Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 11 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6
ОглавлениеJulia fragte sich, warum es in die Köpfe vieler Menschen einfach nicht hineingehen wollte, wann der ›Seeblick‹ Ruhetag hat. Immer wieder tauchten Leute war und waren verärgert, warum sie nicht essen konnten. Mit einem Klick würden sie sich den unnötigen Weg herauf ersparen.
Gut, wer jetzt auf dem Parkplatz angekommen war, dem konnte man zugutehalten, dass er oder sie, sie konnte nicht sehen, wer da angekommen war, weil niemand ausstieg, dass die Gepflogenheiten, somit auch der Ruhetag, nicht bekannt waren.
Julia blieb stehen, wenn sich die Person endlich aus dem Auto bemühen würde, wollte sie mit freundlichen Worten auf den Ruhetag hinweisen, und wenn sich das jetzt noch lange hinziehen würde, war sie fest entschlossen, wieder ins Haus zu gehen, die Tür abzusperren. Draußen war deutlich zu lesen, dass heute Ruhetag war.
Schon wollte Julia ihren Vorsatz in die Tat umsetzen, als sich an dem fremden Fahrzeug, einem silberfarbenen SUV, etwas tat. Jemand stieg aus. Es war zu erkennen, dass es sich um einen Mann handelte, eine Einzelperson, mehr nicht, denn im Gegenlicht war das Gesicht nicht zu erkennen.
Der Fremde schloss sein Auto ab, kam auf das Restaurant zugelaufen, und Julia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Das konnte jetzt nicht wahr sein!
Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, doch den Gang, den kannte sie. Und das irritierte sie jetzt vollkommen, denn diesen charakteristischen Gang hatte nur einer und das war … Daniel, ja, Daniel Sandvoss, ihr Ex.
Nein, das konnte doch nicht sein, sie musste sich irren. Der Gang eines Menschen war nichts Einmaliges, außerdem hatte sie ihn seit geraumer Zeit nicht gesehen, nur noch sehr selten, wenn überhaupt, an ihn gedacht. Musste es sie jetzt nicht nachdenklich machen, dass ihr beim Anblick eines Fremden direkt Daniel in den Sinn kam? War da doch noch etwas? Nein, das konnte sie direkt verneinen, mit Daniel, das war Vergangenheit, Tim war ihr Leben, und das, was sie mit Tim verband, daran kam das, was mal mit ihr und Daniel war, nicht annähernd heran.
Während sich ihre Gedanken überschlugen, kam der Mann langsam immer näher. Und dann gab es keinen Zweifel mehr, sie hatte sich nicht geirrt.
Es war Daniel Sandvoss!
Und das steigerte ihre Verwirrung jetzt nur noch mehr.
Weswegen war er hier?
Sie hatte nach der Trennung alles versucht, sich mit ihm zu versöhnen, doch er hatte sein Handy abgestellt oder sich eine neue Nummer zugelegt, und ihre Briefe waren mit dem lakonischen Vermerk – Annahme verweigert – zurückgekommen. Und dann hatte sie es schwarz auf weiß gelesen, dass Daniel nicht nur für seine journalistische Arbeit einen Preis bekommen hatte, sondern dass er mit einer anderen Frau verbandelt war, die er in Kürze heiraten wollte, was mittlerweile gewiss geschehen war, denn der Artikel war vor einer ganzen Weile erschienen. Es hatte ihr ganz schön den Boden unter den Füßen weggezogen, zumal diese Frau zu den Reichen und Schönen gehörte und in einer ganz anderen Liga spielte als sie.
Das alles ratterte durch ihren Kopf, und dann stand er vor ihr, und wie es schien, war auch er nicht ganz unbefangen, was für einen Journalisten ziemlich ungewöhnlich war, die preschten in der Regel doch immer nach vorne, um die beste, die richtige, die ultimative Story zu ergattern.
Sie standen sich gegenüber, beide stumm, sie sahen sich an.
Für Julia hatte sich einiges, wenn nicht sogar alles verändert, sie konnte ihn betrachten wie einen freundlichen, angenehmen Fremden. Ihr Herz hüpfte nicht voller Entzücken, doch ein angenehmes Gefühl war schon da. Und das war nicht verwunderlich, schließlich hatten sie sich mal geliebt und eine schöne Zeit miteinander verbracht.
»Hallo, Julia«, er machte noch einen Schritt auf sie zu, überlegte, ob er sie jetzt umarmen sollte. Schließlich ließ er es bleiben. Und das war gut so.
Julia wirkte plötzlich sehr angespannt. War er gekommen, um alte Zeiten heraufzubeschwören? Hatte es mit der anderen Frau doch nicht geklappt? Sie hatte es nicht weiter verfolgt, weil die Glanzzeitschriften nicht zu ihrer bevorzugten Lektüre gehörten, und selbst wenn es so wäre, hätte sie überhaupt nicht die Zeit, sie regelmäßig zu lesen.
Ihr Blick fiel zufällig oder war es bewusst? Wie auch immer, das festzustellen, war jetzt nicht nötig. Ihr Blick fiel auf jeden Fall auf den Ringfinger seiner Hand, und dort entdeckte sie, nicht zu übersehen, einen schmalen goldenen Ring. Da war er übrigens seinem Geschmack treu geblieben, schmale goldene Ringe wollten sie beide haben, als sie noch geglaubt hatten, für immer auf eine gemeinsame Lebensreise zu gehen, als sie geglaubt hatten, mit ihrer Liebe alles überwinden zu können, als sie von Kindern geträumt hatten …
Julia schloss für einen Moment die Augen.
Ein Stückchen gemeinsame Reise hatte es gegeben, doch dann waren ihre Züge auseinandergedriftet, und es gab nicht einmal irgendwo auf einem Bahnhof einen gemeinsamen Halt.
Sie riss sich zusammen, weil sie sich nicht ewig stumm gegenüberstehen konnten.
»Daniel, weswegen bist du hier?«
Diese Frage schien ihn zu beruhigen, denn er atmete tief durch, und dann erzählte er ihr, dass die Redaktion ihn vorgeschickt hatte. Man wollte erneut einen Artikel über sie schreiben, diesmal allerdings einen langen Bericht. Und da er bereits den ersten Artikel geschrieben hatte, da sie sich kannten, war die Wahl auf ihn gefallen.
»Julia, bitte glaub mir, dass ich alles versucht habe, das zu verhindern, ich weiß doch, wie schäbig ich mich dir gegenüber benommen habe. Es tut mir leid, doch die verletzte Eitelkeit eines Mannes lässt ihn kopflos werden. Danke, dass du mich nicht sofort zurückschickst, dass du mit mir redest.«
Deswegen war er hier?
