehen. Wenn es nicht grotesk wäre, könnte man beinahe annehmen, es sei eine Flucht gewesen, denn ich konnte mich von meinen Freunden kaum verabschieden, nur wenigen meine neue Adresse hinterlassen. Aber hierher will ohnehin keiner kommen, was sollen sie auch hier. Hier gibt es nur Bäume. …«

»Und den See«, wandte Claire ein, »nicht zu vergessen die Felsenburg.«

Astrid winkte ab.

»Ein verfallenes Gemäuer, was ist das schon.«

Claire merkte, dass sie so nicht weiterkam, Astrid Keppler wollte am Sonnenwinkel nichts Schönes finden.

»Und wie hat Ihr Mann es erklärt, dass Sie hergezogen sind?«, wollte Claire wissen.

»Er hat tausend Gründe gefunden, aber uns ging es vorher gut, wir hatten alles. Unser Leben war schön, seit wir hier sind, fliegt es mir um die Ohren, und Oskar kommt immer seltener nach Hause.«

»Und haben Sie mal mit Ihrem Mann geredet?«

»Ich weiß doch, was dann kommt, dass er es für uns tut, damit es uns an nichts mangelt, dass er auch gern mehr Zeit mit uns verbringen würde, dass wir sein Leben sind, und dann vertröstet er mich auf später, bittet mich, Geduld zu haben, und was soll ich dann machen, mich mit ihm streiten? Ich bin doch froh, dass er da ist, weil ich ihn liebe, und er liebt mich auch, das weiß ich ja, aber da ist was …«

Auf eine Ratestunde wollte Claire sich jetzt nicht einlassen, und so schlug sie Astrid vor, Eigeninitiative zu entwickeln.

»Sie haben Frau Wolfram, die sich um Amelie kümmern kann, dann den Kindergarten. Wer hindert Sie daran, wenigstens den Vormittag für sich zu nutzen. Im Tierheim in Hohenborn wird jede Hand gebraucht. Und Ihnen gehört doch der kleine rote Flitzer vor der Tür, oder?«

Das bestätigte Astrid, doch dann fügte sie hinzu: »Ich habe es nicht so mit Tieren, außerdem habe ich eine Tierhaarallergie.« Das hatte sie auch schon Roberta erzählt.

Ehe sie weitere Vorschläge machte, erkundigte Claire sich: »Und gibt es etwas, was Sie interessiert, Frau Keppler?«

Jetzt erwachte die junge Frau ein wenig aus ihrer Lethargie. »Mode«, kam es wie aus der Pistole geschossen, »Mode interessiert mich sehr.«

Na endlich.

Claire schlug ihr vor, sich dann doch in einer der Boutiquen und anderen Bekleidungsgeschäften einen Teilzeitjob zu suchen. Schon war Astrid wieder mutlos.

»Da sucht bestimmt niemand eine Aushilfe.«

Da widersprach Claire sofort.

»Also gestern habe ich noch in Hohenborn in dem angesagten Textilladen ›Outfit‹ ein großes Schild gesehen, dass Teilzeitkräfte gesucht werden. Und ich verstehe zwar nicht viel von Mode, doch ich finde, vom Typ her passen Sie genau in solch ein Geschäft. Anstatt Trübsal zu blasen, sollten Sie sich hübsch machen und nach Hohenborn fahren und sich vorstellen.«

Astrid zögerte.

»Für mich wäre das jetzt eine Herausforderung, ich würde hinfahren, und ich würde alles dransetzen, dass man mich nimmt. Und ich weiß, dass Sie das können, Sie müssen es nur wollen.«

Astrid zögerte noch immer, und da fuhr Claire stärkere Geschütze auf.

»Wenn Sie einen Job haben, überbrücken Sie die Wartezeiten besser, und Sie müssen nicht mehr mit dem Kopf gegen die Wand laufen. Frau Keppler, Sie sind eine junge, intelligente Frau. Sie können doch nicht Ihr Leben mit Warten auf Ihren Ehemann verbringen? Nun sind Sie mal hier, machen Sie das Beste draus.«

Sie griff in ihre Tasche, holte einen Zettel heraus, schrieb eine Nummer darauf.

»Frau Keppler, ich gebe Ihnen jetzt, was ich nur äußerst selten tue, meine private Telefonnummer. Bitte rufen Sie mich an und erzählen mir, was sich ergeben hat. Ich bin überzeugt davon, dass es klappen wird.«

Astrid zögerte, doch dann griff sie nach dem Zettel, und für Claire bedeutete das, dass sie gewonnen hatte. Es war also doch nicht so verkehrt gewesen, anzuhalten.

Sie erhob sich.

»Und nun will ich Sie nicht länger aufhalten, Frau Keppler, ich wünsche Ihnen Glück, und rufen Sie in dem Laden nicht an, gehen Sie einfach vorbei. Wenn man Sie sieht, wird man leichter eine Entscheidung treffen.«

Astrid bedankte sich, Claire verzichtete darauf, zur Tür begleitet zu werden, sie kannte sich auf. Und jetzt hoffte sie nur, dass, wenn sie jetzt ging, es das letzte Mal sein würde.

Claire ging zu ihrem Auto, stieg ein, warf noch einen kurzen Blick auf das Haus, vor dem der auffallende Flitzer stand. Damit kam ihr Mittelklasseauto längst nicht mit, doch das erweckte keinerlei Neidgefühle in ihr. Sie war mit ihrem Leben nicht nur zufrieden, nein, sie war überglücklich und unendlich dankbar. Und ein Auto? Das war doch nicht mehr als nur ein Fortbewegungsmittel.

Sie blickte auf die Uhr.

Claire war doch länger bei Astrid Keppler geblieben als gedacht, und eigentlich war das ja überhaupt nicht vorgesehen gewesen. Aber es war schon gut, dass sie angehalten hatte, wenn die junge Frau sich aufraffen würde, und das hoffte Claire sehr, könnte sich manches ändern. Und wenn nicht, Zeit ließ sich nicht zurückholen.

Jetzt musste sie halt umdenken, doch sie brauchte sich wirklich keine Gedanken darüber zu machen, wie sie den Rest des Tages verbringen würde. Da gab es einmal das Geld von Gloria Weitz, über dessen Verwendung sie sich noch immer nicht klar war, da gab es immer noch unausgepackte Kisten und Kartons, und außerdem hatte sie Bereitschaftsdienst und konnte jederzeit abgerufen werden. Doch deswegen hatte sie wahrhaftig keinen Leidensdruck. Auch sie war Ärztin aus Leidenschaft, da unterschied sie nichts von Roberta.

*

Rosmarie Rückert wartete auf Inge Auerbach, die zum Frühstück kommen wollte, und Inge würde Brötchen mitbringen.

Rosmarie freute sich, Inge zu sehen, und sie hoffte sehr, die würde sie von ihren Gedanken abbringen, denn das mit dem toten Raben wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Dabei hatte Heinz, als er in ein Notariat fuhr, einen ganz munteren Eindruck gemacht. Vielleicht sorgte sie sich unnötig?

Und sie machte sich auch nicht mehr die Sorgen, ob ihre Entscheidung, in den Sonnenwinkel gezogen zu sein, richtig gewesen war. Klar war sie das.

Goldene Sonnenstrahlen verfingen sich in den kostbaren Möbeln, die hier viel besser zur Geltung kamen als in der alten Villa in Hohenborn. Sie hatten ja nicht viel mitgenommen, doch Rosmarie war froh, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Meta hatte bereits Kaffee gekocht, und sie war jetzt damit beschäftigt, es sich in ihrer eigenen kleinen Wohnung gemütlich zu machen.

Als es klingelte, sprang Rosmarie auf, um Inge zu öffnen. Die brachte nicht nur die versprochenen Brötchen mit, frisch geholt vom Bäcker, sondern auch noch einen wunderschönen Blumenstrauß.

Rosmarie war ganz gerührt. Aber so war Inge.

»Du bringst mir Blumen mit, dabei müsste ich dir einen ganzen Waggon voller Blumen schenken für alles, was du hier gemacht hast. Ohne deine tatkräftige Hilfe, vor allem ohne dein umsichtiges Handeln wären wir längst nicht so weit.«

Es war ungewohnt für Inge, zum Frühstück bei den Rückerts vorbeizugehen, bislang war es immer umgekehrt gewesen, Rosmarie war zu ihnen gekommen. Doch es fühlte sich gut an, und Inge hatte überhaupt nichts dagegen, dass es jetzt mal umgekehrt war. Auf jeden Fall war sie froh, Rosmarie in ihrer Nähe zu haben. Auch wenn es anfänglich nicht vorstellbar gewesen war hatten sie sich angefreundet, nicht nur das, sie konnten offen zueinander sein.

Und nachdem Rosmarie die Blumen versorgt hatte, sie es sich schmecken ließen, platzte sie sofort mit der Geschichte mit dem toten Raben heraus.

»Es macht mir Angst, Inge«, rief sie, »hoffentlich ist das kein schlechtes Omen.«

Was war das denn?

So kannte sie Rosmarie überhaupt nicht. Schwarze Vögel als ein schlechtes Omen zu sehen. Das war Spökenkiekerei, und so etwas gehörte einfach nicht zu Rosmarie, die wusste, wo es längs ging. Vielleicht war ja der ganze Umzug in den Sonnenwinkel zu viel gewesen. Manche jungen Leute hätten es nicht in der kurzen Zeit geschafft. In solchen Situationen konnten die Nerven schon mal blankliegen, und man sah etwas, was es überhaupt nicht gab, was man sonst auch nicht sehen würde.

»Deine Sorgen hätte ich gern«, sagte Inge deswegen auch. »Es fliegen leider öfter Vögel gegen Fensterscheiben und kommen zu Tode, und das ist kein Zeichen, sondern eine bedauerliche Tatsache.«

Was hatte Inge da zuerst gesagt? Es war ein ganz banaler Satz, doch der ließ Rosmarie aufhorchen.

»Stimmt etwas nicht, Inge?«, erkundigte sie sich deswegen auch prompt.

Normalerweise hätte Inge diese Frage sofort beantwortet, zumal sie und Rosmarie ganz offen zueinander waren. Doch das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Es war Inge unangenehm, mit ihren eigenen Problemen anzufangen. Aber sie kannte Rosmarie, die würde nicht aufhören zu fragen.

»Ach, es ist wegen Werner. Ich bin sauer auf ihn.«

»Wieso das denn?«, kam auch die prompte Frage. »Du bist doch mit allem, was Werner tut, einverstanden. Und streiten könnt ihr euch jetzt wohl nicht, es liegen nicht nur Zeitverschiebungen, sondern Kontinente zwischen euch. Entfernungen und Trennungen können in einem solchen Fall ja wohl eher Sehnsüchte erwecken.«

Schön wäre es!

Inge hatte keine andere Wahl. Sie erzählte Rosmarie von dem unsäglichen Telefongespräch mit Werner, das eigentlich nicht viel mehr gewesen war als ein Monolog seinerseits, und das sie wütend beendet hatte.

Eigentlich war das für Rosmarie unvorstellbar. So etwas kam überall vor, doch nicht bei den Auerbachs! Um die hatte Rosmarie so etwas wie eine goldene Schleife gelegt und sie auf ein Podest gestellt, weil sie das Vorzeigepaar schlechthin waren. Gut, in der Vergangenheit war von dem Glorienschein hier und da etwas verblasst. Auch bei den Auerbachs ging es hin und wieder zu wie bei Hempels unterm Sofa, aber dennoch blieb etwas, dem man nacheifern musste.

»Inge, du weißt doch, wie Werner ist. Er liebt es nun mal, im Mittelpunkt zu stehen, und dorthin wird er als international bekannter und geachteter Professor halt immer wieder gestellt. Da verliert man schon mal die Bodenhaftung. Du hast ihm diesen Part überlassen, sonst hätte er überhaupt nicht der werden können, der er ist. Du bist die starke Frau an seiner Seite, und darauf kannst du stolz sein. Du hast dich im Hintergrund gehalten, hast wundervolle Kinder großgezogen, auf die du stolz sein kannst. So etwas wird leider als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, dafür bekommt man keinen Applaus. Ich bewundere dich auf jeden Fall sehr dafür. Ich wollte, wir wären uns schon früher begegnet, dann hätte ich dir nachgeeifert und hätte meine Kindererziehung nicht gegen die Wand gefahren und hätte kein Leben geführt, für das ich mich jetzt schäme.«

Rosmarie und ihre Vergangenheit!

Die holte sie immer wieder ein, dabei bestand überhaupt kein Grund dazu. Entscheidend war doch, dass Rosmarie die Kurve bekommen hatte, und das hatte sie wirklich, und dafür war sie zu bewundern. Und das sagte Inge ihr auch, denn Rosmarie hatte einiges vorzuweisen. Sie hatte Schmuck und Outfits verkauft, Heinz bekniet, Geld zu geben, ein großes Fest zur Rettung des Hohenborner Tierheims organisiert und ausgerichtet, über das man heute noch sprach. Sie arbeitete freiwillig in einer Seniorenresidenz. Sie hatte ihr altes Leben komplett umgekrempelt, war eine andere geworden, dafür verdiente sie Bewunderung. Und diese Liste ließ sich fortsetzen, auch mit den Sprachschulen.

»Rosmarie, lass uns davon aufhören«, schloss sie, »du kannst deine Vergangenheit nicht ungeschehen machen, und ich komme aus meiner Haut nicht heraus. Verändern wird sich eh nichts, ich liebe Werner, und ich werde ihn niemals verlassen, er ist meine Lebensliebe. Ich würde mir auf jeden Fall etwas mehr Aufmerksamkeit von ihm wünschen. Nach dem Telefonat war ich auf jeden Fall ziemlich fertig, und was für ein Glück, dass da gerade Jörg angerufen hat …«

Sie brach den Satz ab. Das war jetzt unüberlegt gewesen, schließlich war Jörg Auerbach, ihr Sohn, mit Stella Rückert, Rosmaries Tochter, verheiratet gewesen.

»Inge, du musst meinetwegen nicht aufhören, über Jörg zu sprechen, er war ein wundervoller Schwiegersohn, und ich wäre froh, es wäre so geblieben. Wie geht es ihm und seiner neuen Frau?«

Das, was da geschehen war, war eine unendliche Geschichte, die für Rosmarie besonders schmerzlich war, denn sie hatte von ihrer Tochter nichts mehr gehört.

Sie erzählte nur wenig, weil sie nicht wusste, ob es Rosmarie nicht doch verletzte, dass Jörg eine neue Liebe gefunden hatte, mit der er sogar ein Kind haben würde.

»Auf jeden Fall bin ich fest entschlossen, nach Stockholm zu fliegen«, schloss sie.

»Stockholm muss wunderbar sein, das haben Heinz und ich ebenfalls auf unserer Agenda, mit unserem Wohnmobil die nordischen Länder zu bereisen, am liebsten bis hinauf nach Lappland.«

Sie seufzte.

»Ich bin ja froh, dass wir es überhaupt für uns entdeckt haben, doch insgeheim bedaure ich, dass wir nicht jünger sind. Die Welt ist so herrlich, und man entdeckt sie am besten nicht in Luxushotels, wie es früher unsere Art war zu reisen, sondern mitten in der Natur, im Wohnmobil, wo man sich nicht ausweichen kann, wo man sich kennenlernt.«

Sie blickte Inge an.

»Hätten wir nicht spontan diese für uns ungewohnte Reise unternommen, dann wären wir uns niemals nähergekommen, dann wären wir immer noch zwei Fremde, die sich hier und da begegneten. Vielleicht solltest du mit Werner ebenfalls auf diese Art reisen.«

Das brachte Inge zum Lachen, wenn sie sich ihren Werner in einem Wohnmobil, Campingwagen oder was auch immer vorstellte.

»Rosmarie, mein Werner wüsste nicht mal, wie man ein solches Fahrzeug lenkt. Ich wäre schon glücklich, er würde sich aufraffen, mit mir mal einen Kurzurlaub zu machen, und wenn es ganz hier in der Nähe wäre. Einmal raus aus dem Alltagstrott, miteinander Zeit verbringen, ich …«

Sie hörte auf und sagte ganz energisch.

»So, und jetzt ist wirklich Schluss. Reichst du mir mal bitte das Glas mit der Heidelbeermarmelade? Sie schmeckt köstlich.«

»Und sie ist von deiner Ricky gemacht. Die ist wirklich ein Teufelsmädchen, dass sie neben ihren fünf Kindern auch noch Marmelade kocht, und nicht nur das.«

Über Ricky sprach sie gern, denn die war mit Fabian verheiratet, Rosmaries Sohn. Und die beiden waren überglücklich, und wenn man über Ricky und Fabian sprach, da konnte man nirgendwo anecken. Und das taten die beiden Frauen schließlich auch, es war ein sehr ergiebiges Gesprächsthema, denn da gab es ja auch noch die fünf wohlgeratenen Enkelkinder, auf die sie sehr stolz waren. Und dass dann besonders über die kleine Teresa gesprochen wurde, das war kein Zufall. Die war ein Nachkömmling, besonders herzig, nicht nur das, Teresa mischte die Familie gehörig auf …

Die grauen Wolken verflüchtigten sich, Rosmarie vergaß den schwarzen Vogel, Inge ihren Ärger wegen Werner.

Da unterhielten sich zwei begeisterte Großmütter …

*

Pamela hüpfte aufgeregt neben ihrer Großmutter umher, und die musste aufpassen, nicht mit dem Pflaster in Berührung zu kommen, weil Pamela wirklich außer Rand und Band war. Ach, es war ja auch so gut zu verstehen. Heute sollte der kleine Fips in die Freiheit entlassen werden, und deswegen konnte Teresa die Aufregung ihrer Enkelin verstehen. Es machte sie schon sehr stolz, dass Pamela sie gebeten hatte, bei diesem für sie großen Ereignis dabei zu sein. Sie hatte die Oma gefragt, nicht die Mutter! Es war kein Konkurrenzkampf, der sich da abspielte. Was das Tierheim betraf, da waren Enkelin und Oma ein richtig gutes Team. Und Pamela würde auch niemals vergessen, dass die Großeltern es gewesen waren, die sie zu Frau Dr. Fischer gebracht hatten, als sie wegen des Todes ihres über alles geliebten Jonny zu Tode betrübt gewesen war. Das war gefühlte Ewigkeiten her, doch für Pamela würde es immer präsent bleiben. Das war der erste Verlust, den sie zu beklagen hatte, und so etwas prägte. Jonny würde immer in ihrem Herzen bleiben, weil er der erste Gefährte ihrer Kindheit gewesen war, doch Luna hatte sich da auch schon ganz schön breitgemacht, und Sam, der eigentlich ihrer Mutter gehörte, tummelte sich da auch herum. Was sollte es, mein, dein, unser. Luna und Sam waren Familienhunde, und sie wurden von allen geliebt. Und das wussten die zwei auch ganz genau.

Aber heute ging es nicht darum, heute ging es um Fips. Und da toben ziemlich zwiespältige Gefühle in Pamela. Klar gehörte ein kleiner Spatz in die Freiheit, doch loslassen war nicht einfach. Sie hatte Fips schließlich gefunden, als er aus dem Nest gefallen war und gewiss die Beute eines Tieres geworden wäre, hätte sie ihn nicht geistesgegenwärtig ins Tierheim gebracht.

Pamela erfasste ihre Omi am Arm.

»Was meinst du?«, wollte sie wissen, »ob Fips sich wohl freut, in die Freiheit fliegen zu dürfen? Oder würde er lieber in der Voliere bleiben?«

Teresa blieb stehen, strich ihrer jüngsten Enkelin behutsam und zärtlich zugleich über die wilden braunen Locken.

»Wenn du mich fragst, gehört er in die Freiheit, mein Kind. Hat er keine Lust dazu, wird er dem Angebot widerstehen und die Voliere nicht verlassen. Wir werden es sehen.«

Sie gingen weiter.

»Omi, ich bin ja so froh, dass Frau Dr. Fischer mich von Fips Abschied nehmen lässt und dass ich die Tür öffnen darf.«

»Das ist das Mindeste, was sie tun kann, schließlich bist du die Lebensretterin des kleinen Vogels.«

Insgeheim war Teresa froh, dass sie das Tierheim erreicht hatten und hineingehen konnten. Dort wurden sie auch von der Heimleiterin begrüßt, und Pamela rannte schon mal los, um sich von Fips zu verabschieden.

Teresa von Roth und Frau Dr. Fischer blieben allein zurück.

»Sie ist ein so großartiges Mädchen«, rief Frau Dr. Fischer, »Frau von Roth, Sie können so froh sein, ein solches Enkelkind zu haben. Das habe ich vorher noch niemals gesehen, dass ein Mädchen freiwillig das gesamte Taschengeld hergibt, um einen kleinen Spatz zu retten. Dabei wollte ich es nicht einmal in Empfang nehmen, doch Pamela hat einfach darauf bestanden.«

Das wusste Teresa nicht, Pamela hatte kein einziges Wort darüber verloren, das sprach für sie, und ohne das Gehörte wusste Teresa, welch wunderbares Herz Pamela hatte.

Damit keine Rührseligkeit aufkam, überreichte Teresa der verdutzt dreinblickenden Heimleiterin einen Briefumschlag und erläuterte: »Ich habe bei uns im Sonnenwinkel wieder mal an den Türen geklopft. Es ist keine so große Ausbeute, doch besser wenig als überhaupt nichts, nicht wahr?«

Margot Fischer konnte nicht anders, sie musste Teresa einfach umarmen. Die sammelte wirklich unermüdlich, und wenn sie das jetzt mit dem Geldumschlag ein wenig abtat, Teresa von Roth war auch für größere Beträge gut, da musste sie nur daran denken, wie sie Piet van Beveren motiviert hatte, sich großzügig zu zeigen. Und das die Rückerts Spender geworden waren, das war auch Teresa von Roth zu verdanken.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Müssen Sie auch nicht, sollen wir jetzt zu Pamela gehen? Die zappelt bestimmt vor lauter Aufregung, und ich glaube, in deren Herzen schlagen zwei Seelen. Die eine wünscht sich die Freiheit für Fips, die andere möchte ihn hier halten, um ihn immer besuchen zu können.«

»Ach, Frau von Roth, es gibt hier so viele Tiere, denen etwas Zuspruch guttäte, ein Spatz gehört gewiss nicht dazu, und um Fips müssen wir uns keine Sorgen machen. Er ist ein prachtvolles Kerlchen geworden und ziemlich frech und dominant.«

Sie hatten die Voliere erreicht, an der Pamela stand und vergebens versuchte, mit Fips zu reden.

