Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Staffel 4 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 9

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Roberta konnte nicht glauben, was sie da sah, lässig und entspannt saß im Sessel ihr Exmann Dr. Max Steinfeld, der sie wie ein böser Schatten verfolgte, obschon sie lange schon geschieden waren.

Er grinste sie an.

»Ja, ich bin durchs Fenster gekommen«, erklärte er seelenruhig, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, »hätte ich an der Tür geklingelt, dann hättest du mir nicht geöffnet.«

Es war so unglaublich, dass es Roberta zunächst einmal die Sprache verschlug. Sie war aufgeregt, doch sie bemühte sich, sich ihre Aufgeregtheit nicht anmerken zu lassen. Sie war lange genug mit diesem Schwerenöter verheiratet gewesen, um zu wissen, dass man die Ruhe behalten musste, sonst gewann Max sehr schnell Oberwasser.

Sie wunderte sich, wie ruhig ihre Stimme klang, als sie ­bemerkte: »Max, du weißt schon, dass das Hausfriedensbruch war, was du da gemacht hast.«

»Mein Gott, Roberta, sei nicht so lehrerhaft. Und wenn es Hausfriedensbruch ist, willst du mich jetzt anzeigen? Ich würde dir davon abraten, denn damit schadest du deinem guten Ruf.«

Wie war ihr Ex denn drauf?

»Ich schade meinem guten Ruf? Max, ich bin das Opfer. Und es ist mir vollkommen gleichgültig, was die Leute sagen. Vermutlich werden sie mich bedauern, wenn sie erfahren, dass mein Exmann, der mich ausgenommen hat wie eine Weihnachtsgans, mich stalkt … schon vergessen, das hast du. Und der einfach bei mir einbricht. Max, was bist du nur für ein Mensch.«

Er grinste sie an.

»Du siehst unglaublich gut aus, wenn du wütend bist.«

Jetzt war es mit ihrer Ruhe vorbei. Glaubte er wirklich, dass sie noch einmal auf sein Gesülze hereinfallen würde?

»Max, geh jetzt, sonst rufe ich wirklich die Polizei, und das meine ich ernst.«

»Ich gehe, doch vorher brauche ich dringend zehntausend Euro, ehe ich Probleme bekomme.«

»Und da kommst du zu mir? Dafür sind normalerweise die Banken zuständig.«

»Äh, nun ja, da krieg ich augenblicklich nichts, mein Konto ist überzogen.«

Warum ließ sie sich eigentlich auf so etwas ein?

»Max, verschwinde, mit deinen Geldproblemen habe ich nichts zu tun. Wir sind geschieden, ich habe dir, um einen hässlichen Rosenkrieg zu vermeiden, fast alles überlassen, auch eine sehr gut gehende Praxis, die, als ich ging, sich vor Patienten kaum retten konnte. Du hast dich ins gemachte Nest gesetzt. Freilich hättest du anfangen müssen zu arbeiten und dich nicht als ein Halbgott in Weiß zu repräsentieren. Und du hättest dich um die Patienten kümmern müssen, anstatt hinter jeder Frau her zu sein, die nicht bei drei auf den Bäumen ist. Max, du hast alles an die Wand gefahren, und dafür bist du allein verantwortlich, ich kann dir nicht mehr helfen, und ich will es auch nicht. Und ich sage dir zum letzten Male, dass ich dich hier niemals mehr sehen will, sonst erwirke ich eine einstweilige Verfügung, in der steht, dass du dich mir nicht mehr nähern darfst. Dazu muss es nicht kommen. Wie du dich verhältst, das ist so entwürdigend. Du hast doch alles bekommen, was willst du noch?«

»Dass ich alles bekommen habe, das stimmt so nicht, den Schmuck, den ich dir geschenkt habe, den hast du behalten, und das Bild dort an der Wand, das habe ich ebenfalls gekauft.«

»Und das hast du mir zum Geburtstag geschenkt«, erinnerte sie ihn.

Wie peinlich es doch war, was er jetzt abzog. Roberta spürte Wellen der Übelkeit in sich, wenn sie daran dachte, dass sie mit diesem Mann verheiratet gewesen war, der wirklich in jeder Hinsicht schmerzfrei war.

»Warte«, sagte sie, dann rannte sie aus dem Zimmer, lief in ihr Schlafzimmer, in dem ein Safe eingebaut war, dort holte sie all den Schmuck heraus, den er ihr geschenkt hatte, sie nahm auch den heraus, denn sie sich während ihrer Ehezeit gekauft hatte und den sie doch nicht mehr trug.

Sie wickelte den Schmuck in ein graues Seidentuch, das gerade in der Nähe lag, dann rannte sie zurück ins Wohnzimmer, sie knallte den Schmuck auf den Tisch, dann riss sie das Bild von der Wand.

»Nimm alles«, sagte sie mit bebender Stimme, »mehr gibt es nicht, was an die Ehe mit dir erinnert, und nun verschwinde endlich und lass dich niemals mehr hier blicken. Ich schwöre dir, noch einmal kommst du nicht ungeschoren davon.«

Er klemmte sich das Bild ­unter den Arm, griff nach dem in das Tuch eingeschlagene Schmuck.

»Wir hätten uns nicht trennen dürfen«, sagte er. »Seit du weg bist, geht es bei mir bergab.«

»Wir hätten niemals heiraten dürfen«, erwiderte sie. »Dich zu heiraten war der größte Fehler meines Lebens.«

Sie ging zur Tür, öffnete sie, weil kaum anzunehmen war, dass er erneut den Weg durchs Fenster nehmen würde.

Er blieb sitzen.

»Wir hatten auch schöne Zeiten«, bemerkte er.

»Max, du hattest schöne Zeiten, ich habe die Arbeit gemacht, und du hast dich amüsiert. Aber ich will mich nicht mehr mit der Vergangenheit aufhalten, sie ist vorbei. Und du belästige mich nicht noch einmal, sonst mache ich das mit der einstweiligen Verfügung wirklich wahr. Du hast in meinem Leben nichts mehr zu suchen.«

Als er immer noch keine Anstalten machte zu gehen, griff Roberta entschlossen zum Telefon. Jetzt merkte er, dass sie es ernst meinte.

Er stand auf, als er in ihre Nähe kam, versuchte er tatsächlich seinen Charme spielen zu lassen. Sie machte einen Schritt zur Seite, und jetzt klang ihre Stimme schneidend: »Verschwinde und komme niemals wieder. Du bist nur noch peinlich, Max.«

Er ging, sie knallte die Tür hinter ihm zu, schloss ab, dann machte sie sich daran, die Scherben der zerschlagenen Fensterscheibe zusammenzufegen, und dann verklebte sie das Loch notdürftig. Dabei weinte sie.

Mit Dr. Max Steinfeld verheiratet gewesen zu sein, das bittere Ende der Ehe erlebt zu haben, das war schon Strafe genug.

Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe? Lag es an ihr, weil sie zu gutmütig war, oder stimmte bei ihr einfach etwas nicht, und sie hatte nicht die richtige Einstellung zu Männern.

Sie verstand bis heute nicht, warum sie Max eigentlich geheiratet hatte. All ihre Freunde hatten ihr von dieser Ehe abgeraten, auch ihr alter Kumpel Enno Riedel, von dem sie die Praxis übernommen hatte, nachdem der samt Familie seinen Lebensmittelpunkt nach Philadelphia verlegt hatte.

Roberta war eigentlich niemals wehleidig, heute ließ sie sich in diese Verfassung fallen.

Sie hob die Krankenakte vom Boden auf, die ihr beim Anblick von Max zu Boden gefallen war, legte sie auf den Tisch, denn heute würde sie darin gewiss nicht mehr lesen. Dazu war sie einfach zu aufgewühlt.

Sie schenkte sich ein Glas Wein ein, dabei merkte sie, wie ihre Hand zitterte. Sie setzte sich, dann ließ sie vor ihrem geistigen Auge noch einmal entstehen, was gerade geschehen war.

Wie abgebrüht Max doch war!

Und wie tief war er gesunken, einfach einzubrechen und dann ganz dreist Forderungen zu stellen. Max hatte es wirklich geschafft, ein Vermögen zu verjubeln oder was immer man auch dazu sagen sollte. Und dann herzukommen, einzubrechen und Forderungen zu stellen! Und wie abgebrüht war das denn, den Schmuck und das Bild mitzunehmen.

Es war nicht der Verlust des Bildes und der Schmuckstücke, was sie so sehr schmerzte. Im Grunde genommen konnte sie froh sein, dass nichts mehr im Haus war, was an die Zeit mit Max erinnerte. Nein, es war das Gefühl der Bitterkeit, sich an jemanden wie ihn sinnlos verschwendet zu haben.

Würde er wiederkommen?

Sollte sie vorsorglich wirklich etwas gegen ihn unternehmen? Sie hatte es mehrfach angekündigt, aber unternommen hatte sie nichts. Das machte sie nicht unbedingt glaubwürdig, besonders nicht für einen Mann wie Max, der sein Weltbild ohnehin so schaffte, wie es für ihn passend war. Wer oder was dabei auf der Strecke blieb, das war ihm herzlich gleichgültig.

Ob er sich wohl schon einmal um das Kind gekümmert hatte, das diese nette junge Frau von ihm erwartete und die sich Hilfe suchend an sie gewandt hatte?

Sie musste nicht darüber nachdenken, sonst kam sie aus dem Denken überhaupt nicht heraus.

Max Steinfeld hinterließ überall verbrannte Erde, und er hatte viele Baustellen.

Sie trank etwas von dem köstlichen Wein, den Lars noch gekauft hatte. Weil er ihnen so gut schmeckte, hatte er gleich eine ganze Lieferung davon bestellt.

Lars war so ganz anders. Er war großzügig, er schenkte sehr gern. Als sie das dachte, fiel ihr Blick auf den wunderschönen Ring, den er ihr geschenkt hatte und den sie immer trug, immer, seitdem er ihr die herrlichen Rosen und den herzlichen Brief gesandt hatte.

Wenn man so wollte, da machte auch Lars sein Ding. Er führte das Leben, das ihm gefiel, und wenn er mal eine Pause hatte, da gab es ja noch sie.

Vielleicht war es gemein, jetzt so zu denken. Doch Roberta war in der Stimmung, das Leben mit ihm einmal kritisch zu sehen, nicht nur durch die rosarote Brille.

Lars stellte nicht wie ihr Exmann finanzielle Forderungen, Forderungen stellte er eigentlich überhaupt nicht. Und eigentlich konnte sie ihm auch nicht vorwerfen, dass er sein Leben führte, wie es ihm behagte. Er hatte ihr niemals etwas vorgemacht, Lars hatte immer mit offenen Karten gespielt.

Sie hatte den Traum von dem richtigen Ring am Finger gehabt, von einer Heirat, von gemeinsamen Kindern. Sie hatte ihn schmerzhaft begraben, weil es eine ständige Qual gewesen war, Hoffnungen zu haben, wenn sie sich besonders nahe gewesen waren, und das waren sie oft.

Nach der ersten richtigen Auseinandersetzung war er gegangen, und sie hatte Höllenqualen gelitten bei dem Gedanken, es könne aus sein mit ihnen.

Zum Glück war es nicht so gekommen. Dafür, dass jetzt alles wieder in Ordnung war, hatte sie einen sehr hohen Preis gezahlt. Sie hatte ihre Träume begraben.

Doch welche Wahl hätte sie gehabt?

Sie liebte ihn, er war ihr Mr Right, sie waren Seelenverwandte, sie konnten sich blendend unterhalten, gemeinsam lachen.

Wie schön wäre es gewesen, gemeinsame Pläne und Träume zu haben!

Wäre … hätte …

Wenn alles so einfach wäre. Ihre Freundin Nicki fiel ihr ein, die immer den Satz parat hatte: »Das Leben ist kein Ponyhof.«

Wenn sie an Nicki dachte, da wurde ihr ganz anders zumute.

Nicki fehlte ihr ja so sehr. Und ehrlich gesagt, machte sie sich auch Sorgen um sie. Der Jakobsweg, den sie gerade ging, war zwar kein vermintes Feindesland, aber ungefährlich war es auch nicht, und es war eine ganz schöne Herausforderung, all die Kilometer zu laufen, dabei sein Gepäck mit sich herumzuschleppen. Nicki war nicht unbedingt ein sportlicher Typ, sie war eher eine Couchpotatoe.

Es gab viele Menschen, die den Jakobsweg gingen, doch das war eher durchdacht, manche Leute gingen jedes Jahr nur eine Etappe, manche fuhren Teilstrecken. Entscheidend war, dass man die letzten hundert Kilometer vor Santiago de Compostela zu Fuß zurückgelegt haben musste, um den begehrten Pilgerpass zu bekommen. Was tat Nicki? Die handelte nach dem Motto, wenn schon, denn schon und wollte schlappe knapp tausend Kilometer laufen.

Ausgerechnet Nicki!

Erwartete sie wirklich, dass sie auf dem qualvollen Weg herausfinden würde, was sie wollte, wer sie war?

Roberta bezweifelte es. Für sie war es eher eine Flucht.

Peter Bredenbrock hatte sie mit seinem Heiratsantrag überrascht, und sie hatte Angst vor der Verantwortung, so etwas wie eine Ersatzmutter für zwei Pubertierende zu sein, die traumatisiert waren, weil ihre Mutter sie verlassen hatte, um Spaß zu haben.

Nicki stürzte sich immer wieder unbedacht in Abenteuer hinein, und wenn es dann jemanden gab, mit dem es hätte gut gehen können, ergriff sie ebenfalls die Flucht. Sie hatte es sich mit Roberto Andoni verdorben, der jetzt mit der Frau, die nach Nicki gekommen war und mit der er mittlerweile zwei Kinder hatte, in der wunderschönen Toscana lebte, in einem herrlichen Gutshaus zwischen Weinbergen und alten Olivenbäumen. Das alles hätte Nicki haben können.

Oder nahm man mal den Grafen von Hilgenberg. Dem war Nicki begegnet, zufällig, sie war von ihm fasziniert gewesen, allerdings hatte sie da noch nicht gewusst, dass der Mathias ein waschechter Graf war. Sie hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn wiederzusehen, sie hatte Handleser, Kartenleger und wer weiß nicht was noch bemüht. Und dann? Als sie ihn als den Besitzer des Anwesens unterhalb der Felsenburg getroffen hatte, war es für sie aus gewesen. Dabei hätte sie die Chance gehabt, den Grafen näher kennenzulernen. Und was war geschehen? Er hatte den Fehler gemacht, von einer langsamen Annäherung zu sprechen. Prompt hatte Nicki das in den falschen Hals bekommen und alles abgebrochen, weil sie sich nicht wie ein Schulmädchen vorkommen wollte, das sich alles durch gute Schulnoten verdienen sollte. Das war vollkommen aus der Luft gegriffen gewesen, aber Nicki bog sich die Welt so zurecht, wie sie ihr in den Kram passte. Da war sie ähnlich wie Max, ähnlich, wohlgemerkt, denn ansonsten lagen zwischen ihnen Welten.

Max …

Roberta war froh, dass die Gedanken an Nicki von diesem Erlebnis der besonderen Art mit ihm abgelenkt worden war. Und jetzt wollte sie ebenfalls nicht mehr an Max denken, auch nicht an Lars, der sich wieder einmal in Schweigen hüllte, weil vermutlich die Eisbären, die Highlandtiger, die Vulkane in Island ihn mehr interessierten als sie. Das war leider so.

Ihre Krankenakte nahm sie sich nicht vor, dafür griff sie zur Fernbedienung ihres Fernsehers.

Ihr war jetzt nach einem Herz-Schmerz-Film zumute oder einem spannenden Krimi. Sie wollte sich ablenken. Auch gestandene Ärztinnen konnten sich in etwas verlieren, was ihnen im Fernsehen vorgegaukelt wurde. Klar, mit Nicki wäre das schöner, sie gemeinsam auf dem Sofa, versorgt mit ein bis zwei Tüten Chips, und, je nachdem, welchen Film sie sahen, vorsorglich mit einer Packung Kleenex, um die Tränen zu trocknen.

Ohne Nicki machte es überhaupt keinen Spaß, also füllte Roberta nur ihr Weinglas, und sie stellte eine Flasche Mineralwasser dazu.

Nein, sie wollte jetzt nicht an Nicki denken!

Auch nicht an Lars!

Und Max? Du liebe Güte, nein, nicht an den Albtraum ihres Lebens.

Sie knipste von einem Sender zum nächsten. Im Fernsehen lief wieder mal nichts Gescheites, oder es waren Filme, in denen sie schon mitspielen konnte, weil sie so oft gezeigt wurden.

Sie machte den Fernseher aus, legte die Fernbedienung beiseite.

Welch ein Glück, dass sie sich in Hohenborn gerade wieder mit neuen Büchern eingedeckt hatte. Sie nahm sich den Stapel vor, und dann entschied sie sich für einen Krimi, der unglaublich spannend sein sollte und der sehr gute Kritiken bekommen hatte.

Es dauerte nicht lange, da war sie in den Inhalt des Buches vertieft, und es war so spannend, dass sie darüber vergaß, ihren Wein zu trinken.

*

Der ›Seeblick‹ war gut besucht, und munteres Stimmengewirr, hier und da Lachen schlugen Teresa von Roth entgegen, als sie das Restaurant betrat.

Ja, es hatte sich wirklich alles sehr verändert. Wenn sie daran dachte, dass kaum Gäste gekommen waren, als die sympathische Julia Herzog den ›Seeblick‹ übernommen hatte.

Sie blickte sich um, überlegte, an welchen der wenigen freien Tische sie sich setzen sollte, als Julia auf sie zugeeilt kam. Teresa, ihr Mann und die ganze Familie hatten einen Sonderstatus hier oben, denn sie waren von Anfang an treue Stammgäste, die voll hinter der Wirtin standen, auch wenn es ihnen nicht gelungen war, einen Umschwung herbeizuführen. Das war Rosmarie Rückert gelungen, und dafür gebührte ihr Respekt!

»Frau von Roth, wie schön, Sie zu sehen. Doch Sie allein habe ich hier noch nie gesehen!«

Teresa lachte.

»Mein Mann, meine Tochter, mein Schwiegersohn wollten unbedingt eine Kunstausstellung besuchen, die nur noch bis heute geöffnet ist. Und Pamela haben sie mitgenommen. Ich glaube, die wäre lieber bei mir geblieben. Aber ein bisschen Kultur kann nicht schaden. Ich habe es mir auf jeden Fall sehr gemütlich gemacht, und anstatt zu kochen, werde ich heute bei Ihnen ein herrliches Essen genießen.«

»Das freut mich, Frau von Roth, und ich verspreche Ihnen, dass wir Sie nicht enttäuschen werden. Wir haben heute wieder die fruchtige Kürbissuppe, die Sie so sehr mögen, und empfehlen kann ich Seelachs auf Spitzkohlgemüse, und …«

Teresa unterbrach die Wirtin.

»Hören Sie auf, Frau Herzog, Sie verwirren mich nur. Ich habe mich schon entschieden, ich nehme die Kürbissuppe und den Seelachs.«

Julia freute sich.

»Eine gute Wahl, Sie werden es nicht bereuen.«

Da Teresa mit dem Auto gekommen war, konnte sie den leckeren Wein, den sie so mochte, leider nicht bestellen. Aber das machte nichts. Es gab hier ein sehr gutes italienisches Mineralwasser, das man bereits bei dem vorherigen Wirt trinken konnte. Julia Herzog hatte gut daran getan, es ebenfalls aufzunehmen, obwohl es ein wenig teurer war und manche Gäste deswegen meckerten. Aber was sollte es, man konnte es eh nicht allen Leuten recht machen.

Teresa saß an einem hübschen kleinen Tisch am Fenster und hatte einen guten Blick auf viele der Tische. Sie liebte es, Leute zu beobachten. Und deswegen fiel ihr auch gleich eine Veränderung an Julia Herzog auf.

»Meine Liebe, Sie strahlen richtig. Freuen Sie sich so sehr, weil Ihr Restaurant jetzt immer gut besucht ist. Glauben Sie mir, Frau Herzog, darüber sind nicht nur Sie glücklich. Anfangs lief es ja wirklich nicht.«

Julia nickte.

»Darüber möchte ich nicht mehr nachdenken, nicht mehr über die vielen schlaflosen Nächte, in denen ich mir Gedanken machen musste, ob und wie es am nächsten Tag weitergehen würde. Es ist vorbei. Und auf einmal scheine ich wirklich in jeder Hinsicht auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, Frau von Roth … da gibt es etwas, was ich Ihnen unbedingt gleich erzählen möchte. Es ist unglaublich, und ich hoffe nur, Sie haben genug Zeit mitgebracht, denn zwischendurch muss ich mich ebenfalls um die übrigen Gäste kümmern, obwohl ich, ehrlich gesagt, am liebsten bei Ihnen sitzen bleiben würde, um Ihnen alles zu erzählen, was sich ereignet hat. Es ist viel, es ist wunderschön, und ich ersticke daran, wenn ich es nicht endlich jemandem erzähle.«

Jetzt war Teresa neugierig. Sie behielt die Wirtin im Auge, und auf einmal war ihr klar, dass es für das Strahlen der jungen Frau nur eine einzige Erklärung gab.

Julia Herzog war bis über beide Ohren verliebt, und das sagte Teresa ihr auch auf den Kopf zu, als Julia das nächste Mal vorbeigehuscht kam.

Julia war so perplex, dass sie sich erst einmal hinsetzen musste.

»Frau von Roth, woher wissen Sie das?«

Teresa lächelte fein.

»Man sieht es Ihnen an, mein Kind. Und schließlich war ich ebenfalls einmal jung, auch wenn das schon lange zurückliegt. Ich kann mich aber dennoch sehr gut daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn man Schmetterlinge im Bauch hat.«

Für einen Augenblick lang war Julia Herzog nicht mehr die aufmerksame, um all ihre Gäste gleichermaßen bemühte Wirtin, sondern sie war eine junge Frau, die tatsächlich bis über beide Ohren verliebt war.

»Stellen Sie sich das bloß einmal vor, Frau von Roth«, platzte es aus ihr heraus, »er war einfach da.«

Dann erzählte sie die unglaubliche Geschichte von dem Gast, der mittags plötzlich aufgetaucht war, um zu essen, ja, doch in erster Linie hatte er nach ihr gesucht und war unendlich froh, sie gefunden zu haben.

»Und als er mir sagte, woher er mich kannte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er war der Journalist, der damals, als ich den Stern für meine Kochkünste bekam, ein Interview mit mir machen wollte. Das lehnte ich ab, weil er mich verwirrte und ich keine Komplikationen haben wollte. Ich hatte gerade eine sehr unangenehme Trennung hinter mir und wollte mit Männern nichts zu tun haben. Man konnte dran fühlen, dass es für mich nicht gut sein würde, mehr Zeit mit diesem Mann zu verbringen.«

»Doch manchmal kann man sich irren«, fügte Teresa hinzu, »und seinem Schicksal entgeht man nicht, auch wenn es manchmal sehr seltsame Wege geht. Er war auch von Ihnen fasziniert, nicht wahr? Und deswegen hat er sich auf den Weg gemacht. Ach, Frau Herzog, was für wundervolle Geschichten das Leben manchmal schreibt. So etwas kann man sich nicht ausdenken. Ich freue mich für Sie, ich freue mich sehr.«

Julia erzählte von ihrem Daniel, und dabei hatte sie ganz glänzende Augen. Und es war ihr anzusehen, wie sehr sie es bedauerte, sich wieder um die anderen Gäste kümmern zu müssen. Sie war zwar verliebt, doch sie war auch die Wirtin des ›Seeblicks‹, und das durfte sie nicht vergessen, wollte sie auch nicht.

Sie ließ sich nicht anmerken, wie es in ihr aussah, und es bekam auch niemand mit, außer Teresa von Roth vielleicht, dass sie in Gedanken bei ihrem Daniel war, der mit ihr die Straße des Lebens gemeinsam gehen wollte. Ohne Eile, mit viel Neugier und mit sehr, sehr viel Gefühl.

Sie war ein Glückspilz, und das, was sich augenblicklich bei ihr abspielte, das hätte sie nicht in ihren kühnsten Träumen voraussehen können, ein gut gehendes Restaurant mit sehr netten Gästen und einen Mann, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Jetzt konnte sie es zugeben, schließlich war es Daniel nicht anders gegangen.

Und er war in ihr Leben hineingeschneit, wie der Prinz, den sich alle Frauen ersehnten. Einen kleinen Schönheitsfehler hatte das Bild … er war ohne Pferd gekommen!

Das Leben war schön …

*

Inge Auerbach machte einen Spaziergang, und sie war ganz stolz auf sich, dass sie sich immer öfter dazu aufraffte.

Heute allerdings ging sie nicht zum See, obwohl das ein wunderschöner Weg war und manche Leute sogar aus der Ferne kamen, um den Sternsee zu umrunden.

Es hatte in den letzten Tagen geregnet, und die Wege waren noch immer aufgeweicht.

Wenn Inge ehrlich war, so hatte sie das als Grund angesehen, nicht laufen zu müssen. Doch dann hatte sie ihren inneren Schweinehund überwunden, und jetzt war sie froh, unterwegs zu sein. Und auch Luna, die wunderschöne weiße Labradorhündin freute sich, dass es mal etwas anderes zu schnüffeln gab. Sie war ganz aufgeregt, und Inge musste hier und da stehen bleiben, weil Luna einfach nicht weitergehen wollte, ehe sie nicht alles erkundet und erschnuppert hatte.

Sollte Luna, Inge war nicht in Eile, und sie hatte auch überhaupt kein Ziel vor Augen.

Als sie den Privatweg erreichte, der hinauf zu dem herrschaftlichen Anwesen führte, blieb sie stehen, und leichte Wehmut machte sich in ihr breit. Der Weg war abgesperrt, und das große Verkaufsschild einer bekannten Maklerfirma, die sogar international arbeitete, war nicht zu übersehen. Das Anwesen samt der alles überthronenden Felsenburg wurde zum Verkauf angeboten.

Nachdem die Vorbesitzer alles verkauft hatten, war nicht vorherzusehen gewesen, dass der Graf Hilgenberg sich so schnell wieder von allem trennen würde. Er hatte lange nach einem derart repräsentativen Besitz gesucht und war sehr glücklich gewesen, ihn endlich gefunden zu haben.

Wie lautete noch mal der Spruch, der so simpel und doch so zutreffend war?

»Du machst deine Pläne, und der liebe Gott lacht sich kaputt.«

Das Schicksal mischte immer wieder die Karten neu, und dann wurden auch jahrhundertalte Hausgesetze außer Kraft gesetzt.