»Daniel, du weißt, dass ich nicht gern was über mich in der Zeitung lese …, im Gegensatz zu dir. Da hat sich offensichtlich etwas geändert, ich habe zufällig das mit der Preisverleihung gelesen, und ich habe das Bild gesehen von dir, dieser anderen Frau, mit der du offensichtlich mittlerweile verheiratet bist, Daniel«, sie deutete auf seinen Ehering, »herzlichen Glückwunsch, ich hoffe, du hast jetzt die Richtige gefunden. Mit dir und mir, das war …, das hat …«
Julia beendete ihren Satz nicht, winkte ab.
»Ach, was soll es, jetzt die ollen Kamellen hervorzukramen, wir haben unsere Beziehung krachend gegen die Wand gefahren, und ehrlich mal, du traust dich ganz schön etwas, hier aufzutauchen. Ich schiebe dir nicht die Schuld zu, dass unsere Beziehung gescheitert ist, unsere Interessen gingen einfach zu sehr auseinander, ich war mit dem Aufbau des Restaurants beschäftigt, dann kam dieses große Fest für das Tierheim hinzu, etwas, worin ich überhaupt keine Erfahrung in dieser Hinsicht hatte. Ich habe die geschäftlichen Belange vorangestellt und all die Warnsignale übersehen, und das tut mir wirklich sehr leid. Doch Daniel, auch wenn ich die meiste Schuld am Scheitern unserer Beziehung trage …, du hättest mit mir reden müssen und nicht einfach gehen. Es war sehr verletzend, nichts weiter als einen Zettel auf meinem Kopfkissen vorzufinden. Und ebenso verletzend war es, mir nicht die kleinste Chance zu geben, es zu einem versöhnlichen Abschluss zu bringen oder zu einem Neuanfang. Das war damals mein allergrößter Wunsch.« Sie sah ihn an, glaubte, auf seinem Gesicht eine leichte Verunsicherung zu entdecken und fügte deswegen rasch hinzu: »Damals, das war damals …, es ist vorbei. Mittlerweile habe ich eingesehen, dass es auf Dauer mit uns nicht geklappt hätte. Gegensätze, die sich anziehen, sind gut für eine Affäre, für ein Zusammenleben zählt wohl eher der Ausspruch gleich und gleich gesellt sich gern.«
Julia war jetzt ganz erstaunt, dass Daniel bestätigend nickte, und dann erfuhr Julia von ihm, dass er und diese Frau aus der Welt der Reichen und Schönen sich getrennt hatten, weil sie einfach in zu unterschiedlichen Welten gelebt hatten, die nicht vereinbar miteinander gewesen waren.
»Was du da gerade gesagt hast, Julia, das kann ich voll unterschreiben. Ich habe geheiratet, Wiebke, die ebenfalls Journalistin ist, wir leben in einer Welt, brennen für unsere Arbeit, haben Verständnis füreinander, weil wir wissen, was der andere tut. Wiebke und ich wussten sofort, dass wir unser Leben gemeinsam miteinander verbringen wollten und haben bereits nach drei Wochen geheiratet. Wenn es so offensichtlich ist, warum dann lange warten? Wir sind sehr glücklich miteinander.«
Am liebsten hätte Julia ihm jetzt von Tim erzählt, mit dem sie ihr Glück gefunden hatte. Sie tat es nicht, weil sie nicht mit einem so glänzenden Ergebnis aufwarten konnte wie Daniel. Es hatte zwar den Heiratsantrag gegeben, und das ebenfalls nach kürzester Zeit, doch die Hochzeit war ausgeblieben. Und das jetzt zuzugeben, käme ihr wie eine Niederlage vor, obwohl das natürlich unsinnig war. Es kam ihr etwas anderes in den Sinn, nämlich, dass sie ihre Lebensbeichten abgaben und noch immer in der Haustür standen.
»Willst du reinkommen?«, erkundigte sie sich.
»Wenn ich darf, gern«, antwortete er prompt.
Sie betraten gemeinsam das Restaurant, in dem sich seit seinem Fortgang eine ganze Menge verändert hatte, und dafür lobte er sie.
»Julia, das hast du großartig gemacht, es hat sich nicht nur äußerlich hier alles verändert, der ›Seeblick‹ wird von den Restaurantkritikern stets mit lobenden Worten bedacht, und deswegen soll ich ja diesen neuen Bericht über dich schreiben. Es ist mehr als anerkennenswert, was du auf die Beine stellst, ich glaube, der nächste Stern ist dir jetzt schon gewiss.«
Natürlich gefiel ihr sein Lob, um darauf nicht eingehen zu müssen, fragte sie ihn, ob er einen Kaffee trinken wolle, er wollte es, und sie legte einen Snack dazu, den er sich schmecken ließ.
Je länger sie sich miteinander unterhielten, umso entspannter wurden sie. Wenn man so wollte, da hatten sie als Freunde begonnen, und es sah ganz so aus, als würden sie dorthin zurückkehren. Warum auch nicht? Sie waren ein Paar gewesen, waren gescheitert, es hatte keine Schlammschlacht gegeben.
Daniel war verheiratet, und sie …
Sie war ebenfalls in festen Händen, wenn auch ohne Ring am Finger. Wäre sie so entspannt, wenn sie nicht ebenfalls einen neuen Partner hätte? Wenn sie allein wäre?
Nein, über so etwas musste sie überhaupt nicht erst nachdenken. Es war müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was gewesen wäre wenn oder andere Konstrukte, die nicht der Gegenwart entsprachen.
Er war begeistert von ihrem Snack, lobte den Kaffee, und sie erkundigte sich, wie er sich das mit dem Artikel vorstellte. Und da kamen sie sehr schnell ins Fachsimpeln, und Julia war einverstanden, sie hatte nichts zu verlieren, und dass Daniel sein Handwerk verstand, das wusste sie.
»Einverstanden, Daniel«, sagte sie schließlich.
Er freute sich sehr, denn dass es so glatt laufen würde, hätte er nicht gedacht. Weil er ja wusste, dass er sich nicht unbedingt gentlemanlike benommen hatte, war er eigentlich davon ausgegangen, dass sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Und nun das.
»Julia, ich danke dir von ganzem Herzen, du bist eine so großartige Frau, du stehst über den Dingen, und das macht es möglich, dass wir so entspannt miteinander umgehen können. Übrigens, du würdest dich mit Wiebke sehr gut verstehen, sie ist ähnlich wie du, auch eine Frau, die weiß, was sie will, die unbeirrt ihren Weg geht«, er lachte, »halt nur in einer Branche, in der auch ich mich auskenne, und das macht es einfach.«
Man sah ihm an, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte, aber sich nicht traute, es anzusprechen, obwohl es ihn brennend interessierte.