Als sie ihre Großmutter bemerkte, drehte sie sich um, dann sagte sie zu ihr und Frau Dr. Fischer: »Ich glaube, Fips spürt, dass es für ihn auf die große Reise geht, er flattert ganz aufgeregt hin und her.«

Das glaubte Frau Dr. Fischer zwar nicht, doch dann betrat sie zusammen mit Pamela die Voliere, und es dauerte nicht lange, da war Fips eingefangen. Pamela durfte ihn in die Hand nehmen, und sie redete es sich bestimmt nicht ein, sie fühlte den aufgeregten Herzschlag des kleinen Vogels. Vielleicht aber war es auch ihr eigener Herzschlag, den sie wahrnahm, so aufgeregt wie sie war.

Gemeinsam mit Frau Dr. Fischer ging sie nach draußen.

»Jetzt kannst du Fips fliegen lassen«, forderte Frau Dr. Fischer sie auf.

Pamela zögerte einen Augenblick, strich zärtlich über das graue Gefieder des kleinen Spatzen, dann öffnete sie vorsichtig ihre Hand.

Es geschah nicht sofort etwas, doch dann flatterte Fips davon, genau, wie sie es sich gewünscht hatte, in die Freiheit, wohin er gehörte.

Pamela sah ihm nach, bis er sich irgendwo im Blau des Himmels verlor.

Sie war nur für einen kurzen Moment traurig, und das lag gewiss daran, dass ihre Omi ihr in Aussicht stellte, mit ihr ins ›Calamini‹ zu gehen, um einen großen Eisbecher zu essen.

Aber erst wollten sie sich die Tiere ansehen, ganz besonders die Neuzugänge, und da sie beide sehr tierlieb waren und keine Angst hatten, konnte es überhaupt nicht schaden, ein paar Streicheleinheiten zu verteilen. Ganz bei der Sache war Pamela allerdings nicht, denn sie musste an Fips denken und fragte sich in diesem Augenblick, ob er wohl zurück an den Sternsee geflogen war, wo sie ihn gefunden hatte. Schade, dass sie das nie ergründen würde. Es war nicht davon auszugehen, dass Fips auf sie zufliegen und sich auf ihre Schulter setzen würde.

Nachdem sie einen kleinen Mischlingshund gestreichelt hatte, der ganz zutraulich war, fragte sie ihre Oma: »Was meinst du, Omi, ob Mama und Papa wohl etwas dagegen hätten, wenn ich diesen süßen kleinen Hund mitnehmen würde?«

Teresa erinnerte sich daran, wie schwierig es gewesen war, ihrer Tochter zunächst Sam schmackhaft zu machen.

»Ich denke, du lässt es besser bleiben, mein Mädchen, aber du kannst deiner Mama ja davon vorschwärmen.«

Diese Idee fand Pamela gut, sie hakte sich bei ihrer Oma ein, weil sie jetzt Lust auf das versprochene Eis hatte und sagte leise: »Danke, dass du mitgekommen bist, Omi. Ich bin ja so froh, dass es dich und den Opi gibt. Ihr seid die liebsten Großeltern von der ganzen Welt, und ich hatte ganz schön viel Glück, bei euch zu landen.«

Pamela konnte mittlerweile über ihre Adoption sprechen, zum Glück. Einfacher wäre es für alle Beteiligten gewesen, man hätte Pamela sofort reinen Wein eingeschenkt und ihr gesagt, dass sie adoptiert, aber ein Kind ihres Herzens sei. Darüber heute noch nachzudenken, lohnte sich nicht. Teresa gehörte ohnehin nicht zu den Menschen, die ständig zurückblickten und der guten alten Zeit nachjammerten. Das, woran man sich erinnerte, entsprach eh nicht der damaligen Wirklichkeit.

»Wir hatten Glück, dich in unserem Leben aufnehmen zu dürfen, weil das für uns alle eine ganz große Bereicherung ist, und du bist …«

Teresa brach ihren Satz ab, weil ein Mädchen auf sie zugelaufen war, ungefähr in Pamelas Alter: »Pamela, was machst du in Hohenborn?«

Pamela erzählte von Fips und dass sie nun mit ihrer Oma ein Eis essen gehen würde.

Teresa bemerkte den sehnsuchtsvollen Blick des Mädchens und sagte: »Wenn du Lust hast, dann komm doch mit. Ich lade dich ein.«

Nicht nur das Mädchen freute sich, das, wie sich herausstellte, Jennifer hieß, das tat auch ­Pamela. Und das konnte Teresa gut nachvollziehen. Mit einer Gleichaltrigen konnte man viel interessantere Gespräche führen als mit einer alten Omi. Außerdem war auch schon alles gesagt.

*

Astrid Keppler war lange unentschlossen, wusste nicht, was sie tun sollte. Die beiden Ärztinnen waren so nett, und sie hatten ihr unabhängig voneinander geraten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Die meisten Vorschläge, die die Ärztinnen gemacht hatten, kamen für Astrid nicht infrage. Aber das mit einem Teilzeitjob in einem Textilgeschäft, das würde sie schon interessieren. Aber bestimmt war der Job längst weg.

Astrid versuchte, Oskar zu erreichen. Natürlich war sein Handy wie immer abgestellt, und prompt meldete sich nach der Umleitung des Gesprächs die nette Frau Winkelmann, die allerdings bedauerte, Astrid nicht sagen zu können, wann ihr Mann wieder erreichbar sei.

Astrid bedankte sich, beendete das Gespräch, sie wollte überhaupt nicht mehr wissen, wo Oskar sich gerade aufhielt. Was brachte das denn? Überhaupt nichts, für sie zählte nur, dass er wieder nicht nach Hause kommen würde. Und sie traute sich auch nicht mehr, jetzt etwas zu inszenieren, um ihn zu zwingen.

Jetzt konnte sie zwei Dinge tun, entweder in Lethargie verfallen oder sich aufraffen und nach Hohenborn fahren, zumal sie Amelie heute nicht mehr sehen würde. Die war lieber bei Frau Wolfram als bei ihrer Mutter, und heute wollten die gemeinsam einen Zoobesuch machen.

Auch wenn der Job weg war, hinderte niemand sie daran, ein bisschen durch Hohenborn zu schlendern, sich vielleicht etwas zu kaufen. Geld genug hatte sie ja, und einen großzügigen Ehemann dazu, da konnte sie sich nicht beklagen. Dass die Gegenwart ihres Mannes ihr lieber wäre, würden vielleicht manche Frauen nicht begreifen.

Sie raffte sich auf, duschte, zog sich an, und dann war es ein wenig mühsam, sich die Spuren wegzuschminken, die ihre letzte, unsinnige Attacke hinterlassen hatte. Es ging einigermaßen, doch dann kämmte sie sich die Haare so, dass nichts mehr zu sehen war. Den bandagierten Fuß konnte sie nicht wegzaubern. Doch darum machte sie sich keine Sorge, sie humpelte zwar noch ein wenig, doch das war kaum wahrnehmbar, und den Verband konnte sie unter einer Stiefelette verstecken.

Astrid war schon ein wenig aufgeregt, als sie nach Hohenborn fuhr. Frau Dr. Müller hatte den Weg zu dem Laden gut beschrieben, Astrid fand ihn sofort. Und sie war ein wenig beeindruckt, ›Outfit‹ war ein Geschäft, das sich hinter einem Laden in der Großstadt nicht verstecken musste. Ihr Herz begann zu schlagen, als sie den Zettel im Schaufenster entdeckte. Man suchte noch immer eine Aushilfe, und Astrid fragte sich unwillkürlich, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. War man zu wählerisch, und die Bewerber genügten den Ansprüchen nicht?

Schon wollte sie aufgeben, als sie sich dann doch einen Ruck gab, tief durchatmete und das Geschäft betrat. Die aus Granit und Stahl bestehende Einrichtung war beeindruckend, und Astrid gratulierte sich insgeheim, dass sie sich etwas flippiger angezogen und nicht eines dieser klassischen Outfits gewählt hatte, in denen Oskar sie am liebsten sah. Das wäre ein totaler Fehlgriff gewesen.

Das Geschäft war groß, Verkäuferinnen waren bemüht, Kundinnen zufriedenzustellen. Eine Frau, die ungefähr so alt sein mochte wie sie, kam auf Astrid zu, erkundigte sich nach ihren Wünschen und blieb noch immer freundlich, als Astrid erzählte, weswegen sie gekommen sei.

Die Frau war die Besitzerin Doreen von Senk, die das Gespräch nicht beendete, nachdem Astrid gestehen musste, dass sie keine gelernte Verkäuferin war.

Doreen stellte Fragen, die Astrid zum Glück beantworten konnte, und dann geschah etwas, was Astrid das Gefühl vermittelte, ins kalte Wasser geworfen zu sein, ohne dass danach gefragt wurde, ob sie überhaupt schwimmen könne.

»Dann zeigen Sie mal, was Sie können«, forderte Doreen sie auf, als eine Kundin den Laden betrat.

Astrid schwitzte Blut und Wasser, als sie auf die Kundin zuschritt, sie freundlich begrüßte und sich nach deren Wünschen erkundigte.

Die Frau wollte ein neues Outfit kaufen. »Wissen Sie, ich bin zum Geburtstag bei einer Freundin eingeladen, bei der sich immer nur dieselben Leute treffen. Da kann ich unmöglich etwas anziehen, was die anderen kennen, zumal da auch einige Frauen dabei sind, die sich in den Geschäften besser auskennen als in den eigenen Häusern, weil sie so was wie einen Kaufzwang haben, wenn Sie verstehen, was ich meine?«

Ganz verstand Astrid es nicht, doch sie lächelte zuvorkommend, dann warf sie der Kundin einen abschätzenden Blick zu. Sie hatte zum Glück eine Größe, die man im ›Outfit‹ vorfand. Astrid taten immer die armen Frauen leid, die ein Geschäft betraten, um sich etwas Hübsches zu kaufen und zur Antwort bekamen, dass man in ihrer Größe nichts führte. So etwas war bitter, zumal die Verkäuferinnen sich nicht um einen verbindlichen Ton bemühten, sondern dass sie geradezu entsetzt wirkten. Das hatte Astrid mehr als nur einmal mitbekommen.

Sie schlug der Kundin vor, dass sie sich gemeinsam umsehen sollten, weil einem dann oftmals etwas ins Auge fiel, was man vorher überhaupt nicht auf dem Schirm hatte. Zum Glück ließ sich die Kundin darauf ein. Gemeinsam schlenderten sie durch den Laden, Astrid schwitzte Blut und Wasser, denn sie hatte nicht nur die Elemente im Auge zu behalten, um sich hinterher erinnern zu können, nein, sie musste auch sehen, wie die Kundin auf die verschiedenen Sachen reagierte.

So wie sie bereits gekleidet war, und wohin sie am liebsten schaute, war schnell auszumachen, dass sie Pastelltöne liebte. Auch wenn Astrid keine Fachverkäuferin war, besaß sie schon ein gewisses Gespür für das was ging und was man besser bleiben lassen sollte. Bei der Kundin handelte es sich um eine blasse Blondine mit hellen Augen. Also, wenn sie an deren Stelle wäre, würde sie sich nicht für diese lieblichen Farben entscheiden.

Während die Kundin sich einen blassblauen Pullover anschaute, ließ Astrid ihre Blicke schweifen, und dann entdeckte sie etwas.

Sie konnte total danebenliegen, doch sie entschuldigte sich kurz, ging weg, und wenig später kam sie mit einem grauen Zweiteiler zurück, einem interessant geschnittenen Rock und einer dazu passenden kastigen Jacke, dazu brachte sie ein blassrosa Top und einen kurzärmeligen Pullover aus feinem Merinostrick mit, ebenfalls in einem blassen Rosaton.

Das zeigte sie der Kundin und merkte sofort, dass sie damit bei der Dame keinen Blumentopf gewinnen konnte, mit dem Top und dem Pulli ja, denn die waren in den von ihr beliebten und geliebten Farben gefertigt. Doch das graue Outfit? Das erntete bloß ein Kopfschütteln.

Astrid wunderte sich über sich selbst, ihr Ehrgeiz erwachte, und schließlich hatte sie die Kundin so weit, dass sie die Sachen wenigstens einmal anprobieren wollte. Astrid merkte sehr schnell, dass die höfliche Frau ihr einen Gefallen tun wollte, mehr nicht, und sie hatte nicht viel Hoffnung, als sie die Kundin bat, zunächst den Zweiteiler zusammen mit dem Pullover zu probieren.

Manchmal bekamen die Dinge eine Eigendynamik, auf die man keinen Einfluss hatte. Ihre Kundin kam beinahe gleichzeitig mit einer Frau aus einer Nachbarkabine heraus. Astrid sah das Unbehagen auf dem Gesicht ihrer Kundin, die andere Frau blickte zur Seite, und ihre Stimme überschlug sich beinahe, als sie ganz aufgeregt rief: »Das ist es«, und deutete auf das graue Outfit, »das ist ein Traum, warum haben Sie es mir nicht gezeigt?«

Die Verkäuferin verdrehte die Augen.

»Weil Sie ein Outfit mit einer Hose haben wollten, und da handelt es sich um einen Rock.«

»Es ist schon okay, dann bringen Sie mir bitte jetzt diesen Zweiteiler.«

Die arme Verkäuferin musste mit der Kundin bereits einiges mitgemacht haben, denn sie blickte gen Himmel.

»Das ist leider nicht möglich, denn dabei handelt es sich um ein Einzelstück, und ich kann es auch nicht mehr besorgen, weil es sich dabei um Orderware handelt, die komplett ausgeliefert ist.«

Astrid merkte richtig, wie es in ihrer Kundin arbeitete, und als die Dame aus der Nachbarkabine sich erkundigte: »Nehmen Sie das Outfit? Wenn nicht, dann möchte ich es probieren, so etwas Schönes habe ich schon lange nicht gesehene. Wie schade, dass ich es nicht entdeckt habe. Ich hätte es unbesehen gekauft, und wenn ich da erst reinwachsen müsste.«

Jetzt waren alle Augen auf Astrids Kundin gerichtet.

»Ich nehme alles, auch das Top«, sagte die und verschwand wieder in der Umkleidekabine, um sich umzuziehen. Sie hatte sich nicht einmal im Spiegel betrachtet. Aber sie sah gut aus, sehr gut sogar, und diese hübsche graue Farbe belebte sie, und mit dem Rosa hatte sie ja auch etwas Liebliches.

Unglaublich!

Astrid war sich sicher, dass sie vor der Kundin einen Kniefall hätte machen können, ohne dass die sich für das Outfit entschieden hätte. Die offensichtliche Begehrlichkeit der anderen Frau hatte den Ausschlag gegeben.

Wie auch immer, Astrid war unglaublich stolz, als sie zu dem Counter aus gebürstetem Stahl schritt, um die Teile aufzuschreiben. Es war eine ganz schön hohe Summe, und die Kundin hatte sich nicht einmal nach dem Preis erkundigt. Doch das konnte Astrid verstehen, das tat sie ebenfalls nicht, wenn ihr etwas gefiel.

Die Kundin bezahlte, bedankte sich, und sie erkundigte sich sogar nach Astrids Namen, weil sie sich so gut beraten fühlte. Dann zog sie davon.

Astrid war sich sicher, dass Doreen von Senk sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte. Es hätte ja anders kommen können, und die Chefin hätte eine Katastrophe verhindern müssen. So lächelte sie und sagte: »Gut gemacht, Frau Keppler. Wann wollen Sie anfangen?«

Astrid war sprachlos, am liebsten wäre sie Doreen jetzt um den Hals gefallen. Doch das ging nicht, sie besprachen noch, die Zeiten für die ersten Tage. Astrid sollte ihre Papiere mitbringen, damit sie ordnungsgemäß angemeldet werden konnte. Und bei der begannen die Gehirnwindungen zu knacken. Ihre Papiere? Ja, die gab es aus ihren früheren Zeiten, als sie noch gearbeitet hatte. Doch danach hatte sie alles Oskar überlassen. Oh Gott, daran durfte es jetzt nicht scheitern.

»Mein Mann ist geschäftlich unterwegs, und der …«

Doreen von Senk winkte ab.

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Frau Keppler, die Unterlagen können Sie nachreichen. Es würde mich freuen, wenn Sie morgen Nachmittag anfangen könnten. Wissen Sie, für die Vormittage findet man leicht jemanden, denn dann sind die Kinder in der Schule oder im Kindergarten, nachmittags ist es schwieriger.« Sie warf Astrid einen Blick zu. »Wir haben überhaupt noch nicht darüber gesprochen. Sie können doch nachmittags, oder?«

Ohne zu zögern sagte Astrid: »Ja.«

Es gab noch einiges zu besprechen, erst als sie draußen war, fragte sie sich, wie sie das bewerkstelligen sollte. Sie hatte eine kleine Tochter. Und auch wenn die derzeit gern mit Frau Wolfram zusammen war, durfte das keine Dauerlösung sein.

Ach was, Astrid wollte sich jetzt darüber den Kopf nicht zerbrechen, sie war überglücklich, schwebte beinahe zu ihrem Auto, und erstaunt registrierte sie, dass ihr ein gut aussehender Mann nicht nur einen anerkennenden Blick zuwarf, sondern auch noch pfiff. Sie war in all den Jahren nur auf Oskar fixiert gewesen, und seit sie im Sonnenwinkel wohnten, fernab von dem gewohnten Leben, hatte sie sich an ihn geklammert wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm.

Sie fuhr los. Es war ganz gut, dass Amelie bei Frau Wolfram übernachten würde, dann hatte sie Zeit, ungestört nach ihren Papieren suchen zu können. Gewiss hatte Oskar die in seinem Schreibtisch aufbewahrt, einer Schublade, im Büroschrank. Da machte sie sich keine Sorgen, irgendwo mussten sie sein. Oskar war ein überaus korrekter Mann, der verschluderte nichts.

Seit sie verheiratet war, war das ihre erste eigene Entscheidung, ansonsten hatte sie sich immer auf Oskar verlassen, und der hatte ihr Leben sehr gern in die Hand genommen.

Was er wohl sagen würde?

Diese Frage stellte Astrid sich immer wieder.

Astrid wunderte sich über sich selbst, über die Energie, die sie plötzlich hatte, und dieser Verkauf hatte ihr Selbstwertgefühl ganz schön gestärkt, wenngleich dieser Erfolg nicht ganz ihr Verdienst gewesen war, aber immerhin hatte sie das Outfit herausgesucht.

Am liebsten würde sie jetzt Frau Dr. Müller anrufen und sich bei ihr für den Tipp bedanken. Aber das ging natürlich nicht. Sie hatte die beiden Ärztinnen genug strapaziert. Doch hatte Frau Dr. Müller ihr nicht ausdrücklich ihre Handynummer dagelassen? Vielleicht, um sie zu motivieren … Astrid würde gern anrufen, doch sie traute sich nicht. Erst einmal wollte sie ihren ersten Arbeitstag hinter sich dringen, und dazu brauchte sie die Papiere …

*

Im Haus angekommen, warf Astrid ihre Jacke über einen Sessel, dann stürmte sie in Oskars Arbeitszimmer. Er hatte es nicht so gern, wenn man es betrat, doch heute, das war eine Ausnahme. Ehe sie anfing zu suchen, versuchte sie noch einmal, Oskar zu erreichen, wieder hatte sie kein Glück. Doch im Gegensatz zu sonst, zog es sie nicht herunter.

Sie knipste alle Lampen an, überlegte.

Wo sollte sie anfangen?

Sie nahm sich den Schreibtisch vor, der hatte nicht nur Fächer, sondern auch Schubladen. Das wusste sie, weil sie dieses Designerstück gemeinsam gekauft hatten. Ach, wie glücklich und verliebt sie damals gewesen waren. Sie hatten mehr Augen füreinander gehabt als für den Schreibtisch. Wäre es anders gewesen, hätten sie bestimmt nicht das viele Geld dafür ausgegeben. Aber schön war er.

Astrid setzte sich auf den schwarzen Ledersessel, schnupperte daran, und das machte sie schon wieder sehnsuchtsvoll, denn über allem lag der herbe Duft, den sie an ihm so liebte.

Oskar war unverwechselbar mit diesem Duft verbunden, und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ungehalten er gewesen war, als sie ihm einen anderen Duft hatte schenken wollen. Sie hatte ihn niemals an ihm gerochen, und sie wusste auch nicht, was damit geschehen war.

Sie riss sich zusammen, sie war nicht hier, um zu träumen, sondern um ihre Papiere zu finden.

Ein wenig verunsichert fühlte sie sich schon, als sie die erste Schublade aufzog. Sie war sich nicht sicher, wie Oskar darauf reagieren würde.

Andererseits konnte er nichts dagegen haben. Sie war seine Frau, und es gab nichts Kompromittierendes. Ihre Papiere al­lerdings ebenfalls nicht. Im Schreibtisch fand sie nichts, danach wandte Astrid sich dem Aktenschrank zu, vergebens. Sie merkte, wie sie die Lust verlor, kein Wunder, denn in solchen Papieren herumzusuchen, das machte wirklich keinen Spaß.

Ihr Blick fiel auf ein kleines, in der Nähe stehendes Regal, in dem sich einige Akten befanden, und dann las sie auf einem Ordner ihren Namen.

Was für ein Glück.

Mit Schwung riss sie den Ordner heraus, wohl zu schwungvoll, denn zwei weitere Ordner polterten zu Boden.

Astrid legte ihren Ordner beiseite, dann griff sie nach einem der heruntergefallenen Ordner, stellte ihn wieder ordentlich in das Regal. Das wollte sie mit dem zweiten Ordner ebenfalls tun, der glitt ihr aus der Hand, fiel erneut zu Boden, und als Astrid ihn wieder aufheben wollte, fielen zwei Fotos heraus. Das erstaunte sie ein wenig, nicht, weil sie die Fotos gefunden hatte, sondern sie fragte sich, was die in einem Ordner zu suchen hatten, der alte Einkommenssteuererklärungen enthielt. Dafür interessierte Astrid sich nicht, für die Fotos schon, sie nahm sie in die Hand und setzte sich in den Sessel, um sie in aller Ruhe zu betrachten.