Mathias von Hilgenberg hatte sehr darunter gelitten, der Zweitgeborene zu sein, und sein älterer Bruder wäre unter der Last beinahe zusammengebrochen, plötzlich der Chef der Hilgenbergs zu sein und die Verantwortung dafür zu haben, den Besitz, einschließlich des Schlosses, für die nächste Generation zu bewahren. Er war krank geworden, und das hatte alles verändert. Mathias war an seine Stelle getreten, und für ihn erfüllte sich ein Traum. Er hatte leichten Herzens alles hier aufgeben können.

Und es ging die Bewohner des Sonnenwinkels zwar nichts an, wie es weitergehen würde mit dem Besitz und dem Wahrzeichen, der Felsenburg. Aber es interessierte alle schon, was sich da oben tun würde. Da schloss Inge sich nicht aus.

Sie war noch in ihre Gedanken versunken, als neben ihr mit quietschenden Bremsen ein teurer roter Sportwagen hielt. Er war tiefergelegt, und Inge fragte sich unwillkürlich, ob er es bis oben schaffen würde. Autos dieser Art waren entweder für Rennen geschaffen oder für ›Gesehenwerdenfahrten‹ auf exklusiven ebenen Straßen.

Sie blickte zur Seite. Es wurde eine Fensterscheibe heruntergekurbelt, und eine arrogant klingende Frauenstimme erkundigte sich: »Sind Sie die Maklerin?«

Oh Gott, das war eine Interessentin für den Besitz.

»Tut mir leid.«

»Und warum stehen Sie dann hier herum?«

Das war unglaublich.

»Das ist ein öffentlicher Weg, und da kann ich herumstehen, solange ich will.«

Nach diesen Worten wollte sie weitergehen, zumal Luna da wieder etwas erschnüffelt hatte und an der Leine zerrte.

Die Frauenstimme hielt sie zurück, die Frau stieg sogar aus ihrem Auto aus.

»Warten Sie«, rief sie, und am liebsten hätte Inge jetzt laut ein ›bitte‹ hinzugefügt. Sie verkniff es sich. Wenn diese Frau, was Gott verhüten möge, die neue Besitzerin des herrschaftlichen Anwesens werden sollte, dann war es besser, eine Konfrontation zu vermeiden. Geld schien diese Frau ja zu haben, sie hatte also gute Karten. Die Ruine der Felsenburg war noch immer ein sehr großer Anziehungspunkt. Nicht nur für die Bewohner des Sonnenwinkels, sondern auch für Fremde, die kamen, um um den See zu laufen, dort ihre Freizeit zu verbringen oder hinauf zur Felsenburg zu laufen und sich dort von den Spuren einer großen Vergangenheit gefangen nehmen zu lassen. Beim Grafen Hilgenberg war es, im Gegensatz zu früher, sehr eingeschränkt gewesen. Doch immerhin hatte er einen Zugang zur Felsenburg erlaubt, wenn auch von einer ganz anderen Stelle aus.

Die Frau war sehr teuer gekleidet, das erkannte Inge auf den ersten Blick, auch wenn sie selbst sich aus Mode nicht viel machte und beim Kauf ihrer Kleidung niemals auf das eingenähte Label achtete. Für sie musste alles von guter Qualität sein, es musste ihr vor allem gefallen, und das Preis-Leistungsverhältnis musste stimmen. Darum machte sich diese Fremde gewiss keine Gedanken, wenn man sich allein den Sportwagen anschaute, für das Geld, das der gekostet haben mochte, bekam man gewiss eine kleine Eigentumswohnung.

Inge blickte die Frau an, sie war nicht mehr ganz jung, und ihrem Gesicht war anzusehen, dass daran ordentlich gearbeitet worden war.

»Was kann ich für Sie tun?«

Die Frau antwortete mit einer Gegenfrage.

»Wohnen Sie hier?«

Das konnte Inge bestätigen, und darauf war sie auch sehr stolz.

»Es wohnt sich hier sehr gut, und die Siedlung wurde von einem sehr bekannten Architekten erbaut und wurde auch mehrfach ausgezeichnet. Bedingt durch die Lage, den See hat man hier eine sehr hohe Lebensqualität. Doch Sie sind doch gewiss nicht an einem Haus in der Siedlung interessiert, sondern Ihr Interesse gilt dem Herrenhaus, dem gesamten Anwesen dort oben.«

Die Frau wollte ihr eine Antwort geben, doch da kam ein weiteres Auto angefahren, hielt neben ihnen. Es war ein dunkelgrauer Geländewagen, wie man sie immer häufiger auf den Straßen sah.

Ein junger Mann in feinstem grauen Zwirn sprang elastisch aus dem Wagen, kam auf sie zu und rief entschuldigend: »Es tut mir unendlich leid. Kurz vor Hohenborn gab es einen nicht vorhersehbaren Stau.«

Er gab zuerst Inge die Hand, dann der aufgetakelten Frau.

»Gernot Beckmann, ich bin von dem mit dem Verkauf des Anwesens beauftragten Maklerbüro.«

Dann begann er schon jetzt alles anzupreisen, Inge kannte das Anwesen sehr gut, doch all diese hochtrabenden Worte wären ihr niemals eingefallen. Es war höchste Zeit, dass sie ging, zumal Luna immer unruhiger wurde.

»Ich gehöre nicht dazu«, sagte sie rasch, dann nickte sie der Frau und dem Makler zu und ging. Er sah ihr ein wenig konsterniert nach, denn hätte er das gewusst, dann hätte er die Frau nicht begrüßt, schon gar nicht zuerst.

Auf jeden Fall schien dieser junge Mann schon mal hier gewesen zu sein, denn nach kurzem Reden mit der Frau stieg die zu ihm in den Geländewagen, nachdem er die Absperrung beseitigt hatte.

Zumindest war das eine vernünftige Entscheidung gewesen, denn die Frau wäre mit dem Sportwagen unweigerlich stecken geblieben. Und sollte sie das Anwesen tatsächlich erwerben, dann musste sie sich ein anderes Auto zulegen.

Inge war nicht neugierig, doch es interessierte sie schon, was diese Frau wohl mit dem Besitz vorhaben mochte. Sie passte so überhaupt nicht hierher.

Luna zerrte an der Leine, sie hatte wieder einmal etwas entdeckt, und das begann Inge zu nerven, so gern sie den Hund auch hatte.

»Luna, jetzt ist es genug, jetzt bleibst du gefälligst an meiner Seite. Wenn wir in das Wäldchen kommen, dann lasse ich dich meinetwegen von der Leine, aber bis dahin benimm dich gefälligst.«

Luna blieb stehen, blickte Inge an, bellte kurz.

Konnte man diesen wunderschönen braunen Augen widerstehen?

Inge auf jeden Fall konnte es nicht. Sie griff in ihre Jackentasche und holte daraus ein paar Leckerli hervor.

Luna winselte vor Freude, und Inge stellte wieder einmal fest, wie klug die Hündin doch war. Sie wusste, wie sie alle herumkriegen konnte, und nicht nur sie fiel immer wieder darauf herein.

Nachdem Luna ihr Leckerli gefressen hatte, blieb sie ganz brav an Inges Seite, und die hatte endlich Zeit, nachzudenken, nicht über diese Frau. So interessant war die nun auch nicht, und niemand von den Anwohnern hier hatte einen Einfluss darauf, wer den Zuschlag bekommen würde. Das war bei Marianne von Rieding und deren Familie schon anders gewesen. Sie hätten nicht an jedermann verkauft, obwohl sie keine enge Bindung an das Anwesen hatten. Marianne und ihre Tochter Sandra hatten es geerbt und es vorher niemals betreten, weil ein störrischer alter Mann nicht verkraften konnte, dass sein Sohn aus Liebe eine Bürgerliche geheiratet hatte, nämlich Marianne. Und nachdem der, verfeindet mit seinem Vater, früh verstorben war, hatte der alte Herr sich vor seinem Tod besonnen und seine Schwiegertochter und seine Enkelin als Erbinnen eingesetzt.

Wenn man so wollte, ruhte auf dem Anwesen kein Segen. Marianne, ihr Carlo, der berühmte Architekt Heimberg, der den Sonnenwinkel gebaut und dafür die Preise eingeheimst hatte, Sandra und ihre Familie lebten auf jeden Fall auf der riesigen geerbten Farm in Amerika freier und unbeschwerter. Inge gönnte ihnen auf jeden Fall ihr neues Glück, obwohl es schön gewesen war, als diese Bewohner noch da oben gelebt hatten. Man war sich nahe gewesen, und vor allem für Pamela gehörte das zu ihrer Kindheit.

Und sie weinte ihrem Freund aus der Kinder- und Jugendzeit noch immer nach. Es war schon bitter, dass Manuel sich nicht mehr meldete und alles, was gewesen war, vergessen zu haben schien.

So war das Leben. Nichts war für die Ewigkeit bestimmt.

Bei den Gedanken an früher wurde Inge ein wenig wehmütig.

Sie besaßen diese wunderschöne Villa, die schon vor dem Bau der Siedlung im Sonnenwinkel gestanden hatte. Was würde aus der werden, wenn sie und Werner mal nicht mehr waren?

Ricky, als Erstgeborene, hatte mit ihrem Fabian ihr eigenes Leben außerhalb des Sonnenwinkels, und es war nicht anzunehmen, dass die noch einmal zurückkehren würden. Außerdem hatten sie ja noch ihr Haus hier, das sie nach ihrer Heirat bezogen hatten.

Jörg hatte seinen neuen Lebensmittelpunkt in Stockholm, er hatte mehr als nur einmal zum Ausdruck gebracht, dass das Elternhaus für ihn niemals eine Option sein würde. Hannes? Nein, es war kaum denkbar. Nach dem Abitur hatte er eine Weltreise von fast einem Jahr gemacht, danach in Australien gelebt, wo er immer noch leben würde, hätte es nicht diese Verletzung gegeben, die es ihm unmöglich machte, so zu leben wie bisher, in einer Surf- und Tauchschule, als Werbeträger für ein besonders beliebtes Surfbrett.

Inge wurde ganz wehmutsvoll zumute, wenn sie daran dachte, dass er jetzt den Jakobsweg entlanglief, um sich zu finden, was die Freundin der Frau Doktor auch gerade machte. Seit es dieses Buch gab, zog es Gott und die Welt auf den Weg, es war eine richtige Modeerscheinung geworden, dann mal loszuziehen.

Wie auch immer, für sie wäre es nichts. Hier und dann in den Urlaub, das reichte ihr. Sie kam immer wieder sehr gern nach Hause, und hier wollte sie auch bleiben, bis man sie irgendwann einmal hinaustragen würde. Das war ihr Wunsch, doch wie sie aus eigener Erfahrung wusste, gingen Wünsche nicht immer in Erfüllung, das Leben war halt kein Wunschkonzert, man musste nur so richtig krank werden, und schon war alles vorbei.

Daran wollte sie jetzt nicht denken, das würde sie nur traurig machen.

Pamela …

Die liebte den Sonnenwinkel über alles, die wollte für immer dableiben. Doch sie war jung, deren Meinung konnte sich noch mehrmals ändern, und nach dem Abitur würde sie den Sonnenwinkel verlassen, um irgendwo zu studieren. Oder auch nicht, Hannes war ein Beispiel dafür, und auch Ricky hatte sich für eine Großfamilie entschieden statt zu studieren, und als sie es schließlich doch versucht hatte, hatte sie einsehen müssen, dass das mit einer Kinderschar einfach nicht ging, dass sie sich auf Kosten der Familie verwirklicht hätte. Und als ihr das bewusst geworden war, hatte Ricky die Reißleine gezogen und hatte das Studium abgebrochen. Sie hatte es nicht bereut, und jetzt ging es schon überhaupt nicht mehr, seit die kleine Teresa auf der Welt war. Inge wusste selbst nicht, was mit ihr los war, warum sie all die Gedanken hatte. Dabei musste sie sich um ihr Haus überhaupt keine Gedanken machen. Es befand sich nicht schon seit Generationen im Familienbesitz, und demzufolge musste es auch nicht in der Familie bleiben.

Werner hatte sie mit dem Kauf der Villa überrascht, und das war geschehen, als Ricky und Jörg beinahe schon flügge gewesen waren, und Inge konnte sich sehr gut daran erinnern, dass sie und die Kinder schon überhaupt nicht, glücklich gewesen waren mit Werners einsamer Entscheidung.

Wie lange lag das nun schon zurück. Entscheidend war, dass sie in der Villa alle glücklich gewesen waren, dass Werner, sie und Pamela sich noch immer wohlfühlten, und auch für Ricky und Jörg war es noch immer ein Ort der Geborgenheit, an den sie gern zurückkehrten, und wenn es nur besuchsweise war. Nichts war für die Ewigkeit bestimmt, und niemand konnte in die Zukunft schauen. Es stimmte so sehr, was ihre Mutter und ihr Vater immer sagten, nämlich, dass man den Augenblick, das Heute, das Hier und Jetzt genießen sollte.

Es war keine besonders gute Idee gewesen, in den Wald zu gehen. Die Wege waren nass, jedoch nicht glitschig, weil die mächtigen Baumkronen ein schützendes Dach bildeten, durch den nicht viel Regen hindurchkam.

Immerhin reichte es aus, dass Luna jetzt kaum noch zu erkennen war, sie hatte sich offensichtlich irgendwo im Morast gewälzt und war von oben bis unten verschmutzt, von dem schönen weißen Fell war nicht viel zu erkennen, und als Luna sich jetzt auch noch schüttelte, waren auch ihre Sachen verdreckt, und Inge konnte sie gleich, wenn sie nach Hause kamen, in die Waschmaschine stecken.

»Wir gehen zurück«, rief sie entschlossen. Ihr reichte es, sie machte kehrt, Luna trollte sich noch ein wenig, doch als sie aus dem Wald herauskamen, blieb sie brav stehen und ließ sich widerstandslos anleinen. Nicht ganz uneigennützig, denn sie wusste, dass es jetzt mindestens ein Leckerli gab.

Und so geschah es auch.

Inge ging schneller, Luna trottete brav neben ihr her, sie hatte genug erschnuppert.

Und Inge wusste eines, wenn sie nach Hause kamen, würde sie, ehe sie Luna säuberte, erst einmal ihre Kaffeemaschine anstellen.

Kaffee war das Zauberwort, auf den hatte sie jetzt so richtig Lust, und den hatte sie auch verdient. Sie hatte sich überwunden, war länger unterwegs gewesen als ursprünglich geplant. Und so etwas musste auf jeden Fall belohnt werden.

Als sie an der Auffahrt zum Anwesen vorbeikam, stand der Sportwagen noch immer da. Diese Frau schien ein ernsthaftes Interesse zu haben, denn sonst wäre sie längst wieder weg.

Jetzt war Inge doch neugierig, und sie bedauerte sehr, dass der Makler gekommen war, ehe sie etwas herausfinden konnte.

Würde sie kaufen?

Würde sie dort einziehen?

Würde sie den Zugang zur Felsenburg sperren?

Es waren viele Fragen, die sich ihr stellten, und sie hatte keine einzige Antwort darauf.

Ehe sie in die Straße einbog, in der sie wohnte, begegnete ihr Grete Bondorf, die Klatschtante des Sonnenwinkels, ehemalige Klatschtante, musste man sagen. Denn nachdem sie ihrer Fantasie hatte Flügel wachsen lassen und aus einer seriösen wissenschaftlichen Arbeitsstätte ein Freudenhaus gemacht hatte und damit aufgeflogen war, war es still um die Grete geworden. Sie hielt sich zurück, und auch jetzt lief sie nicht auf Inge zu, um sie in ein Gespräch zu verwickeln, sondern sie grüßte nur freundlich und lief weiter.

Einesteils war Inge froh deswegen, andererseits … Grete Bondorf, die Grete von früher, die hätte bestimmt etwas gewusst.

Jetzt war es aber mit ihr weit gekommen, früher hatte sie einen großen Bogen um Grete gemacht, hatte es schrecklich gefunden, wie die überall herumgetratscht hatte, und jetzt bedauerte sie das insgeheim, und das nur, weil sie gern erfahren hätte, wer diese Frau war und was sie mit den Anwesen machen wollte.

Schluss damit!

Inge war daheim angekommen, und ihr Herz ging immer wieder auf, wenn sie die wunderschöne Villa sah, in der sie leben durfte.

Das war ein ­Privileg und durchaus nicht selbstverständlich.

Ein Gefühl großer Dankbarkeit stieg in ihr auf, und dann machte sie Luna doch erst sauber, ehe sie in ihre Küche stürmte und die Kaffeemaschine anstellte.

Sie atmete den köstlichen Duft des frisch gemahlenen Kaffees ein, der ein so schönes Gefühl vermittelte. Und dann holte sie rasch ihren Lieblingsbecher aus dem Schrank, er war aus Keramik, und Ricky hatte ihn einmal für sie getöpfert, als sie noch klein gewesen war, und sie hatte ihn wunderschön bemalt.

Inge hütete diesen Becher wie ihren Augapfel, und sie wäre gewiss sehr traurig, wenn er einmal kaputtginge.

Was von großem Wert für einen war, das musste nicht teuer sein. Für sie war dieser Kaffeebecher unbezahlbar, Erinnerungen kosteten auch nichts, und sie konnten viel, viel schöner sein als das kostbarste Schmuckstück.

Sie musste dankbar sein, und das war sie auch. Sie hatte einen Mann, den sie liebte, wundervolle Kinder und Enkel, und sie hatte ihre Eltern direkt nebenan.

Wenn sie das nächste Mal nach Hohenborn fuhr, würde sie in die Kirche gehen und dort eine Kerze anzünden. Ja, das würde sie tun.

*

Als Maren Bredenbrock aus der Schule kam, fand sie ihren Vater in der Küche. Er rührte in einem Topf herum, und es roch köstlich.

Ihr Papa …

»Da bist du ja schon, mein Kind. Das ist fein, dann können wir gleich essen.«

Das bedeutete für Maren, dass sie gleich den Tisch decken würde, das hatte sich bei ihnen so eingebürgert, und sie murrte deswegen auch nicht. Die Zeiten, in denen sie und Tim ihren Vater für das Leben im Sonnenwinkel verantwortlich gemacht hatten, die waren längst vorbei. Mittlerweile wohnten sie sehr gern hier, hatten Freunde gefunden, sie war besonders gut mit Pamela Auerbach befreundet, und Tim, der hatte mehrere Kumpel, mit denen er Fußball spielte und dabei ganz cool war, oder sie fuhren mit ihren Fahrrädern durch die Gegend und lieferten sich Wettfahrten. Tim unternahm halt alles, was man machte, um sich selbst etwas zu beweisen, wenn man auf der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenwerden stand. Außerdem war Tim sehr glücklich mit Sophia und Angela von Bergen, ganz besonders mit Angela, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mit Angela war er auch heute unterwegs, weil bei ihm der Unterricht ausgefallen war, und Angela hatte ihren Job beim Grafen ja verloren.

Alles war gut.

Wirklich alles … nun ja, nicht alles.

Maren rannte auf ihren Vater zu und warf sich in seine Arme. Sie hatte den besten Papa von der ganzen Welt. Das hatte sie nicht immer so gesehen, anfangs, als sie hierher gezogen waren, waren sie und Tim sogar ziemlich sauer auf ihren Vater gewesen und hatten ihm das Leben ganz schön schwer gemacht. Er hatte es gelassen ertragen, und jetzt ließen sie auf ihren Papa nichts mehr kommen.

Dr. Peter Bredenbrock war sehr gerührt. Er drückte seine Tochter an sich, strich ihr zärtlich übers Haar. Um die Rührung nicht zu groß werden zu lassen, erkundigte er sich rasch: »Wie war dein Tag, mein Kind?« Und weil er Lehrer war, blieb die nächste Frage nicht aus: »Habt ihr die Mathematikarbeit zurückbekommen?«

Früher hatte Peter ein großes Gymnasium geleitet, das wesentlich größer war als das, an dem er jetzt als Lehrer für Mathematik und Physik arbeitete. Als seine Frau ihn verlassen hatte, war er mit den Kindern hierher gezogen, und er war beruflich einen großen Schritt zurückgetreten. Ihm war das Wohl seiner Kinder wichtiger als seine Karriere. Und in seinem früheren Job hätte er ihnen nicht die Aufmerksamkeit geben können, die sie brauchten. Und in ihrer alten Umgebung wären sie immer daran erinnert worden, dass ihre Mutter sie verlassen hatte und einfach gegangen war. Für die Kinder war alles sehr, sehr schwer gewesen, und er hatte in der Anfangszeit so manch schlaflose Nacht verbracht, in der er sich gefragt hatte, ob er alles richtig gemacht hatte, ob sie nicht doch besser im vertrauten Umfeld geblieben wären, die Kinder bei ihren Freunden, in ihrer Schule.

Es war richtig gewesen, manchmal musste man einen schmerzhaften Cut machen, um zu gesunden.

Alles war gut.

Er hatte es richtig gemacht, das sah er noch immer so, auch wenn er hier in seiner neuen Umgebung Federn gelassen hatte, die Kinder auch.

Er wollte nicht mehr daran denken.

Er ließ seine Tochter los, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie als Einzige der Klasse eine Eins geschrieben hatte, sogar eine Eins plus, weil sie die Zusatzaufgabe richtig gelöst hatte.

»Maren, das ist großartig, ich bin sehr stolz auf dich.«

»Papa, das wärst du auch, wenn Tim und ich in der Schule nicht so gut wären. Du sagst doch selbst immer wieder, dass du uns liebst, weil wir wir sind und nicht wegen der Leistungen, die wir in der Schule bringen. Und die Angela findet das auch, sie kennt sogar Begriffe für ein derartiges Verhalten. Sie sagt, dass wir uns glücklich schätzen können, dass wir Seinsgestreichelt sind und nicht Tunsgestreichelt, na siehst, Papa, sie bestätigt das.«

Sie lief los, deckte für sich und ihren Vater den Tisch, dann sagte sie: »Weißt du, Papa, ich bin sehr froh, dass ich die Begabung für Mathe von dir geerbt habe. Es ist schon ganz schön cool, immer alles direkt zu begreifen und dann die Einsen zu schreiben.«

Peter konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Mein Kind, es wäre auch cool, die in Englisch zu bekommen.«

Maren lachte, ihr Vater hatte sie erwischt.

»Papa, ich weiß, doch ich arbeite dran, aber jetzt habe ich Hunger.«

Das war so ihre Art, von Themen abzulenken, die ihr nicht gefielen.

Es gab Spaghetti Bolognese, und da konnte Maren sich im wahrsten Sinne des Wortes hineinlegen. Erst einmal sagte sie überhaupt nichts mehr, einmal abgesehen von einem begeisterten Ausruf: »Boooh, wie lecker.«

Nachdem sie sich zweimal einen Nachschlag genommen hatte, schob sie ihren Teller beiseite.

Eigentlich wollte sie nicht mehr darüber reden, doch jetzt war der Augenblick günstig. Tim war nicht da, der konnte nicht hineinreden, außerdem mussten jüngere Brüder nicht alles wissen.

»Papa, denkst du noch oft an Nicki?«

So, jetzt war es heraus, sie fügte rasch hinzu: »Ich kann sie nicht vergessen. Es war so schön, als sie bei uns war.«

Peter könnte jetzt seiner Tochter etwas vormachen, er tat es nicht, weil es einen nur weiterbrachte, wenn man ehrlich war.

»Ja, Maren, es war schön mit Nicki, und ich denke noch oft an sie.«

Maren trank etwas von ihrer Apfelschorle.

»Warum will sie nichts mehr mit uns zu tun haben? Ihr hat es mit Tim und mir gefallen, und du und Nicki, ihr habt euch so gut verstanden.«

Dass er ihr einen Heiratsantrag gemacht und sie dadurch in Panik versetzt hatte, das behielt Peter besser für sich.

»Maren, Nicki wollte auf Dauer keine Verantwortung übernehmen, sie hat sich nicht zugetraut, immer bei uns zu leben und so etwas wie die Stelle einer …«, er sagte jetzt nicht Mutter, sondern umschrieb es, »mütterlichen Freundin einzunehmen. Sie hatte noch nie etwas mit Kindern zu tun, sie konnte auch nicht richtig damit umgehen, wie es in einer Familie zugeht. Maren, es ist traurig, dass Nicki nicht mehr bei uns ist. Aber ich finde es aufrichtig von ihr, dass sie die Konsequenzen gezogen hat, anstatt uns etwas vorzumachen und irgendwann dann doch noch zu gehen, wenn alles festgefahren war und wenn man nicht mehr miteinander umgehen konnte.«

Maren trank erneut, das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war, und das war sie jetzt.

»Papa, vielleicht überlegt Nicki es sich noch anders, wenn sie den Jakobsweg gegangen ist. Da hat man bestimmt viel Zeit, nachzudenken … würdest du sie denn wiedernehmen, wenn sie zu uns zurück will?«

Am liebsten hätte Peter seine Tochter jetzt in die Arme genommen, und er hätte ihr so gern etwas Hoffnung gemacht. Es ging nicht, falsche Hoffnungen zu wecken war schlimm.

»Maren, ich würde ja sagen, selbstverständlich, aber rechne bitte nicht damit. Sie hat es uns gesagt, sie hat es dir geschrieben, Nicki und ich haben uns lange darüber unterhalten. Wir müssen uns damit abfinden, dass sie einen anderen Weg gehen will.«

Maren kicherte.

Peter fiel in das Lachen mit ein. »Ich habe jetzt natürlich nicht an den Jakobsweg gedacht«, bemerkte er. »Ich dachte an den Weg, den sie einschlagen will, wenn sie ­zurückkommt. Nicki ist ein sehr wertvoller, liebenswerter Mensch mit einem großen Herzen, und es ist ihr nur zu wünschen, dass sie sich für das Richtige entscheidet und dass ihr jemand begegnet, mit dem sie ihr Leben vorbehaltlos teilen kann. Das wünsche ich ihr von ganzem Herzen.«

Jetzt konnte Maren nicht anders. Sie musste aufstehen, sie lief um den Tisch herum und umarmte ihren Vater von hinten ganz fest.