»Julia, ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du deinen Mr Right finden wirst, jemanden, der zu dir passt wie Pott und Deckel …, wie es bei Wiebke und mir ist. Du hast es so sehr verdient.«
Jetzt war es an der Zeit, ihm von Tim zu erzählen, und sie wollte gerade damit anfangen, als der zur Tür hereinkam. Also musste sie nur noch sagen: »Daniel, das ist Tim, mein Mr Right. Ich habe ihn schon gefunden.«
Tim war erstaunt, ihm war anzusehen, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, worum es hier eigentlich ging. Er musste nicht lange der Unwissende sein, Julia klärte ihn auf, machte ihn mit Daniel bekannt, erzählte von dem Artikel, den dieser über sie schreiben wollte. Und als sie bemerkte, wie sein Gesicht sich immer mehr verfinsterte, fügte sie hinzu: »Daniel hat eine Frau gefunden, die viel besser zu ihm passt als damals ich, er ist Journalist, sie ist Journalistin, und er hat seine Wiebke geheiratet.«
Sofort hellten Tims Gesichtszüge sich auf, er begrüßte Daniel freundlich und wuchs über sich hinaus, indem er sagte: »Sie und Julia haben sich gewiss eine ganze Menge zu erzählen. Was halten Sie davon, dass ich mittlerweile für uns ein Essen zaubere? Es gibt schottischen Lachs, den ich gerade vom Flughafen geholt habe.«
Wer konnte da schon widerstehen, Daniel sagte sofort zu. Daniel war erleichtert, weil er jetzt kein schlechtes Gewissen mehr haben musste, Julia hatte einen neuen Partner, der einen äußerst sympathischen Eindruck machte. Und die Aussicht, gleich echten schottischen Lachs zu genießen, die war verlockend.
Aus Erfahrung kannte er, dass es in einem Restaurant immer viel zu tun gab, dass jede Hand gebraucht wurde. Wie selbstverständlich schlug er vor, dabei zu helfen, die Waren aus dem Auto zu transportieren, und das wurde gern angenommen. Weil auch Julia dabei war, war es schnell geschafft.
Tim verschwand in der Küche, um das Essen zuzubereiten, Julia und Daniel waren wieder allein.
»Julia, ich freue mich wirklich so sehr für dich, dass du einen Mann gefunden hast, der so richtig zu dir passt, der sich auskennt, der dich unterstützt, der einen sehr sympathischen Eindruck macht und der, obwohl das nicht entscheidend ist, sehr gut aussieht.«
Er hatte seine Wiebke in den höchsten Tönen gelobt, warum sollte sie das mit ihrem Tim nicht tun?
Es war ein freier Tag, der so ganz anders verlief als gedacht, doch als der zu Ende war und sie sich voneinander verabschiedeten, waren sie alle zufrieden.
Julia und Tim sahen dem Auto nach, bis nichts mehr davon zu sehen war, dann gingen sie gemeinsam ins Restaurant zurück.
»Julia, Liebes, ich muss dir etwas gestehen. Als ich hörte, dass dein Ex bei dir ist, wäre ich dem aus lauter Eifersucht am liebsten an die Gurgel gegangen. Ich hätte niemals geglaubt, zu solchen Regungen fähig zu sein.« Er umarmte sie. »Es hat mir auch bewusst gemacht, wie sehr ich dich liebe, dass ich dich nicht verlieren will. Du bist wirklich das Beste, was mir im Leben passieren konnte.« Er verstärkte den Druck seiner Arme, und sie fühlte sich darin aufgehoben wie ein Schiff in einem sicheren Hafen.
»Jetzt, da ich weiß, dass die Gefahr vorüber ist, kann ich ja zugeben, dass Daniel ein sehr netter, ein sehr sympathischer Mann ist …, es freut mich, ja, ich staune, wie entspannt ihr miteinander umgeht. Und der Artikel, den er über dich schreiben wird, kann für dich und den ›Seeblick‹ nur gut sein, der Bekanntheitsgrad wird steigen.«
»Was weitgehend auch auf dich zurückfällt, Tim. Seit du hier bist, kommen deutlich mehr Gäste, die allesamt begeistert sind.« Er winkte ab.
»Das Restaurant gehört dir, du streichst die Lorbeeren ein, und das ist gut so…«
Es lag ihr auf der Zunge, jetzt etwas dazu zu sagen, sie ließ es bleiben, weil sie wusste, dass es doch nichts bringen würde. Sie wollte jetzt keinen Krach, der Tag hatte aufregend begonnen, denn sie hätte niemals geglaubt, Daniel noch einmal zu treffen. Die anfänglichen Spannungen waren schnell gewichen, sie konnten vollkommen entspannt miteinander umgehen, und das freute sie sehr. Jetzt konnte sie alles beiseiteschieben, was nicht so schön gewesen war und sich nur noch an die Zeit ihrer Liebe erinnern, und das war eine schöne Zeit gewesen.
Sie blickte Tim an, ihr Herz wurde weit, sie wurde von einem Meer von Zärtlichkeit für ihn erfüllt. Sie wünschte sich geradezu inbrünstig, ihn niemals als einen Mann aus ihrer Vergangenheit erleben zu müssen. Sie brauchte ihn, er war ihre Gegenwart, ihre Zukunft, Tim war ihr Leben …
*
Noch befand sich das große kardiologische Zentrum in Hohenborn im Aufbau, und Konstantin von Cleven war noch nicht ständig anwesend. Roberta hätte nicht für möglich gehalten, dass sie anfangen würde ihn zu vermissen, wenn er nicht da war, wenn er sich nicht meldete.
Was sollte das?
Sie waren doch nur Freunde.
Auf jeden Fall war sie sehr froh, gerade an seiner Seite um den See laufen zu können, nicht zu langsam, nicht zu schnell, genau in dem Tempo, das einem erlaubte, sich dabei unterhalten zu können. Und das taten sie. Konstantin hatte von den Arbeiten am Zentrum erzählt, was Roberta als Ärztin auch sehr interessierte, jetzt erkundigte er sich: »Wie fühlt es sich für dich an, zu wissen, dass die Tage von Frau Dr. Müller im Sonnenwinkel gezählt sind? Jetzt kommt sie ja nur noch, um sich zu verabschieden und letzte Dinge zu erledigen, und ihr wart ja wirklich ein so großartiges Team, das konnte man euch schon ansehen.«
Das bestätigte Roberta sofort, weil es ja auch zutreffend war.