Von wegen Ruhe …

Auf dem einen Foto sah sie eine Frau, ein wenig rundlich, mit einem lieben Gesicht und warmen braunen Augen, daneben ein Mädchen, das ungefähr zehn, zwölf Jahre alt sein mochte, und das Astrid an jemanden erinnerte.

Wer waren die Frau und das Kind?

Sie griff nach dem zweiten Foto, wieder waren eine Frau und ein Kind zu sehen. Diesmal war die Frau wesentlich jünger als sie, und das Kleinkind, das sie auf dem Arm trug, war keine zwei Jahre alt.

Was hatte das zu bedeuten?

Und wieso hatten die Fotos in einer Akte mit Einkommenssteuern gelegen?

Sie war zwar seit einigen Jahren mit Oskar verheiratet, doch jetzt wurde ihr bewusst, dass er niemals viel über sich gesprochen hatte.

Waren diese Frauen seine Schwestern und deren Kinder?

Aber dann stellte man die Fotos doch auf, von ihr und Amelie gab es auf seinem Schreibtisch ein Foto, und er hatte eines für sein Büro mitgenommen.

Also, wer waren diese Frauen und diese Kinder?

Astrid legte die Fotos nebeneinander, versank in Betrachtungen, versuchte, Ähnlichkeiten herzustellen, und dann entdeckte sie die bei dem älteren Mädchen mit Oskar. Dass sie nicht direkt darauf gekommen war. Klar, das Mädchen ähnelte ihm. Dann musste die Frau daneben seine Schwester sein. Sie sah so nett aus, warum hatte Oskar niemals über sie gesprochen?

Die andere Frau war sehr jung, wirkte selbstbewusst, Astrid hatte keine Ahnung, warum sie die nicht so mochte.

Was hieß mögen?

Was sie vor sich hatte, waren Bilder, die sie zufällig gefunden hatte, und nur Oskar konnte ihr dazu eine Erklärung geben.

Sie schreckte zusammen, als ihr Handy klingelte, das sie vorsichtshalber mitgenommen hatte. Darauf war sie richtiggehend fixiert, um ja keinen Anruf von ihrem Mann zu verpassen.

Und was für ein Glück, er war es.

»Astrid, mein Liebes, ich habe zwar nicht viel Zeit, doch ich muss deine Stimme hören, ich muss dir sagen, wie sehr ich dich liebe, wie sehr ich dich vermisse.«

Sie liebte ihn, und was sie hörte, war wie ein süßes Gift, von dem sie nicht genug bekommen konnte. Es war unmöglich, ihm jetzt von dem Job in dem Textilgeschäft zu erzählen, noch von den Fotos, auf die sie sich keinen Reim machen konnte, und dass sie an seinem Schreibtisch, in seinem Sessel saß, das verschwieg sie ebenfalls. Sie musste nach nichts fragen, sie hatte ihre Unterlagen gefunden. Und über alles andere konnten sie sprechen, wenn er wieder daheim war. Und das war es.

»Wann kommst du nach Hause, Liebster?«, erkundigte sie sich sehnsuchtsvoll.

Sie hätte die Frage nicht stellen müssen, denn seine Antworten glichen sich immer wieder, und die bedeuteten viel Arbeit, Probleme, unaufschiebbare Geschäftsreisen.

»Astrid, mein Herz, ich arbeite daran, dass bessere Zeiten für uns kommen werden. Und dann werde ich dich auch für alles entschädigen. In Gedanken bin ich immer bei dir und unserer süßen kleinen Amelie. Küss sie von ihrem Papa, und du schließe mich bitte in deine Abendgebete mit ein. Ich liebe dich, das darfst du niemals vergessen, hörst du? Und nun muss ich aufhören, unsere Konferenz beginnt gleich, und ich muss mir unbedingt vorher etwas zu trinken besorgen. Auf bald.« Er wartete keine Antwort ab, sondern legte auf.

Warum hatte sie ihn nicht auf die Fotos angesprochen?

Warum hatte sie ihn eigentlich nicht gefragt, wo er sich gerade befand?

Astrid ärgerte sich über sich selbst, solche Fragen fielen ihr immer vorher oder hinterher ein.

Wenn Oskar da war oder wenn er sie anrief, dann war sie Wachs in seinen Händen, dann konnte sie ihm nicht widerstehen, dann waren alle Gedanken weg, dann sah und hörte sie nur noch ihn.

Da sie ihr Handy schon mal in der Hand hatte, tat sie etwas, was eigentlich ganz unverzeihlich war. Sie machte Fotos von den Fotos, vorsichtshalber jeweils mehrere. Dann schob sie die Originale wieder in den Aktenordner.

Sie hatte ein ganz ungutes Gefühl dabei. Etwas machte ihr Angst und ließ deswegen die Freude über den Job verblassen.

*

Wunder geschahen zwar immer wieder, doch rechnen konnte man nicht damit. Und es war kaum noch mit anzusehen, wie sehr die arme Alma litt. Sie hatte geglaubt, der Kommissar müsse nur mit dem Finger schnippen, und schon sei Pia gefunden.

Roberta hatte alle Mühe, Alma zurückzuhalten, die am liebsten von morgens bis abends die Gegend abgegrast hätte. So groß war Hohenborn nun nicht gerade, doch es gab viele Ecken, die man nicht kannte. Und wer sagte denn, dass Pia überhaupt in Hohenborn geblieben war?

Alma sah es schließlich ein, und Roberta atmete insgeheim auf. Sie war mit Henry Fangmann so verblieben, dass der sich sofort bei ihr melden würde, und da war Roberta sogar bereit, sich während der Sprechstunde stören zu lassen, was sonst nicht die Regel war. Roberta war der Meinung, dass nichts so wichtig war, um nicht verschoben werden zu können.

Roberta hatte gerade einen Patienten verabschiedet, als Ursel Hellenbrink ihr ganz aufgeregt zuwinkte und rief: »Frau Doktor, ein Anruf für Sie … Herr Fangmann.« Natürlich war Ursel informiert, und deswegen war jetzt ihre Aufregung auch zu verstehen.

Und wenn sie ehrlich war, war Roberta es auch. Sie bat Ursel, das Gespräch durchzustellen, dann ging sie in ihr Zimmer zurück, nahm den Hörer ab, meldete sich.

Henry Fangmann kam auch sofort zur Sache.

»Frau Dr. Steinfeld, wir haben Pia gefunden. Die Kollegen haben sie mitgenommen, sie befindet sich jetzt bei uns im Präsidium …, wenn Sie möchten, dann können Sie sich abholen. Es liegt gegen das Mädchen nichts vor, und deswegen können wir Pia auch nicht ewig festhalten.«

Welch wundervolle Neuigkeiten!

Roberta bedankte sich, wollte wissen, wo genau man Pia abholen könne, und sie war froh, als der Kommissar ihr sagte, man würde Pia gleich zu ihm bringen.

»Wie gesagt, liegt nichts gegen sie vor, wir müssten sie laufen lassen, doch dann könnte es durchaus sein, dass sie wieder verschwindet, und das wollen Sie ja nicht, nicht wahr?«

Er dachte mit!

Sie bedankte sich noch einmal für seine Umsicht, doch dann hatte sie es eilig, nicht nur das Gespräch zu beenden, sondern auch den Raum zu verlassen.

»Ursel, schicken Sie den nächsten Patienten oder die nächste Patientin zu Frau Dr. Müller. Ich muss mit Alma reden.«

Als sie Ursels Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Es ist alles in Ordnung, man hat Pia gefunden.«

Ursel Hellenbrink war eine weichherzige Frau, und irgendwie waren sie hier alle so etwas wie eine große Familie. Ihr war anzusehen, wie erleichtert sie war.

»Dem Himmel sei Dank«, rief sie, »und machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmer mich.«

Roberta wusste, dass sie sich auf Ursel verlassen konnte, sie nickte ihr zu, dann ging sie nach nebenan.

In der Küche duftete es bereits köstlich, Alma hatte ihre Vorbereitungen für das Mittagessen längst abgeschlossen, jetzt saß sie mit aufgestützten Armen am Küchentisch, und ihr leidender Gesichtsausdruck konnte einem beinahe das Herz brechen.

Roberta setzte sich neben sie, ergriff Almas Hand und sagte leise: »Alma, man hat Pia gefunden.«

Sofort erwachte die zuvor beinahe lethargisch wirkende Frau zu neuem Leben, sie begann zu strahlen.

»Bitte, Frau Doktor, sagen Sie es noch einmal, damit ich es auch glauben kann.«

Diesen Gefallen tat Roberta ihr, und ihr ging dabei das Herz auf, als sie sah, wie Alma sich freute.

Roberta erzählte ihr von dem Anruf, und sie sagte auch, dass man Pia im Büro von Herrn Fangmann abholen könne. Und weil sie wieder in die Praxis musste, sagte Roberta: »Alma, fahren Sie los, holen Sie das Mädchen. Doch vorher machen Sie bitte alle Knöpfe aus, damit die Küche nicht explodiert.«

Alma wäre nicht Alma, wenn sie sich trotz aller Freude jetzt nicht erkundigt hätte: »Und was wird aus Ihnen und Frau Dr. Müller? Ich weiß nicht, ob ich rechtzeitig zurück sein werde.«

Roberta klopfte ihr auf die Schulter.

»Dann machen Sie sich um uns mal keine Sorgen, wir kommen schon zurecht. So, und jetzt sputen Sie sich, ich bin sehr gespannt auf Pia.« Die Alma hoffentlich diesmal mitbringen würde, doch diesen Zusatz behielt Roberta für sich.

Alma ließ sich nicht mehr halten, lächelnd ging Roberta in die Praxis zurück und bat Ursel, ihr den nächsten Patienten zu schicken.

Es war eine Patientin, die nach erfolgter Untersuchung ihre Laborwerte erfahren wollte.

Roberta konnte Entwarnung geben, die bei der letzten Untersuchung leicht erhöhten Blutzuckerwerte hatten sich wieder normalisiert.

»Frau Kneissel, alle Werte sind jetzt im Normbereich und daher zufriedenstellend.«

»Aber mein Blutdruck«, wandte die Patientin ein. »Der ist doch zu hoch, oder?«

Roberta beruhigte die Patientin.

»Frau Kneissel, der ist nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen im Normbereich.«

»Die Werte meiner Freundin sind niedriger, und die muss jeden Morgen eine Blutdrucktablette schlucken.«

»Frau Kneissel, ich weiß nicht, wie meine Kollegen es handhaben, ich verschreibe Tabletten erst, wenn dazu eine zwingende Notwendigkeit besteht. Seien Sie doch froh, dass Sie nichts schlucken müssen. Tabletten sind keine Smarties, und auch wenn man von denen zu viele schluckt, schaden sie.«

Die Patientin nickte.

»Frau Doktor, ich vertraue Ihnen ja, ich fühle mich bei Ihnen bestens aufgehoben, und Sie wissen, was Sie tun. Meine Freundin macht mich halt immer verrückt.«

»Dann lassen Sie es an sich vorüberrauschen und nicht verrückt machen, Frau Kneissel. Sie können froh sein, diese Werte zu haben.«

Wieder nickte Frau Kneissel.

»Bin ich ja auch, und ich lebe ja gesund, ernähre mich gut, bewege mich viel.«

»Und genau das ist richtig, Frau Kneissel. Und dass Sie sich an meine Empfehlungen halten, sehen Sie ja auch daran, dass Ihre Blutzuckerwerte wieder stimmen.«

Frau Kneissel war anzumerken, dass sie noch gern ein wenig geblieben wäre, doch zum Glück kam Ursel Hellenbrink ins Zimmer gestürzt. Es hatte einen Notfall gegeben, und Frau Dr. Müller hatte sich bereits des Patienten angenommen.

Roberta verabschiedete sich rasch von Frau Kneissel, dann rannte sie hinaus. Zum Glück kam es nicht häufig vor, doch zwischendurch gab es Zwischenfälle, und einmal hatten sie einen älteren Mann vor Ort wiederbeleben müssen, was ihnen zum Glück gelungen war.

Diesmal war eine junge Frau kollabiert, um die bemühte Claire sich. Wenn man sich diese junge Frau ansah, dann benötigte man keine großen medizinischen Kenntnisse, sondern es reichte ein gesunder Menschenverstand, um zu sehen, was mit ihr los war. Sie gehörte zu den Frauen, die sich ihre überschlanke Linie mühsam erhungerten, und das machte ein Kreislauf nicht mit.

Sie musste nicht helfend eingreifen, das schaffte Claire allein, Roberta bat Ursel, ihr den nächsten Patienten zu schicken und ging zurück in ihr Behandlungszimmer.

Sie verspürte eine leichte Aufregung, und die hatte etwas mit Pia zu tun, was für ein Mensch war sie? Würde das Zusammenleben im Doktorhaus funktionieren?

Wenn Alma sie mit­bringen würde, so war das eine große Verantwortung, Pia war ein Mensch, kein Supermarktartikel, den man bei Nichtgefallen zurück ins Regal stellen konnte.

Heute schienen sich fast nur Frauen in der Praxis versammelt zu haben. Es war wieder eine Patientin, die hereinkam, und es war eine, die Roberta noch nicht kannte. Für neue Patienten nahm sie sich Zeit, und für sie kam es erst einmal darauf an, aufmerksam zuzuhören, die Patienten sollten reden, und sie hörte zu.

Und während dieser Zeit tippte sie auch nicht auf ihrem Computer herum, das hasste sie. Sie nahm ihre Patienten ernst, und die verdienten ihre volle Aufmerksamkeit.

Die Patientin legte ihr ein ganzes Paket von Arztberichten auf den Tisch, und Roberta versprach, sich die gründlich durchzulesen. Nach einer ganzen Weile, in der sie nur zugehört hatte, stellte sie gezielt einige Fragen.

Als Roberta sich schließlich von der Patientin verabschiedete, rief die ganz hingerissen: »Frau Dr. Steinfeld, jetzt verstehe ich, warum alle Leute von Ihnen nur so schwärmen. Sie hören ja richtig zu. Das habe ich noch nie zuvor erlebt, und ich fühle mich von Ihnen ernst genommen. Das ist so wohltuend, schließlich geht man nicht zum Arzt zum Kaffeeklatsch, sondern weil einem etwas fehlt, weil man beunruhigt ist. Dann als eine Nummer abgetan zu werden, das ist deprimierend, danke, ich weiß, dass ich bei Ihnen in richtigen Händen bin.«

Roberta versprach der Patientin, sich in aller Ruhe die Arztberichte durchzulesen, und sie schlug vor, dass Frau Hellenbrink anrufen würde, um einen Termin zu vereinbaren, wenn alle Unterlagen, auch die, die noch angefordert werden mussten, da seien.

»Und dann machen wir auch die Laboruntersuchungen und alle anderen erforderlichen Untersuchungen.«

Auch das war für die Patientin neu, und sie sagte sofort: »Sehen Sie, und auch das ist neu. Ich bin Privatpatientin, und zuerst werden bei mir immer alle Untersuchungen gemacht. Ihr Weg ist der bessere, auf jeden Fall. Und so etwas erweckt Vertrauen, und das muss man zu seinem Arzt haben.«

Roberta besprach mit der Patientin noch die weiteren Vorgehensweisen, dann verabschiedete sie sich. Und sie hatte keine Zeit, nachzudenken, weder über die neue Patientin noch über Pia. Durch den Zwischenfall hatte es einen Stau gegeben, und nun musste Roberta auch noch Patientinnen und Patienten übernehmen, die eigentlich Claire hätte übernehmen sollen. Aber so war es nun mal, wenn man mit Menschen arbeitete, war kein Tag wie der andere …

*

Es war später als sonst, als Roberta und Claire nach der Vormittagssprechstunde gemeinsam in die Privaträume gingen. Zusammen Mittag zu essen war eine schöne Angewohnheit, und Claire war Roberta unendlich dankbar für diese Großzügigkeit.

Roberta war aufgeregt, doch es war merkwürdig still, als sie nach nebenan kamen, von Alma gab es weit und breit keine Spur, und natürlich auch keine von Pia.

Sie hätten längst im Doktorhaus sein müssen.

War da etwas schiefgelaufen?

Das Essen stand auf dem Herd, Alma hatte eine leckere Gemüsesuppe gekocht, und die wärmte Claire jetzt auf, weil die sich mit Kochen besser auskannte.

Roberta deckte derweil den Tisch, dann erzählte sie Claire von dem Anruf des Kommissars und Almas Fahrt nach Hohenborn, um Pia zu holen.

Claire hatte alles hautnah mitbekommen, und so freizügig sie auch war und gern spendete, sie hielt nichts davon, sich jemanden ins Haus zu holen. Da vertrat sie eine andere Meinung, aber das war auch gut so, Menschen waren verschieden.

»Vielleicht will das Mädchen ja nicht«, bemerkte Claire, als sie wenig später am Tisch saßen und sich die Suppe schmecken ließen, »ich kann mir ganz gut vorstellen, dass jemand, der auf der Straße gelebt hat, Probleme damit hat, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.«

Claire hatte doch überhaupt keine Ahnung.

Sie stimmten in vieler Hinsicht überein, doch jetzt musste Roberta ihr widersprechen, und das tat sie ziemlich heftig.

»Claire, was redest du da? Die meisten der Obdachlosen leben nicht freiwillig auf der Straße, und jetzt fang bitte nicht wieder damit an, dass es in unserer Gesellschaft keiner tun muss, weil der Staat für jeden sorgt. Das lässt sich nicht so pauschal abtun, und ich will jetzt deswegen mit dir auch keine Grundsatzdiskussion beginnen. Wir alle müssen uns die Frage stellen, warum in unserem reichen Land Menschen ausgegrenzt sind, statt eine Pauschalverurteilung vorzunehmen, verächtlich über Penner sprechen. Es sind alles Menschen, die ganz unterschiedliche Schicksale haben, jeder hat es verdient, eine hilfreiche Hand geboten zu bekommen. Und ich wünsche mir wirklich von ganzem Herzen, Alma wird das Mädchen Pia mitbringen.«

Warum ereiferte Roberta sich jetzt so sehr?

»Roberta, ich möchte nicht, dass du mich falsch verstehst. Ich verurteile keine Obdachlosen, aber du wirst doch wohl zugeben, dass es unter denen welche gibt, denen einfach nicht zu helfen ist, und wenn …«

Sie brach ihren Satz ab, weil von der Haustür Geräusche gekommen waren.

Roberta überlegte, ob sie jetzt aufspringen und zur Tür eilen sollte. Sie ließ es bleiben. Erst einmal musste sie sehen, ob Alma allein kam und wenn mit Pia, dann durfte das traumatisierte Mädchen nicht überfordert werden.

Es war still im Raum, Roberta, auch Claire warteten gespannt, und dann kam Alma herein, und an der Hand hatte sie ein junges Ding, das verunsichert und verschreckt zugleich wirkte.

Das also war Pia!

»Ich habe Pia mitgebracht«, sagte Alma mit vor Freude zitternder Stimme, legte beschützend einen Arm auf die schmale Schulter des Mädchens.

Roberta stand auf.

»Hallo, Pia, schön, dass du da bist. Ich bin Roberta … Roberta Steinfeld, und das ist«, sie deutete auf Claire, die ebenfalls aufgestanden war, »Frau Dr. Claire Müller.«

Roberta reichte ihr die Hand, und sie wunderte sich, denn Pia hatte einen erstaunlich kraftvollen Händedruck, der ziemlich im Gegensatz zu dem verunsicherten Ding stand.

Auch Claire sagte: »Ich freue mich.«

Dann war sie froh, abgerufen zu werden, und das war auch ganz gut so, denn das, was gerade geschah, war das Ding von Alma, dem Mädchen und Roberta. Die würden schließlich auch, wenn es denn klappte, gemeinsam in einem Haus wohnen. Aber eines erstaunte Claire schon ein wenig. Diese Pia machte einen guten Eindruck und sah keinesfalls wie eine Obdachlose aus, richtiger, wie man sich eine Obdachlose vorstellte.

Alma, Pia und Roberta waren allein, schwiegen.

Es war eine Situation, mit der sie alle nicht richtig umgehen konnten, weil so etwas ja auch nicht alltäglich war.

Und für Alma und Roberta kam es in erster Linie darauf an, das Mädchen nicht zu verschrecken.

Pia musste langsam ankommen, man durfte sie nicht überfordern.

Alma kannte sie ein wenig, und zu Alma hatte sie auch Vertrauen genug, um ihr gefolgt zu sein.

»Pia, ich weiß nicht, ob Alma dir erzählt hat, dass ich als Ärztin genau nebenan arbeite, dort meine Praxis habe. Und in die muss ich jetzt wieder.«

Das stimmte nicht, Roberta hätte jetzt gern noch ganz gemütlich einen Kaffee getrunken. Das wäre jetzt nicht richtig.

»Alma wird sich um dich kümmern, und du musst unbedingt die leckere Suppe probieren, die Alma gekocht hat. Und die kann dir auch alles zeigen …, ich möchte es noch einmal betonen, bei uns bist du herzlich willkommen.«

Alma war ganz gerührt, warf ihrer verehrten Chefin einen dankbaren Blick zu, und Pia hatte Tränen in den Augen.

Auch Gefühle, wohlgemeinte Worte konnten einen überfordern, genauso wie Prügel und Hass.

Roberta trat spontan auf das Mädchen zu, das noch immer ganz verloren mit hängenden Schultern dastand und strich Pia sanft übers Haar. Dann ging sie.

Sie wusste, dass Alma es schon meistern würde, sie wäre jetzt das dritte Rad am Wagen, und überfordern durfte man Pia wirklich nicht. Niemand wusste, wie sie reagieren würde, und für jemanden, der überfordert war, konnte Flucht so etwas wie ein Ausweg sein, obwohl das natürlich nicht stimmte. Aber das wusste man immer erst hinterher, und oftmals erst, wenn es zu spät war.