»Papa, ich bin ja so froh, dass du jetzt nicht sauer auf Nicki bist und ihr sogar noch alles Gute wünschst. Ganz ehrlich mal, so jemanden wie dich gibt es niemals mehr auf der ganzen Welt. Ich werde jetzt nicht mehr über dieses Thema sprechen, das tut bloß weh. Aber eines muss ich jetzt doch noch loswerden. Die Nicki ist ganz schön blöd, so jemanden wie dich zu verlassen.« Sie schmiegte sich ganz fest an ihren Vater. »Papa, Tim und ich hatten es dir angeboten. Wir wären in ein Internat gegangen, wenn es dein Glück mit Nicki gerettet hätte. Und außerdem hätten wir …«

»Maren, bitte höre auf davon«, unterbrach Peter Bredenbrock seine Tochter. »So etwas möchte ich niemals mehr hören. Ihr seid meine Kinder, und ich liebe euch über alles. Es käme mir niemals in den Sinn, mir ein Glück auf eure Kosten zu erkaufen. Das wäre kein Glück, Maren, das wäre Selbstbetrug, ein ganz großer Egoismus. Wenn eine Frau, sollte ich noch einmal eine kennenlernen, mit der ich mir vorstellen könnte, mein Leben zu teilen, dann muss sie wissen, dass es mich nur im Dreierpack gibt, nämlich dich, Tim und mich. Und sie muss auch wissen, dass ihr für mich immer an erster Stelle stehen werdet. So ist es nun mal, wenn man Kinder hat. Kinder sind keine Gegenstände, die man hier und da mal hervorholt, um sich an ihnen zu erfreuen.

Mit Kindern geht man durch die Höhen und Tiefen des Lebens gemeinsam, man ist mit ihnen durch ein unsichtbares Band fürs Leben fest verbunden. Kinder sind ein Segen.«

Das war es wirklich für ihn, er dachte an Ilka, seine Exfrau, der die Kinder gleichgültig waren, die allenfalls für sie interessant gewesen wären, um mehr Geld herauszuholen, Geld für sich, mit dem sie dann Spaß haben konnte.

Nein!

Er wollte diese Bitterkeit nicht wieder in sich haben. Es war vorbei. Auch wenn Ilka es nicht so sah, er hatte das große Los gezogen, Maren und Tim waren bei ihm. Sie waren wirklich das größte Glück seines Lebens.

Ahnte Maren, was ihrem Vater gerade durch den Kopf ging?

Es konnte sein, denn sie war ein sehr feinfühliges Mädchen.

Sie umschlang ihren Vater noch inniger, dann flüsterte sie ihm leise ins Ohr: »Papa, ich habe dich ja sooo lieb.«

Peter musste schlucken, er war emotional sehr berührt.

»Ich dich auch, mein Kind, das musst du mir glauben.«

Natürlich glaubte Maren das. Ihr Vater zeigte es ihnen doch täglich. Sie musste jetzt auch etwas tun.

»Papa, ich backe für uns heute Nachmittag Waffeln«, sagte sie ganz spontan.

Waffeln waren nicht unbedingt sein Ding, doch das würde er niemals zugeben.

Er war ganz ernst, ja, er spielte sogar Begeisterung, als er antwortete: »Das wäre ganz großartig, mein Kind.«

Maren freute sich. Und dann setzte sie noch einen drauf.

»Papa, und du kannst jetzt an deine Arbeit gehen. Ich mache die Küche sauber und räume alles weg.«

Peter stand auf, und er umarmte seine Tochter ganz lieb, ehe er sagte: »Das ist ganz wunderbar, mein Kind, danke. Wir sehen uns dann am Nachmittag, du weißt, wo du mich findest.«

Maren kicherte.

»In deinem Arbeitszimmer, Papa. Wo denn sonst?«

Ehe Peter die Küche verließ, strich er seiner Tochter noch einmal zärtlich übers Haar. Ein schlechtes Gewissen hatte er schon, sie jetzt in dem Chaos allein zu lassen. Doch er wusste, dass es für Maren im Augenblick wichtig war, ihm ihre Liebe zu zeigen. Und die Küche aufzuräumen, das war ein sehr, sehr großer Liebesbeweis.

Er ging in sein Arbeitszimmer, er glaubte nicht, dass das Thema Nicki jetzt abgeschlossen war. Nicki hatte zu deutliche Spuren in aller Leben hinterlassen, und die verwehen zu lassen, das brauchte Zeit.

Schade, dass es nicht hatte sein sollen. Er unterdrückte tapfer den Gedanken, dass alles hätte anders kommen können, wenn er ihr den Heiratsantrag nicht gemacht hätte, mit dem er sie verschreckt hatte.

Als er sich an seinen Schreibtisch setzte, war er voll konzentriert auf die Bewerbungen junger Kollegen, die sein Direktor ihm gegeben hatte mit der Bitte, einmal einen Blick darauf zu werfen.

Natürlich war am Gymnasium in Hohenborn bekannt, dass er mit Bewerbungen früher sehr viel zu tun gehabt hatte. Da hatte er entscheiden müssen, und es war nicht immer leicht, die Weichen für das Berufsleben von Berufseinsteigern richtig zu stellen.

Gute Zeugnisnoten machten nicht zwangsläufig einen guten Lehrer aus. Eigentlich war Peter froh, mit alldem nichts mehr zu tun zu haben. Er würde einen Blick auf alles werfen, seine subjektive Meinung kundtun, entscheiden musste ein anderer.

Und das war gut so.

*

Manchmal ahnte man etwas, manchmal sah man die dunklen Wolken, die sich über einem zusammenzogen. Davon war Roberta ganz weit entfernt. Sie genoss noch in aller Ruhe einen Kaffee, und danach würde sie aufbrechen, um Krankenbesuche zu machen. Es waren zum Glück nur zwei Patienten, die ihre häusliche Betreuung benötigten. Allerdings waren es beides keine ganz einfachen Fälle.

Frau Rodenberg war eine liebenswerte alte Dame, die allerdings ihren Lebensmut vollkommen verloren hatte, als ihr Mann plötzlich verstorben war. Die beiden waren beinahe fünfzig Jahre miteinander verheiratet und sehr glücklich gewesen. Es war nachzuvollziehen, dass man in ein tiefes Loch fiel, wenn man plötzlich ganz allein war. Es gab keine Kinder, keine sonstigen Verwandten, die sich kümmern konnten. Die meisten der Krankheitserscheinungen der Frau Rodenberg waren psychosomatisch. Doch jetzt hatte sie eine heftige Grippe, und die behandelte Roberta, indem sie regelmäßig zu der Patientin fuhr. Außerdem war es ihr gelungen, jemanden von einem Pflegedienst für die alte Dame zu gewinnen. Das würde die Krankenkasse niemals bezahlen, doch zum Glück hatte der verstorbene Ehemann sie gut versorgt, und sie war in der Lage, Hilfe, die sie benötigte, auch zu bezahlen. Roberta hatte auch versucht, die Patientin in einer Kurzzeitpflege unterzubringen. Keine Chance. Frau Rodenberg wollte ihr Haus nicht verlassen.

Und das war auch das Problem mit dem zweiten Patienten, dem alten Herrn Zoch. Für den hatte seine Krankenkasse eine hohe Pflegestufe genehmigt, zusammen mit seiner Rente hätte man ihn gut in einem Seniorenheim unterbringen können, ohne dass man seine Kinder zur Kasse gebeten hätte mit Zuzahlungen. Auch er wollte sein Haus nicht verlassen, und so wechselten seine Töchter sich mit der Pflege ihres Vaters ab, was die beiden überforderte, aber sie wollten ihren Vater gegen dessen Willen nicht einweisen lassen.

Das waren beides absolut keine Einzelfälle, mit denen Roberta da konfrontiert war.

Dieses Gesundheitssystem stimmte nicht, und die alten Menschen hatten keine richtige Lobby. Gegen das, was sie manchmal erlebte, waren diese beiden Fälle harmlos. Besonders bitter fand Roberta, dass Angehörige den pflegebedürftigen Elternteil, nahe Verwandte, ins Ausland brachten, weil dort die Pflegekosten erheblich billiger waren und sie deswegen selbst nicht an ein Existenzminimum gebracht wurden, was der Fall gewesen wäre bei einer Unterbringung in der Nähe. Es stimmte etwas am System nicht, doch Roberta hatte längst aufgehört, sich deswegen zu ereifern. Sie konnte es nicht ändern, sie konnte nur dazu beitragen, dass die alten Leute daheim ärztlich gut versorgt wurden. Und da musste sie sich wirklich keine Vorwürfe machen. Da tat sie viel mehr, als sie mit den Krankenkassen abrechnen konnte. Vieles ließ sie sogar ganz unter den Tisch fallen, weil sie keine Lust hatte, sich mit den Kassen zu streiten und sich rechtfertigen zu müssen.

Sie konnte die Welt nicht verändern. Aber eines konnte sie schon, sie ein klein wenig besser machen, und darum war sie bemüht. Das lag ihr am Herzen.

Roberta trank den Rest ihres Kaffees aus, stand auf und wollte nach ihrem Arztkoffer greifen, als Alma ein wenig aufgeregt in die Küche gelaufen kam.

»Frau Doktor, da ist ein fremder Mann an der Tür, der sich nicht abwimmeln lässt. Er will Sie unbedingt persönlich sprechen.«

Wahrscheinlich war es wieder einmal ein Vertreter, der ihr etwas verkaufen wollte. Die tauchten hier zwar nicht so oft auf wie in der Großstadt. Doch hin und wieder verirrte sich auch einer im Sonnenwinkel. Und das besonders dann, wenn sie etwas anpreisen wollten, was sich nicht jeder normale Sterbliche erlauben konnte. Im Sonnenwinkel vermutete man Geld. Das wäre den Bewohnern beinahe schon einmal zum Verhängnis geworden, eine dreiste Einbrecherbande hatte sie ausgespäht, und ohne das mutige Eingreifen von Inge Auerbach, ohne deren Couragiertheit wäre es nicht so glimpflich abgegangen. Aber sie musste sich jetzt wohl keine Sorgen machen, dass ein Einbrecher vor der Tür stand, die klingelten nicht und stellten sich vor.

»Danke, Alma, ich werde mit dem Mann reden, und dann fahre ich auch gleich los. Ich bin spät dran. Wir sehen uns dann später.«

Jetzt griff Roberta wirklich nach ihrem Arztkoffer, dann verließ sie den Raum, ging zur Tür, öffnete sie.

Sie kannte den Mann nicht, der davorstand.

Es war ein Mann mittleren Alters im Businessanzug, mit Krawatte, er hatte ein forsches Auftreten …

»Frau Dr. Steinfeld?«, erkundigte er sich, und als ­Roberta das bestätigte, stellte er sich seinerseits vor: »Rüdiger Schmidt … Autohaus Schmidt … das sagt Ihnen vermutlich etwas.« Roberta schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid, es sagt mir nichts. Und wenn Sie jetzt hier sind, um mir ein Auto verkaufen zu wollen, dann haben Sie sich umsonst herbemüht. Ich plane nicht, mir ein neues Fahrzeug zuzulegen. So, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss zu Patienten, die auf mich warten.«

Nach diesen Worten wollte sie sich an dem Mann vorbeischieben und die Haustür schließen. Doch sie hatte nicht mit seiner Beharrlichkeit gerechnet.

»Entschuldigen Sie bitte, ich bin nicht hergekommen, um Ihnen ein Auto zu verkaufen. Es geht um das Auto Ihres Mannes.« Was redete der Mann da.

»Das Auto meines Mannes? Ich glaube, Sie haben sich an der Tür geirrt. Ich habe keinen Mann.«

Der Mann war nicht abzuwimmeln. Er wurde jetzt allerdings ein wenig lauter, was Roberta ein wenig unangenehm war.

»Was soll das denn? Ihr Mann hat mir die Adresse gegeben, Herr Dr. Max Steinfeld.«

Roberta hätte mit allem gerechnet, damit nicht.

Max?

Sie versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, als sie sagte: »Ach so, Max. Tut mir leid, er hat wohl vergessen zu erwähnen, dass wir geschieden sind, und dass das Scheidungsurteil seit Jahren rechtskräftig ist. Ich habe mit meinem geschiedenen Mann nichts mehr zu tun.«

Damit hatte der Mann offensichtlich nicht gerechnet, aber er war einer, der so leicht nicht aufgab. Schließlich ging es um seine Interessen.

»Wollen Sie nicht wissen, warum Ihr Mann … äh, Herr Dr. Max Steinfeld mich zu Ihnen geschickt hat?«

»Nein, das möchte ich nicht, und jetzt muss ich wirklich los.«

Er ignorierte das einfach, und als Roberta gehen wollte, rief er ihr laut hinterher: »Herr Dr. Steinfeld ist mit dem Auto, äh, mit den Leasingraten für das Auto hinterher. Er hat seit ein paar Monaten die Rate nicht mehr gezahlt. Er sagt, dass Sie immerfort Forderungen an ihn stellen und den Hals nicht vollbekommen. Können Sie das nicht mal für eine Weile lassen, damit Ihr Mann … Exmann sich finanziell wieder erholen kann. Es wäre schade, wenn wir ihm das Auto wegnehmen müssten, es wäre ein großer Verlust für ihn, und wie er sagt, ist er auf das Auto angewiesen. Die Forderung beläuft sich auf exakt …«

Roberta ließ ihn nicht aussprechen. Sie war so aufgebracht, dass ihr Zorn größer war als ihr Schmerz, ihre Enttäuschung. Hörte es denn niemals auf? Wozu war Max eigentlich noch fähig?

»Es interessiert mich nicht. Mein Exmann ist ein Geschichtenerzähler, und er hat Ihnen einen ganz schönen Bären aufgebunden. Wenn man überhaupt von so etwas sprechen kann, hat er bei unserer Scheidung ein richtig gutes Geschäft gemacht, es ist ihm beinahe alles geblieben, besonders eine große, gut gehende Praxis, mit der er sehr viel Geld verdienen konnte, doch dazu hätte er sich bemühen müssen. Es tut mir leid für Sie, dass Sie auf ihn, seine zur Schau getragene charmante Art hereingefallen sind.« Am liebsten hätte sie jetzt hinzugefügt, dass auch sie auf ihn hereingefallen war, doch das ging diesen Mann nichts an. »Von mir bekommen Sie keinen Cent, Max muss endlich begreifen, dass ich nicht die Kuh bin, die er bis an sein Lebensende melken kann.«

Es war alles gesagt, eigentlich wollte Roberta jetzt gehen, doch der Autoverkäufer hielt sie am Ärmel zurück.

»Es ist ein schönes Auto.«

»Dann werden Sie es, wenn Sie es zurückgenommen haben, auch gut verkaufen können, bitte gehen Sie jetzt.«

Roberta merkte, dass sie mit ihren Kräften am Ende war.

Und weil er noch immer auf sie einreden wollte, lief sie einfach ins Haus zurück, und das war auch gut so, sie zitterte am ganzen Körper, und sie hätte jetzt ohnehin nicht mit dem Auto losfahren können.

Alma kam in die Diele, sah die kreidebleiche Chefin, die ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte war.

»Frau Doktor, was ist los?«, erkundigte sie sich besorgt.

»Man sollte den Vertretern verbieten, Menschen an ihren eigenen Haustüren zu bedrängen. Was wollte der Mann?«

Roberta stellte ihre Tasche weg, dann setzte sie sich auf den Rand der Truhe, die in der Diele stand.

»Max hat ihn hergeschickt. Ich sollte für ihn die Leasingraten bezahlen, die er dem Autohändler schuldig ist. Das war der Autohändler.«

Dann erzählte sie Alma, was der Autohändler noch gesagt hatte.

»Frau Doktor, hören Sie auf damit, noch weiter Rücksicht auf diesen Menschen zu nehmen, sonst hört es niemals auf. Was soll denn noch passieren? Er stalkt Sie, steigt ein, kassiert Schmuck und Bilder. Erinnern Sie sich noch daran, wie es damals bei mir war, als ich ganz tief unten am Boden lag? Als mein Exmann, der mir einen Schuldenberg hinterlassen hatte, ganz dreist herkam, um noch mehr aus mir herauszuholen? Sie haben da etwas ganz Kluges gesagt, nämlich, dass man einen Riegel vorschieben muss, weil es sonst niemals aufhört, und Sie haben darauf bestanden, dass ich ihn anzeige. Seitdem ist Ruhe, zum Glück. Denn an das ganze Elend mit Achim möchte ich niemals mehr erinnert werden. Ohne Sie gäbe es mich ja überhaupt nicht mehr. Warum können Sie für sich das nicht tun, was Sie anderen Menschen anraten? Sie lieben ihn doch überhaupt nicht mehr, und mehr kann man einem Menschen auch nicht antun als das, was dieser Mensch Ihnen angetan hat. Diese Dreistigkeit jetzt schlägt dem Fass wirklich den Boden aus. Überlegen Sie doch mal, was er als Nächstes anrichten wird.«

Alma hatte so recht mit allem. Und sie wusste nicht, warum es ihr so unendlich schwerfiel, gegen Max vorzugehen. Er wurde immer dreister, und die letzten Jahre an seiner Seite waren wirklich kein Honigschlecken gewesen, er hatte sie betrogen, und es hatte ihm nicht einmal etwas ausgemacht, dass sie es mitbekam. Weil Roberta nicht sofort etwas sagte, wiederholte Alma ganz eindringlich: »Frau Doktor, zeigen Sie ihn an. Halten Sie sich diesen Menschen vom Hals.«

Roberta war jetzt nicht in der Lage, ein Versprechen abzugeben, sie wollte jetzt nichts sagen, was sie nicht halten konnte.

Ganz tief in ihrem Inneren sagte sie sich, dass man einen Menschen doch nicht anzeigen konnte, mit dem man mal verheiratet gewesen war und mit dem man eigentlich den Rest seines Lebens hatte verbringen wollen. Dass es letztlich nur noch eine einzige Enttäuschung gewesen war, änderte nichts an der Tatsache, dass sie irgendwann einmal geschworen hatte, mit diesem Mann in guten wie in schlechten Tagen zusammenbleiben zu wollen.

Galt das nicht auch bis über die Scheidung hinaus?

Roberta stand von der Truhe auf, sie fühlte sich müde und erschöpft, dieser Besuch des Autohändlers hatte sie tief getroffen, und sie stellte sich die bange Frage, was wohl noch kommen würde.

Max hing wie eine Klette an ihr, umklammerte sie wie eine Krake und nahm ihr die Luft zum Atmen. Er war wie ein böses Geschwür. Sie war Ärztin und wusste sehr genau, dass man Geschwüre herausschneiden konnte.

Sie musste etwas unternehmen, das war ihr klar. Doch nicht jetzt! »Alma, ich bin dann mal weg, ich bin schon spät dran.«

Alma blickte ihre Chefin, an der sie mit dankbarer Bewunderung hing, an.

»Passen Sie auf sich auf, Frau Doktor. Und bitte, unternehmen Sie etwas. Wenn Sie nichts tun, wird dieser Mann niemals aufhören.«

Roberta spürte die ehrliche Anteilnahme ihrer treuen Haushälterin. Sie schenkte ihr ein Lächeln.

»Danke, Alma, doch bitte hören Sie auf, sich meinet­wegen solche Sorgen zu machen … ich werde etwas unternehmen, versprochen.«

Das hatte sie jetzt sagen müssen, denn Alma sah so bekümmert aus, dass es einem ans Herz gehen konnte.

»Das ist gut, Frau Doktor, das ist sehr gut. Und glauben Sie mir, Sie werden erleichtert aufatmen, wenn dieser böse Spuk erst einmal vorbei sein wird.«

Diese Worte nahm Roberta mit auf den Weg.

Es stimmte alles, was Alma da gesagt hatte, und das wusste sie ja selbst ebenfalls. Außerdem war ihr jetzt klar, dass sie das gegebene Versprechen halten musste, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen.

Doch da gab es ja auch noch ein ganz kleines Hintertürchen. Es konnte ja auch sein, dass Max aufhören würde, nachdem sie heute den Autohändler unverrichteter Dinge hatte gehen lassen.

Ein wenig verachtete Roberta sich selbst für dieses Denken. Sie war eine toughe Frau, stand mitten im Leben, war eine hervorragende Ärztin, traf schwerwiegende Entscheidungen.

Nein!

Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken Auch wenn es ein wenig feige war, sie verschob es auf morgen.

Außerdem hatte sie überhaupt keine andere Wahl, eine Tochter des quengeligen Herrn Zoch erwartete sie bereits an der Haustür.

»Was für ein Glück, dass Sie kommen, Frau Doktor«, rief sie aufgeregt, »mit meinem Vater ist heute überhaupt nichts anzufangen, der kann einem wirklich den allerletzten Nerv rauben. Aber wenn Sie jetzt da sind, wird alles gut. Sie haben einen so wunderbaren Einfluss auf ihn.«

Roberta begrüßte die aufgelöste Frau, sprach ein paar beruhigende Worte, und dann dachte sie nicht mehr an Max, nicht mehr an den Autohändler Schmidt.

Sie war die Ärztin, die nur noch für ihren Patienten da war.

*

Es gab ja Frauen, für die es nichts Schöneres gab als zu shoppen oder wenigstens in der Stadt herumzulaufen und sich an den Auslagen der Schaufenster die Nasen platt zu drücken.

Dazu gehörte Inge Auerbach nicht, zu diesen Frauen hatte sie auch nie gehört, auch damals nicht, als sie noch jung gewesen war. Sie hatte ihre Freundinnen nicht verstehen können und hatte sich lieber mit einem spannenden Buch zurückgezogen.

Bücher …

Ja, die gehörten zu ihrem Leben, und sie musste an sich halten, da nicht ein wenig maßlos zu werden. Mittlerweile zwang sie sich, sich erst wieder ein neues Buch zu kaufen, wenn sie das zuvor angeschaffte ausgelesen hatte. Es klappte nicht, es blieb bei dem Vorsatz, denn es war ein unglaublich schönes Gefühl, in die Vollen greifen zu können und sich aus den neuen Schätzen das herauszusuchen, wonach einem gerade war. Es fühlte sich für Inge auch schon befriedigend an zu wissen, dass sie all die Objekte ihrer Begierde bereits im Haus hatte und nur danach greifen musste.

Auch heute hatte sie in der Buchhandlung wieder so richtig zugeschlagen, dabei hatte sie doch nur ein bestelltes Buch für ihre Mutter abholen wollen. Und das hatte sich ergeben, weil sie in die Stadt gefahren war, um Schuhe beim Schuster abzuholen. Das hatte sie auch getan, dann war ihr im Vorübergehen in einer Boutique ein wunderschöner weicher Cashmereschal in einem herrlichen Bordeaux aufgefallen. An dem hatte sie nicht vorübergehen können, damit ließen sich manche Outfits prima aufpeppen. Das war manchmal nötig, denn Inge liebte es eher schlicht.

Es war also nicht so, dass sie sich nicht für Mode interessierte, sie machte sich gern hübsch. Aber es war nicht ihr Lebensmittelpunkt, und sie würde auch nicht das Geld aus dem Fenster hinausschmeißen, wie Rosmarie Rückert es früher getan hatte.

Rosmarie …

Inge wurde ein wenig wehmutsvoll zumute, wenn sie an Rosmarie dachte. Das hätte sie nicht für möglich gehalten, doch es war so, seit Rosmarie sich unglaublich verändert hatte. Und dass sie es geschafft hatte, ihren Mann Heinz zu einer Reise sozusagen ins Blaue zu bewegen, darauf hätte Inge ebenfalls nicht gewettet. Doch dem Fass den Boden ausgeschlagen hatte es im wahrsten Sinne des Wortes die Tatsache, dass Heinz, jawohl, der dröge Notar Heinz Rückert, auf die Idee gekommen war, wenn schon, dann doch mit Jeep und Wohnwagen loszufahren.

Sie hatten es getan, und es schien ihnen gut zu gehen, das war aus den spärlichen Nachrichten zu ersehen, die hier und da Fabian und Ricky bekamen. Sie selbst hatte von Rosmarie noch nichts gehört, was sie ein wenig wunderte. Aber andererseits war das ein Zeichen dafür, dass es ihr gut ging, dass sie sich nicht ausweinen musste. Und wenn man so wollte, zwischen ihnen und Hannes herrschte ebenfalls Funkstille, absolute Funkstille, seit er sich entschlossen hatte, den Jakobsweg zu gehen. Inge zwang sich immer wieder dazu, sich nicht das Schlimmste auszumalen, und sie hatte heute auch die Gelegenheit ergriffen, in der Kirche für ihn eine Kerze anzuzünden. Das hatte sie auch regelmäßig getan, als Hannes nach dem Abitur zu einer Weltreise mit Rucksack und ohne Ziel aufgebrochen war.

Er war gesund wiedergekommen!

Und das war für Inge das Zeichen, auch jetzt um eine gesunde Wiederkehr zu beten, wenngleich man eine Reise in die entlegendsten Ecken der Welt nicht mit einem Weg vergleichen konnte, auf dem sich beinahe jeder tummelte, vielfach nur, weil es einfach hipp war sagen zu können, dass man den Jakobsweg ebenfalls gegangen war und die ersehnte Pilgerplakette in Santiago de Compostela erhalten hatte, auch wenn das manchmal ein wenig ermogelt war, und hundert Kilometer waren nichts im Vergleich zu den beinahe tausend Kilometern, die Hannes ging. Aber so war Hannes nun mal, für den zählte ganz oder gar nicht. Sie wünschte ihm von ganzem Herzen, dass er herausfinden würde, wie es mit ihm weitergehen sollte. Und da vermied sie es, ihre eigenen Wünsche zu stark werden zu lassen, er möge sich in ihrer Nähe niederlassen und anfangen zu studieren. Ja, es wäre schön, das gab sie ja zu. Aber da war sie nicht wie Werner, für den in erster Linie eine akademische Laufbahn zählte. Für sie zählte, dass ihre Kinder glücklich waren, und das konnte man auch sein, ohne einen Doktor vor seinem Namen zu haben.

Inge blickte auf ihre Armbanduhr.

Ein wenig Zeit hatte sie noch, außerdem hatte sie Lust auf einen Kaffee, und deswegen lief sie beinahe automatisch über den Marktplatz, nachdem sie ihre Schätze im Auto verstaut hatte.

Das beliebte Caféhaus war ihr Ziel, und sie würde sich zu ihrem Kaffee auch ein Stück Sachertorte gönnen, die hier beinahe so köstlich war wie in Wien.

Es waren Kalorien ohne Ende, und eigentlich müsste sie sich die Torte verkneifen. Sie musste sich nichts vormachen, sie hatte leider an Hüftgold zugelegt, und ihre Hose, die saß ganz schön spack. Immer dieser Ärger mit den Pfündchen. Warum war sie nicht so rank und schlank wie ihre Eltern? Die waren zu beneiden, denn die konnten essen was sie wollten, ohne zuzunehmen.

Nein, sie kam auf Großmutter Henriette, die Oma väterlicherseits, von der sie so ziemlich alles geerbt zu haben schien. So sagte man, kennengelernt hatte sie die Oma leider nie.

Ach, was sollte es!

Heute würde sie sich die Torte noch einmal gönnen, wer weiß, wann sie das nächste Mal nach Hohenborn kam. Außerdem konnte sie ab morgen damit anfangen, von allem ein wenig weniger zu essen. Und Apfelsaft trinken musste sie auch nicht, auch wenn er lecker war. Mineralwasser tat es auch, und da war kein Zucker drin. Und backen … Werner konnte versuchen, sie zu beknien, sie würde hart bleiben. Es musste nicht jeden Tag etwas Süßes im Haus sein.