»Weißt du, Konstantin, es wäre eine Lüge, wenn ich jetzt behaupten würde, dass es mir nichts ausmacht. Natürlich freue ich mich für Claire, sie und Piet van Beveren sind ein so großartiges Paar, sie lieben sich, es ist einfach nur schön, sie in ihrem Glück zu sehen. Das ist es, was die Trennung von Claire einfacher macht. Wir arbeiteten ja schon früher zusammen, und als ich sie zufällig traf, sie für die Praxis gewinnen konnte, da dachte ich schon, dass es diesmal eine lange Zusammenarbeit werden würde. Sie hatte eine unschöne Trennung hinter sich, ich hatte meinen Partner verloren, uns stand beiden nicht der Sinn danach, uns in ein neues Abenteuer zu stürzen. Das Schicksal mischt die Karten, hat mit uns seine eigenen Pläne. Claire hat es Piet auf den Wäg geschickt und dann noch einen draufgesetzt, indem es alles abbrennen ließ. Ohne dieses schreckliche Ereignis wäre Claire ja geblieben, auch als die Frau an seiner Seite. So kann ich verstehen, dass sie mit ihm geht. Ich würde es ebenfalls tun. Und ich will mich ja auch überhaupt nicht beklagen, es ist alles bestens organisiert. Leni Wendler wächst an ihren Aufgaben, sie nimmt mir immer mehr ab, und das kann sie dank ihrer Qualifikationen auch, und sie hat eine so wunderbare Art, mit den Patienten und Patientinnen umzugehen. Sie ist sehr beliebt. Und ich glaube, Ursel Hellenbrink ist ganz froh, in der Praxis wieder das Regiment übernehmen zu können. Sie und Leni verstehen sich gut, Ursel Hellenbrink hat sie ja auch in die Praxis gebracht. Aber so ist es ihr lieber.«
Er blickte sie an.
»Ist das auch der Grund für dich, keinen neuen Kollegen oder eine Kollegin einzustellen? Du bist sehr qualifiziert, in Fachkreisen als eine sehr kompetente Ärztin bekannt. Auch wenn der Sonnenwinkel vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack ist, kann ich mir doch sehr gut vorstellen, dass man deinetwegen kommen würde, weil man unendlich viel von dir lernen kann.«
Roberta antwortete nicht sofort, weil sie fasziniert einen Seeadler beobachtete, der kurz über dem Wasser kreiste, um dann mit kräftigem Flügelschlagen davonzufliegen. Hier und da erblickte man einen dieser wundervollen Vögel, die majestätisch und kraftvoll zugleich wirkten.
Als der Adler nicht mehr zu sehen war, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.
»Konstantin, ich bin eine Teamplayerin, als ich noch mit Max Steinfeld verheiratet war, beschäftigten wir mehrere Kolleginnen und Kollegen, und ehe ich zufällig Claire auf der Straße traf, weil es wohl so sein wollte, hatte ich einem Kollegen, der übrigens in Hohenborn in der Klinik arbeitet, ein Angebot gemacht. Glücklicherweise war er zögerlich, und dafür bin ich jetzt noch dankbar, einmal hätte es dann mit Claire nicht geklappt, andererseits ist mir klar geworden, dass es mit ihm und mir nicht funktioniert hätte. Die Praxis hier ist zu klein, um sich aus dem Weg gehen zu können, man ist auch auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen, weil ich jetzt eine Allgemeinpraxis habe, in der man sich austauschen muss, auch mal Patienten des anderen übernimmt. Da muss die Chemie stimmen, und weil es zwischen Claire und mir so war, bin ich jetzt, wenn man so will, verdorben. Es ist gut, wie es jetzt ist.«
»Aber für dich hat ein Tag auch nur vierundzwanzig Stunden, liebe Roberta«, erinnerte er sie. »Und jeder Mensch ist nur bis zu einem gewissen Punkt belastbar. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich.«
Sie blieb stehen, lächelte ihn an.
»Danke, Konstantin, doch das musst du nicht. Ich weiß schon, was ich mir zumuten kann. Und ist es nicht so, dass man über sich hinauswachsen kann, wenn man etwas voller Begeisterung und Hingabe tut? Ich wollte immer schon Ärztin werden, und das habe ich niemals bereut. Mein Beruf erfüllt mich mit einer Leidenschaft, die niemals nachlässt, im Gegenteil, sie wird größer. Und dass ich die Praxis von Enno Riedel übernommen habe, den du ja auch noch kennst, das war die beste Entscheidung meines Lebens, das hatte einfach so kommen müssen. Ich bin angekommen in meinem Leben, ich lebe so gern hier. Wenn ich das Doktorhaus sehe, wird mein Herz ganz weit, und ich kann es manchmal noch immer nicht fassen, dass es mir gehört. Eines weiß ich gewiss, ich werde es niemals mehr verlassen, es sei denn …«, sie zögerte kurz, »wenn man mich mit den Füßen zuerst hinausträgt. Doch das, so hoffe ich, wird es so schnell nicht kommen …, doch man weiß ja nie …«
Sie brach ihren Satz ab, für einen Augenblick herrschte zwischen ihnen Schweigen, doch das war nicht unangenehm, sie hingen einfach nur ihren Gedanken nach.
Es war Konstantin, der irgendwann anfing mit leiser Stimme zu sprechen. »Du bist in Gedanken bei dem Mann, den du verloren hast, dessen Schicksal noch immer ungewiss ist.«
Natürlich hatte Roberta ihm von Lars erzählt. Auch Konstantin war Arzt, dennoch sprach er von einem ungeklärten Schicksal, obwohl er doch wusste, dass Lars Magnusson tot war, in der Hölle des ewigen Eises überlebte niemand.
Irgendwann bestätigte Roberta es leise.
»Lars war ein so vitaler, ein lebenslustiger Mann, er war jemand, der sich insbesondere dort, wo das Schicksal ihn ereilte, auskannte wie in seiner Westentasche …, seinem Schicksal entrinnt keiner, und man weiß nicht, wann man an der Reihe ist.«
Er umfasste sanft ihre Schulter, und das war ihr nicht unangenehm, Konstantin war ihr vertraut seit frühen Studentenzeiten, und wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn …
Sie brach diesen Gedanken ab, es war Vergangenheit, es war anders gekommen. Und wenn sie sich jetzt zufällig hier begegnet waren, so hatte das mit nichts etwas zu tun, zufällig! Mehr nicht! Man durfte nicht in alles etwas hineininterpretieren, es sei denn, man hieß zufälligerweise Nicki, die mit dem Begriff Vorbestimmung nur so um sich schmiss.