Roberta empfand es jetzt aber selbst beinahe als so etwas wie eine Flucht, als sie in die Praxis stürmte. Und dort hielt sie inne, als sie Geräusche vernahm.

Sie dachte nicht an einen Einbrecher, doch ein wenig verunsichert war sie schon, sie betrat den Raum, in dem die Patienten sich anmeldete und wunderte sich sehr, dort Leni Wendler zu entdecken, die Mitarbeiterin, die seit einiger Zeit mit an Bord war, mit der Roberta allerdings nicht viel zu tun hatte, weil Leni in erster Linie Claire zuarbeitete. Aber auf jeden Fall hatten sie mit Leni Wendler einen guten Griff getan, sie war ein sehr angenehmer Mensch, sie war zuvorkommend und energisch zugleich, und sie verstand sich sehr gut mit Ursel Hellenbrink, was allerdings kein Wunder war, denn Ursel hatte Leni empfohlen. Und Roberta war sehr froh, dass sie der Empfehlung gefolgt war.

Leni hatte sich fantastisch in das Team eingefügt, und das war Gold wert. Ein Störenfried in der Mannschaft konnte alles durcheinanderbringen.

»Leni, was machen Sie denn hier?«, erkundigte Roberta sich. Da Roberta Ursel beim Vornamen nannte, hatte auch Leni darauf bestanden.

Leni fühlte sich ertappt, dabei gab es überhaupt keinen Grund dazu.

»Ich habe noch ein paar Probleme mit dem ganzen System hier, und deswegen wollte ich mir das noch einmal in aller Ruhe ansehen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ein wenig minderbemittelt zu sein.«

Jetzt musste Roberta lachen.

»Das war jetzt aber ganz eindeutig fishing nach Komplimenten, oder? Sie machen alles großartig, und Frau Dr. Müller ist ganz begeistert von Ihnen, und über das, was Sie für mich gemacht haben, kann ich mich nicht beklagen. Leni, Sie sind eine Fachkraft, Sie haben als Krankenschwester lange auf Intensivstationen gearbeitet, das bedeutet viel Arbeit, viel Verantwortung, da müssen in Bruchteilen von Sekunden lebensrettende Entscheidungen getroffen werden, ehe der Arzt kommt. Ach, Leni, dann muss Ihnen doch die Arbeit in unserer beschaulichen Praxis vorkommen wie ein Spaziergang durch den Rosengarten.«

Leni freute sich über die Komplimente, die ihr die verehrte Frau Dr. Steinfeld gemacht hatte, doch in einem Fall musste sie sofort widersprechen.

»Von wegen beschauliche Praxis, ich bin fasziniert, welche Krankheiten Sie hier behandeln, und ich bin voller Hochachtung, was Sie alles wissen, Frau Doktor. Der Professor, in dessen Abteilung ich gearbeitet habe, konnte und wusste eine ganze Menge, doch gegen Sie ist er ein Waisenknabe. Ich bin auf jeden Fall überglücklich, hier arbeiten zu dürfen. Ich bin noch nie so gern zur Arbeit gegangen wie jetzt, und mein Mann freut sich, mich nun regelmäßig jeden Abend zu sehen, weil ich keinen Schichtdienst mehr machen muss.«

Wenn alle zufrieden waren, stimmte das Arbeitsklima, und das stimmte in der Praxis, keine Frage.

Roberta sagte Leni, dass sie in ihrem Schreibtisch Unterlagen über das System habe, weil sie selbst es zwar kenne, aber damit längst nicht so bewandert sei wie Ursel Hellenbrink.

Roberta lachte.

»Und was ich begriffen habe, das werden Sie erst recht, Leni. Da habe ich überhaupt keine Zweifel. Und während ich diese Unterlagen hole, habe ich eine Bitte. Bekomme ich einen Kaffee? Nebenan …« Sie brach ihren Satz ab, ging, und während Roberta in ihr Behandlungszimmer ging, eilte Leni in die kleine Kaffeeküche, um den Wunsch ihrer Chefin zu erfüllen.

Wenig später tranken sie zusammen Kaffee, sprachen über das System, doch dann konnte Leni sich eine Frage nicht verkneifen, und die stellte sie nicht aus Neugier, sondern weil sie involviert war und am Ausgang des Ganzen interessiert war.

»Das Mädchen …, gibt es eine Spur?«

»Leni, mehr als eine Spur, man hat Pia gefunden, und Alma Hermann hat sie hergebracht. Pia ist scheu und verunsichert, ich wollte ihr die Chance geben, erst einmal mit Alma allein in der neuen Umgebung zu sein.«

Leni warf ihrer Chefin einen bewundernden Blick zu. Das war typisch für ihre Chefin, immer dachte sie zuerst an die anderen …

*

Rosmarie war aufgeregt, ihr Sohn Fabian hatte seinen Besuch angekündigt. Dabei hatten sie es längst hinter sich, dass die Kinder sich ankündigen mussten. Das war früher gewesen, lag gefühlte Ewigkeiten zurück. Und auch sonst war etwas anders geworden, es kam nur noch Fabian, denn Stella.

Nein!

Daran wollte Rosmarie nicht mehr denken, man musste nicht immer wieder hervorkramen, was nur Schmerzen verursachte. Und es tat weh, verdammt weh, wie Stella sich verhielt, die ohne ein Wort zu sagen aus ihrem Leben verschwunden war.

Meta hatte den Tisch hübsch gedeckt, und Inge hatte einen Kuchen gebacken und ihn extra vorbeigebracht. Ja, das funktionierte jetzt, einfach etwas vorbeizubringen. Auch Meta, ihre Haushälterin, konnte backen. Doch selbst die hatte neidlos zugeben müssen, dass sie an die Backkünste von Inge Auerbach nicht herankam.

Heinz war in seinem Notariat, und Rosmarie hätte es eigentlich sehr gefreut, wenn er bei diesem Kaffeetrinken dabei wäre. Heinz hatte viel Arbeit vorgeschoben, doch Rosmarie war sich nicht sicher, ob das auch stimmte. Sie beide hatten als Eltern versagt, da hatten Heinz und sie sich in nichts nachzustehen. Doch während sich Rosmaries Verhältnis zu Fabian sehr verbessert hatte, gingen Vater und Sohn höflich miteinander um, doch die unsichtbare Mauer stand noch immer zwischen ihnen. Und da musste Rosmarie ihrem Mann einen kleinen Vorwurf machen. Für ihn wäre es leicht, einen Schritt auf Fabian zuzugehen, und schon würde die Mauer bröckeln. Leider hielt Heinz seine Gefühle unter Verschluss, und sie konnte von Glück reden, dass es zwischen ihnen anders geworden war. Cecile beklagte sich auch immer wieder darüber, zu ihrem Vater keinen so richtigen Zugang zu finden. Und das traf zu. Während Rosmarie und Cecile mittlerweile ein Herz und eine Seele waren, hatte Cecile zu ihrem Vater noch immer ein recht distanziertes Verhältnis, und das lag ganz gewiss nicht an ihr. Dabei brannte die junge Frau darauf, mehr von ihrem Vater, von dem sie erst als erwachsene Frau erfahren hatte, nicht nur zu wissen, sondern ihn kennenlernen, eine Beziehung zu ihm aufbauen.

Es klingelte, und Rosmarie wurde aus ihren Gedanken gerissen, eilte zur Tür, um zu öffnen, denn Meta war mit Beauty und Missie unterwegs. Sie wollte mit den Hunden um den See laufen, die ganz verrückt darauf waren, all die neuen Gerüche zu erschnuppern.

»Hallo, Mama«, begrüßte Fabian seine Mutter, umarmte sie, und Rosmarie stellte wieder einmal voller Stolz fest, was für ein prachtvoller Mann ihr Fabian doch war. Man konnte stolz auf ihn sein, und das war sie auch. Das allerdings war etwas, was man auch Heinz nicht absprechen durfte. Stolz war er schon auf Fabian, wenngleich die Enttäuschung bis heute nicht ganz verschwunden war, dass sein einziger Sohn nicht in seine Fußstapfen getreten und Notar geworden war.

»Schön, dass du da bist«, freute Rosmarie sich, und dann sah Fabian sich erst einmal um. Am Anfang ihrer Ehe hatten er und Ricky in diesem Haus gewohnt und glückliche Zeiten miteinander verbracht. Von dem alten Haus war mittlerweile allerdings nichts mehr zu erkennen. Es war größer, großzügiger geworden.

Weil Fabian nichts sagte, warf Rosmarie ihrem Sohn einen beinahe angstvollen Blick zu. Fabian war kritisch, vor allem nahm er kein Blatt vor den Mund, und Rosmarie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass er ihre Villa verächtlich einen Palazzo Prozzo genannt hatte. Das war zum Glück Vergangenheit, und es waren keine glücklichen Jahre gewesen, die Heinz und sie in diesem Haus verbracht hatten, in dieser kalten Pracht, in der sie sich verloren vorgekommen waren. Niemand war dafür verantwortlich gewesen als sie selbst, als sie noch nach der Devise gelebt hatte größer, teurer, Rückert …

Nach dem ersten Rundgang wandte Fabian sich seiner Mutter zu. »Mama, Gratulation, es ist großartig, was du aus dem Haus gemacht hast. Es hat nur gewonnen.«

Er hatte nachdrücklich ›du‹ gesagt, weil er wusste, dass sein Vater daran nicht beteiligt gewesen war, da hielt er sich zurück.

Rosmarie freute sich, ein Lob aus dem Munde ihres Sohnes war wie ein Geschenk, weil Fabian mit solchen Äußerungen sehr sparsam umging.

Sie setzten sich, Rosmarie servierte Kaffee und Kuchen und Fabian rief: »Der Kuchen sieht aber lecker aus.«

»Er wird auch so schmecken, Fabian, denn den hat deine Schwiegermutter gebacken.«

Das konnte Rosmarie neidlos zugeben. Inge hatte es von vornherein besser gemacht als sie. Für Inge hatten immer die Kinder im Vordergrund gestanden, für Rosmarie ein Leben nach außen, in dem die Kinder so etwas wie eine Beigabe waren, die sich gut auf Fotos machten. Manches ließ sich nicht verändern, Rosmarie war glücklich, dass sich ihr Verhältnis zu Fabian geändert hatte, zum Guten hin. Die Herzlichkeit, wie sie bei Inge und ihren Kindern herrschte, die würde bei ihnen niemals einziehen.

»Ja, backen kann sie, die Inge«, bestätigte er, »und ich bin froh, dass Ricky viele der Talente ihrer Mutter geerbt hat. Doch am besten ist, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck hat, ein sehr emphatischer Mensch ist, eine großartige Mutter, eine liebevolle Ehefrau, sie ist klug, und ich bin voller Bewunderung für meine Frau und werde nie aufhören, sie zu lieben. Und eigentlich müsste ich dem lieben Gott jeden Tag danken für dieses Geschenk.«

Wenn die Kinder glücklich waren, das hörte jede Mutter gern, und Fabian hatte mit Henrike Auerbach, die jeder nur Ricky nannte, in der Tat das ganz große Los gezogen, und bei den beiden war eingetroffen, wovon die meisten Menschen träumten, der Liebe auf den ersten Blick, einer Liebe, die alle Widerstände überwunden hatte, die im Laufe der Jahre tiefer, inniger geworden und die mit so vielen wundervollen Kindern gesegnet worden war.

Rosmarie nickte.

»Ja, Fabian, zu Ricky ist dir wirklich zu gratulieren. Und ich freue mich schon auf Sonntag, wenn du mit der ganzen Familie herkommen wirst. Der Tisch im ›Seeblick‹ ist reserviert, und zum Kaffeetrinken werden auch Inge, Pamela und die Großeltern herkommen. Alle haben meine Einladung gern angenommen, und dein Schwiegervater tourt ja noch im Amerika herum.«

»Ich weiß, Mama, und ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was ich davon halten soll. Er hat doch alles erreicht, was man im Leben erreichen kann. Warum tritt er nicht endlich kürzer und schreibt, wie ursprünglich mal geplant, seine Bücher? Er hat genug zu sagen. Ricky findet das überhaupt nicht gut, was ihr Vater da veranstaltet, und ich übrigens auch nicht. Doch lass uns von den Auerbachs aufhören, Mama. Jetzt bin ich hier, und ich möchte gern erfahren, wie es dir geht in deinem neuen Zuhause.«

Rosmarie überlegte einen Augenblick, dann entschloss sie sich, ihrem Sohn nichts vorzumachen.

»Fabian, so richtig angekommen bin ich noch nicht, es ist schon eine Umstellung. Andererseits lebt es sich bequemer, alles ist übersichtlicher, und die Nähe von den Menschen, die ich mag, ist nicht zu verachten. Hohenborn war halt städtischer, da konnte ich schnell mal eine Runde um die Häuser drehen, hier ist es ländlicher.«

»Was sich ändern wird, wenn erst mal unterhalb der Felsenburg alles in Betrieb genommen wird. Dann wirst du der Stille nachweinen. Außerdem wartet Cecile schon ganz sehnsüchtig auf euch, sie kann es kaum erwarten, euch in die Arme schließen zu können …, am ehesten wohl dich«, fügte er hinzu.

Fabian und seine Halbschwester verstanden sich sehr gut, und er hatte Cecile nicht umsonst zur Patentante von der kleinen Teresa gemacht.

»Mit Papa, das wird schon noch«, bemerkte Rosmarie, die glaubte, ihren Mann in Schutz nehmen zu müssen.

»Wie lange will Papa denn noch warten, auf ein Wunder hoffen?«, wollte Fabian wissen. »Es reicht nicht, für ein gutes finanzielles Leben zu sorgen, wie er es bei uns gemacht hat. Bei Cecile wäre es eh nicht nötig, denn die besitzt viel mehr Geld als die Rückerts. Sie wartet so sehr darauf, von Papa Liebe zu bekommen, keine Geschenke, die sie sich locker selber kaufen kann«, er machte eine kleine Pause, fügte leise hinzu, »darauf warten wir alle.«

»Fabian, zu warten, das ist nicht immer die richtige Entscheidung. Manchmal muss man von sich aus auf einen Menschen zugehen, wer könnte das besser sagen als ich. Ich habe mich getraut, und jetzt sind wir auf einem so guten Weg, haben das entdeckt, was wir wirklich füreinander empfinden und was vorher unter einem Berg von Schweigen, von Missverständnissen, von Sprachlosigkeit verborgen war.«

Nach diesen Worten war es zuerst einmal still zwischen Mutter und Sohn, dann sagte Fabian leise: »Mama, weiß Papa eigentlich, was für eine großartige Fürsprecherin er in dir hat?«

Rosmarie errötete, Komplimente aus dem Mund ihres Sohnes waren immer noch neu für sie, denn das, was sie gerade aufgezählt hatte, galt nicht nur für sie und Heinz, sondern auch für sie und die Kinder.

»Fabian, bitte, mach einen Schritt auf Papa zu. Ich glaube, er wartet darauf, dass sich das Verhältnis zwischen euch verbessert, so wie es sich zwischen uns so sehr verändert hat …, was mich sehr glücklich macht.«

»Mama, ich bin auch froh, dass wir auf einem so guten Weg sind, und nun ja, meinetwegen, ich kann ja mal am Sonntag anfangen zu versuchen, Papa zu verstehen.«

Das kommentierte Rosmarie jetzt nicht, denn sie fand, es war genug über sie und Heinz gesprochen worden. Jetzt wollte sie endlich etwas über ihre Enkelkinder hören, denn auch hier war sie auf dem Weg, eine gute Großmutter zu werden.

Das ließ Fabian sich nicht zweimal sagen, denn nicht nur Ricky war seine Welt, seine so süßen Rangen waren es ebenfalls, und zu erzählen gab es bei den Kindern eine ganze Menge, weil da immerzu etwas passierte.

Die Sonne schien ins Zimmer, sie genossen Kaffee und Kuchen, und das in einer gemütlichen Umgebung. Und sie und Fabian verstanden sich gut. Es wuchs eine Nähe zwischen ihnen, die Rosmarie sich immer erhofft, an die sie aber niemals geglaubt hatte. Und nun …

Es war unausweichlich, dass sie auch an Stella dachte, an die Enkelkinder, die sie im fernen Brasilien hatte und über die sie nichts mehr erfuhr, über allem lag Schweigen.

Rosmarie hätte von sich aus nicht damit angefangen, doch als Fabian ihr alle Fotos auf seinem Smartphone gezeigt hatte, rückte er näher an seine Mutter heran, nahm sie in die Arme und sagte: »Mama, gräm dich jetzt nicht. Irgendwann wird Stella zur Besinnung kommen.«

Rosmarie schaute ihren Sohn an, der lächelte leicht. »Mama, so gut kenne ich doch, um zu bemerken, dass dir automatisch Stella und ihre Kinder einfallen müssen. Ich weiß nicht, was sich augenblicklich in deren Kopf abspielt, ob dieser andere Mann sie so sehr beeinflusst. Wir hören ebenfalls nichts mehr von ihr, sie hat den Kontakt komplett abgebrochen. Ricky hat immer wieder versucht, ihn doch irgendwie aufrechtzuerhalten, bis auch sie es eingesehen hat, dass man niemandem etwas aufzwingen kann. Mama, mach dir bitte keine Vorwürfe, es hat nichts mit dir und Papa zu tun. Stella und ich waren immer ein Herz und eine Seele, wir vertrauten einander, haben über alles gesprochen, warum auch immer, wir müssen akzeptieren, dass sie ein neues Leben ohne uns führen will.«

Rosmarie hatte Tränen in den Augen, als sie ein leises, kaum vernehmbares »Danke, Fabian«, stammelte.

Fabian schaute seine Mutter an. »Mama, du musst doch jetzt nicht weinen. Ich bin auf jeden Fall sehr froh, dass wir auf einem so guten Weg sind, und ich kann es nur noch einmal wiederholen, ich werde es vermutlich immer wieder tun, dass die beste Entscheidung war, hierher zu ziehen, auf dieses herrliche Fleckchen Erde. Wo sind eigentlich Beauty und Missie?«, lenkte er ab.

»Die sind mit Meta unterwegs, den See zu erkunden.«

»Siehst du, für die beiden ist es ebenfalls viel schöner, um den See zu laufen, statt sich immer auf dem Hundespielplatz in Hohenborn zu tummeln. Wenn sie sprechen könnten, dann würden sie es dir sagen, Mama.«

Rosmaries Stimmung besserte sich sofort wieder, Gespräche wie diese wären früher undenkbar gewesen. Jetzt durfte sie nicht mehr herumjammern, sondern sie musste nach vorne blicken, und mit Heinz …

Da würde sich ebenfalls eine Lösung finden.

*

Pia im Doktorhaus, das war eine vollkommen neue Situation, und Alma war schon bewusst, dass sie nicht wie eine Glucke ständig um Pia herum sein durfte, sondern dass sie das Mädchen erst einmal ankommen lassen musste.

Und so beachtete sie Pia nicht wieder fortwährend, sondern ließ sie erst einmal allein, um das zu tun, was sie längst hätte tun wollen, nämlich mit Brot und Salz, wie es sich gehörte, zum Rückertschen Haus zu gehen, aber nicht, um beides Rosmarie Rückert zu übergeben, sondern Meta. Die war schließlich ebenfalls in den Sonnenwinkel gezogen, hatte eine eigene Wohnung. Und sie fand Meta sehr sympathisch und freute sich schon darauf, die näher kennenzulernen. Sie waren sich während der Umbauphase einige Male begegnet, auch beim Umzug, bei dem sie alle geholfen hatten, sie auch, und das, weil sie auch Rosmarie Rückert mochte, besonders, weil die sich so für den Tierschutz einsetzte, der ihr ebenfalls am Herzen lag.

Auf einem Flohmarkt hatte Alma einmal einen wunderschönen alten Holzteller erworben, auch den legte sie ein Leinentuch und darauf, wie konnte es anders sein, eines von den köstlichen und sehr bekannten Mühlenbroten und eine Packung eines besonderen Salzes.

Alma mochte diese schöne alte Tradition, und sie war sehr froh darüber, dass sie im Sonnenwinkel noch gepflegt wurde. In Großstädten oder anderswo kannten die Nachbarn einander kaum noch, und dann geschahen halt solch gruseligen Geschichten, dass einsame Menschen tot in ihren Wohnungen entdeckt wurden, von niemandem vermisst, man war nur durch den unangenehmen Geruch irritiert worden. Das kam hier nicht vor. Es kannte zwar nicht jeder jeden persönlich, aber man grüßte sich, und wenn es sich ergab, wechselte man hier und da auch ein Wort miteinander.

Lange wollte Alma nicht wegbleiben, und sie lief ziemlich schnell zum Haus der Rückerts und drückte, dort angekommen, energisch auf den Klingelknopf.

Meta öffnete, sah, was Alma in der Hand hatte und sagte sofort: »Frau Rückert ist nicht daheim.«

Alma lächelte.

»Zu der möchte ich auch nicht, Meta. Ich will zu dir, um dich im Sonnenwinkel willkommen zu heißen. Und wenn du hier nur annähernd so glücklich wirst, wie ich es bin, dann ist das so etwas wie ein Hauptgewinn in einer Lotterie.«

Meta war gerührt, weil sie damit nicht gerechnet hätte, und es war nicht zu übersehen, wie sehr sie sich freute. Sie bat Alma ins Haus und bestand darauf, dass sie auch direkt in deren Wohnung gingen, nicht, weil sie befürchtete, Rosmarie Rückert könnte etwas dagegen haben, wenn sie Alma in deren Räumen bewirtete, sondern weil Meta stolz auf ihre neue Wohnung war und darauf brannte, sie jemandem zu zeigen.

Und die Wohnung war wirklich hübsch, ein Neubau halt, denn es war angebaut worden und heute zählten andere Maßstäbe als damals, als das Doktorhaus erbaut worden war. Es änderte sich ja ständig etwas. Alma gefiel ihre eigene Wohnung besser, doch das war subjektiv.

»Schön hast du es hier, Meta«, rief sie, »und auch eine ganze Menge Platz.«

Meta kicherte.