Inge hatte ihr Ziel erreicht, in erster Linie freute sie sich auf den Kaffee, den brauchte sie jetzt. Was sich da bei ihr abspielte, das war schon Suchtverhalten, doch Inge stand dazu. Ein Laster musste oder konnte, wie man es auslegen wollte, jeder haben.

Es gab mehrere Cafés, auch, wie man es heutzutage gern nannte, Coffeeshops, aber dieses kleine Café war von Anfang an der Knaller, es war immer voll. Es war anheimelnd eingerichtet, vor allem stimmte das Preis-Leistungs-Verhältnis. Man bekam hier zwei Tassen Kaffee, guten Kaffee wohlgemerkt, wo man anderswo für das Geld nicht einmal eine Tasse bekam.

Inge war nicht geizig, doch sie achtete darauf, wofür sie ihr Geld ausgab.

Sie betrat das Café, hielt Ausschau nach einem freien Platz, und dann erstarrte sie.

An einem der Tische entdeckte sie ihren Werner, an seiner Seite eine sehr attraktive junge Frau, die wesentlich jünger war. Sie schienen sich blendend zu unterhalten, und jetzt langte Werner auch noch über den Tisch, griff nach dem Arm der Frau, hielt ihn fest, lachte sie an.

Inge drehte sich der Magen um.

Es war eine Szene, wie man sie häufig in Filmen, sei es nun im Fernsehen oder im Kino, erlebte.

Selbst einmal betroffen zu sein, das hatte eine ganz andere Dimension.

Sie war wie gelähmt.

Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, tausende von Fragen schossen ihr durch den Kopf. Wer war diese Frau? Woher kannte Werner sie? Hatte er mit ihr eine Affäre? Es wäre leicht für ihn, das vor ihr zu vertuschen, denn auch wenn er sein Arbeitstempo heruntergeschraubt hatte, wenn er nicht mehr so oft weltweit unterwegs war, war er noch immer umtriebig. Und sie hatte keine Ahnung, ob es wirklich wissenschaftliche Vorträge waren, zu denen er fuhr.

Und sagte man den Männern nicht nach, dass sie ab einem gewissen Alter so etwas wie einen zweiten Frühling bekamen? Die Frau war jung, die Frau war attraktiv!

Das passte in das Klischee!

Sie hatte Werner vertraut, war sich seiner sicher gewesen, weil sie sich noch immer liebten. Da war sie überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, dass Werner ausbrechen und sie betrügen würde.

War sie zu leichtgläubig gewesen?

War sie nicht mehr attraktiv für ihn?

Sie starrte auf Werner und seine Begleiterin und war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

Die Bedienung kam auf sie zu, lächelte sie an, man kannte Inge hier schon. Auch wenn sie nicht so oft nach Hohenborn kam, so suchte sie, wenn sie hier war, immer das Caféhaus auf.

»Im Augenblick ist gerade kein Tisch frei«, sagte die nette junge Frau, »aber die Herrschaften dort drüben haben gerade gezahlt, es kann nicht mehr lange dauern, bis sie gehen werden.«

Das machte Inge beinahe panisch, weil sie nicht wusste, ob die erwähnten Herrschaften Werner und seine Flamme waren. Außerdem konnte sie sich doch jetzt nicht an einen Tisch setzen, seelenruhig Kaffee und Kuchen bestellten und ihrem Mann dabei zusehen, wie er mit einer anderen herummachte.

»Ich mache noch ein paar Besorgungen und komme später wieder, vielleicht habe ich dann mehr Glück. Danke«, nach diesen Worten stürmte sie hinaus, und jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, als sie über den Marktplatz stolperte.

Werner betrog sie!

Er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er nach Hohenborn fahren würde, denn dann hätte ja auch er zum Schuster und in die Buchhandlung gehen können.

Inge hatte keine Ahnung, wie sie zu ihrem Auto gekommen war. Sie setzte sich hinein, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie in der Lage war, loszufahren. Und das hätte sie vermutlich noch nicht getan, wenn nicht jemand aufgebracht gehupt hätte, der auf den Parkplatz wartete.

Es war ein so schöner Morgen gewesen, die Krönung hätte der Aufenthalt in dem Café sein sollen.

Wäre sie doch bloß nicht hingegangen, dann wäre es ihr erspart geblieben, Werner an der Seite einer anderen zu sehen. Es schmerzte!

Sie wusste nicht, wie sie sich ihm gegenüber jetzt verhalten sollte.

Ihn konfrontieren mit dem, was sie gesehen hatte?

Dann würde er sie prompt fragen, warum sie nicht einfach an seinen Tisch gekommen sei. Ja, da war Inge sich sicher, das würde Werner bringen. Und obwohl er Dreck am Stecken hatte, wäre ihr das peinlich.

Aber eine derartige Frage war schon berechtigt. Warum war sie eigentlich nicht an den Tisch gegangen, hätte sich als Ehefrau präsentiert. Ihr musste nichts peinlich sein, nicht ihr, sondern dieser anderen Frau, die auch noch so richtig sympathisch gewirkt hatte. Das auch noch!

Vielleicht war ja auch alles ganz harmlos gewesen?

Nein, das glaubte Inge nicht.

Werner war hingerissen gewesen, außerdem kannte Werner keine Leute, die nicht auch ihr bekannt waren. Und diese Frau hatte sie noch nie zuvor gesehen, so, wie sie aussah, wäre sie ihr aufgefallen, bestimmt.

Es tat richtig weh, wenn Inge daran dachte, wie vertraut sie miteinander gewesen waren.

Wann hatte Werner eigentlich mit ihr das letzte Mal so unbeschwert gelacht? Inge konnte sich nicht daran erinnern, und je mehr sie sich den Kopf zermarterte, umso unglücklicher wurde sie.

Von ihrem Mann betrogen zu werden, so etwas wäre ihr nicht einmal in ihren kühnsten Träumen eingefallen. Doch nicht ihr Werner!

War sie sich seiner zu sicher gewesen? Immerhin war er ein attraktiver Mann in den besten Jahren, und er war ein weltbekannter Professor. Er hatte schon einiges in die Waagschale zu werfen, was ihn für ehrgeizige Frauen begehrlich machte.

Inge musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Beinahe wäre sie in das vor ihr fahrende Auto hineingeknallt, das plötzlich langsamer geworden war.

Sie hatte gerade noch Glück gehabt. Ein Autounfall, das wäre es jetzt auch noch.

Sie fuhr langsamer und versuchte, sich zu konzentrieren, auch wenn ihr das sehr schwerfiel, ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm.

Wie sollte sie sich verhalten?

So tun, als sei nichts geschehen?

Würde sie das fertigbringen?

Es war für Inge unvorstellbar. Sie war ein durch und durch aufrichtiger Mensch, irgendwelche Spielchen lagen ihr fern.

Am liebsten würde Inge jetzt nicht nach Hause fahren, sondern ganz weit weg. An einen Ort, an dem sie sich nicht den Tatsachen stellen musste, wo sie sich vormachen konnte, alles sei in bester Ordnung.

Das war Unsinn, sie konnte sich nicht vor dem, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte, verschließen. Außerdem war da noch Pamela, die nicht darunter leiden durfte, dass ihre Eltern da gerade eine Krise hatten. Und ihre Eltern waren auch noch da, die würden sich Sorgen machen.

Der kurze Augenblick, einfach davonzulaufen, war vorüber. Inge riss im allerletzten Augenblick das Steuer herum und fuhr den gewohnten Weg nach Hause, nicht den, der auf die Autobahn führte.

Flucht war kein Ausweg!

Das war ein Satz, den sie immer predigte, dann hatte sie sich gefälligst ebenfalls daran zu halten.

Die Sonne schien vom klarblauen Himmel, auf dem weiße Schäfchenwolken tanzten. Es war ein wunderschöner Tag, doch davon bekam Inge nichts mit. Für sie war alles düster und grau, und in ihr war keine Hoffnung. Es war entsetzlich.

Als sie daheim ankam, beschloss sie, ihr Auto nicht in die Garage zu fahren, sondern direkt am Gartenzaun zu parken. Das tat sie aus Bequemlichkeit oft, doch heute knallte sie gegen einen Pfosten. Und leider bekam das auch noch ihre Mutter mit, die gerade mit Luna, mit der sie einen Spaziergang gemacht hatte, um die Ecke bog.

Sie stieg aus, und prompt kam von ihrer Mutter ein: »Sag mal, Inge, was ist denn mit dir los? Du fährst wie jemand, der gerade seine erste Fahrstunde hinter sich hat. Deine Stoßstange hat jetzt gewiss eine Beule.«

Stoßstange … lächerlich, darüber konnte sie nur lachen. Bei ihr war gerade ihr ganzes Leben aus den Fugen geraten, doch das durfte sie ihrer Mutter natürlich nicht sagen.

»Mama, es ist nur Blech«, sagte sie, dann beugte sie sich zu Luna hinab, die sie freudig begrüßte. Sie streichelte die schöne weiße Labradorhündin, die sie jetzt erwartungsvoll ansah. Inge bedauerte sehr, dass sie jetzt kein Leckerli für Luna in der Tasche hatte. Normalerweise wandte Luna sich dann in solchen Fällen beleidigt ab. Diesmal blieb sie bei ihr, sie schmiegte sich eng an ihre Beine. Spürte Luna, dass bei ihr etwas nicht in Ordnung war?

Teresa war bei ihrer Tochter angelangt, besah sich den Schaden, die Stoßstange hatte tatsächlich eine Delle.

»Das kann man ausbeulen«, sagte Teresa, »es hat sich schlimmer angehört, als es ist. Außerdem ist es nur ein Auto.« Sie blickte ihre Tochter an. »Aber sag mal, Inge, was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als sei dir der Leibhaftige begegnet. Du bist blass, und hast du etwa geweint?«

Es war Inge peinlich, so von ihrer Mutter gemustert zu werden, die hatte Adleraugen, sah alles, außerdem war sie ein sehr intuitiver Mensch, man konnte ihr nichts vormachen.

Weswegen sollte sie geweint haben? Was sollte sie ihrer Mutter sagen?

Inge war ein wahrheitsliebender Mensch, sie hasste Lügen, und auch Notlügen verabscheute sie. Heute konnte sie nicht anders, sie musste nach einer greifen, denn sonst hätte sie mit der ganzen Wahrheit herausrücken müssen, und das ging gar nicht.

»Ach, da scheint wieder irgendetwas zu fliegen«, bemerkte sie vage.

»Stimmt, du mit deinen Allergien«, seufzte Teresa, »das hast du leider …«

Inge fiel ihrer Mutter ins Wort.

»Ich weiß, Mama, von Großmutter Henriette.«

Teresa warf ihrer Tochter einen Seitenblick zu.

»Es ist nun mal so, mein Kind, dass du unglaublich viel von Henriette hast. Deswegen musst du aber nicht traurig sein, Henriette war eine großartige Frau.«

Damit war für Teresa das Thema erledigt.

»Hast du Lust, mit zu mir zu kommen? Wir können zusammen einen Tee oder einen Kaffee trinken.«

Inge musste das Wort Kaffee nur hören, und sie hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken, die ihr bei diesem Satz in die Augen schießen wollten.

»Nein, danke, Mama, es ist lieb, aber ich …«

Diesmal ließ Teresa ihre Tochter nicht ausreden.

»Du hast in Hohenborn bereits Kaffee getrunken, und das hoffentlich in diesem besonders hübschen Caféhaus.«

Ja, das hätte sie …

»Mama ich, ich habe Kopfschmerzen. Wahrscheinlich hängt das mit der Allergie zusammen. Ich möchte mich jetzt einfach nur ein wenig hinlegen.«

»Tu das, mein Mädchen«, sagte Teresa, strich ihrer Tochter sacht über die Wange. »Und ich nehme Luna mit zu uns, dann hast du deine Ruhe. Pamela hat ja heute einen langen Tag, sie kommt erst am späten Nachmittag. Bis dahin wird es dir besser gehen, ja, und Werner …«

»Ich weiß nicht, wann der kommt«, rief Inge heftig.

Teresa blickte ihre Tochter prüfend an. »Inge, ist alles in Ordnung?«

Sie durfte sich nicht so gehen lassen, sie musste sich zusammenreißen.

»Mama, es ist alles bestens … danke, dass du mir Luna abnimmst, die ist zwar ein toller Hund, aber sie ist auch ziemlich anstrengend, weil sie andauernd bespaßt werden möchte.«

Dann wandte sie sich ab, rannte in die Villa, Teresa blickte ihrer Tochter kopfschüttelnd nach.

Alles bestens? Danach sah es nicht aus. Was war los mit Inge?

Schon wollte sie ihr nachrufen, dass sie ihre Bücher noch nicht bekommen hatte. Doch was sollte es, es konnte warten. Und vielleicht hatte Inge ja wirklich nur Kopfschmerzen.

Sie gehörte zu den Menschen, die es unerträglich fanden, wenn sie nicht wie gewohnt funktionierten. Das hatte sie leider ebenfalls von Oma Henriette.

»Komm, Luna, mein Mädchen. Ich mache mir jetzt einen Tee, und du bekommst ein Leckerli, vielleicht auch zwei, die hast du dir verdient.«

Luna musste das Wort Leckerli nur hören, und schon kam bei ihr Freude auf.

Sie machte Wuff, wedelte mit dem Schwanz, und dann hatte sie es eilig, zur Haustür zu rennen und dort winselnd zu warten.

Bei Teresa und Magnus von Roth hielt sie sich ebenso gern auf wie bei den Auerbachs, und sie wusste ganz genau, wo sich jeweils die begehrten Leckerli befanden.

Teresa hatte die Haustür erreicht, schloss sie auf, und dann rannte Luna auch schon an ihr vorbei ins Haus und stürmte in die Küche. Dort blieb sie erwartungsvoll vor dem Schrank stehen, in dem sich die begehrten Leckerli befanden.

Teresa hatte offensichtlich vergessen, was sie eigentlich versprochen hatte, ein bis zwei Leckerli … natürlich wurden es mehr, und Luna hatte überhaupt nichts dagegen einzuwenden.

*

Eigentlich hatte Inge sich wirklich ein wenig hinlegen wollen, um sich zu entspannen. Keine Chance. Die Gedanken kreisten, und das Bild von Werner und dieser Frau hatte sich fest in ihr eingebrannt, sie wurde es nicht mehr los. Es ließ sich nicht verdrängen.

Und wie sanft er sie berührt hatte!

Spätestens jetzt hätte ihr bewusst werden müssen, dass ihre Fantasie ihr da etwas vorgaukelte. Sie hatte eine Berührung gesehen, ob die aber sanft gewesen war, das zu sehen war unmöglich. Das war einzig und allein ihre subjektive Meinung, und die konnte gründlich danebengehen.

Inge sprang auf, kochte sich einen Kaffee, doch den trank sie nicht einmal aus, und das bedeutete schon etwas.

Inge rannte in ihr Bügelzimmer, in dem sich die gewaschene Wäsche in den Körben türmte. Sie war eine begeisterte Hausfrau, doch bügeln gehörte nicht zu ihren bevorzugten Tätigkeiten. Wenn sie allerdings aufgebracht, emotional bewegt war, dann tobte sie sich gern am Bügelbrett aus. Da konnte man alles so herrlich platt machen! Und man konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen.

Bügeln … danach war ihr heute. Mit einer unglaublichen Verbissenheit bügelte sie Berge von Wäsche weg. Und da sie nun schon mal dabei war, würde sie auch nicht aufhören, ehe das letzte Stück gebügelt war!

Unabhängig von ihrer Stimmung traf es sich recht gut. Immer, wenn Pamela am Gymnasium lange Unterrichtstage hatte, aß sie mittags in der Schulkantine. Für abends bereitete Inge dann meistens eine Kleinigkeit zu, auch manchmal einen Salat, mit den Zutaten war sie sehr erfinderisch. Heute würden sie sich mit Brot, Butter, Käse, Wurst und Schinken begnügen müssen, basta!

Werner würde meckern, doch der konnte ihr den Buckel herunterrutschen, es wurde das gegessen, was auf den Tisch kam, noch mal basta!

Sie riss sich für ihn den Allerwertesten auf, machte es ihm nett, und er? Er gab seinen Frühlingsgefühlen nach! Am liebsten hätte Inge angefangen zu weinen.

Ihr Werner …

Warum tat er das?

Sie hatte gerade intensiv an ihn gedacht, als man die Haustür hörte, und wenig später erklang seine Stimme: »Hallo, mein Schatz, ich bin wieder da.«

Er war allerbester Laune, das war nicht zu überhören.

Sie sagte nichts.

»Ingelein, wo bist du?«

Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Wo warst du?«

Dann hielt sie den Atem an.

Er ging dem Klang ihrer Stimme nach, blieb lässig im Türrahmen stehen.

»Ach, ich habe am Flughafen einen Kollegen getroffen, fast hätte ich Ricky noch besucht, doch wir haben uns verplaudert. Da bin ich zurückgekommen.«

Inge glitt das Bügeleisen aus der Hand.

Wie dreist er log, das konnte doch nur bedeuten, dass er diese Nummer nicht zum ersten Male abzog. Immer mit dieser attraktiven Frau, mit der sie ihn ertappt hatte? Oder gab es noch andere?

»Inge, was ist los? Siehst du denn nicht, dass da etwas versengt ist? Ich rieche es bis hierher.«

Inge besann sich, stellte das Bügeleisen weg. Zu spät. Ausgerechnet ihre Lieblingsbluse zeigte deutlich die Abdrucke des Bügeleisens, sie war hin. Auch das noch.

Sie machte das Bügeleisen aus, ihr Vorhaben, alles zu bügeln, war dahin.

»Was hast du denn heute Mittag gekocht?« erkundigte er sich.

»Eine Kleinigkeit könnte ich­ noch vertragen, bei dir schmeckt es halt am besten.«

Dieser Schmeichler, dieser Heuchler. Sie war für den Haushalt gut genug, aber für Komplimente, für zärtliche Berührungen, da hatte er andere Frauen.

Sie riss sich zusammen, denn sonst hätte sie ihm jetzt alles ins Gesicht geschrien.

»Dann musst du dir ein Butterbrot machen, ich habe nicht gekocht.«

»Und warum nicht?«

»Weil unsere Tochter heute lange Schule hat.«

»Aber dann kochst du normalerweise trotzdem«, sagte er ganz irritiert.

»Heute nicht, ich … ich war in Hohenborn«, platzte es aus ihr heraus.

Sie konnte sich nicht täuschen, er hatte ein schlechtes Gewissen.

»In Hohenborn … was hast du denn dort gemacht?« erkundigte er sich gedehnt.

Sollte sie die Bombe platzen lassen?

Nein, Inge entschied sich ­dagegen, sie musste noch mehr herauskriegen. Außerdem, wenn sie das Thema nicht berührte, dann musste sie sich auch auf keine Diskussion einlassen, und davor hatte sie Angst.

Sie erzählte ihm vom Schuhmacher, von der Buchhandlung, das mit dem Schal erzählte sie ihm nicht, es ging ihn nichts an.

»Werner, ich hoffe, du kommst zurecht, ich muss rüber zu meinen Eltern und Luna holen.«

Das war eine gute Ausrede!

»Wenn du willst, dann kann ich das auch machen, und du kannst mir derweil …«

Das wüsste sie, ihm ein Butterbrot schmieren, und es am liebsten auch noch nett garnieren. Das war vorbei.

»Nö, lass mal, Werner, ich hole Luna schon.«

Sie schob sich an ihm vorbei, vermied es, ihn zu berühren, dann verließ sie das Haus.

Sie ging nicht direkt zu ihren Eltern, sie musste sich erst einmal ein wenig sammeln, sie durfte sich schließlich nichts anmerken lassen. Dabei wäre es schön, mit jemandem reden zu können.

Schade, dass Rosmarie Rückert nicht da war, mit der war sie mittlerweile so etwas wie befreundet. Auf jeden Fall sprachen sie offen über alles, und Rosmarie vertraute ihr sehr viel mehr an als sie es tat, besonders, wenn es um Heinz ging.

Bislang hatte Inge sich ja auch nicht über Werner beklagen müssen. Einmal hatte es eine Krise gegeben. Doch da war es nicht um andere Frauen gegangen, sondern um seine ständigen Reisen.

Nach dem, was sie gesehen hatte, würde sie allerdings für Werner nicht mehr die Hand ins Feuer legen, dass da nicht mit anderen Frauen etwas gelaufen war.

Wie blöd war sie eigentlich gewesen!

Sie rannte Richtung See, stolperte den Weg entlang, irgendwann sah sie allerdings ein, dass sie mit ihren leichten Hausschühchen nicht weit kommen würde. Ihre Bluse war bereits verdorben, die Schuhe sollten es nicht auch noch sein.

Sie kehrte um. Davonlaufen war keine Lösung, das wusste sie doch …

*

Roberta hatte einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich, an dem ihr wieder einmal bewusst geworden war, dass sie es in diesem Tempo nicht durchhalten würde. Sie war auch nur ein Mensch, und auch bei ihr hatte ein Tag nur vierundzwanzig Stunden. Natürlich war es schön, dass die Patienten nur so zu ihr strömten. Doch Patienten waren keine Gebrauchsartikel, es waren Menschen, und jeder einzelne von ihnen hatte ein Recht darauf, ihre volle Aufmerksamkeit zu erhalten.

Es musste sich etwas ändern!

Roberta merkte, dass sie am Limit angelangt war, was ihre Kräfte betraf und was die Anzahl ihrer Patienten ausmachte. Entweder sie reduzierte gewaltig, nahm keine neuen Patienten mehr auf, oder sie erweiterte ihre Praxis. Auch wenn Arztpraxen in ländlichen Gebieten bei jungen Ärzten nicht unbedingt ganz oben auf der Hitliste standen, so hatte sie doch einiges zu bieten. Sie hatte einen ausgezeichneten Ruf, sie hatte ­mehrere Facharztausbildungen, und sie konnte jungen Ärzten eine ganze Menge beibringen. Hinzu kam die sagenhafte Lage der Praxis im Sonnenwinkel. Wer hier arbeitete, hatte einen hohen Freizeitwert. Es gab viele Vorteile, und Roberta kannte sich mit Mitarbeitern aus. Die hatte sie, als sie noch die große Praxis betrieben hatte und mit Max verheiratet gewesen war, an den sie nicht mehr denken wollte.

Was also ließ sie so zögerlich sein?

Sie wollte es sich nicht eingestehen, doch es war es. Es war Lars, der Mann mit den unglaublichen blauen Augen, den sie über alles liebte.

Wenn er da war, konnte es nicht schöner sein, da war es wie der Himmel auf Erden. Leider war er nicht immer da, und das würde er auch nicht sein. Doch das war es nicht allein. Mit ihm konnte man keine Pläne machen, und das war es im Grunde genommen auch, weswegen sie bezüglich einer Praxiserweiterung so zögerlich war.

Sollte sich doch mit ihm etwas ergeben, was Heirat und gemeinsame Kinder betraf, dann wäre eine Praxiserweiterung undenkbar.

Eigentlich hatte Roberta diese Träume begraben, um sich selbst nicht verrückt zu machen. Aber Träume verschwanden niemals so ganz, und sie war nicht nur eine ausgezeichnete Ärztin, in erster Linie war sie eine Frau, noch dazu eine Frau, die liebte.

Warum war das Leben bloß so kompliziert!

Sie würde mit Lars reden müssen, doch das ging nur in einem persönlichen Gespräch. Und das war das Problem. Als Lars über sein Buch über die Eisbären gebrütet hatte, da war es wundervoll gewesen, da hatten sie viel Zeit miteinander verbracht. Das war lange her, und jetzt huschte er eigentlich nur durch ihr Leben wie der Wind durch die Linde. Und sie konnte sich nie auf seine Besuche vorbereiten. Er war einfach da. Und das nervte zunehmend. Außerdem war es schmerzhaft zu wissen, dass er sich trotz all seiner Liebe, an der sie auch nicht zweifelte, mehr für eben diese Eisbären, für Vulkane in Island und für Highlandtiger in Schottland interessierte, um nur etwas zu nennen.

Lars sprang auf alles an, leider nicht auf ein beschauliches gemeinsames Leben im Sonnenwinkel. Das war wirklich bitter, und Roberta spürte, wie unzufrieden sie das machte.

Eigentlich hatte sie sich einen Film im Fernsehen ansehen wollen, um ein wenig herunterzukommen und sich zu entspannen.

Das war Wunschdenken gewesen, denn das für einen ­kurzen Augenblick die Augen schließen zu wollen, hatte dafür geführt, dass sie eingeschlafen war.

Sie wachte auf, als sie sanft berührt wurde und eine wohlklingende Männerstimme sagte: »Du siehst wunderschön aus, wenn du schläfst.«

Was war das jetzt gewesen?

Ein Traum?

Sie öffnete blinzelnd die Augen, und da wusste sie, dass es kein Traum war, Lars war gekommen, und er sah wieder einmal unverschämt gut aus. Sein Gesicht war braun gebrannt, was seine Augen noch mehr leuchten ließ. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, die Haare waren länger geworden. So, wie er jetzt ­aussah, stellte man sich sei­nen­ norwegischen Urgroßvater vor.

Sie richtete sich ein wenig mühsam auf, sie war in einer nicht unbedingt bequemen Lage eingeschlafen, dann wisperte sie: »Lars«, und ihre Stimme klang so, als habe sie Angst, etwas zu zerstören, was eigentlich nicht sein konnte. Lars hatte mit keiner einzigen Silbe erwähnt, dass er kommen würde, und sie hatten sich erst gestern lange unterhalten.

Er war es, daran gab es keinen Zweifel, denn er nahm sie fest in seine Arme, und ehe er sie leidenschaftlich küsste, sagte er: »Ich habe dich so sehr vermisst …«

Wenn sie sich sahen, wenn sie sich berührten, dann waren alle Zweifel verwischt, dann gab es nur noch Sonnenschein, keinen Regen, dann gab es nur noch Freude, nichts Negatives. Das war nicht normal, doch es stimmte. Und das lag daran, dass sie keinen gemeinsamen Alltag hatten.

Und das war beinahe tragisch, denn das Leben bestand nicht nur aus eitel Sonnenschein, der Alltag war es, der ihm Substanz gab.

Derartige Gedanken gingen Roberta durch den Kopf, wenn sie allein war.

War sie mit Lars zusammen, dann genoss sie nur noch seine Nähe und badete in einem Meer von Liebe.