»Roberta, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.«
Er hätte diesem Satz gern noch weitere Worte hinzugefügt, doch das verkniff er sich. Er würde ihr so gern sagen, dass all seine Gefühle wieder da waren wie damals, als sie unbeschwerte Studenten gewesen waren. Er konnte froh sein, dass sie jetzt so entspannt miteinander umgehen konnten. Er konnte nur darauf hoffen, dass die Zeit es bringen würde, denn er liebte Roberta über alles und wünschte sich nichts mehr, als sie als die Frau an seiner Seite zu gewinnen.
Doch sie hatte klare Grenzen gesetzt, und derzeit konnte er mit nichts auf der Welt gegen den übermächtigen Schatten dieses anderen Mannes ankommen, den sie noch immer über alles liebte, den sie nicht loslassen konnte oder wollte. Es spielte keine Rolle. Solange er da war, hatte er keine Chancen, und er konnte sich nur entscheiden zwischen zurückziehen oder den Kampf gegen diesen Schatten aufnehmen und solange die Ruhe zu bewahren.
Er entschied sich für die zweite Möglichkeit, denn er wollte sie, die Zeit konnte ihm helfen, und die hatte er, denn die würde in Kürze richtig beginnen, nämlich dann, wenn er die Leitung des Zentrums für Kardiologie aufnahm.
Konstantin behielt seine Gedanken für sich. Sie blieb stehen, blickte ihn an.
»Konstantin, das weiß ich doch, dass ich mich immer auf dich verlasen kann, und das ist ein so schönes Gefühl. Ich bin sehr froh, dass uns das Schicksal ausgerechnet hier nach all diesen Jahren wieder zusammengeführt hat. Freunde kann man nicht genug haben.«
Sie bemerkte nicht den Schatten, der über sein Gesicht huschte, denn der Adler kreiste wieder, und dem schenkte sie ihre ganze Aufmerksamkeit.
»Konstantin, wusstest du, dass die Adler hierzulande vom Aussterben bedroht waren und dass es glücklicherweise wieder mehr von diesen majestätischen Vögeln gibt?«
Er wusste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht besonders, doch das sagte er nicht. Er hörte ihr zu, und das Schöne war ja, dass er ihr gebannt zuhören konnte, ganz gleichgültig, worüber sie sprach. Sie war schön, sie war klug, warmherzig, kurzum, sie war eine Traumfrau, und die …
Diesen Gedanken wollte er jetzt lieber nicht fortspinnen, denn es würde in einer Enttäuschung enden.
Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach, er hatte sich was dabei gedacht, wer immer es auch gewesen war.
Sie hatten einen guten Weg des Miteinanders gefunden, sie telefonierten miteinander, sie gingen spazieren, essen, ins Kino, ins Theater, in Ausstellungen. Nicht oft, aber sie taten es wenigstens hin und wieder. Die Zeit für mehr hatten sie überhaupt nicht, dafür waren sie beide beruflich viel zu angespannt.
Konstantin wünschte sich ein Zusammenleben mit Roberta, mehr Nähe, vor allem Gefühle, weil die bei ihm immer stärker wurden. Sie war halt eine großartige Frau, klug, schön, liebenswert … Es war eine ziemliche Herausforderung, das alles zu unterdrücken. Konstantin wusste, dass er Geduld brauchte, sehr viel Geduld. Für Roberta lohnte es sich zu warten …
*
Angela von Bergen hatte lange überlegt, sie hatte es sich nicht leicht gemacht, zu einer Entscheidung zu kommen. Doch jetzt war sie fest entschlossen, einen endgültigen Schlussstrich unter etwas zu setzen, was längst schon vorbei war, was nur noch künstlich am Leben gehalten wurde in der Hoffnung, es könne sich etwas ändern.
Sie wartete auf Berthold, und das tat sie daheim, weil sie für das, was zu besprechen war, keine Zeugen haben wollte.
Berthold hatte das Haus vorgeschlagen, das sie voller Vorfreude auf ein gemeinsames Leben nach ihren Wünschen umgebaut hatten, in das sie als Ehepaar einziehen wollten. Der Traum war bereits vor der Schlüsselübergabe zerstoben. Und Berthold hätte seine Idee, das Haus zu verkaufen, besser in die Tat umgesetzt statt darauf zu hoffen, mit ihr doch noch in das Traumhaus einziehen zu können. Wie sollte so etwas gehen, wenn sich an den Voraussetzungen für ein Zusammenleben nichts geändert hatte?
Hatte Berthold darauf gesetzt, dass sie beim Betreten der Villa sentimental werden und ihre Pläne über den Haufen werfen würde?
Sie hatte es sich weiß Gott nicht leicht gemacht, und ihr Herz blutete, wenn sie daran dachte, was gleich auf sie zukommen würde.
Dabei hatte alles so wundervoll angefangen. Es war ein Augenblick der Magie gewesen, als sie sich begegnet waren, ohne etwas voneinander oder übereinander zu wissen.
Leider dauern magische Momente nicht an, weil sie vom wahren Leben eingeholt werden, und in dem hat jeder sein eigenes Päckchen zu tragen, der eine mehr, der andere weniger. Für ein gemeinsames Leben muss man frei sein, seinen Ballast abwerfen, und wenn einer das nicht kann …
Angela wollte sich von der Vergangenheit nicht einholen lassen, sie wollte auch nicht sentimental werden, sich von ihren Gefühlen überrollen lassen, die ja noch da waren. Für das, was gleich kommen würde, musste sie ihren Verstand einsetzen. Wenn zwei Menschen ein gemeinsames Leben miteinander verbringen wollten, dann mussten sie sich auf Augenhöhe begegnen, da durfte nicht einer von ihnen auf der Strecke bleiben. Und es war die Gegenwart, die zählte, und in der wurde Berthold leider nicht nur von seiner Vergangenheit eingeholt, sondern sie dominierte sein ganzes Leben.
Sie verstand ihn, er tat ihr leid, sein Schicksal war grauenvoll. Auch wenn es hart klang, sie war keine Therapeutin, sie wollte die Frau an seiner Seite sein.
Sie blickte auf ihre Uhr, sprang auf, denn Berthold musste gleich kommen. Er war die Pünktlichkeit in Person, und sie wollte rasch noch einen Blick in den Spiegel werfen und ihr Aussehen überprüfen, obwohl das für das Gespräch, das sie gleich miteinander führen würden, überhaupt keine Rolle spielte. So waren Frauen nun mal, ganz gleichgültig, was ihnen bevorstand, sie wollten gut dabei aussehen.
An ihrem Aussehen war nichts auszusetzen, auffallend war allenfalls, dass sie ziemlich blass war und angespannt wirkte. Ansonsten hatte sie ihre derzeit halblangen Haare glatt heruntergebürstet. Weil Berthold das mochte, trug sie ein Kleid, auch das spielte keine Rolle, doch den Gefallen wollte sie ihm noch tun, obwohl das ein bisschen absurd war, weil das nicht zählte.