»Nicht mehr so viel wie in der Villa, aber den brauche ich auch nicht, hier gefällt es mir besser, ich werde mich einleben, und ich hoffe, dass Frau und Herr Rückert es ebenfalls tun werden. Eine Umstellung ist es schon.«

»Ich war nur paarmal in der Villa, um etwas hinzubringen, doch ich war immer froh, wenn ich wieder gehen konnte. Wenn ich in Hohenborn was zu erledigen hatte, habe ich was von Frau Auerbach oder Frau von Roth mitgenommen. Aber jetzt erübrigen sich ja solche Wege.«

Sie tranken Kaffee miteinander, Meta freute sich über das Brot und das Salz und ganz besonders über die Holzschale.

»Alma, die ist viel zu kostbar, die hättest du mir nicht schenken dürfen.«

Alma winkte ab.

»Ich freue mich, dir eine Freude damit zu machen, damit erfüllt sie ihren Zweck. Ich bin gekommen, um dich zu begrüßen, doch ich bin auch hergekommen, um dir zu sagen, dass wir für unseren Gospelchor noch Mitstreiter suchen. Du glaubst überhaupt nicht, welche Freude es macht und wie schnell man Menschen kennenlernt. Hast du Lust, mit uns zu singen?«

Meta zögerte.

»Ich weiß nicht, da muss man doch singen können, und ich glaube, das kann ich leider nicht.«

»Meta, ich bitte dich, was für eine Vorstellung hast du denn von einem Chor? Da erwartet man nicht, dass du Arien trällern, singen kannst wie die Callas. Ein paar richtige Töne bekommt jeder heraus. Und den Rest, den lernt man. Also, wenn du magst, wir singen am Mittwoch wieder, haben Chorprobe, ich hole dich ab.«

Meta zögerte noch immer.

»Meta, alles ist ganz unverbindlich, du unterschreibst nicht dein Todesurteil, doch ich kann wetten, dass du hinterher ganz glücklich sein wirst, mitgekommen zu sein. Ich habe mich anfangs ebenfalls geziert, glaubte, mich zu blamieren. Es hat alles nur in meinem Kopf stattgefunden, jetzt bin ich eine ganz begeisterte Gospelsängerin. Singen macht nicht nur gute Laune, man bekommt auch Ehrgeiz, will es immer besser machen, denn bei den Auftritten, die wir mit dem Chor haben, wollen wir niemals unter ferner liefen landen. Also, keine Widerrede, ich stehe am Mittwoch um neunzehn Uhr vor deiner Tür, hole dich ab, wir nehmen mein Auto.«

Meta merkte, wie Freude in ihr aufkeimte. Sie mochte Alma, die hatte eine positive Energie, die abfärbte. Und wenn sie sich erinnerte, dann hatte sie früher als Schulmädchen auch im Chor gesungen, und es hatte ihr unglaublich viel Spaß bereitet.

»Also gut, ich komme mit, und ich …, ich freue mich«, sagte sie, was Alma hocherfreut zur Kenntnis nahm.

»Eine gute Entscheidung. Bist du mir böse, wenn ich jetzt gehe? Wir haben …, im Doktorhaus wohnt ein junges Mädchen …, nun, das …, es ist ein wenig kompliziert. Pia, so heißt sie, muss sich erst noch zurechtfinden.«

Es war Meta hoch anzurechnen, dass sie jetzt nichts hinterfragte, denn neugierige Menschen mochte Alma überhaupt nicht. Sie bot ihre Hilfe an, und als Alma die dankend ablehnte, bedankte Meta sich noch einmal von ganzem Herzen bei ihrer Besucherin.

Als sie sich voneinander verabschiedeten, lag durchaus in der Luft, dass aus diesen beiden Frauen Freundinnen werden könnten. Und das war ein schöner Gedanke.

*

Im Doktorhaus angekommen, rannte Alma sofort in ihre Wohnung, dort fand sie Pia nicht. Da die Frau Doktor ihr auch gesagt hatte, sie können sich jederzeit in deren Wohnung aufhalten, lief Alma dorthin. Auch hier gab es von Pia keine Spur. Alma bekam feuchte Hände, sie merkte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte.

Bedeutete das, dass Pia gegangen war, um ihr Leben auf der Straße fortzusetzen?

Ein solcher Gedanke war unerträglich, und Alma war noch vollkommen außer sich, als die Frau Doktor von einem Krankenbesuch nach Hause kam. Roberta sah sofort, dass mit Alma etwas nicht stimmte, sie war völlig außer sich. Und sofort erkundigte sie sich.

»Pia ist weg«, stieß Alma hervor.

»Wie weg …«, wollte Roberta wissen. Dann erfuhr sie, dass Alma das Mädchen allein gelassen hatte, um Meta bei den Rückerts zu besuchen.

»Frau Doktor, ich war überhaupt nicht lange weg, und vorher ist auch überhaupt nichts vorgefallen, Pia war gut drauf, sie will sogar, dass ich ihr beibringe, mit Pinsel, Farbe und Leinwand umzugehen.«

»Alma, so beruhigen Sie sich doch erst einmal, es wird sich eine einfache Erklärung finden.«

Die Frau Doktor hatte gut reden.

»Und welche?«, erkundigte sie sich. »Pia ist weg, und wir wissen beide, wo sie ihr Leben verbracht hat, ehe sie zu uns kam. Vielleicht gefällt es ihr hier nicht, vielleicht fühlt sie sich bedrängt, durch unsere Fürsorge eingeengt, vielleicht hat sie …«

»Alma, jetzt ist es genug«, unterbrach Roberta die aufgelöste Frau. »Ich bin zwar überzeugt davon, dass Pia wiederkommen wird, aber wenn es nicht so sein sollte, dann müssen wir es akzeptieren. Sie ist volljährig, kann tun und lassen was sie möchte. Wir können sie nicht ständig bewachen oder wie ein kleines Hündchen an die Leine nehmen. Wenn sie gegangen ist, wird sie dafür ihre Gründe haben. Vielleicht macht sie aber auch nur einen Spaziergang, um ihr neues Umfeld ein wenig zu erkunden, und wir haben ihr auch von der Felsenburg erzählt, vom See.«

Alma bewunderte die Frau Doktor für ihre Ruhe, die sie an den Tag legte. Sie selbst war aufgewühlt, aber vielleicht war es auch nicht normal, auf welche Weise sie das Leben von Pia in die Hand genommen hatte. Und das aus der Erfahrung heraus, die sie selbst auf der Straße gemacht hatte. Sie wusste, worum es ging, und sie kannte auch Gefühle wie Scham, falschen Stolz. Auch als es ihr schlecht gegangen war, sie sich sicher fühlen durfte, hatte sie kurz daran gedacht, einfach wieder zu gehen, weil es ihr unerträglich erschienen war, der Frau Doktor zur Last zu fallen. Glücklicherweise war sie rasch wieder zur Besinnung gekommen, und ihr Verstand hatte ihr gesagt, dass sie sich einen falschen Stolz überhaupt nicht leisten konnte. Doch man durfte eines nicht vergessen, sie war älter gewesen. Wenn man jung war, handelte man impulsiv, überdachte nicht das Tun, nicht die Konsequenzen, die alles haben konnte. Ihre Gedanken fuhren Karussell, das immer schneller wurde.

Pia …

Sie steigerte sich immer mehr hinein, und sie war fest davon überzeugt, dass sie Pia niemals mehr wiedersehen würde. Und da konnte auch die Frau Doktor sie nicht vom Gegenteil überzeugen.

Als es an der Tür klingelte, schoss es Alma sofort in den Kopf, dass das die Polizei sein musste. Sie war zu nichts fähig und unendlich dankbar dafür, dass die Frau Doktor selbst zur Tür ging, um zu öffnen.

Und dann hörte Alma nur noch: »Hallo, Pia, da bist du ja wieder. Wir haben uns schon große Sorgen gemacht«, das klang wie eine Feststellung, nicht wie ein Vorwurf.

»Ich war spazieren«, antwortete Pia, die mittlerweile zusammen mit Roberta den Raum betreten hatte, in dem Alma wie ein Häufchen Elend auf einem Stuhl saß. »Und eigentlich wollte ich hinauf zur Felsenburg, um mir die mal aus der Nähe anzusehen. Aber das ging nicht, weil alles abgesperrt ist. Das ist jammerschade. Es wäre kein Problem gewesen, durch den Zaun hindurchzuschlüpfen, aber dann habe ich mich doch nicht getraut. Wenn man die Polizei gerufen hätte, dann hätte die mich mitgenommen, weil ich ja keine Adresse habe.«

Sofort wandte Roberta ein.

»Pia, die hast du. Du wohnst jetzt bei uns, und natürlich werden wir dich anmelden, und falls du keine Papiere hast, werden wir welche für dich besorgen. Und wir müssen uns unbedingt darüber unterhalten, was du tun möchtest. Wir haben mit dir noch nicht darüber geredet, weil wir dich erst einmal ankommen lassen wollten. Und natürlich bist du hier nicht eingesperrt, du kannst tun und lassen was du willst. Doch es wäre schön, wenn du uns das nächste Mal Bescheid sagen würdest, dass du weggehst, und wenn niemand da ist, dann kannst du einfach einen Zettel auf den Tisch legen. Sieh dir Alma an, die hat sich sehr große Sorgen deinetwegen gemacht.«

Pia blickte betroffen drein.

»Das wollte ich nicht. Ich habe nicht nachgedacht, und ich würde niemals weglaufen. So gut wie hier kann es mir überhaupt nicht gehen, und manchmal …, da muss ich mich in den Arm kneifen, um mich davon zu überzeugen, dass ich nicht träume.«

Sie blickte Roberta an.

»Warum tun Sie das für mich? Ich bin eine Fremde, noch dazu eine von der Straße, die packt man normalerweise nicht einmal mit der Feuerzange an.«

Roberta ging darauf nicht ein.

»Für mich bist du ein ganz liebenswerter Mensch, der es verdient hat, dass ihm geholfen wird. Pia, jetzt habe ich leider keine Zeit für ein ausführliches Gespräch, und das müssen wir führen. Aber eines kann ich dir versichern, ich bin froh, dass du da bist. Du bereicherst mein Leben, vor allem das von Alma.«

Nach diesen Worten ging sie, weil sie schon spät dran war und es nicht zu ihren Gepflogenheiten gehörte, ihre Patienten warten zu lassen.

Alma und Pia waren allein. Das sie etwas miteinander verband, war spürbar, und als Alma leise sagte: »Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht«, begann Pia zu weinen. Nicht, weil sie jetzt ein schlechtes Gewissen hatte. Sie hatte sich nichts dabei gedacht. Nein, sie weinte, weil sie es nicht kannte, dass jemand sich Sorgen um sie machte. Ihr Vater hatte nur an sich gedacht, und wenn etwas nicht nach seinem Kopf gegangen war, hatte er angefangen zu prügeln. Und ihre Mutter. Die war einsam und kraftlos gewesen, hatte sich längst aufgegeben. Es war umgekehrt gewesen, sie hatte sich immerzu Sorgen um ihre Mutter gemacht, und das, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, in einem Alter, in dem man normalerweise mit Puppen spielte.

Alma sprang auf, nahm Pia in ihre Arme, drückte sie liebevoll an sich, und so standen sie eine ganze Weile zusammen und fühlten einander sehr nahe, und Pia genoss das Gefühl, beschützt und geliebt zu werden.

Pia war wieder da: …

Das war der Gedanke, der Alma beherrschte, gepaart mit einem ganz großen Gefühl von Liebe für dieses Mädchen, das behutsam mit allem vertraut gemacht werden musste, was für andere Jugendliche dieses Alters selbstverständlich war.

Sie würde Pia all die Liebe geben, die sie aufbringen konnte, dachte Alma in diesem Augenblick. Alma war ein gläubiger Mensch, auch wenn sie manchmal an Gott gezweifelt hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass Pia auf ihren Weg kommen musste, weswegen, das würde sich zeigen.

Pia lehnte sich vertrauensvoll an Alma, genoss deren Wärme und Nähe, und irgendwann erkundigte sie sich mit kaum hörbarer Stimme: »Bist du ein Engel?«

Und diese Frage brachte Alma zum Weinen …

*

Claire hatte sich endlich einmal wieder die Zeit genommen, die Marathonstrecke zu laufen, die Achim ihr gezeigt hatte. Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie gehofft, ihn vielleicht zu treffen und ein wenig mit ihm zu plaudern. Sie war sich noch immer sicher, mit ihm derzeit keine Beziehung eingehen zu wollen, aber als Freund hätte sie ihn gern in ihrem Leben. Sie vermisste die Gespräche mit ihm, aber auch die gemeinsamen Aktivitäten, und es war schön gewesen, ihn beim Lauf neben sich zu spüren. So eine Strecke konnte sehr lang sein, wenn man sie allein lief.

Sie hatte ihn nicht getroffen, und da machte sie sich bewusst, dass es Dinge gab, die nicht zu ändern waren. Wer weiß, wofür es gut gewesen war. Achim hatte sich mehr versprochen, und sie bedauerte ein wenig, dass sie nicht so fühlte wie er.

Sie hatte zwar eine Garage, doch meistens war sie zu faul, den Wagen da rein zu fahren. Es war bequemer, ihn auf der Straße stehen zu lassen. Außerdem wollte sie kurz bei Hulda vorbeischauen, um sie wenigstens zu begrüßen. Sorgen machen musste sie sich um die alte Dame nicht mehr, denn Hulda hatte tatsächlich Anschluss gefunden. Aus der Zufallsbekanntschaft mit den drei Herrschaften hatte sich mehr entwickelt. Sie besuchten gemeinsam nicht nur die Theatergruppe und den Kurs in italienischer Sprache, sondern sie besuchten sich gegenseitig. Das machte Claire richtig glücklich, die alte Dame war aus ihrer Lethargie erwacht und so richtig aufgeblüht.

Wenn es immer so einfach wäre, würde sie viele alte einsame Menschen bei der Hand nehmen und sie mit Gleichgesinnten zusammenführen.

Claire wollte gerade klingeln, als die Haustür geöffnet wurde.

Achim Hellenbrink kam aus der Wohnung. Mit dem hätte sie jetzt hier nicht gerechnet. Aber warum eigentlich nicht? Hulda war seine Ex-Schwiegermutter, sie verstanden sich, und Achim hatte ihr die Wohnung gegeben.

Für einen Moment standen sie sich gegenüber, leichte Verlegenheit machte sich zwischen ihnen breit, sie schauten sich an. Achim fasste sich zuerst.

»Hallo, Claire.«

Auch wenn es ein wenig einfallslos war, entgegnete sie: »Hallo, Achim.«

Zum Glück machte sich nicht wieder Schweigen breit, er sah ihre Sportkleidung und erkundigte sich: »Warst du laufen?« Sie nickte.

»Es wurde wieder mal Zeit, ich war faul, dabei weiß ich, dass man den Kopf freibekommt, wenn man sich endlich aufgerafft hat.«

Sie hätte gern hinzugefügt, dass es mit ihm an ihrer Seite schöner gewesen wäre, eine innere Scheu hielt sie davon zurück.

»Hulda hat mir von dem Geld erzählt, das du bekommen hast. Und, weißt du schon, was du damit anfangen wirst. Oder ist es schon ausgegeben?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich denke beinahe pausenlos darüber nach, und immer, wenn mir etwas in den Sinn kommt, verwerfe ich es wieder. Es wäre einfacher, wenn es mein Geld wäre.«

»Aber es ist dein Geld, du hast es bekommen, weil du ein Leben gerettet hast.«

»Tut mir leid, Achim, aber so sehe ich das nicht. Ich habe meine Pflicht getan, und dafür wird man nicht mit einem solchen hohen Geldbetrag belohnt. Schon vergessen, dass ich Ärztin bin?«

Er blickte sie an, und in seinem Blick lag so unendlich viel Liebe, dass Claire zur Seite sehen musste.

»Irrtum, du warst in diesem Augenblick eine Marathonläuferin, die unbedingt ihr Ziel erreichen wollte und das mit einem guten Ergebnis. Wären deine Sinne nicht so geschärft gewesen, wärst du weitergelaufen, und die arme Frau wäre gestorben, wie es sich dieser grässliche Ehemann ausgedacht hatte. Du hast einer sehr reichen Frau das Leben gerettet, noch einmal, ohne dich wäre sie tot. Und ich weiß nicht, ob man für ein Leben überhaupt einen Preis ansetzen kann. Es ist unbezahlbar. Claire, mach dir keine Gedanken, dir wird schon etwas einfallen, da bin ich unbesorgt. Und wäre diese Gloria Weitz nicht ebenfalls von deiner Lauterkeit überzeugt gewesen, dann hätte sie irgendeiner Organisation etwas gespendet. Mach dich nicht klein, du warst großartig. Und das übrigens nicht nur in diesem Fall, Hulda kommt aus der Schwärmerei nicht mehr heraus. Deren Leben hast du ebenfalls verändert.«

Claire winkte ab, das machte sie verlegen, was er da sagte. »Früher oder später hätte Hulda schon Menschen kennengelernt, davon bin ich überzeugt.«

Wieder blickte er sie an.

»Claire, da du es immer wieder erwähnst, erinnere ich dich daran, dass du Ärztin bist, und als solche hast du Huldas Verfassung erkannt, ohne sie untersucht haben zu müssen. Nimm es doch einfach hin, dass du ein ganz besonderer Mensch bist.«

Als habe er bereits zu viel gesagt, drehte er sich abrupt um und sagte: »Ja, ich muss dann mal, mach’s gut.«

Ehe sie etwas sagen konnte, war er auf und davon, Claire blickte ihm ein wenig verunsichert hinterher. Sie war auf dieses Zusammentreffen gerade nicht vorbereitet gewesen, und es verwirrte sie mehr als geglaubt.

Sie hatte ja eigentlich gedacht, bei Hulda kurz vorbeizuschauen. Das ließ sie bleiben, weil sie sicher war, Huldas forschendem Blick nicht standhalten zu können. Und eine Bemerkung käme ihr jetzt auch nicht recht. Sie waren nicht verabredet gewesen, Hulda würde also nicht auf sie warten. Auch Claire drehte sich um und ging nach nebenan.

Die Begegnung mit Achim hatte sie schon aufgewühlt, und sie fragte sich, warum eigentlich. Weil er ein so Netter war? Weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnte? Sie wusste es nicht, und sie wollte auch nicht darüber nachdenken.

In ihrer Wohnung angekommen, zog sie ihre Sportbekleidung aus, dann stellte sie sich nicht, wie gewohnt, unter die Dusche, sondern ließ Wasser in ihre Badewanne laufen. Und in das Wasser kippte sie reichlich von einer verführerisch duftenden Lavendelessenz, das sollte bekanntlich ja beruhigen, und eine Beruhigung hatte sie nötig. Und sie hoffte, von Gedanken davongetragen zu werden, die nichts mit Achim Hellenbrink zu tun hatten, aber auch nicht mit der Spende, die für sie augenblicklich noch Segen und Fluch zugleich war.

Es konnte nicht schaden, sich auch noch von Musik berieseln zu lassen, und ehe sie in die Wanne stieg, zündete Claire auch noch ein paar Kerzen an.

Ob es helfen würde?

Ganz sicher war sie sich nicht.

*

Ihre Freundin Trixi rief an, und so, wie die sich anhörte, wusste Roberta, dass Trixi positive Nachrichten hatte. Ohne dass ein Wort gesprochen worden war, rief Roberta: »Du hast den Job bekommen.«

»Ja, hab ich, Roberta, und ich könnte die ganze Welt umarmen, so gut wie augenblicklich ist es für mich noch nie gelaufen. Und stell dir vor, ich habe sogar meine männlichen Bewerber hinter mir gelassen. Und so was ist ja wohl die Ausnahme, Männer werden in der Regel doch immer bevorzugt.«

»Diesmal nicht, Trixi, ich gratuliere dir. Und es hat nichts damit zu tun, ob du eine Frau oder ein Mann bist, du bist einfach so gut, dass man dich nicht übergehen kann. Und wann fängst du an?«

Trixi lachte, gelöst und erleichtert.

»Am liebsten schon gestern. Erst haben sie sich alle Zeit der Welt gelassen, und nun ist Eile geboten.«

»Aber du wolltest mit Philip zu uns kommen«, erinnerte Roberta sie. »Das hast du versprochen.«

»Und mein Versprechen halte ich auch, deswegen rufe ich auch an. Passt es dir am Wochenende? Wir würden am Sonnabend in aller Frühe kommen, und am Sonntag gegen Abend abfahren.«

»So kurz nur?«, konnte Roberta sich nicht verkneifen zu fragen.

»Liebe Freundin, sei froh, dass wir überhaupt kommen. Wenn ich es nicht versprochen hätte, dann kämen wir erst einmal überhaupt nicht.«

»Ist ja schon gut, danke, Trixi, auch Alma wird Freudensprünge machen, sie liebt den Kleinen über alles. Doch ich glaube, jetzt muss Philip die Liebe teilen.«

»Und wieso das?«

Roberta gehörte nicht zu den Menschen, die Neuigkeiten mit Vergnügen verbreiteten. Doch sie wusste, dass sie Trixi vertrauen konnte.

Außerdem hatte die eine psychotherapeutische Ausbildung. Sie erzählte von Pia, deren erschütternden Lebensumständen und wie das Mädchen zuletzt gelebt hatte.

Als sie aufhörte zu sprechen, sagte Trixi zunächst nichts, dann kam ein leises: »Das ist eine ganz schöne Herausforderung, Roberta, das weißt du schon, oder?«

Roberta bestätigte es.

»Gut, ich wäre nicht darauf gekommen, doch als Alma damit kam, erschien es mir auf einmal eine Selbstverständlichkeit zu sein, diesem Mädchen zu helfen. Es ist alles noch sehr frisch, und wir umschleichen uns im Moment noch wie Katzen das begehrte Futter. Aber ich glaube, dass es sich lohnen wird, zumindest ist es einen Versuch wert. Und es wäre natürlich großartig, wenn du einen Blick auf Pia werfen könntest. Und vielleicht kannst du uns auch einen Rat geben, wie wir am besten mit ihr umgehen sollen. Sie wie ein rohes Ei zu behandeln, kann es nicht sein, und verschrecken darf man sie ebenfalls nicht. Pia hat ein sehr dünnes Fell, was bei all den Verletzungen, die sie sowohl in körperlicher als auch seelischer Hinsicht davongetragen hat, auch nicht verwunderlich ist.«

»Roberta, bitte verstehe mich nicht falsch. Ich finde es großartig, was ihr da macht. Nur einfach wird es nicht sein. Aber ja, ich werde mir, wenn es irgendwie unauffällig klappt, Pia ansehen. Sie mit einer Therapeutin zu konfrontieren, das wäre nicht hilfreich. Sollte es sich ergeben, können wir darüber sprechen, aber nur dann. Ich freue mich auf jeden Fall.«

»Und ich werde dafür sorgen, dass ich keinen Notdienst habe, seit Claire Müller hier arbeitet, ist für mich alles viel leichter.«

»Es ist eine Win-Win-Situation für beide, für Claire noch mehr als für dich. Ich hätte dich auch gern als Chefin.« Roberta lachte.