Die Intensität ihrer Gefühle ließ sich nicht beschreiben, sie waren wie ein Topf mit dem passenden Deckel, sie waren die zwei Menschen, die so eng miteinander waren, dass zwischen sie kein Blatt Papier passte. Es gab noch so viele Beispiele, die alle zutreffend waren.

Sie waren füreinander bestimmt!

Nein!

Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, warum sie bei all diesen Voraussetzungen nicht ihren Alltag gemeinsam leben konnten.

Nicht jetzt!

Sie genoss seine Küsse, seine Nähe, sie fühlte sich so unendlich geborgen, und in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, hatte sie den Wunsch, dass alles für immer so bleiben möge.

Jetzt, da er da war, wollte sie nicht denken, da wollte sie nur fühlen, da wollte sie, dass die Wogen der Leidenschaft über ihnen zusammenschlugen, da wollte sie mit ihm lachen, sich mit ihm freuen. Da wollte sie ein Gefühl wie das mit der Wolke Sieben, von dem Nicki immer schwärmte, was sie nie wollte. Doch jetzt gefiel es ihr, und das kam wohl daher, weil sie eh keinen Alltag hatten, da konnte man sich auf einer Wolke austoben.

Lars war gekommen …

Wenn man seinen Verstand ausschaltete, wenn man sich im Hier und Jetzt aufhielt, dann war das Leben wunderschön …

So zu denken war trügerisch, Roberta wusste es, doch jetzt war ihr alles egal.

Die Zeit blieb für einen Moment stehen, und in diesem Augenblick war er deutlich zu spüren, der Flügelschlag einer großen Liebe …

Alle Geräusche schienen verschluckt, man hörte nicht einmal das unermüdliche Ticken der Uhr.

Sie hörte seinen Herzschlag, und es machte sie geradezu atemlos zu wissen, dass dieses Herz für sie schlug …

*

Zwischen ihr und Lars, das war Magie.

Daran dachte Roberta, als sie in der Nacht neben Lars im Bett lag und seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschte.

Er schlief, doch daran war bei ihr nicht zu denken. Sie war aufgewühlt, und zum ersten Male wurde ihr bewusst, dass sie das mit der Magie fortspann, und dann wurde ihr unweigerlich bewusst, dass Magie ein Zauber war, der irgendwann verflog, der der Realität nicht standhielt.

Sie war beinahe entsetzt, dass sie so dachte. Sie konnte nicht anders. Lag es an den vielen Tagen, Wochen, Monaten der Einsamkeit, in denen sie sich nach ihm gesehnt hatte, in denen sie mehr an ihn gedacht hatte, als gut für sie war? Sie wusste es nicht, und am liebsten hätte sie alles wieder beiseitegeschoben, doch es ging nicht. Es ging nicht, weil es unbefriedigend war, zu denken, als sei ihr Leben normal.

Es war nicht normal, sie lebte auf Pump!

Das erschreckte sie so sehr, dass sie einen leisen Aufschrei nicht verhindern konnte, und das weckte Lars auf. Vermutlich waren seine Sinne so geschärft, weil es lebensnotwendig war, achtsam zu sein, wenn man beispielsweise den Eisbären ganz nahe war.

Sein Arm schob sich zu ihr hinüber, umfasste sie zärtlich. »Kannst du nicht schlafen, mein Herz?«, erkundigte er sich mit noch schlaftrunkener Stimme.

Sie kämpfte mit sich.

Und vielleicht war es jetzt überhaupt nicht klug, diese Frage jetzt zu stellen, zu einer Zeit zwischen Nacht und Morgen.

»Weswegen bist du hier?«, erkundigte sie sich.

Diese Frage hatte eine Signalwirkung, sofort war er wach, richtig wach, richtete sich ein wenig auf, blickte zu ihr hinüber.

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«, wollte er wissen. »Hat das nicht Zeit bis morgen?«

Normalerweise wäre es so, doch bei ihnen war nichts normal. »Du kannst mir die Frage jetzt beantworten«, sagte sie beinahe trotzig.

»Wie du willst«, antwortete er. »Es hat sich zufällig ergeben, weil ich dummerweise einen Stick bei mir im Haus am See vergessen habe, den ich übermorgen brauche. Es wäre zu riskant gewesen, dich zu bitten, ihn mir zu schicken. Deswegen bin ich lieber selbst gekommen.« Er lächelte sie an. »Und ich habe es nicht einen Augenblick lang bereut. Ich hatte schon ganz vergessen, wie schön das Beisammensein mit dir immer ist.«

Schöne Worte, doch die hinterließen bei Roberta ein schales Gefühl. Er war nicht ihretwegen gekommen, ihn hatte nicht die Sehnsucht hergetrieben. Er war gekommen, um einen Stick zu holen, den er für seine Arbeit benötigte. Und wenn er schon mal da war, dann war sie so etwas wie eine Zugabe, sie war wie ein Dekor auf einer Torte.

Es war sicher verkehrt, jetzt so zu denken. Aber Roberta konnte nicht anders. Sie war enttäuscht, und sie war auch verletzt. Sie wollte etwas wert sein!

Sie sagte nichts, und er erkundigte sich ein wenig verunsichert: »Bist du jetzt sauer? Habe ich etwas Verkehrtes gesagt?«

Sie konnte noch immer nichts sagen, schüttelte, weil er eine Antwort erwartete, den Kopf.

Er rückte näher an sie heran, nahm sie ganz fest in seine Arme. Das war etwas, was ihr normalerweise Herzklopfen verursachte. Diesmal war es nicht so.

»Roberta, mein Liebes. Wir sind uns doch klar darüber, dass wir beide unser eigenes Leben haben, das uns erfüllt, und dann gibt es noch eines, das gemeinsame Leben, das uns, wenn wir zusammen sind, bis hinauf zu den Sternen trägt.«

Sie fiel nicht mehr darauf herein!

Sie wollte mehr als Worte. Es hatte sich etwas zwischen ihnen verändert, und das, was es war, verunsicherte Roberta sehr.

Sie wollte nicht zu den Sternen getragen werden, sie wollte ein ganz banales Leben auf Erden haben, eines, in dem man gemeinsame Urlaube plante, in dem man den Alltag lebte, auch wenn dabei die Fetzten flogen, man sich stritt. Das gehörte zum Leben, und die Versöhnung war danach umso schöner.

Sie sagte nichts, ihr Körper versteifte sich, und das bekam er natürlich sofort mit.

»Liebes, was hast du? Du bist auf einmal so ganz anders. Habe ich etwas falsch gemacht? Dann musst du es mir sagen. Ich möchte keine Unstimmigkeit zwischen uns.«

»Wer will das schon, Lars. Es war dumm von mir, mitten in der Nacht eine Diskussion anfangen zu wollen. Komm, lass uns schlafen, morgen ist ein neuer Tag.«

Den er vielleicht noch bleiben würde, vielleicht auch nicht.

Sie hatte keine Ahnung von seinem Alltag.

»Das stimmt, mein Herz, hoffentlich kannst du jetzt auch einschlafen. Damit habe ich zum Glück keine Probleme, ich schlafe in allen Lebenslagen.«

»Du bist zu beneiden«, sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen.

Er lachte. »In dieser Hinsicht ja.«

»Ich bestehe darauf, dass wir uns ganz nahe sind. Ich möchte in deinen Armen aufwachen.«

Er umschloss sie noch enger, nach ein paar Worten war er eingeschlafen, und sie dachte übers Leben nach. Es hatte sich etwas verändert. Sie liebte ihn noch immer über alle Maßen, er war ihr Traummann, ihr Mr Right, aber …

Nein!

Über das Aber wollte sie nicht nachdenken!

*

Als Roberta am nächsten Morgen wach wurde, lag sie nicht mehr in seinen Armen. Sie lag allein in ihrem Bett.

Das kannte sie, dennoch wurde sie ein wenig panisch.

War Lars gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden?

Hatte er mitbekommen, dass sich bei ihr etwas verändert hatte?

Sie sprang so schnell aus dem Bett, dass sie sich erst einmal wieder auf die Bettkante setzen musste, weil ihr ganz schwindelig war.

Sie saß noch immer so da, als Lars ins Schlafzimmer kam, er war vollkommen angezogen, und er war, wie es schien, bestens gelaunt zu sein.

»Oh, mein Liebes, du bist schon wach? Das ist schön, dann können wir in aller Ruhe gemeinsam frühstücken. Ich habe den Stick bereits geholt, und ich bin losgefahren und habe frische Brötchen besorgt.«

Sie hatte erwähnt, dass Alma mit ihrem Gospelchor unterwegs war, und da Samstag war, musste sie auch nicht arbeiten. Sie hatte an diesem Wochenende nicht einmal Notdienst. Es wäre perfekt, um es mit Lars zu verbringen.

Sie hatte die böse Vorahnung, dass es dazu nicht kommen würde. Sie wusste, dass es ihr sofort die Laune verderben würde, wenn sie sich danach erkundigte. Sie konnte nicht anders, sie tat es.

»Musst du nach dem Frühstück direkt wieder weg?«, wollte sie wissen und wunderte sich, wie gefasst ihre Stimme klang, dabei sah es in ihrem Inneren ganz anders aus.

Er nahm sie in die Arme, küsste sie, was sie seltsam unbeteiligt geschehen ließ.

»Ja, tut mir leid, ich muss in der Tat weg. Das nächste Mal hoffe ich, länger bleiben zu können. Aber findest du nicht auch, dass ein kurzes Beisammensein mehr ist als überhaupt keines? Ich habe die Stunden mit dir genossen, und ich werde noch lange davon zehren. Roberta, mein Herz, du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich dich liebe. Ich habe dich nicht verdient, und ich danke dem Himmel jeden Tag erneut, dass er dich auf meinen Weg geschickt hat.«

Auf diese Worte wäre sie früher abgefahren, sie wären bei ihr heruntergegangen wie Öl.

Er küsste sie, sie ließ es geschehen, der Funke der Leidenschaft sprang nicht zu ihr hinüber.

Sie machte sich aus seinen Armen frei. »Wir sollten frühstücken, sonst haben wir nicht einmal Zeit dafür.«

Er lachte.

»Es ist alles vorbereitet, ich muss nur noch wissen, wie du dein Ei haben möchtest. Gekocht, Spiegel- oder Rührei?«

Es war ihr so etwas von egal, sie befürchtete, keinen Bissen herunterzubringen.

»Das überlasse ich dir, überrasch mich einfach«, sagte sie, »ich geh nur rasch unter die Dusche und zieh mich an.«

Sie wollte das Schlafzimmer verlassen, er hielt sie am Arm zurück.

»Bleib wie du bist, du siehst in diesem Batistnachthemd bezaubernd aus, wie ein Engel. Und manchmal glaube ich sogar, dass du einer bist, der auf die Erde gekommen ist, um mir zu zeigen, wie wundervoll das Leben sein kann, wenn die Herzen im Einklang schlagen.«

Sie schluckte.

Ahnte Lars, dass sich da etwas ereignet hatte, was sich noch nicht in Worte fassen ließ? Drehte er deswegen auf, um zu retten, was noch zu retten war?

Was war los mit ihr?

Ihre Gedanken machten ihr Angst, so wollte sie nicht denken, sie liebte ihn, sie würde ihn immer lieben. Warum genoss sie dann nicht jede Sekunde mit ihm?

Wie, um sich selbst etwas zu beweisen, schmiss sie sich in seine Arme.

Wo war die Magie?

Wo war der Zauber geblieben?

»Lars, ich liebe dich«, sagte sie, wie um sich selbst etwas zu beweisen.

Er lachte, strich ihr übers Haar.

»Das weiß ich doch, doch jetzt muss ich mich um unser Frühstück kümmern, komm mit, es ist alles gedeckt, ich denke, ich mache für uns Rühreier mit Speck. Das hält länger vor, ich habe noch einen langen Flug vor mir, und du weißt, wie grauenvoll das Essen in den Fliegern ist.«

Gut, sie hatte es ihm überlassen, eine Auswahl zu treffen, deswegen durfte sie sich auch nicht wundern, dass er so entschied, wie es für ihn von Vorteil war.

Als sie in die Küche kamen, er hatte einen Arm um sie gelegt, rückte ihr einen Stuhl zurecht, küsste sie, er war aufmerksam und liebevoll wie immer, freute Roberta sich, dass er alles so schön hergerichtet hatte.

Er hatte sogar rote Rosen für sie gekauft und sie sogar schon in eine Vase gestellt.

Sie sah es, nahm es hin, und ihre Stimme kam ihr seltsam fremd vor, als sie sich bei ihm bedankte.

Diese Entwicklung beunruhigte sie.

Warum bekam Lars das nicht mit?

Er war doch ebenfalls beteiligt, er war ihr anderes Ich. Da konnte sich eines davon doch nicht einfach aus dem Staub machen.

Dieser Gedanke entsetzte sie so sehr, dass sie sich mit der rechten Hand auf den Mund schlug, um einen Aufschrei zu vermeiden.

Lars entging nichts.

»Was ist los, Liebes?«, erkundigte er sich besorgt.

Sie winkte ab.

»Nichts weiter«, flunkerte sie und hasste sich beinahe selbst dafür, weil das nicht ihre Art war. »Mir fiel nur gerade ein, dass ich vollkommen vergessen habe, mich für einen Patienten um einen Therapieplatz zu kümmern.«

Er lachte.

»Jetzt bin ich aber froh und erleichtert, dass nicht nur ich manchmal ein Gedächtnis wie ein Sieb habe, dass auch du etwas vergisst. Du, die Vollkommene, die Unvergleichliche, die Frau, die ich so sehr liebe, dass es wehtut … du kannst dich in aller Ruhe um den Therapieplatz kümmern, wenn ich wieder weg bin. Sag, was möchtest du trinken? Ich habe Kaffee gekocht, aber es gibt ebenfalls Tee.«

»Kaffee bitte«, antwortete sie leise und vermied es, Lars anzusehen, weil sie fürchtete, er könne mitbekommen, dass sie da auf einmal Gedanken hatte, vor denen sie sich selbst fürchtete.

Sie liebte ihn doch über alles!

Was war auf einmal nur los mit ihr?

Lars brachte ihr den Kaffee, beugte sich danach zu ihr hinunter, gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Haare.

»Für mich könnte in diesem Augenblick die Zeit stehen bleiben«, sagte er leise mit einer ernst klingenden Stimme. »Dann würde alles so bleiben, wie es jetzt ist.«

Roberta hatte eigentlich von ihrem Kaffee trinken wollen, um ein wenig wach zu werden, doch sie stellte die Tasse wieder ab, weil ihre Hand zitterte.

Er spürte es. Das wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, und welch ein Glück, dass sie saß, denn diese Erkenntnis hätte ihr sonst den Boden unter den Füßen weggerissen. Er spürte etwas von dem, von dem sie selbst nicht wusste, was es war.

In ihr war eine große Traurigkeit, für die es keine Worte gab.

Roberta zuckte zusammen, als sie plötzlich seine Stimme vernahm, die sagte: »Bitte, bleib so, mein Liebes. Rühr dich nicht. Dieses Bild muss ich festhalten. Du hast noch niemals zuvor so wunderschön ausgesehen, ein wenig entrückt, nicht von dieser Welt … ich sag doch, dass du ein Engel bist.«

Engel flogen davon!

Warum kam ihr ausgerechnet das jetzt in den Sinn? Sie hatte wenig Ahnung von dem, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte, richtiger gesagt, was mit ihr geschehen war.

Er fotografierte sie, zeigte ihr die Bilder. Sie nahm es beinahe teilnahmslos hin, und sie musste sich mühsam zusammenreißen, um jetzt nicht zu weinen.

Sie spürte, ohne den Grund dafür zu kennen, ja, sie konnte ihn nicht einmal ahnen, dass es mit ihnen niemals mehr so sein würde, wie es bislang gewesen war.

»Das schönste dieser Fotos werde ich mir ausdrucken, und es für immer bei mir haben, es mir ansehen, wenn die Sehnsucht nach dir mich immer übermannt. Und glaub mir, mein Liebling, das passiert oft.«

Sie blickte ihn an. Was für ein toller Mann er doch war, und diese unvergleichlichen blauen Augen, in die sie sich zuerst verliebt hatte.

»Lars, du bist zu dem Leben, das du führst, nicht verpflichtet. Du lebst so, weil du es willst.«

Er lachte.

»Wie recht du hast, meine kluge Frau Doktor. Ich kann und will mir aber ein anderes Leben für mich nicht vorstellen. Es ist genau das, was ich mir wünsche, und deswegen muss ich auch Abstriche machen, mich einsam fühlen und sehnsuchtsvoll, weil ich nicht bei dir sein kann. Dafür ist es aber umso schöner, wenn wir zusammen sind. Unser Leben ist herrlich, weil es nicht vom Alltag aufgefressen wird.«

Roberta biss rasch in ihr Brötchen mit Himbeermarmelade, um ihm keine Antwort geben zu müssen.

Er wollte keinen Alltag, sie hätte ihn gern mit ihm. Wie sollte das auf Dauer klappen?

Sie hatte darauf keine Antwort, weil sie sich ja noch nicht einmal im Klaren darüber war, was eigentlich plötzlich mit ihr los war.

Sie schluckte ihr Brötchen herunter, spülte mit heißem, starkem schwarzem Kaffee nach, stellte die Tasse ab, dann sagte sie leise: »Lars, ich liebe dich über alles.«

Das war nicht gelogen, daran gab es keinen Zweifel, und das würde sich auch niemals ändern. Seinem Seelenpartner begegnete man nicht so oft. Warum sie es ihm aber gerade jetzt sagte, da in ihr alles voller Aufruhr war, sie hatte keine Ahnung. Vielleicht hatte sie es ja auch nur gesagt, um sich selbst noch einmal vor Augen zu führen, dass sie ihn liebte.

Er stand langsam auf, ging um den Tisch herum, zog sie zu sich empor, umfasste sie zärtlich, blickte ihr tief in die Augen sagte: »Und das ist etwas, woran ich niemals zweifeln würde. Unsere Liebe ist für die Ewigkeit bestimmt.«

Nach diesen Worten küsste er sie, und Roberta spürte, wie in diesem Augenblick alle Zweifel schwanden, sich in Luft auflösten.

Sie erwiderte seine Küsse, anfangs sanft und zärtlich, dann voller Leidenschaft.

Als er sie losließ, setzte sie sich wieder, noch ein wenig benommen, das allerdings nicht wegen seiner Küsse, die wundervoll gewesen waren, die ihr gezeigt hatten, dass sie zusammengehörten.

Nein, da war wieder etwas … dabei musste doch jetzt alles wieder gut sein, oder?

*

Nach der Abreise von Lars versuchte Roberta, sich zu beschäftigen, doch sie konnte sich mit nichts ablenken, nicht einmal mit einer Krankenakte, und das bedeutete bei ihr schon etwas. Normalerweise vergaß sie alles um sich herum, wenn sie sich in eine vertiefte, jetzt war sie kaum in der Lage, einen Satz zu Ende zu lesen.

Es hatte keinen Sinn.

Sie musste raus, doch es zog sie nicht zum See, sondern sie lief Richtung ›Seeblick‹, der an den Wochenende durchgängig geöffnet war, weil auch Wochenendausflügler kamen, die nicht essen wollten, denen es aber nach Kaffee und Kuchen war. Das war für Julia ein gutes Geschäft, das sie auf jeden Fall mitnahm. Auch wenn ihr Restaurant jetzt gut lief, war es nicht so, dass sie jetzt das Geld scheffelte. So ein Restaurant war sehr personalintensiv, und leider musste auch hier und da etwas weggeworfen werden, was ihr in der Seele wehtat, nicht nur, weil man Lebensmittel nicht wegwarf, wenn einem bewusst war, dass anderswo die Menschen hungerten. Nein, es war auch teuer, denn sie verwendete nur erstklassige Bioprodukte, und die kosteten entsprechend. Sie kalkulierte genau, doch es ließ sich einfach nicht verhindern, dass manches dann doch in der Tonne landete.

Das Nachmittagsgeschäft am Wochenende war eine gute Nebeneinnahme, auf die hatte auch ihr Vorgänger nicht verzichtet.

Als Roberta oben am ›Seeblick‹ ankam, standen nicht nur Autos auf dem Parkplatz, sondern auch jede Menge Fahrräder, einige Motorräder. Es hatte sich also bis zu den Bikern herumgesprochen, dass es hier guten Kaffee und sehr leckeren Kuchen gab, und dann war natürlich noch die atemberaubende Aussicht, die man von hier oben auf den See hatte. An sonnigen Tagen bekam man auf der großen Außenterrasse keinen freien Platz.

Heute war das Wetter nicht gut genug, um draußen sitzen zu können, doch das machte nichts, im Restaurant war es gemütlich.

Auch hier gab es kaum einen freien Platz, doch Julia Herzog schaffte den für ihre Stammgäste immer wieder, und dazu gehörte Roberta auf jeden Fall auch.

»Frau Doktor, das ist aber eine schöne Überraschung«, begrüßte Julia sie, »an einem Samstagnachmittag habe ich Sie hier oben noch nie gesehen. Sie arbeiten ja immer, viel mehr als ich. Schön, dass Sie da sind.«

Sie führte Roberta zu einem kleinen Tisch im Thekenbereich, und das erweckte bei Roberta Erinnerungen. An diesem Tisch hatte sie meistens gesessen, wenn sie zu Robertos Zeiten hier oben gewesen war. Da hatten Roberto und seine Susanne sich zwischendurch immer zu ihr setzen können, um mit ihr zu plaudern.

Wie lange das schon wieder her war.

Sie bekam auch ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht eine der vielen Einladungen angenommen hatte, sie endlich in der Toscana zu besuchen. Es gab sogar ein kleines Gästehaus, in dem sie ganz für sich sein konnte.

Vielleicht sollte sie sich wirklich endlich einmal aufraffen, zumal sie mit Roberto und Susanne befreundet war, obwohl Nicki ihn verlassen hatte. Doch das hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan. Die kleine Valentina war gewachsen, und Angelo, den Stammhalter, kannte sie nur von Fotos.

Ja, es war keine schlechte Idee, in der wunderschönen Toscana, inmitten von alten Olivenbäumen und Weinstöcken würde sie zur Ruhe kommen.

Sie zuckte zusammen, als Julia zu ihr an den Tisch kam, ihr den bestellten Kaffee brachte und sagte: »Ihren Kuchen bekommen Sie später, Frau Doktor. Erst einmal müssen Sie die Petite Fours probieren, meine neueste Creation, vollkommen laktosefrei und von den herkömmlichen geschmacklich nicht zu unterscheiden.«

Julia Herzog war unglaublich, sie ruhte sich nicht auf ihren Lorbeeren aus, kreierte immer etwas Neues, und Roberta war sich sicher, dass sie irgendwann auch hier oben einen Stern bekommen würde.

Die Petite Fours sahen wunderschön aus, man traute sich überhaupt nicht, sie zu essen, und das sagte sie Julia auch, fügte dann hinzu: »Strahlen Sie deswegen so, weil Ihnen da wieder etwas Großartiges gelungen ist?«

Julia wurde rot.

»Nein, ich …«

Ach, was sollte es, der Frau Doktor konnte sie es sagen, wie sie es auch Teresa von Roth erzählt hatte.

Die würden es nicht herumtragen, und wenn das Herz übervoll war …

»Ich bin verliebt«, platzte es aus Julia heraus, und Roberta ließ die Gabel fallen, mit der sie gerade eine der kleinen Köstlichkeiten probieren wollte.

»In jemanden, den ich kenne?«, erkundigte Roberta sich, diese Frage war berechtigt, denn die Menge der Menschen, die hier lebten, war überschaubar, und zu ihr in die Praxis kamen auch noch Patienten aus dem weiteren Umkreis, weiter noch als aus Hohenborn.

»Nein, Daniel ist nicht von hier … er hat mich gesucht und gefunden, weil er mich nicht vergessen konnte, und bei mir hat es auch direkt bei unserer Begegnung gefunkt, aber ich wollte das nicht zugeben und habe das Weite gesucht. Schließlich war ich ein gebranntes Kind und habe an Männer nicht mehr geglaubt.«

Im Grunde genommen hatte Julia ein ähnliches Schicksal wie sie, auch die war betrogen worden, nicht von einem Ehemann, aber immerhin von jemandem, dem sie vertraute, den sie heiraten wollte. Und den dann kurz vor der Hochzeit mit der allerbesten Freundin im Bett zu erwischen, an so etwas hatte man lange zu knapsten.

Auch wenn wenig Zeit war, erzählte Julia ihr ganz stolz, was sich da plötzlich ereignet und ihre Welt von einem Moment auf den anderen verändert hatte.

»Es hat wohl so sein sollen, Frau Doktor. Daniel ist mir vorbestimmt.«

Nach diesen Worten entschuldigte sie sich, denn es waren neue Gäste hereingekommen, und sie und ihre beiden Bedienungen hatten alle Hände voll zu tun.

Vielleicht war es auch gut so, dass Roberta ihren Gedanken überlassen blieb. Sie war unachtsam gewesen, war mit ihrem Auto in seines hineingefahren. Es hatte so sein sollen, denn nie zuvor und nie danach war ihr so etwas noch einmal passiert.

Ihre Freundin Nicki hatte damals auch sofort von Vorbestimmung gesprochen, genau wie Julia jetzt.

Vorbestimmung …

Ein großes Wort, mit dem sie nicht herumschmiss, vermutlich auch deswegen, weil sie daran nicht glaubte. Ein Zufall hatte sie und Lars zusammengeführt, ein schöner Zufall. Aber das, was Julia Herzog und Daniel miteinander verband, war auf jeden Fall anders als das, was sie und Lars zusammenhielt.

Sie zuckte zusammen, als Julia sich wieder zu ihr gesellte.

»Entschuldigung, dass ich Sie so lange allein ließ, aber jetzt sind die meisten Biker weg, Ruhe ist eingekehrt, das schaffen meine Mädels jetzt auch allein. Wenn Sie mögen, dann können wir ein wenig miteinander plaudern.« Sie strahlte Roberta an.

»Ich würde am liebsten nur noch über Daniel reden. Es ist so aufregend, so schön.«

»Und wie soll es weitergehen mit Ihnen, Frau Herzog?«

»Bitte, sagen Sie einfach Julia zu mir«, bat die junge Wirtin.

Damit war Roberta einverstanden.

»Dann nennen Sie mich aber Roberta.«

Julia war beinahe entsetzt.

»Aber, Frau Doktor, das geht doch nicht, ich kann nicht einfach …«

Roberta unterbrach sie.

»Sie können, meine Liebe. Außerdem scheint mein Karma zu sein, dass ich mich mit den Besitzern des ›Seeblicks‹ besonders gut verstehe. Das war am Anfang so, als ich ­herzog, da waren es die Lingens, später Roberto und Susanne, und mit Ihnen … äh dir,­ habe ich mich auch direkt gut verstanden. Also, abgemacht?«

Sie reichte Julia die Hand, die Julia auch sofort ergriff.