Sie überlegte gerade, ob sie nicht doch ein wenig Rouge auftragen sollte, als es an der Haustür klingelte. Sie erstarrte, atmete tief durch, dann lief sie zur Haustür um zu öffnen, an das Rouge dachte sie nicht mehr.
Sie standen sich gegenüber, schauten sich an. Er sah gut aus, wie ein englischer Lord in seiner ein wenig zerbeulten Cordhose, dem karierten Tweedsacko, dem Hemd mit dem offenen Kragen. Das war ein Zugeständnis an sie, weil sie ihn so am liebsten gesehen hatte in der Zeit als sie …
Schluss damit!
»Hallo, Berthold, schön dass du gekommen bist.«
»Hallo, Angela«, er zögerte, dann gab er sich einen Ruck, drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Da ihre Beziehung offiziell beendet war, sie sich dennoch eine Bedenkzeit gegeben hatten, konnten sie sich jetzt schlecht leidenschaftlich in die Arme fallen, obwohl da noch all die Gefühle waren. Sich wie Fremde zu begegnen, wäre allerdings auch unpassend. So war es angemessen.
Angela bat ihn ins Haus, Berthold folgte ihr, erkundigte sich nach Sophia, Angela sagte ihm, dass sie mit ihren Freunden, dem Ehepaar von Roth, unterwegs sei. Weil sie von dem Ausflug wusste, hatte Angela ja auch diesen Termin ausgewählt, sie hätte ihre Mutter ansonsten schlecht vor die Tür setzen können, und als Zeugin brauchte sie sie ebenfalls nicht.
Sie wirkten beide angespannt, es war klar, dass in ihnen Gefühle hochkochten, schließlich hatten sie nicht aufgehört, sich zu lieben.
Angela wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, und es gab ein Thema, das sie alle noch beschäftigte, und das war der Brand, von dem Berthold nur am Rande erfahren hatte, schließlich wohnte er nicht im Sonnenwinkel, auch er hütete sich davor, in der neuen Villa zu schlafen.
Das, was geschehen war, erhitzte alle Gemüter, weil es nicht zu fassen war, danach sprachen sie über die Menschen, die Berthold kannte. Ihre Anspannung löste sich immer mehr. Es tat Angela aufrichtig leid, dass sie diese derzeit angenehme Stimmung durchbrechen musste mit dem, was sie zu sagen hatte. Deswegen waren sie schließlich zusammen hier, auch wenn unter verschiedenen Voraussetzungen. Während es für sie klar war, dass nur ein Schlussstrich ihre Rettung war, hoffte er insgeheim auf eine Wiederaufnahme ihrer Beziehung. Schließlich war Angela für ihn so etwas wie ein Anker, an dem er andocken konnte.
Angela zögerte, es war nicht ihre Art, knallhart zu sein. Doch wenn sie jetzt nicht anfing zu reden, würde sie sich wieder einlullen lassen, ihr Leidensdruck würde erneut beginnen.
Sie trank rasch noch einen Schluck ihres Kaffees, stellte entschlossen die Tasse ab, dann bedankte sie sich noch einmal für sein Kommen, dann erzählte sie ihm, dass sie nicht die Kraft hatte, wieder in eine Beziehung zu gehen, in der sie niemals allein miteinander sein würden, in der die Familie, die er tragisch verloren hatte, an erster Stelle waren und sie nur das fünfte Rad am Wagen.
»Berthold, das alles ist ja bereits gesagt. Wir waren getrennt, es hat sich nichts geändert. Ja, ich war gerührt, als du mir sagtest, das Haus erst einmal nicht verkaufen zu wollen, weil es für uns ja noch ein … Happy End geben könnte. Berthold, das kann nicht sein, weil deine Vergangenheit dich umklammert hält.«
»Meine Frau, meine Kinder …«
Sie ließ ihn nicht aussprechen.
»Berthold, du musst dich nicht rechtfertigen, du warst mit deiner Familie glücklich, und von einer Sekunde auf die andere wurde dieses Glück zerstört. So etwas steckt man nicht weg, vielleicht sind wir uns zu früh begegnet, für dich war alles noch zu frisch. Ich liebe dich, an deinen Gefühlen für mich zweifle ich auch nicht. Wir hatten eine wundervolle Zeit miteinander, von der ich nicht einen einzigen Tag missen möchte. Doch wir haben es erlebt, dass wir auseinanderdrifteten. Ich entwickelte ein Helfersyndrom, um dich zu retten, und je inniger es mit uns wurde, umso mehr nahmen deine Schuldgefühle zu, weil du dir nicht gestatten wolltest, glücklich zu sein, weil du es deiner toten Familie nicht antun wolltest.«
Er wollte etwas einwenden, doch sie winkte ab, weil sie aus den vergangenen Gesprächen wusste, dass es nur Rechtfertigungen sein würden. Und dann würden sie anfangen, sich wieder im Kreis zu drehen.
Sie sah ihn an, und ihr wurde ganz warm ums Herz, weil so unendlich viel Liebe für ihn in ihr war. Was hatte sie davon, wenn sie immer wieder an Grenzen stieß? Auch wenn es hart klang, sie musste die Reißleine ziehen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Das musste sie sich immer wieder vor Augen führen.
»Berthold, wir haben uns die Nächte um die Ohren geschlagen, geredet, geredet. Und was hat es gebracht? Nichts! Wir müssen jetzt nicht wieder alles aufwärmen. Ich hätte dir auch einen Brief schreiben, dich anrufen können. Doch das wäre feige gewesen. Ich möchte dir sagen, dass ich lange darüber nachgedacht, dass ich es mir nicht leicht gemacht habe. Ich kann nicht in der Warteschleife hängen in der Hoffnung, dass sich doch irgendwann mal etwas ändern könnte. Du bist in deine Vergangenheit zu verstrickt, und jeder geht damit anders um. Wenn du sie nicht loslassen kannst, dann lebe mit ihr. Doch dazu brauchst du niemanden an deiner Seite, Berthold. Du wirst immer wieder scheitern, weil keine Frau damit leben kann, nur eine Statistenrolle in deinem Leben zu haben.«
Sie hätte ihm gern eigentlich noch viel mehr gesagt, doch sie hatte keine Kraft mehr. Schon das, was sie gesagt hatte, war eine Überforderung, außerdem wiederholte sie sich. Sie hatten es mehr als nur einmal durchgekaut. Sie bekam Zweifel, vielleicht wäre es besser gewesen, ihm zu schreiben, dann hätte sie nicht diesen großen Schmerz verspüren müssen, der wie scharfe Messerstiche war.