»Das glaube ich dir nicht. Ich hab dir eine Zusammenarbeit angeboten, schon vergessen? Und da wärst du nicht mal eine Angestellte gewesen, sondern hättest auf eigene Rechnung arbeiten können.«

Natürlich erinnerte Trixi sich.

»Das war großzügig von dir, und ich danke dir noch immer. Doch glaub mir, so ist es besser, ich arbeite halt viel lieber wissenschaftlich in der Forschung. Bei dir ist es umgekehrt, du willst die Patientennähe, dabei wäre aus dir eine ganz hervorragende Wissenschaftlerin geworden, du mit deinem analytischen Verstand.«

»Trixi, nun ist es aber gut, sonst hebe ich noch ab.«

»Das will ich natürlich nicht.«

Trixi erzählte ihr in epischer Breite, wie es mit der Bewerbung abgelaufen war und wann sie die Zusage erhalten hatte, und das hörte sich wirklich sehr gut an. Doch dann war Roberta mehr daran interessiert, etwas über den kleinen Philip zu hören, den sie so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, auch wenn es mit Lars zu einem Eklat gekommen war, weil der Kleine ihn genervt hatte. Und sie hatte sich künstlich aufgeregt, aber daran wollte sie sich nicht mehr erinnern, weil es eh nicht zu ändern war und sie sich keine Schuldgefühle machen wollte.

Was vorbei war, das war vorbei. Und hinterher war es zwischen ihr und Lars ja auch wieder gut gewesen, und auch wenn sie sich später nicht mehr gesehen hatte, so hatte sie viele Beweise seiner großen Liebe zu ihr in Händen, all ihre Träume hätten sich erfüllt. Lars hatte sie heiraten wollen, er wäre bei ihr eingezogen, und sie hätten gemeinsame Kinder bekommen. All das hatte sie erst später erfahren, wie Botschaften aus dem Jenseits. Und dass es jetzt am Himmel einen Stern gab, der für alle Ewigkeiten ihrer beider Namen trug, dafür hatte Lars ebenfalls gesorgt.

Alles waren tröstliche Botschaften gewesen, doch keine von ihnen, auch nicht der Stern, konnten ihn ersetzen und ihr die innere Leere, die Einsamkeit, den Schmerz nehmen. Sie bemühte sich ja, doch es half nichts, sie wurde immer wieder übermannt von ihren Erinnerungen, und das drohte sie dann beinahe zu zerreißen.

Roberta war sehr froh, dass Trixi irgendwann das Telefonat beendete, vielleicht, weil sie feinfühlig genug war, um zu erkennen, dass Roberta längst schon nicht mehr bei der Sache war oder weil irgendwo im Hintergrund bei Trixi ein Handy klingelte.

Es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken, darüber nicht, aber über Lars schon, der auf einmal wieder so präsent war, als befände er sich im Raum. Sie glaubte sogar, ihn nicht nur zu spüren, sondern auch zu riechen.

War sie dabei, ihren Verstand zu verlieren?

Roberta sprang auf, rannte hinüber in ihr Schlafzimmer, ließ sich auf die Bettkante sinken, dann starrte sie auf das Gemälde, auf dem er so unglaublich lebendig wirkte. Sie vertiefte sich in sein geliebtes Gesicht. Selbstbewusst sah er aus, er lächelte, und seine unglaublich blauen Augen, in die sie sich bei ihrem ersten Zusammentreffen verliebt hatte, faszinierten sie noch immer. Und in diese Augen verlor sie sich jetzt, sie verlor das Gefühl dafür, wo sie sich befand, sie spürte nur noch seine Nähe, fühlte sich getragen von einer weichen Wolke. Das verursachte Freude und Schmerz zugleich, und weil man aus Träumen immer erwachte, fand sie sich sehr schnell wieder in der Realität zurück. Sie begann zu weinen, als sie an sein ungeklärtes Schicksal dachte.

Im ewigen Eis verschollen …

Es war hart, makaber, brutal, doch es passte zu ihm. Man hatte Lars niemals so ganz mit normalen Maßstäben messen können. Doch für die Menschen, die ihn liebten, war es ein unerträglicher Gedanke, über seinen Verbleib so überhaupt nichts zu wissen, nur auf Vermutungen angewiesen zu sein. Man hatte nach ihm und seinem Begleiter gesucht, lange und intensiv, und die Suche war erst eingestellt worden, als es keine Hoffnung mehr gab, die beiden Verschollenen noch lebend zu finden. Das waren die grausamen Fakten, mit denen man sich abfinden musste. Ihr Verstand sagte ihr längst, dass Lars nicht mehr unter den Lebenden weilte, doch ihr Herz wollte es einfach nicht glauben, wehrte sich beinahe verzweifelt dagegen.

Verschollen …

Das klang besser als tot. Der Tod war endgültig, und so, da konnte man sich noch etwas vormachen.

Manchmal konnte Roberta besser damit umgehen, manchmal brach es über ihr zusammen, und der Schmerz würde wohl für immer ihr ständiger Begleiter sein.

Warum hatte das Schicksal so grausam zugeschlagen?

Diese Frage würde ihr niemand beantworten, und deswegen quälte es sie auch so. Eine Lebensliebe hatte man nur einmal, und sie hatte ihre verloren!

Sie zuckte zusammen, spürte, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war, blickte hoch, wischte sich die Tränen weg.

Pia stand an der Tür, wirkte verunsichert, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie konnte nicht gut mit Tränen umgehen, denn davon hatte sie genügend vergossen, und dass die Frau Doktor jetzt weinte …

Sie blickte Pia an, und murmelte: »Entschuldigung, ich …, ich wollte Sie nicht stören, aber Alma schickt mich …, ich soll Ihnen sagen, dass wir …, gleich …, nun, dass wir gleich essen werden.«

Sie wollte beinahe fluchtartig den Raum wieder verlassen, doch Roberta hielt sie zurück, bat sie, sich neben sie zu setzen. Das tat Pia, doch an ihrer Körperhaltung war deutlich zu spüren, wie unwohl sie sich gerade fühlte.

Pia rutschte hin und her, Roberta überlegte, wie sie das Gespräch beginnen sollte, doch da kam Pia ihr zuvor: »Ich wollte nicht sehen, wie Sie …«

»Weinen?«, ergänzte Roberta.

Dann ergriff sie Pias Hand, hielt sie fest und versuchte, ihr zu erklären, dass Tränen zu jedem Leben gehörten, dass man sich nicht schämen durfte, weil Tränen auch Gefühl bedeuteten, und dass es wichtig war, es herauszulassen, ehe sich irgendwo im Körper etwas manifestierte. Dann sprach sie über Lars, sein Schicksal.

Pia sagte nichts, doch Roberta spürte, dass es sie einander näher brachte, weil sie beide jemanden verloren hatten, der wichtig für sie gewesen war. So etwas schaffte eine Verbindung.

»Pia, jetzt wissen wir ein wenig voneinander, doch ich wünsche mir, dass es mehr wird. Vor allem wünsche ich mir, dass du dich hier bei uns einleben wirst. Du bist herzlich willkommen.«

Pia begann am ganzen Körper zu zittern, und Roberta legte fürsorglich einen Arm um sie, drückte sie.

»Ich … ich weiß überhaupt nicht, womit ich das verdient habe. Sie und die Alma, Sie sind so gut zu mir.«

»Pia, du musst dir nichts verdienen. Das Schicksal geht manchmal ganz seltsame Wege. Es hat uns zusammengeführt, und ich denke, wir sollen die Herausforderung annehmen.«

Pia blickte sie an, und zum ersten Mal sah Roberta in dem hübschen Mädchengesicht nicht mehr das Erloschene, sondern einen Hoffnungsschimmer, und das war gut, sehr gut sogar.

Roberta lächelte aufmunternd, dann sagte sie: »Ich glaube, jetzt sollten wir gehen, Alma ist ein überaus gütiger Mensch mit sehr viel Herz, aber sie kann es nicht leiden, wenn man zu spät zum Essen kommt.«

Sofort sprang Pia auf, wollte losrennen, Roberta hielt sie zurück, nahm sie bei der Hand, und gemeinsam gingen sie in die Wohnküche, in der Alma tatsächlich bereits auf sie wartete, doch als sie die beiden Menschen, die ihr am meisten am Herzen lagen, Hand in Hand den Raum betreten sahen, glitt ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht.

Wie hatte die Frau Doktor es bloß geschafft, Pia etwas von ihrer Verlorenheit zu nehmen?

*

Für heute hatte Hulda Lingen sich vorgenommen, mit dem Bus nach Hohenborn zu fahren, um dort einen Einkaufsbummel zu machen. Das war etwas, was sie selbst überraschte, denn noch vor kurzer Zeit hätte sie es nicht für möglich gehalten, dass sie an so etwas überhaupt noch einmal Spaß haben könnte. Es hatte sich alles auf ganz wunderbare Weise verändert. Sie fuhr mit dem Bus, kannte die Fahrzeiten.

Sie war unabhängig, und sie hatte unglaublich viel Spaß mit den Leuten ihrer Theatergruppe, die ja gleichzeitig auch im Italienischkurs waren. Es machte großen Spaß mit Franz, Tekla und Gertrud, und man nannte sie nicht umsonst das vierblättrige Kleeblatt, weil sie immer gemeinsam auftragen, sich unterhielten, miteinander lachten, weil zwischen ihnen die Chemie stimmte. Und sie hatten sich auch immer etwas zu sagen, wenn sie einander besuchten. Bei Franz, Tekla und Gertrud waren sie schon gewesen, nun war sie an der Reihe, und da wollte sie sich auch gleich mal in der Buchhandlung nach einem besonderen Kochbuch umsehen.

Sie konnte kochen, und das auch gut, aber es sollte etwas Besonderes sein. Außerdem sah sie sich gern Kochbücher an. Und ein paar bequeme Schuhe wollte sie sich ebenfalls kaufen. Tekla hatte beim letzten Treffen welche von diesen Sneakern an, die jetzt alle trugen. Ehrlich gesagt, hätte sie sich nicht getraut, weil sie der Meinung war, dass das nur für junge Menschen was war, aber Tekla war älter als sie und trug diese Sneaker mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit. Nun, als ehemalige Lehrerin hatte sie immer mit jungen Leuten zu tun gehabt, da fühlte man sich wahrscheinlich selber jung. Wie auch immer, sie würde sich Sneaker kaufen, denn sie hatte sich auch vorgenommen, den See zu erkunden, da brauchte man passendes Schuhwerk.

Hulda blickte auf ihre Armbanduhr.

Ein bisschen Zeit hatte sie noch, doch für einen Kaffee würde es nicht mehr reichen, es sei denn, sie nahm den nächsten Bus. Sie entschied sich dagegen, Kaffee trinken konnte sie auch in Hohenborn, das war viel spannender.

Hulda spürte, wie Freude sich in ihr breitmachte, doch da war auch viel Dankbarkeit. Achim hatte ihr zu dieser herrlichen Wohnung verholfen, und sie war sich sicher, dass er ihr ganz gewiss nicht die Miete abnahm, die er hätte erzielen können. Und dass Claire in ihrem Leben war, die großartige Frau Doktor, ja, das war ein tolles Geschenk, denn Claire hatte sie alles zu verdanken, auch, dass sie jetzt so gut drauf war.

Hulda kämmte sich flüchtig ihre Haare, lächelte ihrem Spiegelbild zu, dann griff sie nach ihrer Handtasche, ging in die Diele, um sich eine Jacke anzuziehen, als es klingelte.

Achim konnte es nicht sein, der hatte einen Auswärtstermin, Claire war in der Praxis, und Franz, Tekla und Gertrud kannte sie noch nicht so gut, dass die einfach vorbeikommen würden.

Sie seufzte, vermutlich ein Vertreter, der ihr was verkaufen wollte, obwohl die sich im Sonnenwinkel kaum sehen ließen. Es war einfacher in einer Großstadt an den Türen zu klingeln, denn da waren die Chancen größer für einen Abschluss, weil viel mehr Menschen dicht beieinander wohnten.

Wie auch immer, sie würde sich durch niemanden aufhalten lassen. Mit diesem Vorsatz öffnete sie die Tür und staunte nicht schlecht, als sie ihre Tochter Doris sah. Sie hätte mit allem gerechnet, mit Doris nicht. Und die war erst einmal im Sonnenwinkel gewesen, um sie zu besuchen. Nein, korrigierte Hulda sich sofort, das war kein Besuch gewesen, Doris hatte Geld haben wollen, wie immer, dabei hatte Hulda ihr doch beinahe schon alles gegeben, weil sie der Meinung war, dass es sich mit einer warmen Hand besser schenkte. Freilich, gedankt hatte Doris ihr das nicht, und sie hatte sogar ihr Elternhaus, kaum dass es überschrieben war, verkauft.

»Hallo, Mama«, rief Doris und umarmte ihre Mutter flüchtig.

»Hallo, Doris«, antwortete Hulda recht reserviert, was Doris erstaunte, sie warf ihrer Mutter einen Blick zu, so kannte sie sie nicht.

»Willst du mich nicht reinbitten?«

Hulda zögerte, sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl, und ahnte instinktiv, dass es mit ihrer guten Laune rasch vorbei sein würde, wenn sie den Wunsch ihrer Tochter erfüllte, andererseits …

»Doris, eigentlich passt es mir nicht. Du kannst nicht einfach vorbeikommen, wenigstens anrufen hättest du mich können.«

Doris begann zu lachen.

»Mama, ich bitte dich. Was soll das denn? Du bist nicht die Queen Elizabeth, bei der man um eine Audienz bitten muss. Du hast doch eh nichts zu tun.«

So sah ihre Tochter sie? Das war mehr als bitter.

»Doris, das hat sich geändert, und jetzt bin ich auf dem Weg nach Hohenborn, wenn du magst, kannst du mich begleiten. Wir können den Bus nehmen, oder wir fahren mit deinem Auto.«

»Mama, hör mit den Unsinn auf«, Doris schob sich einfach an ihrer Mutter vorbei und lief ins Wohnzimmer, und Hulda hatte keine andere Wahl, als ihrer Tochter zu folgen.

Doris setzte sich, nachdem sie sich vorher ein Glas aus dem Schrank geholt hatte und nach der Flasche Wasser griff, die angebrochen auf dem Tisch stand.

»Mama, ich will dich nicht lange aufhalten. Ich brauche deine Hilfe.«

Ja klar, weswegen hätte Doris sonst auch kommen sollen?

Hulda sagte nichts, und Doris wiederholte ihren Satz, dem sie hinzufügte: »Ich muss bei einer Investition nachschießen, ehe sie den Bach runtergeht.«

Solche oder ähnliche Sätze kannte Hulda zur Genüge. Was trieb Doris da eigentlich? Sie hatte viel Geld von ihr bekommen, und der Verkauf des Hauses hatte ein Vermögen gebracht. »Über welche Summe reden wir?«

Doris trank etwas, stellte das Glas ab.

»Nicht viel, bloß um fünfzigtausend Euro.«

Hulda blickte ihre Tochter entsetzt an, sie glaubte, sich verhört zu haben.

»Fünfzigtausend Euro«, wiederholte sie, »und was glaubst du, wo ich die herholen soll? Aus einer Schublade? Oder glaubst du, ich habe Geld unter dem Kopfkissen versteckt?«

»Nein, aber du hast da noch ein paar Fonds, Aktien und sonstiges in petto.«

»Ja, Doris, und da werde ich nicht drangehen. In meinem Alter kann man nicht einfach zur Bank gehen und sein Konto überziehen, und einen Kredit bekommt man schon überhaupt nicht.«

»Mein Gott, Mama, du mit deinem Sicherheitsdenken. Dir kann doch überhaupt nichts passieren, du bekommst eine ordentliche Rente, und Achim wird dich schon nicht vor die Tür setzen, wenn du die Miete nicht mehr bezahlen kannst, wenn er dir überhaupt etwas abnimmt. Und das ewige Leben hast du auch nicht, warum also willst du das Geld bunkern? Was da ist, bekomme ich ja schließlich doch. Und das kann ich jetzt brauchen. Also, Mama, wie machen wir es?«

Wäre Doris eine Fremde, würde sie der jetzt die Tür weisen, ein paar entsprechende Worte sagen.

Augenblicklich war Hulda zu überhaupt nichts in der Lage, etwas zu sagen. Er wurde wieder einmal bewusst, dass sie für ihre Tochter nichts weiter war als eine Gelddruckmaschine, die fortwährend Geld druckte.

So von dem einzigen Kind gesehen zu werden, für das man alles getan hatte, war grauenvoll. Hulda konnte kaum atmen, weil ein großer Schmerz sie beinahe zerriss. Ihre Gedanken kreisten, ohne dass sie zu einem Ergebnis kam, als Doris ihre Frage wiederholte und hinzufügte: »Mama, ich habe nicht alle Zeit der Welt, ich muss wieder weg«, richtete Hulda sich auf und sagte klar, aber mit ­einer sehr zitternden Stimme: »Doris, wir machen überhaupt nichts.«

Doris starrte ihre Mutter an. Hatte sie die jetzt richtig verstanden?

»Mama, das soll jetzt wohl ein Witz sein, wenn du mir Angst machen willst, meinetwegen, du hast mir einen Schreck eingejagt. Und jetzt wieder zum Geld.«

Hulda schluckte. Ihr war ganz elend zumute, doch sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, sie konnte nicht immer nachgeben, so viel Geld hatte sie überhaupt nicht mehr, und sie half Doris damit auch nicht.

»Doris, es tut mir leid, aber ich kann und will dir nichts geben. Als ich dir alles gegeben und überschrieben hatte, warst du eine reiche Frau, und wenn du immer wieder ankommst, um neues Geld zu verlangen, dann machst du etwas falsch, da kann etwas nicht stimmen. Und das kann ich nicht unterstützen.«

Doris wurde hysterisch, begann Hulda zu beschimpfen.

»Bist du verrückt? Hör auf mit diesen Spielchen, irgendwann ist es eh mein Geld. Dann kannst du es mir sofort geben.«

Hulda beherrschte sich nur mühsam.

»Irrtum, Doris, alles, was du bekommen hast, ist notariell festgelegt und unterschrieben. Dir steht nichts mehr zu, und mit dem mir verbliebenen Rest kann ich tun und lassen, was ich will.«

Doris sprang auf, das Glas fiel um, das Wasser breitete sich auf dem Tisch aus. Das störte Doris nicht.

»Das wirst du bereuen«, sagte sie, »erwarte jetzt nicht, dass ich mich weiter um dich kümmere.«

Wäre es nicht so unglaublich, dann hätte Hulda jetzt lachen können.

»Doris, wann hast du dich denn schon mal um mich gekümmert? Wann hast du mir zum Geburtstag gratuliert? Ja, früher, da war es anders, doch das war nicht dein Verdienst, da hat Achim sich um alles gekümmert. Und das tut er noch immer. Und Doris, wenn du es von Geld abhängig machst, ob du mich sehen willst oder nicht, da kann ich verzichten. Ich möchte mir deine Besuche nicht erkaufen, von Liebe will ich überhaupt nicht reden. Ich glaube, du weißt nicht mal, was das ist.«

»Diese sentimentale Art mochte Papa schon nicht.«

Und das konnte Hulda nur bestätigen, und leider kam Doris ganz auf ihren Vater.

Sie versuchte es noch einmal, Hulda blieb stur, da rannte Doris aus dem Haus, wütend, türschlagend.

Wie aus einem bösen Traum erwachend stand Hulda auf, holte ein Tuch, wischte automatisch das Wasser weg, dann ließ sie sich erneut auf den Stuhl sinken.

Zweifel tauchten in ihr auf.

Hätte sie Doris doch das Geld geben sollen?

Nein!

Doris würde immer wieder kommen, bis der letzte Cent bei ihr gelandet war. Und wenn sie wirklich mit dem ganzen Geld zockte, dann war es auf jeden Fall besser, den Rest als Notgroschen zu behalten. Wer weiß, wofür es gut war.

Irgendwann stand Hulda auf, müde, erschöpft, und dann begann sie, sich wieder umzuziehen. Nach Hohenborn würde sie jetzt nicht mehr fahren. Die Lust wer ihr gründlich vergangen. Sie begann zu weinen, und über ihr ganzes Elend konnten sie auch nicht die Gedanken hinwegtrösten, dass es in ihrem Leben auch noch Achim, Claire und ihre neuen Freunde gab.

Warum war Doris bloß so anders?

Und warum war sie so gierig?

Sie wusste es nicht, eigentlich war Doris schon immer so gewesen, sie hatte sich berechnend an ihren Vater herangemacht, doch in einem war Hulda sich sicher. Ihr Mann würde sich im Grab herumdrehen, wenn er wüsste, was Doris ihr schon alles abgeschwatzt hatte. So weit war seine Liebe dann doch nicht gegangen.

*

Sophia von Bergen hatte das Klingeln an der Haustür gehört, doch ehe sie aufgestanden war, hatte Angela bereits geöffnet. Sophia hörte Stimmen, doch es interessierte sie nicht, wer da draußen stand.

Wären es Teresa oder Inge gewesen, mittlerweile auch Rosmarie, dann wären die längst bei ihr im Wohnzimmer.

Aber es dauerte ziemlich lange. Mit wem redete Angela da? Hoffentlich war es niemand, der ihr einen Versicherungsvertrag oder ein Zeitungsabo andrehen wollte, diese Leute konnten manchmal nerven. Sie musste sich keine Sorgen machen, Angela würde nicht schwach werden.