»Von Herzen gern, Roberta.«

Es war Julia anzusehen, wie sehr sie sich darüber freute, die Ärztin, die sie so sehr bewunderte, jetzt duzen zu dürfen.

Das war wirklich ein ganz großes Privileg, es machte Julia glücklich. Nachdem sie das erst einmal verdaut hatte, erinnerte sie sich an Robertas Frage.

»Du möchtest wissen, wie es für Daniel und mich weitergehen soll, nicht wahr? Das wird sich zeigen. Entscheidend ist doch, dass man gemeinsame Wertvorstellungen hat, die für eine gemeinsame Lebensreise die Voraussetzung sind.«

»Dein Daniel ist Journalist, freier Journalist, da muss er hinter jeder guten Story her sein, um sie auch verkaufen zu können. Und die findet man nicht direkt vor der Haustür, das bedeutet, dass er ständig unterwegs sein wird.« Am liebsten hätte Roberta jetzt hinzugefügt: »Wie mein Lars.«

»Ja gut, das ist im Moment noch so, wir sind nicht in Eile, wir müssen uns erst kennenlernen. Wir wollen nichts überstürzen. Es wird sich etwas finden, womit wir beide leben können. Entscheidend ist doch, dass für uns beide das Ziel ist, zu heiraten, eine Familie zu gründen und mehr als nur ein Kind zu bekommen. Das habe ich mir immer gewünscht, und bei Daniel ist es ähnlich. Die Geborgenheit einer Familie ist durch nichts auf der Welt aufzuwiegen. Dafür kann man auch mal Opfer bringen.«

Roberta war beinahe neidisch, als sie diese Worte hörte. So dachte sie ebenfalls. Bei Lars war es leider nicht der Fall.

»Das könnte aber auch bedeuten, dass du den ›Seeblick‹ aufgeben müsstest.«

Julia schüttelte den Kopf.

»Das eher nicht. Das Restaurant arbeitet mittlerweile rentabel, hier gibt es viel Platz, oben in der Wohnung kann man eine Familie unterbringen, außerdem lässt sich das Dachgeschoss ausbauen. Alles spricht dafür, eine Fa­milie, wenn es an der Zeit ist, hier zu gründen. Sieh mal, du würdest doch deine Praxis ebenfalls nicht aufgeben. Wozu auch, richtig organisiert, lassen sich Beruf und Privatleben perfekt miteinander verbinden. Aber weißt du, darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Erst wenn man vor dem Fluss steht, muss man sich Gedanken machen, wie man auf die andere Seite kommt. Wenn beide von etwas überzeugt sind, gibt es kein Hindernis, das zu hoch ist, um es nicht überwinden zu können.«

Eine der Bedienungen kam auf Julia zugelaufen.

»Frau Herzog, dieser junge Mann dort fragt an, ob er gleich mit seinen Kumpel kommen kann, das sind dreißig Leute. Die möchten allerdings keinen Kaffee und Kuchen, sondern die hätten gern eine warme Mahlzeit, und er möchte nun wissen, ob das machbar ist.«

»Natürlich geht das«, sagte Julia sofort, dann entschuldigte sie sich bei Roberta, was die durchaus verstand. Das Geschäft ging vor. Für sie war es ebenfalls an der Zeit, jetzt zu gehen. Sie hatte sich im ›Seeblick‹ länger aufgehalten als beabsichtigt.

Sie zahlte, dann verabschiedete sie sich kurz von Julia, die noch immer mit dem ­jungen Mann verhandelte, doch man war sich einig geworden, jetzt ging es nur noch darum, sich die Gerichte zu notieren.

Roberta war froh, zu Fuß heraufgekommen zu sein, jetzt hatte sie Zeit, über alles noch einmal nachzudenken. Sie freute sich wirklich für Julia. Aber es machte sie ganz einfach traurig, weil es bei ihr und Lars nicht so war.

Sie gingen einen Weg, doch es war keiner wie bei Julia und ihrem Daniel, der ein gemeinsamer sein sollte, nein, ihre Wegen gingen nebeneinander her, und an den Kreuzungen, die es auf jedem Weg nun mal gab, trafen sie zusammen.

Es war eine Vorstellung, die schmerzlich war, aber so verhielt es sich nun mal. Sie und Lars waren bereits einige Zeit zusammen, doch auch in den Werbewochen hatte er niemals den Wunsch verspürt, unentwegt mit ihr zusammen sein zu wollen. Gut, weil er an seinem Buch über die Eisbären geschrieben hatte, waren sie längere Zeit nicht getrennt gewesen, doch auch da hatte er die meiste Zeit nicht bei ihr verbracht, sondern in seinem kleinen Haus am See.

Sie würde sich wohl damit abfinden müssen, dass Lars ein Einzelkämpfer war, ein einsamer Bär. Damit kannte er sich aus, darüber hatte er ein erfolgreiches Buch verfasst.

Sie war traurig, und jetzt war es ihr vollkommen egal, ob sie jemand sah, sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

*

Inge hatte Werner nichts vorzuwerfen. Er war nett wie immer, und wenn sie das in dem Café nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann würde sie nicht glauben, dass es in seinem Leben eine andere gab.

Was Inge besonders schlimm fand, dass sie gleich die allerschlimmsten Gedanken hatte, wenn Werner unterwegs war, und das war er nun mal von Zeit zu Zeit. Ganz aufgegeben hatte er seine Reisen nicht, dazu war er viel zu umtriebig, und dazu war er auch als Redner, als Gesprächspartner, als Ratgeber viel zu begehrt. Er war wer, und das wollten viele für sich nutzen.

Bislang war Inge stolz auf ihren Werner gewesen, doch jetzt nagte die bohrende Frage in ihr, ob er allein unterwegs war, oder ob er seine Gespielin mitgenommen hatte. Es gab viele Stunden, in denen er nicht gefragt war, zumindest nicht von seinen Wissenschaftskollegen.

Warum fuhr sie nicht einfach mit?

Das wäre jetzt komisch, denn ihren Mann zu begleiten, damit hatte sie vor vielen Jahren aufgehört, und ehrlich gesagt, fand sie das auch zu strapaziös, diese langen Flüge, diese unpersönlichen Hotelzimmer. Die nahm man nicht bewusst wahr, wenn man in heißer Liebe zu jemandem entbrannt war, wenn einem die Umgebung gleichgültig war, wenn man nur den Menschen sah, zu dem man in Leidenschaft entbrannt war.

Inge wusste, dass sie sich mit solchen Gedanken nur selbst quälte, und sie ärgerte sich auch über sich selbst, dass sie wie Vogel Strauß den Kopf in den Sand steckte, statt Werner mit ihrem Wissen zu konfrontieren.

Hatte sie nicht am eigenen Leib erfahren, welch bittere Folgen es haben konnte, wenn man zu feige war, die Wahrheit auszusprechen?

Sie und Werner hatten es immer wieder hinausgeschoben, Pamela zu sagen, dass sie keine echte Auerbach war, dass man sie adoptiert hatte, dass sie aber das Kind ihrer Herzen war.

Es war ihnen um die Ohren geflogen, denn unglücklicherweise hatte es Pamela in der Eisdiele, ausgerechnet dort, durch einen dummen Zufall durch das zufällig gehörte Gespräch von zwei schwatzsüchtigen Frauen erfahren.

Hatte sie nichts daraus gelernt? Wollte sie warten, bis Werner zu ihr kam, um sie um die Scheidung zu bitten, weil er mit dieser anderen Frau den Rest seines Lebens verbringen wollte?

Sie bekam eine Gänsehaut, war wie gelähmt, sie vergaß vor lauter Entsetzen sogar für einen Moment zu atmen.

Werner und eine andere Frau!

Das war so unvorstellbar, dass es ihr körperlich wehtat.

Inge zuckte zusammen, als es an der Haustür Sturm klingelte. Sie riss sich zusammen, lief zur Tür, um zu öffnen, ehe jemand, der es eilig zu haben schien, noch die Klingel abriss.

Vor der Tür stand Rosmarie Rückert, mit der hätte sie nun überhaupt nicht gerechnet, doch sie freute sich.

Rosmarie fiel ihr um den Hals.

»Ich wollte schon wieder gehen, hast du mein Klingeln nicht gehört? Ich habe mir schon den Finger plattgedrückt.«

Sie hatte es nicht gehört, weil sie in ihre düsteren Gedanken versunken gewesen war.

»Rosmarie, schön, dass du da bist. Wann seid ihr zurückgekommen? Und lass dich mal ansehen, du siehst ganz anders aus. Aber das gefällt mir.«

Rosmarie lachte.

»Wir kamen gestern am Abend zurück, und ja, ich sehe anders aus, beinahe so wie du, ich meine, was die Kleidung anbelangt. Von all meinen Sachen konnte ich natürlich nichts gebrauchen für unser Leben im Wohnwagen. Da muss alles bequem sein, leicht zu waschen, unempfindlich. Bekomme ich einen Kaffee, Inge?«

»Ja klar, und wie du weißt, brauchst du auf den bei mir nicht zu warten, der steht immer da.«

Rosmarie hatte ihre Haare ganz kurz schneiden lassen, sie trug eine ein wenig ausgebleichte Jeans, ein kariertes Hemd und Turnschuhe, statt einer ihrer Designeruhren hatte sie an ihrem Handgelenk eine preiswerte No-Name-Uhr. Früher wäre das für Rosmarie undenkbar gewesen, so wäre sie auch nicht unter einer Strafandrohung aus dem Haus gegangen. Jetzt war es für sie eine Selbstverständlichkeit.

Es war unglaublich, wie sehr Rosmarie sich verändert hatte.

Sie gingen in die gemütliche Wohnküche, Rosmarie ließ sich auf einen Stuhl fallen und sagte: »Hast du zum Kaffee vielleicht auch etwas Süßes? Kekse, Kuchen, am liebsten beides. All diese Köstlichkeiten, die du da so zauberst, die habe ich unterwegs sehr vermisst.«

Inge servierte den Kaffee, stellte Kuchen und Kekse hin, was Rosmarie sehr erfreute, dann setzte sie sich ebenfalls und betrachtete ihr Gegenüber erst einmal.

Rosmaries Haut war, bedingt durch das Leben mehr oder weniger im Freien, tiefbraun. Es hatten sich allerdings auch einigen Falten darin eingegraben, was Rosmarie nichts auszumachen schien. Die andere Rosmarie, die von früher, die wäre jetzt entsetzt und würde sofort den nächsten Termin für ein Lifting bei einem Schönheitsdoktor machen. Da war sie Stammgast gewesen, und Inge konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie ihre Mutter Teresa einmal ironisch gesagt hatte, dass Rosmarie aufpassen müsse, sonst habe sie irgendwann den Bauchnabel mitten im Gesicht.

Wie sich die Zeiten geändert hatten, es war schon ganz unglaublich.

Rosmarie stopfte wahllos Kuchen und Kekse in sich hinein, und als sie sich entspannt zurücklehnte, forderte Inge sie auf: »Los, und nun erzähl mal, wie es war.«

Sie war so froh, dass Rosmarie gekommen war, denn sie war nun von ihren eigenen Problemen abgelenkt, über die sie natürlich jetzt nicht sprechen würde. Das hatte Zeit. Jetzt war Rosmarie erst einmal an der Reihe.

»Ach weißt du, Inge, wir waren so heiß auf das Reisen mit Jeep und Wohnwagen, dass wir am liebsten durch ganz Europa gekurvt wären. Dann haben wir uns dazu entschlossen, es langsam angehen zu lassen. Wir wollten es genießen, und dennoch haben wir viele Kilometer heruntergeschrubbt auf unserer Fahrt durch Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Wir wollten Land und Leute kennenlernen, das haben wir ein wenig geschafft.« Ihre Stimme wurde leiser, sie blickte nachdenklich auf ihren Teller, auf dem nur noch ein paar Kuchenkrümel lagen, die sie jetzt mit dem Finger auftippte. »Inge, es ist etwas ganz Unglaubliches geschehen, Heinz und ich sind dabei, uns kennenzulernen. Wir waren auf einem guten Weg, aber leider mussten wir zurückkommen, weil es in seinem Notariat um einen ganz großen Fall geht, den man nur von Heinz beurkunden lassen will. Sonst wären wir jetzt auf dem Weg in ein anderes Land. Aber, aufgeschoben, das ist nicht aufgehoben.«

Inge schwirrte ein wenig der Kopf von allem, was Rosmarie da gesagt hatte. Eines allerdings interessierte sie so sehr, dass sie es hinterfragen musste. »Rosmarie, was meinst du damit, dass ihr auf dem Weg seid, euch kennenzulernen.«

Rosmarie antwortete nicht sofort, sie nahm sich erst einmal ein weiteres Stück Kuchen, und nachdem sie etwas davon gegessen hatte, sagte sie leise: »Inge, Heinz ist ganz anders. Er ist unternehmungslustig, witzig, zärtlich, mit ihm kann man lachen. Ich konnte es nie verstehen, doch jetzt begreife ich es allmählich, warum sich Adrienne Raymond, eine Tochter aus reichem Hause, in ihn verliebt hat und warum es für sie nach Heinz keinen anderen Mann gegeben hat. Es war sehr tragisch, dass das Schicksal sie getrennt hat, und nicht nur sie scheint unter der Trennung gelitten zu haben, auch Heinz hat es unglaublich zugesetzt. Er hat nach der Trennung sein Herz unter einem dicken Panzer versteckt.«

»Und als du ihm begegnet bist, konntest du das Eis nicht zum Schmelzen bringen?«

Rosmarie wurde rot.

»Ach, Inge, daran war ich doch überhaupt nicht interessiert. Heinz passte nicht in mein Beuteschema, ich war nur an dem Geld interessiert, das er in reichem Maße besaß, und ich fand ihn nett. Oberflächlich gesehen hat unsere Ehe ja auch funktioniert, wir waren ein gutes Team, das nebeneinander perfekt funktionierte. Ich, die früher mit jedem Cent rechnen musste, genoss es, eine reiche Frau zu sein, die sich keine Gedanken darüber machen musste, woher das Geld kam. Heinz ist ein großzügiger Mann. Bei mir hat sich angefangen etwas zu verändern, als Cecile in unser Leben trat, Adriennes und Heinz’ Tochter, von der er keine Ahnung hatte. Die ist, trotz ihres vielen Geldes, im Grunde genommen ein einfacher Mensch, sie trägt ihren Reichtum nicht nach außen, prahlt nicht damit. Das hat mich beschämt. Auch du und Teresa, ihr habt sehr dazu beigetragen, dass ich mich verändert habe. Heinz hat es erschreckt, weil er auf einmal mit Geld nicht mehr alles regeln konnte, und er hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten würde, ließe er mich in sein Herz blicken.«

Sie war still, vergaß sogar, weiter ihren Kuchen zu essen, auch Inge hing ihren Gedanken nach. Sie war es schließlich, die wieder das Wort ergriff.

»Wenn du ihm nicht gesagt hättest, dass du allein verreisen wolltest, dann wäre nichts anders geworden. Ihr hättet weiterhin nebeneinander hergelebt.«

»Und wir hätten nichts voneinander gewusst. Sieh mal, das mit dem Jeep und dem Wohnwagen, das war seine Idee. Hättest du ihm so etwas zugetraut?«

»Nein, nie«, antwortete Inge ganz spontan, und das stimmte ja auch. Er war der Schwiegervater von Ricky, der Ex-Schwiegervater von Jörg. Sie hatten sich sehr häufig getroffen, doch in Heinz hatte Inge immer nur den langweiligen Notar gesehen.

Ja, es war so zutreffend, dass man Menschen immer nur vor den Kopf gucken sollte. Und, ehrlich gesagt, hatte ihr das auch gereicht. Heinz Rückert war klug, aber durch und durch dröge, so hatte sie ihn zumindest gesehen, und da schien sie sich, wie alle anderen, gründlich getäuscht zu haben.

»Wir sind uns ganz allmählich und auch sehr vorsichtig nähergekommen, und entscheidend war ein Abend in einem Fadolokal in Lissabon. Wir hatten einen sehr schönen Tag, haben wunderbaren Eintopf gegessen, eine Cata Plana, das ist ein Gericht mit Fisch, Fleisch, Kartoffeln, herrlichen Gewürzen, auch Wurst. Früher war es so etwas wie ein Armeleuteessen, in das man alles hineinschnitt, was man im Hause hatte. Mittlerweile ist es eine köstliche Spezialität mit den erlesensten Zutaten. Wir haben Wein getrunken, und dann hatte Heinz die Idee mit dem Fado. Es war ein schlichtes Lokal, doch es war rappelvoll, weil die Sängerin wohl sehr bekannt und beliebt war. Ich verstehe kein Portugiesisch, doch neben uns saß eine Frau, die ihrem Begleiter den Text übersetzt hat. Es handelte von einer verlorenen Liebe, die über den Tod hinaus hielt, von einer Frau, die mit ihrem Kind allein war, das doch die Tränen eines zerbrochenen Herzens nicht löschen konnte, von der Hoffnung, dem Geliebten unter den Farben des Regenbogens wieder zu begegnen.«

»Mein Gott, es ist die Geschichte von Heinz und Adrienne«, entfuhr es Inge.

Rosmarie nickte.

»Ja, und ich habe Heinz bei diesem Lied auch zum ersten Mal im Leben weinen gesehen«, sagte sie und hatte bei diesen Worten selbst Tränen in den Augen. »Heinz hat mich ungewollt in seine Seele blicken lassen, doch danach hat es sich zwischen uns verändert. Wir wurden offener zueinander, und die viele Zeit, die wir miteinander allein verbracht haben, hat ebenfalls dazu beigetragen, dass wir uns näherkamen. Stell dir das mal vor, wir waren mitten in der Einsamkeit, ohne Fernsehen, ohne Ablenkung, es gab nur Heinz und mich. Es war ringsum so still, dass wir hören konnten, wie die Fische im Wasser an die Oberfläche kamen und nach Luft schnappten.«

»Rosmarie, jetzt übertreibst du, doch um eine Situation zu schildern, lasse ich es gelten. Es fällt mir schwerer, dich und Heinz so zu erleben.«

»Inge, das hätte ich ebenfalls nicht für möglich gehalten, aber du glaubst überhaupt nicht, was passiert, wenn man dem anderen gegenüber offen ist, ihn in seine Seele blicken lässt, in sein Herz … es entsteht eine Nähe, die man überall an seinem Körper spürt … es ist ein Wunder, es ist wie ein kleines Pflänzchen, das man vor dem Frost schützen muss, damit es nicht eingeht … das hat Heinz gesagt.«

Es wurde immer unglaublicher, Inge glaubte, sich verhört zu haben, deswegen hinterfragte sie es und bekam erneut die Bestätigung.

Rosmarie blickte Inge an.

»Weißt du, Inge, für dich ist das wahrscheinlich nicht nachvollziehbar. Werner und du, ihr seid eine unzerstörbare Einheit, ihr habt euch immer geliebt. Bei euch war es von Anfang an anders als bei Heinz und mir. Bei euch war es so, wie man es sich wünscht, aber nur selten in der reinen Form bekommt, wie Werner und du es vorlebt. Aber Heinz und ich bemühen uns, wir haben uns fest versprochen, miteinander ehrlich zu sein, und wir werden wieder auf Reisen gehen. Aber vorerst bin ich wieder in sein Schlafzimmer eingezogen, und das fühlt sich so gut an. Inge, ich kann es selbst noch nicht glauben, aber ich liebe meinen Mann, und ich weiß, dass auch er mich liebt. Anders als damals Adrienne. Man kann Menschen auf unterschiedlichste Weise lieben, es muss nur das Herz dabei sein.«

Warum musste Inge bloß immer an Werner und diese Frau denken? Hatte er ihr sein Herz geschenkt? Ein furchtbarer Gedanke. Es zerriss sie beinahe, und nun war es auch mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei, sie konnte die Tränen nicht verhindern, die ihr jetzt in die Augen schossen, über ihr Gesicht rollten.

»Inge, was ist geschehen? Warum weinst du denn?«, erkundigte Rosmarie sich ganz erschrocken.

Sie konnte ihr jetzt nicht die Wahrheit sagen, sie war sehr froh, jetzt einen Vorwand zu haben. Das, was Rosmarie und Heinz miteinander erlebt hatten, noch erlebten, das war wunderschön. Das konnte sie jetzt nicht damit zerstören, dass ihr Mann sie betrog.

»Ich … ach … ich freue mich so sehr für dich und Heinz«, stammelte sie, und das nahm Rosmarie ihr ab, die auch gleich noch ein paar andere, sehr gefühlvolle Geschichten parat hatte, die sie Inge unbedingt erzählen musste. Und dabei warf sie hier und da ein paar französische Worte ein.

»Inge, ich bin ja so froh, dass ich in die Sprachenschule ging, und das werde ich auch beibehalten, und noch mehr danke ich dir dafür, dass du mit mir so fleißig geübt hast. Mit der französischen Sprache geht es schon ganz gut, ich überlege, ob ich nicht nebenbei noch einen Sprachkurs besuchen soll, ich weiß nur noch nicht, was. Wusstest du, dass Heinz nahezu perfekt Portugiesisch, Spanisch und Italienisch spricht? Neben ihm komme ich mir ganz schön dämlich vor. Dass mit Französisch, das wusste ich, er hat schließlich als Student in Paris gelebt, sonst hätte er ja auch nicht Adrienne kennengelernt.«

»Bist du eigentlich eifersüchtig auf sie? Sie war schließlich seine große Liebe.«

»Nein, Inge, das war vor meiner Zeit, man soll sich nicht mit der Vergangenheit aufhalten, sonst müssten wir ja auch über all die verlorenen Jahre nachdenken, in denen wir aneinander vorbeigelebt hatten. Ich möchte mit Heinz neu anfangen, er will es mit mir, und das ist aufregend. Und wenn wir dann auch noch die Herzen unserer Kinder gewinnen könnten, das wäre ein ganz großes Geschenk.«

»Mit Fabian und dir, das klappt doch schon sehr gut, und er wird sich ganz gewiss auch seinem Vater zuwenden, wenn er erst einmal sieht, dass er in Wirklichkeit ganz anders ist.«

»Es ist zu hoffen«, sagte Rosmarie leise. »Und Stella … hat Jörg noch etwas von ihr gehört? Weiß er, wie es ihr und den Kindern geht?«

Inge schüttelte den Kopf.

»Sie will keinen Kontakt, und sie möchte auch nicht, dass Jörg sich bei ihnen meldet.«

»Aber er ist der Vater.«

»Ja, das ist er, aber soll er eine Vaterschaftsklage nach Brasilien schicken? Soll er ein Sorgerecht einklagen, das über diese Distanz überhaupt nicht durchführbar ist? Es wären die Kinder, die darunter zu leiden hätten. Schweren Herzens hat Jörg verzichtet, um der Kinder willen. Aber ich glaube, er führt ein Tagebuch, dem er anvertraut, wie sehr er unter der Trennung leidet und wie nahe er seinen Kindern immer bleiben wird, auch wenn sie von ihm so weit entfernt sind.«

Rosmarie seufzte.

»Inge, ich werde niemals ­begreifen, welcher Teufel ­meine Tochter geritten hat, einen Mann wie Jörg zu ver­lassen. Bei ihm hatte sie doch den Himmel auf Erden. Und wenn sie sich auch noch in ­einen Mann verliebt hätte, der­ ­altersmäßig zu ihr passt, dann könnte ich es einigermaßen nachvollziehen, begreifen könnte ich es allerdings niemals. Was will sie mit einem alten Mann, der ihr Vater sein könnte. Kannst du mir das sagen, Inge?«

»Nein, kann ich nicht, vielleicht sucht sie bei ihm all das, was sie bei ihrem Vater nicht finden konnte, Geborgenheit, einen Halt.«

Das wollte Rosmarie jetzt nicht hören, denn das konfrontierte sie mit der Vergangenheit, in der Heinz und sie keine liebevollen Eltern gewesen waren.

»Wie auch immer, sie sagt es uns ja nicht, außerdem muss ich jetzt gehen. Heinz und ich wollen zusammen bei einem Italiener, der gerade aufgemacht hat und sehr gut sein soll, essen gehen. Und ich möchte mit Beauty und Missie vorher noch eine kleine Runde drehen. Du glaubst nicht, wie die sich gefreut haben, sie waren außer Rand und Band. Wenn Heinz und ich das nächste Mal losfahren, das wird ja dann nicht so überstürzt sein, dann nehmen wir unsere beiden schönen Mädchen mit. Wir haben sie so sehr vermisst, Heinz will sich darum kümmern, dass sie geimpft werden und die nötigen Papiere erhalten. Inge, es war schön, dich gesehen zu haben, dich habe ich ebenfalls vermisst, vor allem unsere schönen Gespräche. Du warst für mich immer so etwas wie ein Fels in der Brandung, und wie oft habe ich dich und Werner um eure glückliche Ehe beneidet. Aber Heinz und ich sind auf einem guten, auf einem sehr guten Weg. Kann ich den Rest des Kuchens und die Kekse mitnehmen?«

Gut, dass Inge jetzt nicht auf das mit der glücklichen Ehe eingehen musste, sonst hätte sie erneut angefangen zu weinen, und diesmal hätte sie keine so einfache Erklärung parat gehabt.

Sie packte die Kekse und den Kuchen ein, sogar noch etwas mehr, und Rosmarie zog nach einer stürmischen Umarmung, einem munteren Wortschwall davon.

Inge begleitete sie zur Tür und winkte ihr nach, bis von ihr und ihrem schnittigen Sportwagen nichts mehr zu sehen war.

Was für eine unglaubliche Geschichte, die musste sie doch sofort ihrer Mutter erzählen! Die würde vielleicht staunen, denn die hatte von Heinz Rückert auch einen ganz anderen Eindruck.

Als Rosmarie erzählt hatte, war Inge mehr als nur einmal der Meinung gewesen, sie spräche über einen ganz anderen Mann.

Sie freute sich wirklich für Rosmarie und Heinz, die so viele lange Jahre an ihrem wahren Leben vorbeigelebt hatten. Wie war es denn mit ihr und Werner?

Nein!

Daran wollte sie jetzt nicht denken, denn dann würden ihr unweigerlich die Tränen kommen, und sie konnte ihrer Mutter nicht immer weismachen, dass die von einer Allergie kamen. Ihre Mutter war zwar alt, aber sie war nicht dumm. Außerdem brachten Tränen überhaupt nichts.

Ehe sie das Haus ihrer Eltern betrat, nahm Inge sich ganz fest vor, mit Werner zu sprechen, ihn mit dem, was sie gesehen hatte, zu konfrontieren.