Sie redeten weiter, und wieder einmal drehten sie sich im Kreis. Allerdings hatte sich etwas verändert, Angela war wirklich ganz fest entschlossen, den endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Wie er reagierte, was er sagte, das sprach dafür, dass er lange noch nicht in der Lage war, die Gespenster seiner Vergangenheit zu verbannen.
Und sie hatte nicht mehr die Kraft auf etwas zu hoffen, was in weiter Ferne lag, wenn überhaupt ein solcher Zustand einmal eintreten würde.
Sie konnte ihn nicht mehr ansehen, seine Gegenwart begann sie zu belasten, nicht, weil er unangenehm war, sondern weil sie ihn noch immer liebte und das Wissen sie traurig machte, dass sie ihn niemals für sich allein haben würde.
Ihn zu bitten, jetzt zu gehen, das konnte sie aber auch nicht.
Angela atmete erleichtert auf, als er sich unvermittelt erhob. Sie tat es ihm gleich. Sie standen sich gegenüber, sahen sich an, dann lag sie in seinen Armen.
Das hatte nichts mit Leidenschaft oder Verlangen zu tun, es war eine Umarmung der Zärtlichkeit und, das wussten sie beide, des Abschieds.
Sie waren beide still, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich voneinander lösten.
»Angela, danke für alles, was du für mich getan hast. Und es tut mir so unendlich leid, dass ich dir nicht das geben konnte, nicht geben kann, was du verdienst …, es war egoistisch von mir, deine Liebe für mein Wohlbefinden zu gebrauchen …, ich werde das Haus verkaufen, da du es ja nicht willst und ich ganz gewiss nicht in den Sonnenwinkel ziehen werde. Meine Freunde, die Auerbachs, kann ich überall sehen …, und wenn wir uns begegnen sollten, ich werde es mit Liebe im Herzen tun. Ich werde dich niemals vergessen. Ich kann dich verstehen, du hast mehr verdient als das, was ich dir geben kann …, god bless you …«
Er drehte sich abrupt um, rannte förmlich aus dem Haus, Angela blieb wie angewurzelt stehen, dann begann sie zu weinen.
Und ein wenig haderte sie auch mit ihrem Schicksal. Warum schickte Gott ihr einen Mann wie Berthold? Nur um ihr zu zeigen, dass es so etwas auch gab?
Allmählich beruhigte sie sich wieder, gelitten hatte sie genug, denn es war ein Abschied auf Raten gewesen, und sie hatten Schluss gemacht. Es war nur wieder ein winziger Hoffnungsschimmer aufgetaucht, als Berthold das Haus nicht verkauft hatte, um alle Optionen offen zu lassen. In ihrem Fall gab es keine Option, Berthold wollte an seiner Vergangenheit festhalten, und sie zusätzlich haben. Und das ging nicht. Schöne, zärtliche Erinnerungen an seine Familie, die hätte sie mit ihm geteilt, denn man konnte ein Stück seines Lebens nicht einfach abschneiden, als habe es es nie gegeben. Andererseits konnte man für diesen Teil seiner Vergangenheit keinen Altar bauen und ihn anbeten.
Das Leben war kompliziert.
Angela räumte das benutzte Geschirr weg, dann zog sie sich um, schlüpfte in eine Sporthose, ein Shirt, zog darüber eine Sweat-Jacke, an die Füße Sportschuhe, dann verließ sie das Haus in Richtung See. Sie würde ihn umrunden, sich von der Schönheit ringsum gefangen nehmen lassen, und an der Bank, auf der sie mit Berthold diesen magischen Augenblick hatte, würde sie schnell vorüberlaufen.
Und irgendwann, wenn das Chaos in ihr zur Ruhe gekommen war, würde sie sich wieder auf die Bank setzen und sich liebevoll den schönen Erinnerungen hingeben, die sie an Berthold hatte.
Ein wenig waren sie wie die Königskinder, die nicht zueinander kommen konnten. Doch sie trennte nicht das Wasser, nein, es war seine Vergangenheit, die er nicht loslassen konnte …
*
Inge Auerbach und Rosmarie Rückert waren mittlerweile viel zu eng miteinander, um sich als Konkurrentinnen zu sehen. Und wie nicht anders zu erwarten, hatte Inge sich für Rosmarie gefreut, dass es mit Fabian und Familie gemeinsame Urlaube auf besondere Art geben sollte. Das war etwas, was mit ihrem Werner niemals möglich wäre. Es musste auch nicht sein. Ein Urlaub mit Werner, das allein wäre etwas.
Sie tranken gemeinsam Kaffee, das war ein schönes Ritual, wenn er daheim arbeitete und eine kleine Pause machte, aus seinem Arbeitszimmer herauskam.
Gerade hatte Inge ihm von dem erzählt, was die Rückerts junior und Rückerts senior planten. Sie hatte es bereits vor einigen Tagen von Rosmarie erfahren, doch bislang hatte sich keine Gelegenheit ergeben, es Werner zu erzählen, zumal Inge auch wusste, dass das etwas war, was Werner nicht gerade interessierte.
Nachdem Werner genüsslich seinen Kuchen gegessen hatte, sagte er: »Ehrlich mal, Inge, warum wollen Rosmarie und Heinz nun doch wieder diese Nummer mit dem Campingurlaub durchziehen? Sie kamen doch frustriert von ihrer letzten Reise zurück und hatten sich geschworen, Urlaube dieser Art in Zukunft zu lassen, Heinz wollte diesen teuren Wagen verkaufen, egal, zu welchem Preis. Und nun das.«
»Werner, es hat sich etwas verändert, Fabian, Ricky und die Kinder möchten gemeinsam mit Rosmarie und Werner etwas unternehmen, so etwas schweißt zusammen, sie können sich näherkommen, und das freut mich.«
»Meine Liebe, es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein, sie können sich so auf die Nerven gehen, dass sie sich hoffnungslos zerstreiten. Und das Eis, auf dem sie sich bewegen, das ist ja noch ziemlich brüchig, wie du weißt. Wenn man etwas klären will, setzt man sich gemeinsam an den Tisch, nimmt sich die Zeit, über alles zu reden. Dazu braucht man wahrhaftig nicht diese Pfadfinderromantik.«
Das war wieder einmal typisch Werner!