Endlich kam sie ins Wohnzimmer, strahlte.

Jetzt wurde Sophia neugierig.

Angela schwenkte einen braunen Umschlag hin und her und erkundigte sich bestens gelaunt: »Mama, was glaubst du wohl, was ich hier habe?«

»Du wirst es mir sagen, mein Kind.«

Angela setzte sich neben ihre Mutter, legte den Umschlag auf den Tisch, tippte drauf.

»Mama, das sind die Schlüssel zu unserem neuen Haus, einer der Erben hat sie vorbeigebracht, das Haus ist leer.«

»Angela, das ist ja großartig.«

Angela nickte.

»Ja, jetzt muss es nur noch renoviert werden, und dann können wir einziehen. Ach, Mama, ich kann es immer noch nicht fassen, dass Berthold und ich ganz in deiner Nähe leben werden. Und eigentlich ist es überhaupt ein Wunder, dass wir uns begegnet sind. Dieses warme, zärtliche Gefühl, das ich an seiner Seite habe oder wenn ich an ihn denke, das hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben. Noch nicht einmal annähernd nach der Hochzeit mit Wim. Zwischen Berthold und mir stimmt einfach alles.«

Sophia strich ihrer Tochter über die schmale Hand, die auf dem Briefumschlag lag, als habe sie Angst, jemand könne ihr die Schlüssel wegnehmen.

»Angela, wenn jemand dieses Glück verdient hat, dann doch du. Ich danke dem lieben Gott jeden Tag dafür, dass er meine Gebete erhört hat.«

Angela blickte ihre Mutter ganz gerührt an. Sie wusste, welche Sorgen sie sich um sie gemacht hatte.

»Mama, jetzt ist alles gut, nun musst du dir keine Sorgen mehr machen. Aber was meinst du? Sollen wir zum Haus laufen und es uns ansehen? Das Wetter ist herrlich, und ein kleiner Spaziergang würde uns nicht schaden.«

»Und deine Übersetzung?«, erinnerte Sophia sie.

»Mama, keine Sorge, die kann warten. Dann arbeite ich halt heute Abend ein wenig länger, Berthold will sich eh bei mir noch melden, und das kann spät werden. Er ist augenblicklich dabei, seine internationalen Firmenanteile abzustoßen, weil er auf jeden Fall mit mir zusammen ein geruhsameres Leben führen möchte, was ich nur begrüße. Aber darüber zerbreche ich mir jetzt nicht den Kopf, es kommt sowieso, wie es kommen soll.« Sie hatte eine Idee. »Mama, wenn du magst, rufe ich Teresa an und frage sie, ob sie Lust hat mitzukommen. Das würde dich doch freuen, nicht wahr? Ihr seid ein Herz und eine Seele, aber es ist schön, wie gut ihr euch versteht.«

Natürlich war Sophia sofort damit einverstanden. Es freute sie sehr, dass Angela Teresa immer mit einbezog, und das sagte sie ihrer Tochter auch.

Angela lachte.

»Mama, dazu bin ich doch geradezu verpflichtet. Glaubst du vielleicht, ich habe nicht mitbekommen, wie du und Teresa daran drehen wolltet, aus Berthold und mir unbedingt ein Paar machen zu wollen? Zum Glück ist es ganz anders gekommen, und Berthold und ich lernten uns zufällig, ohne euer Zutun, am See kennen. Und das war auch sehr gut so, denn ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, wie ich reagiert hätte, wenn ich dahintergekommen wäre, dass ihr da etwas arrangieren wolltet.«

Wie peinlich war das denn jetzt! Sophia fiel aus allen Wolken, dabei hatten Teresa und sie sich doch so sehr bemüht, so diskret wie nur möglich zu sein. Sie hatten aufgehört zu sprechen, wenn Angela das Zimmer betreten hatte, sie hatten das Thema sofort gewechselt, und nun diese Eröffnung.

»Angela, ich … Teresa hat …«

Sophia wusste nicht, was sie sagen sollte.

Angela umarmte ihre Mutter.

»Mama, lass es gut sein, das ist Schnee von gestern. Wir müssen wirklich nicht mehr darüber reden, und wenn ich gewusst hätte, wie verlegen dich das macht, dann hätte ich überhaupt nicht davon angefangen. Es ist alles gut wie es ist, und es hatte alles so kommen müssen, davon sind Berthold und ich ganz fest überzeugt. So, und nun rufe ich deine Freundin an, und wenn die nicht mitkommen will, dann gehen wir allein zum Haus.

Es fühlt sich unglaublich an, den Schlüssel zum eigenen Heim in der Hand zu halten. Schade, dass Berthold nicht dabei sein kann. Ihm lag es daran, dass wenigstens ich ins Haus kann, natürlich mit dir im Schlepptau, das muss ich jetzt wohl nicht erwähnen, oder? Berthold liebt dich über alles. So, und nun rede ich nicht mehr, sondern rufe endlich Teresa an, ich bin mal gespannt.«

Sophia atmete insgeheim erleichtert auf, dass Angela über alles, was sie und Teresa anzetteln wollten, so großzügig hinweggegangen war.

»Du musst nicht gespannt sein, mein Kind, ich prophezeie dir, dass Teresa sofort darauf anspringen wird, so was lässt die sich niemals entgehen«, rief Sophia, die ihre Freundin schließlich kannte.

»Dein Wort in Gottes Ohr«, lachte Angela, die in allerbester Stimmung war. Sie hätte die ganze Welt umarmen können. Dann rief sie Teresa an.

»Eigentlich wollte ich gerade mit Magnus zu einem Spaziergang um den See aufbrechen. Aber da muss er jetzt mit den Hunden allein losziehen, so was lass ich mir doch nicht entgehen. Wie aufregend, und danke, Angela, dass ich mitkommen darf.«

»Das ist doch selbstverständlich, Teresa, du bist schließlich ein Teil unserer Familie.«

Das zu hören freute Teresa natürlich sehr. Sie verabredeten sich, und weil Teresa näher am neuen Haus wohnte, wollte sie den beiden Damen entgegenkommen.

»Alles geklärt, Mama, du hattest recht, Teresa kommt mit, und dafür lässt sie einen Spaziergang mit Magnus sausen. Dann machen wir uns fertig, ja? So wie ich Teresa kenne, wird sie hier sein, ehe wir unsere Schuhe angezogen haben.«

Sophia wusste, dass das durchaus zutreffen konnte, kommentierte es nicht, sondern lachte.

Was für ein schöner Tag.

Angela hatte die Schlüssel in der Hand, nun konnte nichts mehr schiefgehen, und all ihre Sorgen, die sie sich heimlich gemacht hatte, zerstoben wie Blätter im Wind.

Der Sonnenwinkel war vorher schon schön gewesen, und es war ihre beste Entscheidung, herzuziehen, nun wurde er immer schöner, Rosmarie Rückert und ihr Mann hatten sich niedergelassen, und Rosmarie hatte sie sogar schon besucht und angekündigt, dass sie natürlich ihr Projekt zur Rettung des Tierheims weiterführen würden und dass sie fest auf die Beteiligung des harten Kerns rechnen würde. Was für eine Frage, natürlich würden sie und Teresa wieder dabei sein.

Und nun, obwohl eine Steigerung kaum noch möglich war, würde ihre Angela bald nur um die Ecke wohnen …, besser ging es nicht.

Die Damen von Bergen hatten gerade das Haus verlassen, als Teresa um die Ecke geschossen kam, ja, geschossen. Diese Frau hatte wirklich eine unglaubliche Energie.

Teresa hakte sich bei Mutter und Tochter ein und erkundigte sich: »So, und nun möchte ich alles hören. Wieso hast du bereits den Schlüssel, Angela?«

»Weil Berthold das Haus für uns gekauft hat, und weil jetzt endlich alles von den ehemaligen Besitzern ausgeräumt ist. Die Erben haben sich damit sehr viel Zeit gelassen. Um an das Geld für den Verkauf des Hauses zu kommen, da hatten sie es sehr viel eiliger, da konnten sie es kaum erwarten, es auf ihrem Konto zu haben. Aber was soll es, es lohnt sich nicht, noch darüber zu reden. Es ist vorbei«, sie klopfte auf ihre Jackentasche, in der der Schlüssel sich befand. »Und jetzt können wir uns nur noch freuen. Ein Traum ist in Erfüllung gegangen mit dem Erwerb eines Hauses, eines besonders schönen Hauses, an diesem wunderschönen Ort. Eigentlich hätten wir Champagner mitnehmen sollen, um darauf miteinander anzustoßen, schade, dass ich nicht daran gedacht habe.«

Teresa lachte, klopfte auf eine schwarze Tasche, die vorher niemandem aufgefallen war.

»Was glaubt ihr wohl, was sich in dieser Tasche befindet, meine Damen?«

»Champagner«, mutmaßte Sophia, und Teresa nickte bestätigend. Und Angela rief begeistert: »Teresa, du bist einfach ganz unglaublich.«

Teresa lächelte, bestätigte es, indem sie sagte: »Aber das weiß ich doch.«

Über diese trockene Bemerkung mussten sie alle lachen und gingen wohlgemut zu dem Haus, in dem sie schon sehr bald das gemeinsame Leben von Angela und Berthold abspielen würde.

Es war in jeder Hinsicht ein ganz wunderschöner Tag. Die Sonne schien vom blauen Himmel, auf dem nur hier und da ein Schäfchenwölkchen tanzte, die Frauen waren bestens gelaunt.

Wenn das keine guten Vorzeichen waren …

*

Zwischen Roberta und der jungen Pia hatte sich nach dem kleinen Zwischenfall in Robertas Schlafzimmer etwas verändert. Pia war zutraulicher geworden. Dennoch lag natürlich noch ein sehr weiter Weg vor ihnen, bis Pia wieder Vertrauen zu den Menschen fassen konnte. Bei ihr wurde man das Gefühl nicht los, als säße sie zum Absprung bereit wie ein in die Enge getriebenes Tier, das vor lauter Angst unberechenbar wird. Es war so nachvollziehbar. Es waren einfach zu viele schreckliche Dinge im Leben des jungen Mädchens passiert, und der Freitod der Mutter hatte Pia vollends den Boden unter den Füßen weggezogen, weil sie sich auch noch verantwortlich dafür fühlte. Das traf nicht zu, doch wenn man erst einmal so etwas im Kopf hatte, war es nur schwer wieder herauszubekommen.

Als Roberta ihr von dem Besuch einer Freundin und deren kleinem Sohn erzählte, erwachte in Pia eine winzige Spur von Interesse. Doch das hielt nicht lange an, dann machte sich in Pia wieder diese Traurigkeit breit, die sie meistens umgab. Roberta konnte so gut nachfühlen, wie sich das anfühlte, wenn eine dicke schwarze und schwere Wolke nicht nur über einem schwebte, sondern wenn man von ihr auch eingehüllt wurde und abgeschlossen war von der Welt ringsum, auch wenn es eine Welt war, die es gut mit einem meinte. Sie würde Pia so gern helfen, aus diesem unsäglichen Tief herauszukommen. Doch sie wusste, dass man Zeit und Geduld haben musste oder auf ein Wunder hoffen. Ein Wunder konnte man sich weder herbeiwünschten noch es sich erarbeiten, wenn überhaupt, geschah es von selbst.

Roberta, Alma und Pia saßen gerade noch beim Frühstück, als Trixi und der kleine Philip eintrafen, und schon war es mit der Ruhe vorbei.

Es gab eine herzliche Begrüßung, es war ganz erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit der Kleine alles wieder in Besitz nahm und alles sofort wieder erkannte. Kinder hatten wirklich ein ganz erstaunliches Gedächtnis.

Pia ließ alles stumm und steif über sich ergehen. Erst als der kleine Philip Pia ganz interessiert anblickte und sich erkundigte: »Bist du neu hier?«, erschien auf Pias Gesicht so etwas wie der Anflug eines kleinen Lächelns. Es störte ihn nicht, dass sie nicht antwortete, denn er plapperte munter weiter: »Ich war schon mal hier, aber da war ich noch ganz klein.«

Klein war er noch immer, doch wenn man es mit damals verglich, dann traf es schon ein wenig zu. Philip hatte einen unglaublichen Schuss gemacht, nicht nur, dass er ein Stück gewachsen war, sondern der Aufenthalt in einem fremden Land, in dem auch noch eine ganz andere Sprache gesprochen wurde, hatte ihn selbstständiger gemacht.

Da sie bereits unterwegs gefrühstückt hatten, wollten Mutter und Sohn nichts mehr essen. Trixi nahm das Angebot, einen Kaffee zu trinken, sehr gern an. Philip war nicht einmal für einen Becher Kakao zu begeistern, mit dem man ihn normalerweise immer locken konnte. Er interessierte sich ganz offensichtlich für Pia, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

»Ich zeig dir, wo ich gewohnt habe«, schlug Philip vor, ergriff ganz vertrauensvoll Pias Hand und zog sie mit sich fort. Und die ließ es geschehen, man wurde den Eindruck nicht los, dass Pia die Gesellschaft des kleinen Jungen lieber war als die der Erwachsenen. Mit der Frau Doktor und Alma war es gegangen, das Zusammentreffen mit Trixi hatte sie schon wieder verunsichert.

Als sie sicher sein konnte, dass ihr Gespräch nicht belauscht wurde, sagte Trixi: »Ein sympathisches junges Mädchen, aber man spürt sofort ihre Abwehr, die da ist, wenn sie mit einer Situation konfrontiert wird, die aus der kleinen Zone der Sicherheit hinausgeht, die sie sich aufgebaut hat. Selbst wenn ganz unbedrohliche Fremde auftauchen, fährt sie die Krallen aus oder versinkt in eine Art von Apathie.«

»Aber bei Philip ist sie ganz anders«, bemerkte Alma, »mit dem scheint sie einen guten Draht zu haben, mit dem ist sie mitgegangen.«

»Weil er ihr weniger bedrohlich erscheint und weil sie uns entfliehen konnte.«

Alma seufzte.

»Es ist alles ganz schön kompliziert, dabei wollen wir Pia doch nur helfen.«

»Ihr tut es am besten, wenn ihr sie nicht bedrängt. Lasst sie eure Liebe spüren, gebt ihr das Gefühl, dass ihr immer für sie da seid. Der Umgang mit traumatisierten Menschen muss ein ganz behutsamer sein, und ich bin auch der Meinung, dass Pia unbedingt professionelle Hilfe bekommen sollte. Und das am besten von jemandem, der auf die Arbeit mit Jugendlichen konzentriert ist, die Pias Hintergrund haben.«

»Erst einmal weiß ich nicht, ob es einen solchen Spezialisten hier in der näheren Umgebung gibt, und wenn, weißt du eigentliche, welche Wartezeiten da man in Kauf nehmen muss? Es gibt viele, viele Menschen, die dringend Hilfe benötigen, aber zu wenige Therapeuten, die ihnen die Hilfe geben können.«

Das musste Trixi bestätigen, doch sie versprach, sich umzuhören und dann von Kollege zu Kollege etwas auszumachen.

Alma hatte sich die ganze Zeit still verhalten. Jetzt sagte auch sie etwas dazu: »Trixi, du redest halt wie eine Fachfrau, die ihr Gebiet verteidigt, auf dem sie sich auskennt. Meine unmaßgebliche Meinung ist, dass wir Pia einfach in Ruhe lassen, zu sich zu finden. Hört, sie lacht gerade mit Philip, der scheint für Pia besser zu sein als der beste Therapeut. Wenn wir sie zu einem solchen schicken, dann machen wir sie doch erst recht darauf aufmerksam, dass mit ihr etwas nicht stimmt. So, das ist meine Meinung.«

Beinahe trotzig richtete sie sich ein wenig auf, schaute ihre Chefin und die Besucherin an, die sie übrigens sehr gern mochte.

»Alma, wir müssen uns jetzt wirklich nicht ereifern, Trixi hat gesagt, welchen Weg sie gehen würde, es muss nicht unserer sein. Warten wir einfach ab. Eines steht doch auf jeden Fall fest, wir wollen für Pia beide nur das Allerbeste, und was das ist, das wird sich zeigen. Und ich denke, wir sollten jetzt damit aufhören. Trixi und Philip sind gerade erst angekommen, vielleicht ergibt sich was an diesem Wochenende, das wir, das wünsche ich mir auf jeden Fall, unbeschwert und fröhlich genießen sollten. Man sieht Philip, und im Herzen geht die Sonne auf. Ach, Trixi, um dieses Kind bist du wirklich zu beneiden.«

Trixi begann zu strahlen.

»Das stimmt, Philip ist wirklich das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte, und auch wenn es nicht ganz einfach ist, als allein erziehende Mutter durchs Leben zu gehen, so überdeckte das Schöne doch bei Weitem das Negative, was man leider immer wieder hat. Für mich scheint es jetzt wirklich aufwärts zu gehen, aber das Tal der Tränen kann man ja auch nicht immer durchschreiten. Jetzt an der Uni ist man von meinen Fähigkeiten überzeugt, mein Prof ist ganz auf meiner Seite, lässt mir alle Freiheiten, die ich mir nur wünsche, und man sieht Philip nicht als einen Stein auf meinem Weg, der meine Karriere behindern könnte. Es gibt einen fantastisch ausgestatteten Kindergarten, den haben wir uns bereits angesehen, und Philip freut sich darauf, den besuchen zu dürfen.«

»Das hört sich sehr gut an, es ist wirklich unglaublich, wie Philip auf andere Menschen zugeht und wie er die Veränderungen in seinem Leben wegsteckt. Ich bin überzeugt davon, dass es daran liegt, dass du der feste Anker in seinem Leben bist, dass er sich auf dich verlassen kann, nur du allein bist wichtig für ihn, und solange du da bist, ist seine kleine Welt in Ordnung, alles andere sind nur Nebenschauplätze.«

Trixi errötete, doch ehe sie etwas dazu sagen konnte, wollte Alma wissen: »Du bist so freudig nach Paris gereist, wieso konnte es scheitern?«

Alma durfte das fragen, denn sie war ehrlich um Trixi besorgt, und sie waren sich damals sehr nahe gekommen, als dieser Psychopath Trixi attackieren wollte und dabei die Falsche erwischt hatte.

»Am Alltag«, antwortete Trixi sofort. »Als wir uns in Amerika bei diesem Forschungsprojekt kennenlernten, waren wir in erster Linie beseelt von unserer Arbeit, und über die sind wir uns nähergekommen, es passte alles, und dann entdeckten wir unsere Zuneigung zueinander. Ich kann Jean nichts vorwerfen, er ist wirklich ein großartiger Mensch, aber auch er hat seine Gewohnheiten, und er hatte einen Heimvorteil. Er ist in seinen Alltag zurückgekehrt, in sein gewohntes Leben, für Philip und mich war alles neu. Anfangs ließ sich alles durch Gefühle, und die waren ja da, ausgleichen, später tat sich immer mehr eine Kluft auf. Früher musste ich immer lachen, wenn gesagt wurde, nach den Werbewochen habe sich alles verändert. Heute kann ich dem nur zustimmen. Das, was uns ursprünglich verband, das war sehr schnell aufgebraucht. Und mir kam es nicht auf ein Nebeneinander an, sondern auf ein Miteinander. Und ich wollte auch keinen Mann an meiner Seite haben, bei dem ich versorgt bin, sondern jemanden, der mir genug Freiraum lässt, damit ich mich entwickeln kann. Das hat es nicht gegeben, und so habe ich halt die Reiß­leine gezogen und bin nach Deutschland zurückgekehrt. Und es scheint die richtige Entscheidung gewesen zu sein. Ich hatte mit Jean Sabatier und seiner kleinen Tochter eine schöne Zeit, auch Philip hat keinen Schaden genommen, für ihn war es wohl eher so etwas wie ein längerer Urlaub. Tja, und nun wollen wir mal sehen, wie alles sich fügt.«

Ehe Alma oder Roberta etwas dazu sagen konnten, kam Philip in den Raum.

»Wo hast du Pia gelassen?«, erkundigte Alma sich sofort ganz besorgt.

Philip erzählte, dass die in die andere Wohnung gegangen sei, um Papier und Stifte zu holen und dass sie dann gemeinsam malen wollten.

»Ich mag die Pia«, sagte er. Dann war ihm anzusehen, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte. Er überlegte, dann platzte es aus ihm heraus. »Die Pia und ich, wir haben ein Geheimnis. Ich verrate euch jetzt nicht, dass die Pia auf der Straße gewohnt hat.«

Davon war er noch so beeindruckt, dass ihm überhaupt nicht bewusst geworden war, dass er das Geheimnis gerade verraten hatte.

Die Erwachsenen sagten nichts dazu, und wenig später kam Pia zurück, Philip rannte ihr begeistert entgegen, er hatte Pia in sein Herz geschlossen, und auch sie mochte den Kleinen, denn sie lächelte ihn an.

»Komm, Philip, wir malen draußen. Wir gehen auf die Terrasse, es ist ein so wunderschöner Tag. Wir können die Vögel zwitschern hören, und wenn wir viel Glück haben, dann sehen wir den schwarzen Kater, der draußen herumstreicht. Es ist ein wildes Tier, das nirgendwo ein Zuhause hat. Doch wenn wir uns ganz still verhalten, dann kommt er sogar auf die Terrasse, und er wird von Tag zu Tag zutraulicher und kommt immer ein kleines Stückchen näher, um auszutesten, wie weit er gehen darf. Doch wenn man sich auch nur ein ganz kleines bisschen bewegt, dann läuft er davon. Also, wenn wir ihn sehen, dann dürfen wir nicht reden und uns auch nicht bewegen, ja?«

Der kleine Philip nickte ganz heftig und versprach alles, was Pia wollte. Er war voller grenzenloser Bewunderung für sie.

Dass sie jetzt nach draußen gingen, das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass Pia auf der Straße gelebt hatte und mit einem Leben draußen vertraut war, es vermisste, weil sie sich draußen einfach wohler fühlte. Das war eine Romantik, die gewiss keiner der Obdachlosen verspürte, die raue Wirklichkeit bedeutete vielmehr, dass es ein täglicher Überlebenskampf war.