Ihre Mutter hatte sie kommen sehen, denn sie öffnete ihr die Tür.

»Mama, Rosmarie war hier.«

»Ja, ich habe deren Wagen gesehen, dann sind sie also zurück. Haben sie es miteinander nicht länger ausgehalten?«

»Mama, du wirst es nicht glauben, es ist das Gegenteil eingetreten, Rosmarie und Heinz sind sich so nahe wie nie zuvor in ihrem Leben.«

Teresa war nur einen Moment lang verdutzt, dann zerrte sie ihre Tochter ins Haus.

»Das möchte ich aber jetzt hören, alles …«

Ihre Mutter behauptete ja immer, überhaupt nicht neugierig zu sein, dachte Inge und musste leicht schmunzeln. Was war denn dann bitte schön das jetzt?

Da Teresa ihre Tochter kannte, servierte sie ihr rasch einen Kaffee, dann setzte sie sich hin und blickte Inge erwartungsvoll an. Und die begann zu erzählen, es war aber auch eine zu schöne Geschichte.

So etwas erzählte man gern, weil es sich leider nicht häufig ereignete.

*

Angela von Bergen war gut drauf. Mathias von Hilgenberg hatte ihr nicht nur eine großzügige Abfindung gezahlt, sondern er hatte für sie auch einen Kontakt mit einem Kinderbuchverleger hergestellt. Mit dem hatte sie sich heute getroffen, und sie waren sich einig geworden. Sie würde künftighin für den Kleve-Verlag Kinderbücher übersetzen, und Bert von Kleve hatte ihr sogar schon ein Manuskript in französischer Sprache mitgebracht, ihr erster Auftrag.

Angela sprach mehrere Sprachen, doch sie war sich sicher, dass sie ohne Mathias von Hilgenberg niemals einen Fuß in den Verlag hineinbekommen hätte, auch nicht, weil sie ebenfalls eine ›von‹ war. Davon gab es genug. In solchen Fällen zählte nur eines, und das war ›Vitamin B‹.

Wie auch immer, sie hatte es geschafft, man hatte sie genommen, Bert von Kleve war ein sympathischer Mann, mit dem sie sich gut verstand. Und das übersetzen von Kinderbüchern, das war immer schon ihr heimlicher Traum gewesen, und sie hätte niemals für möglich gehalten, dass der sich jemals erfüllen würde.

Sie war so gut drauf, dass sie sich beim Frisur eine neue, eine sehr modische Kurzhaarfrisur machen ließ, sie kaufte sich ein Paar Schuhe, die sie mehr als nur einmal umschlichen, aber aus Vernunftsgründen nicht gekauft hatte. Und dann besorgte sie für ihre Mutter im schönsten Blumengeschäft der Stadt auch noch wunderschöne Blumen, ohne auf den Preis zu achten.

Was für ein wunderschöner Tag, und ihre Mama, die fieberte gewiss bereits ihrer Rückkehr entgegen. Doch Angela wollte es ihr persönlich, nicht am Telefon erzählen.

Es war ja so gut gelaufen!

Angela hätte in ihren kühnsten Träumen nicht damit gerechnet, direkt einen Auftrag zu bekommen, und das noch zu hervorragenden Konditionen.

Sie würde sich direkt bei Mathias bedanken. Das war so nett von ihm gewesen.

Aber erst war ihre Mama dran.

Die würde Augen machen!

Ihre Mutter war ja jetzt glücklicherweise nicht mehr auf ihre Hilfe angewiesen, doch dass sie ihre Übersetzungen von daheim aus machen konnte, das war großartig. Besser ging es nicht.

Angela parkte ihren Wagen in der Einfahrt, dann stürmte sie ins Haus.

»Mama, ich muss dir etwas Unglaubliches erzählen«, rief sie atemlos vor Glück, »weißt du, was …«

Sie brach ihren Satz ab.

Was war das denn?

Das konnte jetzt nicht wahr sein.

Am Wohnzimmertisch saßen ihre Mutter und … ihr Exmann Wim Halbach.

»Was willst du denn hier?«, herrschte sie ihn an, ohne ihn zu begrüßen.

»Kind, ich habe Herrn Halbach hereingelassen, weil er unbedingt mit dir reden muss.«

Sie sprach nicht mehr von Wim, deinem Mann, nein, seit der unerfreulichen Scheidung war es Herr Halbach, dessen Namen ihre Tochter zum Glück nicht mehr trug. Sie hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen, und dafür hatte die energische Teresa von Roth gesorgt.

»Ich bin gekommen, weil ich finde, dass es an der Zeit ist, dass wir die Vergangenheit vergessen. Deiner Mutter geht es wieder gut, wie ich sehe, ich bin bereit, unter alles einen Strich zu ziehen, auch darunter, dass du deinen Mädchennamen angenommen hast, so kann es meinetwegen bleiben, viele Frauen behalten ja ihren Namen, das ist heute so. Leider.«

»Noch einmal, was willst du?«

Er blickte sie an.

»Ganz einfach, ich will dich zurück. Es war ein großer Fehler von mir, dich gehen zu lassen. Du siehst übrigens sehr hübsch aus, die neue Frisur steht dir.«

Angela stand immer noch mitten im Raum, sie hielt den Blumenstrauß in der Hand. Sophia war geistesgegenwärtig genug, jetzt aufzustehen, ihr den Blumenstrauß abzunehmen.

»Mama, bitte bleib. Ich habe mir mit Herrn Halbach nichts mehr zu sagen.«

»Ich will doch bloß diese wunderschönen Blumen ins Wasser stellen«, sagte Sophia beinahe ein wenig kleinlaut. Das war vorgeschoben, Angela kannte ihre Mutter. Die war ein höflicher Mensch und hatte längst bereut, ihren ehemaligen Schwiegersohn aus lauter Höflichkeit ins Haus zu lassen.

Sie hatten sich nichts zu sagen, hatten sich noch niemals etwas zu sagen gehabt. Und Sophia hatte nie verstanden, warum ihr einziges Kind ausgerechnet diesen Menschen geheiratet hatte.

Sophia verschwand, und Angela war sich sicher, dass sie auch nicht zurückkommen würde, solange der ungebetene Besucher im Haus war.

Wim Halbach stand auf, wollte auf Angela zugehen, doch die wich aus.

»Bitte geh jetzt und komme niemals mehr hierher.«

Er ignorierte es.

»Mein Gott, ja, ich habe Fehler gemacht. Es war nicht sehr gentlemanlike, wie ich mich verhalten habe. Das gebe ich ja zu. Aber ich war verletzt, weil du mich verlassen hast.«

Damit sollte er erst überhaupt nicht anfangen.

»Und warum habe ich dich verlassen? Weil in der riesigen Villa, in der man sich aus dem Weg hätte gehen können, für meine Mutter nach deren Unfall kein Platz war. Ich werde niemals vergessen, wie du eiskalt sagtest, in deinem Haus sei für Krüppel kein Platz.«

»Herrgott, leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage, es tut mir leid. Auch die Scheidung, es war dumm von mir, das übereilt durchzuziehen. Ich möchte, dass du zu mir zurückkommst.«

Sie schenkte ihm einen verächtlichen Blick.

Er hatte ihr so viel angetan, wie hatte sie unter ihm und seiner Hartherzigkeit gelitten. In ein Heim hatte er ihre Mutter abschieben wollen, und dort wäre sie seelisch und körperlich verkümmert.

»Ich möchte aber nicht zu dir zurück, Wim. Niemals, durch dein Verhalten hast du alle Türen zugeschlagen. Und jetzt bitte ich dich zum letzten Male zu gehen.«

War er taub?

»Deine Mutter ist ja wieder ganz gut zurecht, meinetwegen kann die mitkommen, so ist sie ja nett. Du hast kein Geld, einen Job wirst du nicht mehr finden. Willst du irgendwann mal ein Sozialfall werden, und das nur aus falsch verstandenem Stolz? Angela, besinn dich. Wir hatten doch eine gute Zeit miteinander, ich war großzügig, und sei doch jetzt nicht nachtragend. Mehr als entschuldigen kann ich mich nicht. Wenn du willst, dann kaufe ich dir ein neues Auto, du bekommst den Schmuck, den du willst, du kannst …«

Sie ging zur Tür, öffnete die, dann sagte sie mit eiskalter Stimme: »Wenn du jetzt nicht gehst, dann hole ich die Polizei, verschwinde, und lass dich hier niemals mehr blicken.«

Er konnte es nicht fassen. Er hatte so fest damit gerechnet, dass sie zurückkommen würde. Sie hatte perfekt seine Geschäftsfreunde bewirtet, war die richtige Frau an seiner Seite gewesen, auch wenn der Adel abgeschafft worden war, ein Titel nur noch Bestandteil eines Namens war. Es hatte ihm gefallen, eine ›von‹ geheiratet zu haben, und das hatte seine Geschäftsfreunde beeindruckt, nicht nur das, durch ihr gutes Benehmen, ihren Stil, ihre Fremdsprachen, die sie fließend beherrschte, war sie etwas Besonderes.

»Verflixt noch mal, Angela. Was soll ich denn jetzt noch tun?«, begehrte er auf. »Einen Stepptanz machen? Vor dir auf die Knie fallen? Sag, was du willst, und ich werde alles tun, um dich zu besänftigen.«

»Ich sag dir, was du jetzt tun sollst, Wim«, sagte Angela leise, und sie wunderte sich selbst, wie ruhig ihre Stimme klang. Innerlich sah es ganz anders aus. Sie war zwar längst fertig mit ihrem Ex, doch wenn sie ihn sah, dann kam alles wieder hoch, was er ihr angetan, wie er mit ihr umgegangen war. Ganz so, als sei sie seine Sklavin gewesen, mit der man tun konnte, was man wollte. »Geh jetzt, sofort, und das sage ich jetzt wirklich zum allerletzten Male.«

Sie meinte es ernst, denn jetzt öffnete sie auch noch die Haustür. Er hatte keine andere Wahl, wusste, dass er jetzt nichts anderes machen konnte, als sich ihrer Aufforderung zu beugen. So, wie Angela jetzt drauf war, würde sie es zu einem Eklat kommen lassen. Sie würde ihre Drohung wahr machen und die Polizei rufen.

Und seinen Namen in einer Polizeiakte zu finden, das ging überhaupt nicht. Mit seinen Geschäften bewegte er sich häufig am Rande der Legalität, da verhielt man sich ruhig. Da machte man nicht auf sich aufmerksam. Er konnte nur froh sein, dass von diesen Geschäften Angela nichts wusste. Wie hätte er ihr es denn auch sagen können, die hätte ihm doch das Leben zur Hölle gemacht, und vielleicht würde sie es jetzt gegen ihn verwenden. Er hätte es zumindest getan. Er war immer auf seinen Vorteil bedacht, und er bekam, was er wollte. Es wurmte ihn deswegen sehr, dass er bei seiner Exfrau einfach nicht zum Zuge kam.

Warum war er auch so blöd gewesen!

Angela war der seriöse Part in seinem Leben gewesen. Mit ihr an seiner Seite wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass es nicht immer alles ganz koscher war, was er da so tat, um ein Geschäft für sich zu machen, das viel Geld einbrachte.

Er ärgerte sich maßlos über sich selbst. Er hatte alles vermasselt. Doch hätte er denn damit rechnen können, dass die Alte sich wieder so gut erholen würde?

Als er an Angela vorbeiging, trat sie einen Schritt zurück und blickte angestrengt zur Seite.

»Ich warne dich. Wenn du hier noch einmal auftauchst, dann wird es Konsequenzen für dich haben. Das ist jetzt keine leere Drohung, sondern es ist mein voller Ernst. Verschwinde aus meinem Leben.«

Dann knallte sie hinter ihm die Haustür zu, und ehe sie wieder ins Wohnzimmer ging, hörte sie, wie er mit seinem Auto davonbrauste, das sie vorher im Überschwang ihrer Gefühle überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Wie hatte sie auch damit rechnen können, dass ihr Exmann erneut auftauchen würde? Bei seinem letzten Versuch, sie wieder an seine Seite zu bekommen, hatte sie ihm deutlich gemacht, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Aber er gehörte halt zu den Menschen, die glaubten, sich mit ihrem Geld alles erkaufen zu können. Sie nicht, sie war nicht käuflich.

Als sie ins Wohnzimmer kam, stand ihre Mutter mitten im Raum, sie hielt die Vase mit den Blumen noch immer in der Hand und sagte: »Es tut mir ja so leid, mein Kind. Irgendwie hat er mich überrumpelt, und ich konnte ihn doch auch nicht vor der Haustür stehen lassen. So etwas gehört sich nicht.«

So war sie, ihre Mutter, sie würde auch noch ihren ärgsten Feind ins Haus lassen, weil es Umgangsformen gab, die man nicht brechen durfte.

»Ist schon gut, Mama. Ich hoffe, er hat dich nicht allzu sehr belästigt.«

»Nein, er war ja nicht lange hier, und eigentlich haben wir kaum miteinander gesprochen. Wir hatten uns ja nie viel zu sagen. Zum Glück ist er jetzt weg. Sag mal, Kind, wohin soll ich denn diese wunderschönen Blumen stellen?«

»Mama, das musst du selbst entscheiden, denn die sind für dich. Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt. Dieser Mann hat alles durcheinandergebracht. Es gibt nämlich einen Grund zur Freude. Ich kann für den Kleve-Verlag als Übersetzerin arbeiten, und ich habe sogar schon den ersten Auftrag in der Tasche.«

Sophia von Bergen begann zu strahlen. Sie hatte sich solche Sorgen gemacht, seit sie ihren Posten als Eventmanagerin bei Mathias von Hilgenberg verloren hatte.

»Das ist wunderbar, Angela.«

»Ja, Mama, das ist es, und ich muss mich auch sofort bei Mathias bedanken, denn ohne ihn hätte ich den Job niemals bekommen.«

»Ja, er hat einen guten Charakter, der Mathias, er ist halt ein echter Hilgenberg, er weiß, was Verantwortung ist und wie man damit umgeht.«

Angela wollte ihrer Mutter jetzt nicht widersprechen, denn sie war durchaus nicht der Meinung, dass man etwas Besonderes war, wenn man aus einem alten, traditionsreichen Adelsgeschlecht stammte. Auch da gab es schwarze Schafe, mehr sogar, als einem lieb war.

Zum Glück begann ihre Mutter jetzt, über die neue Frisur zu sprechen, und Angela ging dankbar auf dieses Thema ein. Und dann erzählte sie ihrer Mutter auch noch von den neuen Schuhen, die sie sich gekauft hatte. Auch das freute Sophia.

Allmählich verflog Angelas Ärger, und sie konnte sich über die wunderbaren Ereignisse des Tages wieder freuen. Sie war so dankbar, und es stimmte wirklich, wenn eine Tür sich schloss, dann tat sich eine andere auf …

Angela begann begeistert über Bert von Kleve zu reden, über das Manuskript, dass sie übersetzen sollte. Sophia hörte ihrer Tochter zu und blickte sie geradezu verzückt an. Die neue Frisur stand ihrer Angela wirklich ausgezeichnet, sie war ein so wundervoller Mensch.

Wenn Sophia jetzt einen Wunsch frei hätte, dann wüsste sie, was sie sich wünschen würde … einen liebenswerten, kultivierten Ehemann für Angela. Es war ganz großartig, im Sonnenwinkel zu leben, doch hier einen Mann zu finden, das war geradezu ausgeschlossen, da hatte man wohl eher die Chance, von einem Terroristen erschossen zu werden. Ja, leider war das so.

Sophia seufzte, und sofort erkundigte Angela sich: »Ma­ma, was ist los? Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Alles wird gut.«

»Hoffentlich, mein Kind, hoffentlich«, bemerkte Sophia, und Angela konnte sich keinen Reim darauf machen, warum ihre Mutter jetzt nicht jubelte. Es lief doch alles hervorragend, besser konnte es nicht sein.

»Mama, im Kühlschrank steht noch ein kleines Fläschchen Champagner. Ich finde, wir sollten jetzt ein Gläschen auf das, was kommen wird, trinken und alles, was war, einfach vergessen.«

Damit war Sophia einverstanden. Es war zwar nicht Silvester, es fiel gerade auch keine Sternschnuppe vom Himmel. Aber wer sagte denn, dass es eines Ereignisses bedarf, um sich etwas zu wünschen?

»Eine ausgezeichnete Idee, mein Kind. Du holst den Champagner und ich schon mal die Gläser.«

Ehe Angela in die Küche lief, um aus dem Kühlschrank den Champagner zu holen, sah sie zu, wie behände ihre Mutter sich wieder bewegte. In der Wohnung benötigte sie nicht einmal mehr einen Stock. Es war ein Wunder, der Himmel hatte ihre Gebete erhört. Das Leben war schön. Als sich das Gesicht ihres Exmannes in ihre Gedanken schieben wollte, verhinderte sie das. Nein, durch diesen Menschen würde sie sich die gute Laune, dieses Gefühl unendlicher Dankbarkeit nicht mehr vermiesen lassen, niemals mehr.

Es war ein Minifläschchen, das Angela aus dem Kühlschrank holte, aber sie wollten sich auch nicht betrinken. Es sollte ein Gläschen zu einem besonderen Anlass sein, zu einem Neuanfang.

Die wunderschönen Kristallgläser standen bereit, als Angela mit der geöffneten Flasche ins Wohnzimmer kam.

Der edle Champagner perlte fein, als sie ihn in die Gläser goss, dann stießen sie miteinander an. Mutter und Tochter, die gemeinsam durch Höhen und Tiefen gegangen waren. Zwei starke Frauen, die am Schicksal nicht zerbrochen waren, sondern den Kampf aufgenommen und dabei niemals den Mut verloren hatten. Es war so unglaublich beruhigend zu wissen, dass es nur noch besser werden konnte.

»Auf dein Wohl, Mama.«

»Auf dein Wohl, mein Mädchen.« Ein dankbares Lächeln umspielte Sophias fein geschnittene Lippen. Sie wusste zu genau, dass sie es ohne Angela niemals geschafft hätte.

Hell klangen die Gläser aneinander, dann tranken die beiden Damen. Der Champagner schmeckte köstlich.

*

Es war merkwürdig, beinahe schien es, als bröckele die vertraute Nähe, das Gefühl der Zweisamkeit wieder, seit sie wieder daheim waren.

Es war immer noch schön mit ihnen, doch Rosmarie spürte, dass es anders geworden war. Lag es daran, dass Heinz wieder regelmäßig in sein Notariat ging? Oder lag es an der kalten Pracht ihrer großen Villa?

Ja, vermutlich war es das. In diesen vielen großen Räumen konnte ja überhaupt keine Nähe aufkommen, wie man sie empfand, wenn man sich nur auf den paar Quadratmetern eines Wohnwagens bewegen konnte.

Rosmarie sehnte sich nach dem einfach Leben mit ihm zurück. Das war ein frommer Wunsch, denn ihr war schon zu Beginn der Reise bewusst gewesen, dass es eine Reise mit Wiederkehr sein würde.

In den ersten Tagen ihres Hierseins träumte sie noch von all dem Schönen, was gewesen war. Doch die Träume verflüchtigten sich. Der Alltag holte sie ein. Und sie empfand das Leben in der Villa noch viel belastender als zuvor. Sie hatte die Einfachheit des Lebens kennengelernt, hatte begriffen, dass man mit so wenig auskommen konnte, wenn man glücklich und zufrieden war. Man versuchte nur, nach den Sternen zu greifen, sich mit allem Materiellen einzudecken, wenn es eine Unzufriedenheit gab. Das hatte sie früher ja ebenfalls geglaubt, deswegen konnte sie niemanden verachten.

Sie war so froh, es begriffen zu haben. Es machte ihr Leben um vieles leichter, und wäre sie vorher zu der Erkenntnis gekommen, dann hätte es diese prachtvolle, ehrlicher gesagt, diese protzige Villa nie gegeben.

Welcher Teufel hatte sie da bloß geritten, immer mehr, es immer größer, immer prunkvoller haben zu wollen. Es musste eine andere gewesen sein. Damit konnte sie sich keinen Sand in die Augen streuen, es war ihr Wunsch gewesen, und Heinz hatte nachgegeben. Sie konnte es leider nicht auf ihn schieben.

Wenn sich doch bloß ein Käufer fände!

Den gab es in Hohenborn auf jeden Fall nicht. Und es war leider, leider auch kaum vorstellbar, dass ein Ölscheich hier vorbeikam, den diese Pracht entzückte und der sie unbedingt haben wollte.

Die Villa zu besitzen, das war eine Last, mittlerweile war es für Rosmarie sogar eine Strafe.

Sie musste jetzt ganz höllisch aufpassen, dass sich zwischen ihr und Heinz nicht wieder Kälte und Gleichgültigkeit breit machten. Das Pflänzchen ihrer füreinander entdeckten Liebe war noch sehr zart, jede Erschütterung konnte es ersterben lassen.

Nein!

Rosmarie war entsetzt, so durfte sie nicht denken, sie würde um Heinz kämpfen, um den Heinz, der sich ihr in der Einsamkeit von Wäldern, von Seen, am Ufer von träge dahinfließenden Strömen und unter einem unglaublichen Sternenhimmel gezeigt hatte. Sie hatte in seine Seele gesehen, und die war verletzlich.

Sie durfte ihn nicht wieder verlieren!

Er durfte nicht mehr der Mann werden, der keine Gefühle preisgab, um nicht verletzt zu werden.

Fabian sollte seinen Vater so erleben, damit er ein anderes Bild von ihm bekam, damit Vater und Sohn sich einander annähern konnten. Und Stella … Rosmarie wurde traurig … würden sie je wieder etwas von ihrer Tochter hören? Hatte Stella sich für immer von ihnen abgewandt und war bis nach Brasilien geflohen, um sie nicht mehr treffen zu müssen?

Rosmarie merkte, wie ihre Stimmung kippte, und das war überhaupt nicht gut.

Spürten Beauty und Missie die Veränderung? Sie wichen, seit sie zurückgekommen waren, kam von ihrer Seite. Auch jetzt kamen sie angelaufen, und Missie, zweifelsfrei die Clevere der beiden Hundedamen, hatte ihre Leine in der Schnauze, was eindeutig eine Aufforderung sein sollte.

Rosmarie beugte sich zu den Hunden hinunter, streichelte sie, dann sagte sie: »Wir gehen gleich, aber erst muss ich noch telefonieren.«

Und als sie tatsächlich zum Telefon griff, begriffen es die beiden, setzten sich abwartend hin, Missie legte ihre Leine neben sich.

Es war so unglaublich bereichernd, die Tiere im Haus zu haben, und Heinz und sie hatten sie unterwegs tatsächlich sehr vermisst.

Das nächste Mal, sollte es tatsächlich ein nächstes Mal geben, würden sie Beauty und Missie mitnehmen, das war ja schon abgemacht.

Rosmarie merkte, wie ihre Stimmung immer mehr kippte, wie die Zweifel immer größer wurden, dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür.

Der Alltag in einer prunkvollen Villa war ein anderer als der in einem Wohnwagen, noch dazu, wenn man überhaupt keine Verpflichtungen hatte.

Sie wählte die Nummer von Inge Auerbach. Rosmarie musste jetzt einfach mit einem vernünftigen Menschen reden. Vielleicht gelang es Inge, sie von ihren trüben Gedanken zu befreien.

Zum Glück meldete die sich auch sofort, und war ganz erstaunt, Rosmarie zu hören. Sie hatten sich gerade erst gesehen.

»Hast du vergessen, mir etwas von eurer wundervollen Reise zu erzählen, was du vergessen hast, als du hier warst? Wofür ich dir übrigens noch mal danken möchte. Du warst so begeistert, hast so plastisch erzählt, dass ich das Gefühl bekam, dabei gewesen zu sein. Rosmarie, ich freue mich so sehr für dich, vor allem, dass du und Heinz jetzt ganz anders miteinander umgeht, dass ihr eure Gefühle füreinander entdeckt habt.«

Die uns davontrudeln, setzte sie in Gedanken hinzu, doch das sprach sie nicht aus.

Auch Rosmarie antwortete nicht sofort. Warum ging sie nicht auf diese Worte ein? Sie war doch verliebt gewesen wie ein Teenie, der zum ersten Male die große Liebe erlebt.

»Rosmarie, ist was passiert?«, erkundigte sie sich deswegen besorgt.

Rosmarie seufzte.

»Noch nicht, Inge, aber ich habe Angst, dass uns das Leben hier auffrisst, dass alles Schöne, was wir unterwegs hatten, verschwindet.«

»Rosmarie, es wird nicht verschwinden, weil ihr das tief in euren Herzen habt. Warum bist du auf einmal so pessimistisch? Gestern konntest du noch Bäume ausreißen.«

»Ich glaube, es liegt daran, dass ich mich hier nicht mehr wohlfühle, weil mich dieses Riesenhaus an die erinnert, die ich einmal war und niemals mehr sein möchte … und ich möchte auch nicht, dass Heinz in seine alten Verhaltensmuster verfällt.«

»Rosmarie, dann rede mit ihm, sprich mit ihm über deine Ängste. So, wie du ihn geschildert hast, wie er sich dir jetzt gegenüber verhält, wird er dir zuhören. Und, Rosmarie, komm erst einmal an.«

Inge gab ihr noch einige Ratschläge, dabei war sie nun wirklich nicht die geeignete Person, sich da hervorzutun. Ihr flog ihr Leben gerade um die Ohren, sie wusste nicht, wie es mit ihr und Werner weitergehen würde. Ob überhaupt, diese junge Frau hatte verdammt gut ausgesehen.

Rosmarie bedankte sich, entschuldigte sich, weil sie ihre Probleme schon wieder bei Inge abgeladen hatte. Dann beschlossen die beiden Frauen, sich in den nächsten Tagen zu sehen. Inge hatte vorgeschlagen, nach Hohenborn zu kommen, was Rosmarie ein wenig verwunderte. Sie konnte ja auch nicht ahnen, dass Inge Werner und die Frau noch einmal sehen wollte. Dann würde sie nämlich den Mund aufmachen, denn so, wie sie sich jetzt verhielt, das war überhaupt nicht gut.

Nachdem das Telefonat beendet war, rief Rosmarie ihren Sohn an. Wenn er frei hatte, würde er sich melden, wenn nicht, würde sie es später noch einmal versuchen.

Sie hatte Glück, Fabian meldete sich, und er schien erfreut zu sein, die Stimme seiner Mutter zu hören. Zwischen ihnen hatte sich ja auch etwas verändert.

Sie befanden sich auf einem Pfad des Friedens, und Rosmarie wollte, dass den auch Heinz betreten sollte.

Nachdem sie ein paar unverbindliche Sätze miteinander gewechselt hatten, kam Rosmarie auf den Grund ihres Anrufes.