Dass sie nach draußen gingen, hatte einzig und allein damit zu tun, dass Pia mit den Gepflogenheiten im Doktorhaus noch nicht vertraut war, sie sich alles allmählich erobern musste. Die Terrasse war so etwas wie ein freier Raum, und deswegen hielt sie sich dort sehr gern auf, und sie liebte die alte, ein wenig verwitterte Bank. Und das hatte sie mit Roberta gemeinsam. Sie hatte ja als Erinnerung an die Zeit mit Lars im Haus am See die Bank mitgenommen, ehe man dort alles dem Boden gleichgemacht hatte, um der Natur zurückzugeben, was man ihr weggenommen hatte. Auf der Bank fühlte sie sich Lars ganz nahe, weil sie auf der oft gesessen hatten, um den Sonnenuntergang zu beobachten oder einfach nur, um sich nahe zu sein.

Und manchmal dachte Roberta auch an Kay, denn die Bank hatte es schon zu seiner Seit gegeben. Die Zeit mit ihm war schön gewesen, denn er hatte sie nach ihrer unerfreulichen Scheidung aufgemuntert, sie hatten miteinander gelacht, aber geliebt …, das hatte sie nur einen einzigen Mann, und das würde auch für immer so bleiben …, ihren Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen.

Die Erwachsenen blickten Pia und Philip nach, und dann waren sie zu Tränen gerührt, als sie etwas ganz Unglaubliches sahen. Ehe Pia und der Kleine sich hinsetzten, umarmte er sie und schmiegte sich fest an sie, liebevoll und vertrauensvoll. Das war nicht nur ein unglaublich rührender Anblick, sondern auch ein Zeichen dafür, dass Pia reinen Herzens war, so etwas spürten Kinder, weil sie noch unverdorben waren.

Es war wirklich allerliebst, wie Pia und Philip miteinander umgingen, doch dann verloren die drei Frauen das Interesse an den beiden, sie hatten sich eine ganze Menge zu erzählen, und die Zeit war knapp. Es war ja leider so, dass man das Gefühl hatte, dass die Zeit besonders schnell verflog, wenn es besonders schön war.

Nach einer ganzen Weile kam Philip zu ihnen, weil er etwas trinken wollte, keinen Kakao, noch immer nicht, sondern er wollte nur ein Wasser. Man konnte daran fühlen, dass er so schnell wie möglich wieder hinaus zu Pia wollte.

Er trank gierig beinahe das ganze Glas leer, stellte es ab und wollte wieder zu Pia laufen, als seine Mutter etwas bemerkte.

»Philip, was ist mit deiner rechten Hand los, warum hältst du die so verkrampft?«

Philip blieb stehen, überlegte, ob und was er sagen sollte, dann flüsterte er beinahe: »Ich hab Sonnenstrahlen in meiner Hand.«

»Sonnenstrahlen?«, wiederholte Trixi.

Philip nickte ganz wichtig.

»Pia hat mir gezeigt, wie man die fängt, und wenn man welche hat, dann kann man die auch an dunklen Tagen hervorholen oder wenn man traurig ist, und dann wird einem warm ums Herz. Ach, Mami, die Pia weiß alles, und sie kann so schöne Geschichten erzählen. Können wir die Pia nicht einfach mitnehmen?«

Alma rief: »Aber da hätte ich etwas dagegen, mein Junge. Du kannst die Pia immer wieder besuchen kommen, das würde uns nämlich sehr freuen. Wir müssen keine Sonnenstrahlen fangen, denn der größte Sonnenstrahl bist du.«

Das freute Philip, er lachte, dann lief er hinaus.

Für einen Moment war es stumm, die Frauen mussten über das, was Philip gesagt hatte, nachdenken, dann sagte Alma leise, und sie war sehr gerührt: »Mit den Gedanken an die Sonnenstrahlen konnte sie überleben.«

Das fanden Roberta und Trixi ebenfalls, und sie fanden noch etwas, dass Pia ein ganz besonderes Mädchen war, und es stand fest, da hatte der liebe Gott seine Hände im Spiel gehabt, dass alles so gekommen war. Die einstmals obdachlose Alma hatte die obdachlose Pia finden müssen, um für ihr Trauma einen versöhnlichen Abschluss zu finden und viel mehr noch, um Pia einen Weg in eine gute Zukunft zu eben. Und welche Rolle spielte Roberta dabei? Man musste nicht immer eine Rolle spielen. Ihr reichte es, für Pia da zu sein, und es machte sie schon glücklich, auf dem schmalen, für das Alter viel zu ernste Gesicht ein kleines Lächeln zu sehen. Denn das war ein Zeichen dafür, dass für Pia der Heilungsprozess begann.

Philip kam erneut hereingepoltert.

»Die Pia möchte auch etwas trinken«, sagte er ganz wichtig, dann fügte er hinzu: »Die Pia hat gesagt, dass ich die Sonnenstrahlen nicht immer in der Hand behalten muss, die Hand braucht man nur, um sie zu fangen. Danach soll man die Sonnenstrahlen in sein Herz lassen.« Er lachte. »Und da sind sie jetzt, und weißt du was, Mami? Mir ist jetzt ganz warm.«

Alma erhob sich, strich dem Kleinen liebevoll übers Haar. »Ich bringe euch gleich was nach draußen, und was meinst du, soll ich auch ein paar Kekse mitbringen?«

Er nickte heftig.

»Das muss ich der Pia sagen, die wird sich bestimmt freuen«, rief er und stob davon.

Roberta lachte.

»Trixi, ich fürchte, in der nächsten Zeit wirst du es erst einmal schwer haben, denn Philip wird dich immer mit Pia vergleichen.«

Trixi fiel in das Lachen ein.

»Das fürchte ich auch, aber zum Glück habe ich einen Beruf, in dem man mit so was ­umgehen kann.«

*

Astrid Keppler hatte mittlerweile eingesehen, dass sie sich sehr töricht verhalten hatte, und jetzt schämte sie sich auch wegen der Selbstverletzungen, die sie sich zugefügt hatte. Damit löste man keine Probleme, und es blieb auch ein ganz schales Gefühl zurück, wenn man sich bewusst machte, dass man persönlich nichts erreicht hatte, sondern das etwas, was man getan hatte, glaubte, erreicht zu haben, nur den Umständen geschuldet war. Auch wenn es peinlich war, hatte Astrid begriffen, dass Oskar nicht gekommen war, weil er sie und Amelie liebte, sondern das Pflichtgefühl hatte ihn hergetrieben. Und so was fühlte sich nicht gut an.

Die beiden Ärztinnen, Frau Dr. Müller und Frau Dr. Steinfeld, hatten ihr ins Gewissen geredet, ganz besonders Frau Dr. Müller, die es ja auch gewesen war, die sie auf die freie Stelle hingewiesen hatte. Und sie hatte sich auch sehr gefreut, als Astrid sich schließlich getraut hatte, sie anzurufen. Und sie hatte ihr dazu gratuliert, dass sie sich getraut hatte und den ersten Schritt in die richtige Richtung gegangen war. Es war die richtige Richtung, das spürte sie jeden Tag, den sie im ›Outfit‹ verbrachte. Es machte nicht nur Spaß, sie bekam Anerkennung, weil sie ihre Sache wirklich gut machte. Und Frau Wolfram, die nahm ihr, wann immer es ging, Amelie ab. Und da sie ja nur stundenweise arbeitete, kam ihr Mädchen auch nicht zu kurz. Die Zeit, die sie jetzt mit Amelie verbrachte, die war erfüllt, sie war für die Kleine da, es war ganz anders als vorher, als sie von allem nur genervt gewesen war.

Heute hatten sie es sich ganz gemütlich gemacht, sie saßen auf dem Sofa, und Astrid las Amelie aus dem neuen Buch vor, das sie für die Kleine in Hohenborn in der Buchhandlung gekauft hatte Amelie hörte begeistert zu, sie waren so vertieft, dass sie nicht mitbekamen, wie die Haustür geöffnet wurde, jemand hereinkam.

»Da bin ich«, rief eine muntere Männerstimme, und erst jetzt schreckten sie auf.

Amelie begann zu strahlen, sprang auf, lief auf ihren Vater zu, warf sich in seine Arme.

Oskar Keppler hob seine Tochter hoch, herzte sie.

»Ich habe dich ja so sehr vermisst, mein Herzblättchen.«

Astrid erhob sich langsam. Sie war aufgeregt, ihr Herz klopfte wie verrückt, wie immer, wenn Oskar endlich mal wieder nach Hause kam. Doch irgendwas war anders geworden. Hing das mit den Fotos zusammen, die sie zufällig gefunden hatte?

Oskar ließ seine Tochter zu Boden gleiten, wandte sich seiner Frau zu, umarmte sie, küsste sie, flüsterte ihr Verliebtheiten ins Ohr. Es war wie immer, sie war gefangen von ihm, seiner unglaublichen präsenten Gegenwart, und wenn es da irgendwo ein Wölkchen gegeben hatte, das löste sich auf, und jetzt war alles nur noch schön und voller Sonnenschein, zumindest wollte Astrid es so haben. Sie hatte so wenig von ihrem Mann, und wenn er da war, dann wollte sie die Zeit nutzen, einfach nur mit ihm Schönes zu erleben.

Das hatte ganz gewiss einiges von einem ›Kopf in den Sand stecken‹. Doch so sehr Astrid ihren Job auch liebte, jetzt wollte sie nicht einmal über den reden, zumal Oskar es zwar ganz in Ordnung fand, jedoch der Meinung war, seine Frau habe so etwas nicht nötig.

Irgendwann wurde es Amelie zu langweilig, sie ging in ihr Zimmer, um mit ihren Puppen zu spielen, Astrid und Oskar waren allein.

Wie sehr sie ihn doch liebte!

Wie glücklich sie war, weilte er bei ihr!

Irgendwann tranken sie Tee miteinander, Oskar erzählte, wie immer, kaum etwas über seine Arbeit, tat es mit den Worten ab: »Liebes, sei mir nicht böse, wenn ich nach Hause komme, dann will ich nicht mehr an die Arbeit denken, sondern nur noch die Zeit mit dir und Amelie genießen. Wir sind leider augenblicklich viel zu wenig zusammen, aber es wird sich ändern, das verspreche ich, und dann kann ich auch wieder über die Arbeit reden, weil uns dann der Alltag eingeholt hat und unser Beisammensein wieder zur Alltäglichkeit wird. Aber jetzt, jetzt will ich nur in eine Welt der Gefühle, der Nähe, der Zärtlichkeit eintauchen.«

Das wollte sie doch ebenfalls, und seine Arbeit, wirklich interessierte sie es nicht, vor allem war das etwas, was ihn von ihr abhielt.

Sie begann wieder auf der Woge des Glück zu schwimmen, doch da war noch dieser kleine Hintergedanke …

Sie hätte direkt fragen können, schließlich war sie seine Ehefrau, und sein Arbeitszimmer war keine verbotene Zone. Etwas hielt sie zurück, und so erkundigte sie sich nur ganz nebenbei: »Sag mal, Oskar, wir haben niemals darüber gesprochen, hast du eigentlich Geschwister und Neffen und Nichten?«

Er wirkte leicht verunsichert, stellte die Tasse ab, weil seine Hand zitterte.

»Wie kommst du denn darauf?«

Das klang so, als habe sie ihn nach einem bösen Geist gefragt, was war denn auf einmal mit Oskar los?

Sie überlegte, obwohl es da eigentlich nichts zu überlegen gab. Sie hatte eine Entdeckung gemacht, und darüber wollte sie mit ihm sprechen. Astrid wusste nicht, warum sie ihn jetzt damit nicht konfrontierte, sondern leichthin bemerkte: »Ich habe mich mit einer Kundin unterhalten, es gibt halt Frauen, die wollen nicht nur etwas kaufen, sondern die sind redlich, wollen etwas loswerden oder sich einfach nur unterhalten. Und ja, die erzählte von ihrer Schwester, mit der sie augenblicklich Stress hat und einem Neffen, der mit Drogen erwischt wurde, und da wurde mir bewusst, dass ich überhaupt nicht weiß, ob es da von deiner Seite jemanden gibt. Ich habe vor dir mein ganzes Leben ausgebreitet, über dich weiß ich nicht viel.«

Die Erleichterung war nicht zu übersehen, die ihre Worte bei ihm ausgelöst hatte.

»Ich habe dir nichts erzählt, weil es nichts zu erzählen bit, und was ich erlebt habe, das war nicht erfreulich, und das behält man am besten in einer Schublade, weil es schmerzhaft ist. Ich bin in einem Heim aufgewachsen, und dort herrschten sehr strenge Regeln, und ansonsten gibt es niemanden, und ehrlich mal, meine Liebste, ich möchte über die Vergangenheit nicht reden. Du und Amelie, ihr seid mein Leben, mit euch bin ich glücklich, und mit euch genieße ich jede Sekunde.«

Um nichts sagen zu müssen, trank Astrid schnell etwas, stopfte sich etwas von dem Kuchen in den Mund.

Sie zweifelte seine Worte nicht an, doch die Bilder …, wie passten die dazu?

Jetzt …

Warum versuchte sie nicht, auf die unausgesprochenen Fragen eine Antwort zu finden?

Weil sie feige war!

Sie hatte Angst, Fragen könnten ihre auf Sand gebaute scheinbar heile Welt zerstören. Und auf Sand gebaut musste es doch sein, denn sonst hätte sie keine Angst vor seiner Antwort. So geisterte es weiter in ihrem Kopf herum. Wer war die Frau mit dem Mädchen? Und wer war die Frau mit dem kleinen Jungen? Was bedeuteten diese Personen ihm? Und warum versteckte er die Fotos?

Von selbst hüpften sie nicht in einen Aktenordner, und war es nicht ein Zeichen, dass ausgerechnet dieser Ordner heruntergefallen war, damit sie diese Fotos sehen sollte?

Astrid holte tief Luft.

»Oskar, ich habe …«

Sie brach ihren Satz ab, weil in diesem Augenblick Amelie ins Zimmer gestürmt kam, mit zwei Puppen unter dem Arm.

»Papi, meine Klara und meine Lilli wollen dich auch begrüßen, denen hast du nämlich auch sooo gefehlt.«

Oskar beugte sich zu den Puppen hinunter: »Hallo, Klara, hallo Lilli. Ich hoffe ja, dass ihr auf meine kleine Amelie gut aufgepasst habt, während ich weg war, oder? Ich möchte nämlich, dass es meinem Herzenskind immer gut geht, weil ich es so sehr liebe.«

Er warf Astrid einen Blick zu, die wie versteinert und ein wenig verunsichert auf ihren Stuhl saß.

»Und die Mama von Amelie, die liebe ich auch über alles, bitte, liebe Puppen, passt auch auf die auf, die Amelie und ihre Mama, die sind nämlich meine Welt, und ohne die kann und will ich nicht leben.«

Amelie war entzückt, sie kletterte ihrem Papi auf den Schoß, umarmte ihn liebevoll, schmiegte sich an ihn.

Es war ein zu Herzen gehendes Bild, an dem man sich nicht sattsehen konnte, Astrid hatte ihn mit der Wahrheit konfrontieren wollen, doch vielleicht war es ein Zeichen, dass genau in diesem Augenblick Amelie hereingekommen war.

Wenn nun mit den Fotos etwas nicht stimmte.

Wenn Oskar ihr etwas verheimlichte.

Sie wollte ihre Welt behalten, sie wollte Oskar, den sie über alles liebte. Manchmal war es besser, nichts zu sagen, und wenn es doch etwas gab?

Am liebsten hätte Astrid sich jetzt die Ohren zugehalten.

Sie wollte es nicht wissen, und die andere Stimme, die ihr etwas einflüstern wollte, die sollte verstummen …

*

Rosmarie Rückert wäre ja am liebsten zu Roberta in die Praxis gegangen, um ihr von ihren Sorgen wegen Heinz zu berichten, doch sie wusste, was die alles zu tun hatte, und dass Frau Dr. Müller sie nur ein wenig entlastete. Und bei ihr stand keine Untersuchung an, und zum Glück erfreute sie sich derzeit allerbester Gesundheit. Und so sollte es auch bleiben.

Sie wollte gerade mit Beauty und Missie zum See gehen, als sie Roberta zufällig traf.

»Hallo, Frau Rückert, Sie sind zu beneiden, ich würde jetzt auch gern am liebsten einen Spaziergang machen. Haben Sie sich hier bei uns auf diesem herrlichen Fleckchen Erde schon gut eingelebt? Und wie geht es ihrem Mann? Den habe ich hier überhaupt noch nicht gesehen, arbeitet der noch immer so viel?«

Das war das Stichwort, Rosmarie erwähnte nur ganz kurz, dass alles gut sei, dann sprach sie ihre Sorgen um Heinz an.

»Frau Doktor, es kann doch nicht sein, dass er andauernd einschläft. Mit Heinz stimmt was nicht.«

»Dann schicken Sie ihn doch einmal zu mir, Müdigkeit kann einen harmlosen, aber auch einen ernsten Hintergrund haben, doch das lässt sich leicht feststellen, schon ein Vitaminmangel kann Müdigkeit hervorrufen.«

Rosmarie seufzte.

»Und das ist der Punkt, mein Heinz kann manchmal störrisch sein wie ein Maulesel. Ich rede ihm gut zu, aber er wehrt alles ab und sagt, ihm fehle nichts.«

»Frau Rückert, ich kann ihre Sorgen sehr gut verstehen, doch ihr Mann ist erwachsen. Sie können ihn nicht zwingen, zu mir zu kommen, und ich kann auch nichts tun. Zu mir kommen die Leute freiwillig, und ohne zu wissen, was mit ihrem Mann ist, kann ich auch keine Ferndiagnose stellen.«

»Und wenn Sie ihm ein paar Vitamine verschreiben, Frau Doktor? Die können doch nicht gefährlich sein, die bekommt man mittlerweile ja sogar rezeptfrei im Supermarkt.«

Roberta nickte.

»Ja, leider, und das ist eigentlich etwas, was verboten werden sollte. Viele Menschen schlucken wahllos diese sogenannten Nahrungsergänzungsmittel, die sind auch nicht ohne Nebenwirkungen, und es ist peinlich genau darauf zu achten, wie die sich mit den sonstigen Medikamenten vertragen, die noch eingenommen werden. Und Frau Rückert, Sie kennen mich doch, Sie wissen, dass ich nicht sofort zum Rezeptblock greife. Ich kann Ihnen nur vorschlagen, dass Sie Ihren Mann beobachten, und sollte sich da etwas Beunruhigendes ereignen, müssen Sie ihm ins Ge­wissen reden. Und ich denke doch, dass eine so couragierte Frau wie Sie das kann. Mich müssen Sie jetzt bitte entschuldigen, denn ich habe vor der Nachmittagssprechstunde noch zwei Patientenbesuche zu machen.«

Sie verabschiedete sich von Rosmarie, und die war so schlau wie vorher.

Doch jetzt war alles wieder aufgewühlt. Sie konnte jetzt unmöglich ihre einsamen Runden um den See drehen, da gab es nur eines. Sie musste zu Inge gehen, die Hunde konnten zusammen mit Luna und Sam im Garten herumtollen, der war groß genug, und die Tiere verstanden sich sehr gut miteinander, das hatten sie mittlerweile festgestellt.

Schon allein der Gedanke, gleich Inge zu treffen, erleichterte Rosmarie sehr, und es war wirklich schön, nur ein paar Schritte gehen zu müssen, um eine Ansprechpartnerin zu haben, und wenn Inge nicht da war oder keine Zeit hatte, da gab es auch noch Teresa und Sophia, und auch mit Angela unterhielt Rosmarie sich gern.

Ja, der Sonnenwinkel hatte in jeder Hinsicht eine große Lebensqualität.

Die Hunde kannten den Weg zu ihren Spielkameraden schon, denn sie zerrten an ihren Leinen, und als Rosmarie vor der Haustür stand und klingelte, da bellten sie schon ganz aufgeregt, normalerweise bellten Sam und Luna zurück, doch diesmal war nichts zu hören.

Und nachdem sie es erneut versucht hatte, war klar, dass Inge nicht daheim war. Das war auch eine Erfahrung, die sie zum ersten Male machte.

Sie ging weiter zu Teresa, der würde sie jetzt nicht die ganze Geschichte wegen Heinz erzählen, von der wollte sie nur wissen, wo Inge war.

Zum Glück war Teresa daheim.

»Rosmarie, das ist aber eine schöne Überraschung, dass du mich besuchst, aber gewiss wolltest du zu Inge«, fügte sie hinzu, und Rosmarie wurde verlegen.

»Ja, kannst du mir sagen, wo sie ist?«

Teresa nickte.

»Das kann ich, aber komm rein, wenn du magst, trinken wir zusammen einen Kaffee. Inge arbeitet doch freiwillig bei diesen jugendlichen Straftätern, unterstützt sie moralisch, und darin geht sie auf, genau wie in diesen Nähkursen, die sie gibt. Ich finde es gut, dass sie etwas Sinnvolles tut, während sie auf ihren Werner wartet.«

»Ich finde das auch gut, Teresa, wenn Inge etwas macht, dann geht sie voll darin auf.«

»Rosmarie, dir geht es nicht anders. Aber sag mal, du bist nicht gekommen, um mit mir darüber zu reden, was hast du auf dem Herzen? Worüber wolltest du mit Inge reden? Wenn du es loswerden willst, ich kann ebenfalls zuhören.«

So war Teresa, und dafür liebte und bewunderte Rosmarie sie. Sie ließ es sich nicht zweimal sagen, sie redete sich alles von der Seele, und irgendwann war sie sogar froh, Inge nicht angetroffen zu haben, Teresa hatte mehr Lebenserfahrung, von ihr konnte man immer lernen, und über die Ratschläge, die sie einem gab, sollte sie eigentlich ein Buch schreiben. Davon könnten viele Leute profitieren.

*

Es war ein arbeitsreicher Tag gewesen, Roberta hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht, sie döste einfach nur vor sich hin, das musste auch manchmal sein, Alma war mit Pia ins Kino gegangen, es war schön, wie zutraulich Pia wurde, ganz besonders Alma gegenüber.

Als ihr Telefon schrillte, freute Roberta sich, dass sie geistesgegenwärtig genug gewesen war, es neben sich zu legen. Sie meldete sich, und dann war sie allerdings mehr als erstaunt …

Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman

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