»Fabian, wir haben wundervolle Bilder gemacht, die wir euch gern zeigen würden. Außerdem haben wir den Kindern aus jedem Land etwas landesübliches mitgebracht. Können wir uns sehen?«

Damit war Fabian sofort einverstanden.

»Klar, Mama, die Kinder werden sich über die Geschenke freuen, außerdem sind sie verrückt nach Beauty und Missie. Aber ich schlage vor, dass das Treffen dann bei uns stattfindet … es ist wegen der Kinder.«

Das war vorgeschoben. Fabian fand die Villa grauenvoll, die er verächtlich ›Palazzo Protzo‹ nannte. Er und Stella hatten zu der Villa keinen Bezug, denn es war nicht das Haus, in dem sie aufgewachsen waren. Die Kinder waren längst erwachsen gewesen, als Rosmarie die irre Idee gehabt hatte, diesen Palast zu bauen. Für zwei Personen, wohlgemerkt, die nicht mehr ganz taufrisch waren und bei denen mit einer weiteren Familienerweiterung nicht zu rechnen war. Es war vorbei. Sie durfte nicht mehr daran denken, denn es ließ sich durch nichts rückgängig machen.

»Ja, wir kommen auch gern zu euch, Fabian.«

»Prima, und bringt die Hunde mit, sonst wären die Kinder sauer. Und sagt, wann ihr kommen wollt, damit Ricky Zeit genug hat, auch noch einen Kuchen zu backen.«

Das hörte sich doch gut an. Sie versprach Fabian, sich sofort zu melden, wenn sie mit Heinz einen Besuchstermin abgesprochen hatte, und eigentlich konnte sie zufrieden sein, als sie das Telefon wieder weglegte, nachdem Fabian und sie sich noch ein wenig unterhalten hatten.

Sie waren auf einem guten Weg.

So, jetzt musste sie aber nach draußen, sie rief nach Missie und Beauty, und jetzt musste Rosmarie wirklich lachen.

Nun hatten beide Hunde ihre Leinen in der Schnauze und blickten sie erwartungsvoll an.

»Mit euch kann ich ja bald im Zirkus auftreten, wenn es so weitergeht«, Rosmarie streichelte sie, und jetzt musste sie ihnen unbedingt ein Leckerli geben, das hatten sie wirklich verdient.

»Meta, ich bin mit den Hunden weg«, rief sie laut, dann sagte sie: »So, meine Schönen, und nun geht es los. Wir machen einen langen Spaziergang durch den Park, und auf der Hundewiese könnt ihr dann ohne Leine spielen.«

Das quittierten die beiden Hundedamen mit einem leisen »Wuff«, Rosmarie war sich sicher, dass sie jedes Wort von ihr verstanden hatten.

Es waren so prachtvolle Tiere, Rosmarie konnte überhaupt nicht verstehen, wie man so etwas in einem Tierheim abgeben konnte wie ein gebrauchtes Kleidungsstück in der Kleiderkammer.

Sie nahm sich ganz fest vor, gleich in den nächsten Tagen Frau Dr. Fischer im Tierheim zu besuchen, doch vorher würde sie noch einmal ihren Kleiderschrank, besser gesagt, die Kleiderschränke auf den Kopf stellen und alles in den Second-Hand-Laden bringen, der auf Designerklamotten spezialisiert war. Dort war man heiß auf ihre Sachen, die man zu einem Spottpreis erwerben und anschließend direkt weiterverkaufen konnte an Frauen, für die es ein großes Glück war etwas zu tragen, in das ein bekanntes Label eingenäht war und dass man sich normalerweise nie erlauben konnte.

Sie war auch labelsüchtig gewesen, nur war sie nie in einen Second-Hand-Laden gegangen, das wäre ihr im Traum nicht eingefallen. Eine Rosmarie Rückert, die ging in die exklusivsten Länden, in denen man für sie die roten Teppiche ausgerollt und sich heimlich die Hände gerieben hatte. Rosmarie hatte, ohne darüber nachzudenken, ihre Bankkarten glühen lassen, und davon hatte sie einige. Sie hatte jeweils ein kleines Vermögen ausgegeben, ohne sich auch nur einen einzigen Gedanken darüber zu machen, dass man sein Geld sehr viel sinnvoller, vor allem befriedigender, einsetzen konnte. Eigentlich müsste sie Teresa von Roth ein Denkmal setzen, denn durch die hatte es angefangen, da war sie die ersten zaghaften Schritte in die richtige Richtung gegangen, als sie im Hohnenborner Tierheim des Tierschutzvereines das ganze Elend gesehen hatte, und wo sie mitbekommen hatte, wie aufopfernd sich die Leiterin, Frau Dr. Fischer einsetzte. Etwas, was wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel war.

Sie durfte nicht mehr daran denken. Es war vorbei, und das für immer.

Für das Tierheim zählte jeder Cent, und deswegen war es auf jeden Fall sinnvoller, alles für wenig Geld zu verkaufen, als es in den Schränken verrotten zu lassen. Die Rosmarie von heute würde nichts davon mehr anziehen, und die von gestern, die wollte sie wirklich niemals mehr werden. Und an die wollte sie auch nicht mehr erinnert werden. Also weg mit allem, was an diese Person erinnerte, diese Frau Maßlos!

Beauty und Missie begannen an ihren Leinen zu zerren, und Rosmarie musste die beiden erst einmal zur Ordnung rufen. Bei Meta waren sie ein wenig außer Rand und Band geraten, die hatte vieles bei ihnen durchgehen lassen.

Klar, sie hatten den Eingang des Parks erreicht, und nun zog es sie zu der Hundewiese, auf der sich immer ein paar Kumpel fanden, mit denen man so herrlich spielen konnte.

*

Es hatte Roberta einige Mühe gekostet, nicht mehr an ihren Exmann zu denken und an das, was er ihr angetan hatte und noch immer antat.

Max war in vieler Hinsicht schmerzfrei, doch mittlerweile musste auch er begriffen haben, dass er eine Linie überschritten hatte, die man nicht mehr tolerieren konnte. Und das spätestens dann, als sie den Autohändler weggeschickt und ihm angeraten hatte, Max dann sein Spielzeug, sein Auto, eben wegzunehmen, wenn der die Leasingraten nicht mehr bezahlten konnte.

Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass Max sie wutentbrannt anrufen würde. Doch nachdem das nicht geschehen war, war Roberta sich sicher, dass sie jetzt durchatmen konnte, dass sie nichts mehr von ihrem Ex hören würde. Und das war auch gut so.

Heute war Mittwoch, ihre Hausbesuche hatte sie direkt morgens erledigt, im Wartezimmer saßen nur noch ein paar Patienten.

Sie würde am Nachmittag nach Hohenborn fahren. Sie brauchte unbedingt eine neue Jogginghose, und ihre Laufschuhe musste sie auch ersetzen. Und wenn sie dann noch einen hübschen Pullover fand oder ein T-Shirt, das würde sie auch kaufen. Und ja, in den Buchladen würde sie auf jeden Fall gehen, das war ein Muss, wenn sie schon mal in Hohenborn war.

Sie freute sich auf den Nachmittag, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal so ganz entspannt losfahren konnte, um etwas für sich zu tun.

Sie verabschiedete die Patientin, die wegen ihrer Magenbeschwerden gekommen war und wollte Ursel Hellenbrink bitten, ihr den nächsten Patienten ins Behandlungszimmer zu schicken, als die ganz aufgeregt hereingeplatzt kam.

»Frau Doktor, da sind drei Männer.«

Warum war Ursel so aufgeregt?

»Schicken Sie die weg, für heute nehmen wir keine weiteren Patienten an.«

Ursel schluckte.

»Sie sind von der Ärztekammer, da gibt es eine Anzeige, der sie nachgehen müssen … die Praxis soll geschlossen werden, solange die … Durchsuchung stattfindet … Frau Doktor, was hat das zu bedeuten? Eine Durchsuchung bei uns, in den Filmen sieht man doch immer, dass jemand von der Steuerfahndung kommt.«

Die Ärmste war vollkommen durcheinander.

»Ursel, beruhigen Sie sich, da muss ein Irrtum vorliegen, schicken Sie mir bitte die Männer herein.«

Die kamen auch unmittelbar danach herein, es waren drei unauffällig aussehende Herren, einer war noch recht jung, die beiden anderen waren mittleren Alters. Sie wiesen sich aus, und einer von ihnen sagte: »Frau Dr. Steinfeld, es tut uns leid, wir müssen der Anzeige nachgehen, denn es ist schwerwiegend, man wirft Ihnen Arzneimittelmißbrauch vor.«

Was?

Roberta glaubte, sich verhört zu haben, sie versuchte, das richtigzustellen, doch darauf gingen die Männer nicht ein.

Sie bestanden darauf, die komplette Praxis auf den Kopf zu stellen, und Roberta fragte sich, was man eigentlich von ihr wollte.

Arzneimittelmissbrauch …

Was sollte denn da stattgefunden haben in ihrer Praxis?

Sie ging zu Ursel hinaus, sagte der, dass sie die Patienten wegschicken und für den Nachmittag erneut bestellen sollte. Sie würde dann die Praxis aufmachen.

»Frau Doktor, natürlich werde ich auch kommen. Ich lasse Sie doch jetzt nicht allein. Sie können sich auf mich verlassen, da kann Ihnen doch nur einer etwas wollen.«

Diese Worte reichten aus, es fiel Roberta wie Schuppen von den Augen.

Max …

Der musste seine Hand im Spiel haben, doch sie anzuzeigen, sie anzuschuldigen, das hätte sie ihm nicht zugetraut. Wie sehr musste er sie hassen, dabei hatte er überhaupt keinen Grund dazu. Er war als der Gewinner aus der Ehe nach der Scheidung hervorgegangen.

Sie ging zu den Männern zurück, die angefangen hatten, Schränke und Schubladen zu öffnen.

»Wo haben Sie Ihre Arzneimittelmuster?«, wollte einer der Männer wissen.

»In einem verschlossenen Schrank«, sagte Roberta, »wie sich das gehört.«

Sie öffnete den Schrank, in dem alles ordentlich untergebracht war.

»Wenn Sie möchten, dann kann ich Ihnen auch noch die Liste zeigen, wem ich Mus­terpackungen ausgehändigt habe.«

Jetzt unterbrachen alle Männer ihre Arbeit.

»So was haben Sie?«, erkundigte sich einer der Männer. »Aber wozu?«

»Weil es mir wichtig ist zu wissen, welchem Patienten ich welche Mittel ausgehändigt habe. Weil es mir wichtig ist, zu sehen, ob das jeweilige Medikament wirkt, ehe ich es dem Patienten oder der Patientin verschreibe. Meine Herren, es handelt sich um Arzneimittel, nicht um Smarties, die man unbesorgt verteilt, und das dann auch noch in beliebiger Menge. Außerdem interessiert es mich bei neuen Medikamenten, welche Erfahrungen ich mit meinen Patienten damit mache, nicht das, was der Pharmavertreter mir erzählt. Der vertritt den Arzneimittelhersteller, und dem kommt es einzig und allein auf Profit an.«

Während sie das sagte, druckte sie ihre Listen aus, reichte sie einem der Männer, dann bemerkte sie: »Toben Sie sich aus, bei mir werden Sie nichts finden, und sagen Sie dem Denunzianten, dass er sich schämen soll. Glauben Sie vielleicht, dass mir nicht längst klar geworden ist, weswegen Sie hier sind? Die Anzeige kommt von meinem Exmann, Herrn Dr. Max Steinfeld, der einen Krieg geben mich angezettelt hat, weil ich, warum denn auch, nicht für die Schulden aufkommen will, die er andauernd macht.«

Sie hatte ins Schwarze getroffen!

Die Männer sahen sich an. Sie hatten längst begriffen, dass an der Anzeige nichts stimmte, und jetzt, nach den letzten Worten der Ärztin, war ihnen klar, dass alles an den Haaren herbeigezogen war.

Sie hatten ja auch bislang nichts gefunden, und mit welcher Akribie Frau Dr. Steinfeld sogar Listen mit Musterpackungen führte, so etwas hatten sie noch nie zuvor erlebt, und dann die Ordnung im abgeschlossenen Schrank. Hier in der Praxis war alles vorbildlich. Sie konnten sich jetzt nicht bei der Frau Doktor entschuldigen, was eigentlich angebracht wäre. Andererseits war die Ärztekammer verpflichtet, solchen Anzeigen nachzugehen.

Es war eine fatale Situation, und man sah den Männern an, dass sie sich in ihrer Haut nicht wohlfühlten.

»Wir brechen ab«, sagte einer der Männer, der offensichtlich der Wortführer war. »Es scheint alles in Ordnung zu sein.«

»Es ist alles in Ordnung«, konnte Roberta sich nicht verkneifen zu sagen.

»Ja, es ist in Ordnung«, wurde ihr bestätigt, dann verabschiedeten sich die Herren von der Ärztekammer, und mit Robertas Beherrschung war es vorbei.

Jetzt hatte Max ihr auch noch die Ärztekammer auf den Hals gehetzt. Das war etwas, womit sie nicht fertig wurde. Sie waren miteinander verheiratet gewesen, er hatte mit der Scheidung ein Geschäft gemacht, und er hörte einfach nicht auf, in ihr Leben zu pfuschen.

Ursel kam ins Behandlungszimmer gerannt.

»Sie sind weg, Frau Doktor. Und das werden sie auch ­hoffentlich bleiben. Es ist doch­ ­alles in Ordnung bei uns?«, ­erkundigte sie sich vorsichtshalber und auch ein bisschen ängstlich. Denn das, was ge­rade geschehen war, hätte sie niemals für möglich gehalten. Eine Praxisdurchsuchung, doch nicht bei ihnen!«

Die Anteilnahme von Ursel Hellenbrink tat gut.

Roberta war zu Tränen gerührt, doch die hielt sie zurück, denn denen würden dann auch Tränen des Zorns, der Enttäuschung folgen.

»Mein Exmann hat mich wegen eines Arzneimittelmissbrauchs angezeigt. Er wollte mir Ärger machen.«

Es stand Ursel jetzt nicht zu, sich jetzt dazu zu äußern, sie hatte schon ein paar passende Worte parat. So sagte sie nur: »Ich gehe dann jetzt auch, ich habe die Patienten für heute Nachmittag bestellt, die heute früh nicht behandelt werden konnten. Der erste Patient kommt um halb drei.«

»Danke, Ursel, aber Sie müssen wirklich nicht kommen. Ich schaffe das allein.«

»Das weiß ich, Frau Doktor. Aber dennoch werde ich kommen. Gemeinsam schaffen wir es schneller.«

Roberta bedankte sich noch einmal. Ursel Hellenbrink war nicht in Gold aufzuwiegen. Ursel wurde zwar sehr gut von ihr bezahlt, doch die nächste Gehaltserhöhung war spätestens jetzt fällig. Ein solcher Einsatz musste einfach belohnt werden.

Ursel ging nach Hause, Roberta nach nebenan in die Wohnung, und sie war froh, dass Alma jetzt nicht da war, dass sie ihr einen Salat mit gebratener Putenbrust hingestellt hatte, den sie gleich essen würde … vielleicht essen würde. Ihr war ganz schön flau zumute. Auch wenn sie von Anfang an gewusst hatte, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte, dass bei ihr wirklich alles korrekt war, verursachte es einem schon ein ganz schön flaues Gefühl, wenn da plötzlich Männer in grauen Anzügen dastanden und alles durchsuchen wollten.

Dass jemand von der Ärztekammer kam, das hatte Roberta vorher noch nie erlebt, auch nicht davon gehört. Ursel hatte recht, so etwas hörte man nur von der Steuerfahndung, die plötzlich kam, um Unrechtmäßigkeiten aufzudecken.

Max!

Der Teufel sollte ihn holen. Durch seine Verhaltensweise zerstörte er noch den Rest schöner Erinnerungen, die sie von der Ehe mit ihm noch hatte. In ihr war nur noch Enttäuschung, ja, und da war auch noch ein tiefer Schmerz.

Sie hatten sich doch einmal geliebt …

*

Inge beruhigte sich allmählich, denn Werner verhielt sich liebevoll und nett wie immer. Und das tat doch kein Mann, der Dreck am Stecken hatte, der sich heimlich nach einer anderen Frau, wohlgemerkt einer jüngeren, sehr attraktiven Frau, sehnte.

Jetzt ärgerte sie sich, es nicht angesprochen zu haben, und noch mehr ärgerte sie, dass sie nicht einfach auf ihn und diese Frau zugegangen war, als sie die beiden in dem beliebten Café-Haus entdeckt hatte.

Das hätte ihr so manch schlaflose Nacht erspart, und sie hätte Gewissheit, so oder so.

Inge war fest entschlossen, keinen einzigen Gedanken mehr an ›das‹ zu verschwenden, und sie würde sich auch keine Gedanken mehr machen, wenn Werner ihr Blumen mitbrachte. Statt sich zu freuen, war da sofort die Stimme in ihr, die ihr zuflüsterte, dass er das doch nur tat, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Was für ein Unsinn!

Werner war ein aufmerksamer Ehemann, der immer wieder Blumen mitbrachte, ohne dass es einen Anlass dazu gab.

Schluss!

Ab sofort würde sie ihm offen und ohne Misstrauen begegnen.

Das bedeutete nämlich auch, dass sie sich die sinnlosen, klammheimlichen Fahrten nach Hohenborn ersparen konnte, die sie immer unternahm, wenn Werner das Haus verließ. Er hatte auch früher nicht immer gesagt, wohin er dann ging oder fuhr. Warum also sollte er jetzt damit anfangen?

Inge lief um den See, nun ja, um den halben See, das war auch schon eine ganz schöne Strecke. Es tat gut, sie entspannte sich immer mehr. Hin und wieder blieb sie entzückt stehen, um Enten zu beobachten, die sich schnatternd zankten, um sich Schwäne anzusehen, die ruhig und geradezu majestätisch dahinschwammen. Sie waren auf dem Wasser so wundervoll anzusehen, eigentlich war es unvorstellbar, dass sie an Land so plump und ungelenk erschienen. Möwen kreischten, und auf dem Wasser waren Paddler und Ruderer unterwegs. Segelboote sah man keine, was auch nicht verwunderlich war, es herrschte Flaute. Der See war beinahe spiegelglatt, nur hier und da kräuselten sich ein paar kleine Wellen, die es gemächlich zum Ufer trieb.

Inge hatte ganz vergessen, wie wunderschön es hier war und wie privilegiert sie doch waren, hier wohnen zu dürfen. Wenn man diese herrlichen Bilder ständig sah, dann wurden sie zur Selbstverständlichkeit, der man kaum noch Beachtung schenkte, und das war sehr schade.

Sie hätte Luna mitnehmen sollen, mit der würde sie nicht so herumtrödeln, sondern wäre gezwungen gewesen, schneller zu laufen. Doch die hielt sich gern nebenan bei ihren Eltern auf, wenn Pamela in der Schule war. Und Inge war sich sicher, dass das in erster Linie geschah, weil sie dort nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Es konnte aber auch durchaus daher rühren, dass Luna sich meistens bei ihren Eltern aufgehalten hatte, als Pamela nach Australien zu Hannes geflohen war und sie und Werner große Ängste ausgestanden hatten, sie könnten ihre geliebte Jüngste für immer verloren haben. Welch ein Glück, dass das vorbei war. Pamela war wieder daheim, und es war beinahe wieder so wie früher. Nicht ganz, denn jetzt sprachen sie, wenn Pamela es wollte, und das kam zwischendurch vor, auch über deren leibliche Eltern, die verunglückt waren, als Pamela noch ein Kleinkind gewesen war.

Es hatte ihrer Liebe keinen Abbruch getan, und sie hätten sich wirklich eine ganze Menge an Kummer, Sorgen und seelischem Leid erspart, wenn sie Pamela, ihr Bambi, wie sie die Kleine liebevoll genannt hatten, beizeiten die Wahrheit gesagt hätten.

Man stand sich wirklich manchmal unnötigerweise selbst im Weg. Wenn Hannes nicht gewesen wäre …

Hannes …

Bei dem Gedanken an ihn war es mit der trägen Beschaulichkeit bei Inge vorbei. Der See, die Tiere darauf, die Bäume, Sträucher, die wilden Blumen, die am Ufer wuchsen, das alles hatte von einem Moment auf den anderen seinen Zauber verloren.

Sie fröstelte, obwohl es warm war.

Wie es Hannes wohl ging? Seit er weg war, hatten sie nichts mehr von ihm gehört, und er hatte sich auch nicht bei Ricky und Jörg gemeldet.

Eigentlich sollte Inge jetzt nicht beunruhigt sein, denn das hatten sie so vereinbart. Nachdem sein Lebenstraum in Australien sich für ihn von einem Tag auf den anderen zerschlagen hatte, hatte er sich entschlossen, den Jakobsweg zu gehen, nicht die letzten hundert Kilometer, um in Santiago de Compostela die begehrte Pilgerurkunde zu bekommen. Nein, darum war es Hannes nicht gegangen. Und er lief den ganzen beschwerlichen Weg von Frankreich aus, allein. Ihr brach fast das Mutterherz, wenn sie daran dachte, dabei musste man sich um Hannes wirklich keine Sorgen machen.

Auf jeden Fall hatte Inge jetzt keine Lust mehr, um den See zu laufen, und auch wenn sie die Hälfte ihres Weges noch nicht zurückgelegt hatte, kehrte sie um.

Außerdem hatte sie sich vertrödelt, es wurde Zeit, sich um das Mittagessen zu kümmern. Pamela hatte immer einen Bärenhunger, wenn sie aus der Schule kam, und Inge wunderte sich immer wieder, was Pamela in sich hineinstopfen konnte, ohne zuzunehmen. Sie war groß und schlank, wie Ricky, dabei waren die beiden keine leiblichen Geschwister.

Sie traf noch ihre Nachbarn, die den schönen Tag ebenfalls nutzen wollten, sich die Beine ein wenig zu vertreten.

»Frau Auerbach, hat es Sie auch nicht daheim gehalten?«

»Nein, das schöne Wetter muss man nutzen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei Ihrem Spaziergang.«

Danach wollte sie weitergehen, doch sie wurde zurückgehalten. Diese Nachbarn waren nicht schwatzsüchtig, wenn sie sich jetzt nach etwas erkundigten, dann konnte man daran erkennen, wie beunruhigt man im Sonnenwinkel war, weil niemand wusste, was eigentlich mit dem Besitz unterhalb der Felsenburg geschehen würde.

»Frau Auerbach, wissen Sie, was jetzt da oben passiert, nachdem Graf Hilgenberg weggezogen ist und alles verkaufen will? Man hört ja die abenteuerlichsten Geschichten, die teils beunruhigend sind. Es ist sogar die Rede davon, dass die Ruine abgerissen werden soll, weil sie nur ein Schandbild ist. Dabei ist sie doch unser Wahrzeichen.«

»Ich weiß leider auch nichts, doch ich denke, was die Felsenburg betrifft, da kann ich Sie beruhigen, die steht nämlich unter Denkmalschutz und darf nicht abgerissen werden. Das weiß ich von meiner Mutter, und die wiederum hat es aus erster Quelle erfahren. Da müssen wir uns zum Glück überhaupt keine Sorgen machen.«

Das beruhigte ihre Nachbarn. Der Besitz dort oben war wirklich ein Thema im Sonnenwinkel. Alle beschäftigen sich damit, und so war es auch kein Wunder, dass Inge doch noch eine Weile stehen blieb, um mit ihren Nachbarn darüber zu diskutieren. Dann allerdings hatte sie es eilig.

»Jetzt muss ich wirklich gehen, denn Pamela kommt gleich aus der Schule, und die bringt immer einen Bärenhunger mit.«

»Ach, Frau Auerbach, Pamela ist ja ein so wunderschönes Mädchen geworden, ein richtiger Teenager, und sie ist so höflich. Es ist eine wahre Freude, sie anzusehen, sich mit ihr zu unterhalten. Wir treffen sie ja häufig mit ihrer Luna am See, und dann reden wir miteinander. Passen Sie auf, es wird nicht mehr lange dauern, dann werden Ihnen die jungen Burschen die Tür einrennen.«

Inge lachte. »Bis dahin ist noch etwas Zeit. Aber ja, Pamela ist wirklich ein wunderbarer Mensch, sie ist unser großes Glück, und mein Mann und ich sind ja so froh, unser Nesthäkchen zu haben, die anderen Kinder sind ja längst aus dem Haus.«

Dann allerdings verabschiedete sie sich, denn über Ricky, Jörg, Hannes, über die Enkelkinder zu reden, das würde noch dauern. Und da die Nachbarn sie alle kannten, konnten sie auch etwas dazu sagen.

Jetzt musste Inge sich wirklich sputen, und sie war sehr froh, dass sie alles vorbereitet hatte. Als hätte sie es geahnt, dass sie sich vertrödeln würde. Jetzt musste sie den Auflauf nur noch in den Ofen schieben, und in einer halben Stunde würde er fertig sein, gerade pünktlich.

Werner hatte am Morgen das Haus verlassen, weil er am Flughafen mit einem Kollegen, der auf der Durchreise war, über ein Projekt sprechen wollte, das ihnen beiden am Herzen lag. Vermutlich würden die beiden Herren im Flughafenrestaurant gemeinsam etwas essen, und wenn nicht – den Auflauf konnte man gut aufwärmen, dann schmeckte er sogar noch besser.

Inge kochte sich einen Kaffee, und sie hatte den Auflauf gerade aus dem Ofen geholt, als Pamela hereingepoltert kam, sie schmiss ihren Rucksack in eine Ecke und erkundigte sich erbost: »Wo ist Papa, mit dem habe ich ein Wörtchen zu reden. Er hätte mich doch mitnehmen können, so musste ich den Bus nehmen.«

Was redete Pamela da?

»Papa trifft am Flughafen einen Kollegen, hast du das schon vergessen?«

Pamela ließ sich nicht beirren.

»Mama, ich habe doch Augen im Kopf. Ich habe ihn in Hohenborn gesehen, er kam aus unserem besten Caféhaus, und als ich ihn gerufen habe, war er auf einmal weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Ist er in seinem Arbeitszimmer?«

Sie wartete auf keine Antwort, sondern rannte los, und Inge musste sich an der Tischkante festhalten, weil ihre Beine zitterten.

Für einen kurzen Augenblick war sie sich sicher gewesen, dass sie sich geirrt hatte. Jetzt holte sie das schreckliche Thema ein. Werner hatte sie belogen, er war nicht am Flughafen, und er war vor Pamela weggelaufen, das tat man nur, wenn man ein schlechtes Gewissen hatte …

Der neue Sonnenwinkel Staffel 4 – Familienroman

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