»Sie wollen mit mehr oder weniger komfortablen Wohnmobilen losfahren, das hat nun wirklich nichts mit Pfadfinderromantik zu tun. Und was die Gespräche anbelangt, die bringen am Tisch auch nicht immer die erhofften Resultate, mein lieber Werner. Erinnere dich bitte an uns, wenn wir das versuchen, oder wenn eines der Kinder da ist. Es gibt sehr selten Resultate, und wenn du ehrlich bist, dann musst du zugeben, dass du niemals zu Ende diskutierst, sondern meistens frustriert davonläufst.«
Er sagte nicht sofort etwas, deshalb fuhr Inge fort: »Mit den Wohnmobilen irgendwo im Nirgendwo fährt man nicht davon, es sei denn, man ist hoffnungslos verkracht. Also bleibt man, bringt es zu einem Ende.«
Werner wusste, dass er nicht weiter schweigen konnte, aber er hatte keine Lust, dieses Gespräch fortzusetzen, es gefiel ihm nicht, weil Inge recht hatte. Also begann er, einfach von etwas anderem zu sprechen.
Doch darauf ging Inge jetzt nicht ein, da gab es noch etwas, was ihr schon länger auf der Seele brannte.
»Werner, die Rückerts sind zu beneiden, wir zwei sollten auch wieder mal Urlaub machen. Findest du nicht, dass es an der Zeit ist, endlich mal eine gemeinsame Reise zu unternehmen? Wann immer wir es wollten, hat es sich zerschlagen.« Am liebsten hätte sie hinzugefügt – oder wir waren miteinander verkracht. Das verkniff sie sich, Werner konnte ganz gut austeilen, einstecken konnte er überhaupt nicht, da war er wie ein Mimöschen.
»Es war in den meisten Fällen nicht meine Schuld«, wandte Werner ein, und da konnte Inge nicht widersprechen, weil es zutraf.
»Jetzt könnten wir etwas unternehmen, Pamela würde sich sehr freuen, weil sie sich dann bei den Großeltern einmieten kann. Und wenn wir nur nach Schweden fliegen, um uns unsere neue Enkelin endlich anzusehen. Jörg und Charlotte laden uns immer wieder ein. Es ist schon richtig peinlich, dass wir keiner dieser Einladungen folgen. Ich glaube, Jörg ist schon sauer, denn er kommt kaum noch vorbei, wenn er in Deutschland zu tun hat.«
»Er kommt nicht, weil es keine Projekte gibt, die eine Reise nach Deutschland erforderlich machen.«
Das traf zu, da hatte Werner recht.
»Na ja, es geht auch eher um eine Reise zu ihnen, ich fühle mich schlecht, weil wir die kleine Lena noch nicht gesehen haben, wenn wir den Besuch weiter hinausschieben, dann geht die Kleine zur Schule, und wir haben sie als die Großeltern noch immer nicht gesehen, allmählich beginnt es peinlich zu werden.«
Der Professor seufzte.
Dass Inge immer so maßlos übertreiben musste.
»Du meine Güte, das Kind wurde gerade erst geboren, es ist also noch hinreichend Zeit, es uns irgendwann mal anzusehen. Babys schreien, und anfangen kann man mit ihnen auch nicht sehr viel. Wir bekommen doch gefühlte tausende von Fotos der kleinen Lena in allen Lebenslagen, wenn sie lacht, wenn sie weint, wenn sie schläft.«
»Werner, es ist etwas anderes, ein Kind im Arm zu halten, seine Wärme zu spüren, es zu riechen, gerade, wenn sie so klein sind, sind Kinder etwas Besonderes.«
Werner begann sich unbehaglich zu fühlen.
»Inge, können wir über etwas anderes sprechen?«
Nein, so schnell gab sie nicht auf.
»Weil du das alles nicht wirklich kennst, Werner. Du warst ja meistens unterwegs, und wenn es mal anders war, wenn du nach Hause kamst, dann warst du stets genervt, als die Kinder klein waren, weinten, nachts schrien, weil sie beispielsweise ihre Zähnchen bekamen …, du hast dann das Weite gesucht und wenn nicht, dann bist du ins Gästezimmer geflüchtet, um bloß nichts mitzubekommen. Jetzt bei der kleinen Lena kannst du wenigstens ansatzweise erleben, was du bei deinen eigenen Kindern versäumt hast.«
Nach diesen Worten war es still. Als sie in das Gesicht ihres Mannes schaute, bekam Inge sofort ein schlechtes Gewissen. Sie hätte jetzt die ollen Kamellen, die Vergangenheit nicht hervorkramen sollen. Zu allem gehörten immer zwei. Sie hatte es die ganzen Jahre über mitgemacht, und es war für niemanden hilfreich, jetzt davon anzufangen. Schon wollte sie ihm sagen, wie sehr sie ihre Worte von eben bedauerte, als Werner anfing zu sprechen.
»Inge, mir ist schon bewusst, was für ein Egoist ich war, dich mit allem allein zu lassen. Bitte glaub mir, dass das nichts damit zu tun hatte, dass ich von den Kindern genervt war, ja, das war ich streckenweise, doch das nur, weil ich damit nicht umgehen konnte. Ich habe mir immer eine Familie gewünscht, und ich bin über jedes unserer Kinder glücklich, auch über unsere Enkelkinder. Ich liebe sie alle, bin stolz und glücklich, aber …«, er schenkte ihr einen Blick voller Liebe. »Inge, ich bin mir sicher, dass ich mich auch heute nicht anders verhalten würde. Ich bewundere dich unglaublich dafür, wie du das alles gemanagt hast, du besitzt meine ganze Hochachtung, was für prachtvolle Menschen du aus unseren Kindern gemacht hast …, ich …, ich bin nur gut in dem, was ich mein Leben lang gemacht habe, was ich auch, so glaube ich, perfekt beherrsche. Kein Mensch kann über seinen Schatten springen, beruflich bin ich auf der Erfolgsleiter ganz oben angekommen, privat …, da habe ich nicht mal die erste Sprosse der Leiter erklommen. Und das macht mir Angst. Inge, mein ganzes Leben fliegt mir derzeit um die Ohren. Das, was mein Leben ausgemacht hat, in dem ich mich wohlgefühlt habe, in dem ich unersetzlich war, das gibt es nicht mehr.« Als er ihren entsetzten Blick bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Inge, das hat nichts damit zu tun, dass ich dir versprochen habe, kürzerzutreten, nein. Es war ganz angenehm für mich, es vorzuschieben, um mich der Wahrheit nicht stellen zu müssen. In Wirklichkeit ist es nämlich so, dass alles seine Zeit hat, jüngere Wissenschaftler nachrücken, die verdammt gut sind und gefragt …, vielleicht habe ich deswegen zugegriffen, wenn man mich noch haben wollte. Auch das wiederum war egoistisch, weil ich nur an mich dachte, doch, Inge …«, er blickte sie an, zögerte, »ich beneide dich darum, wie fest du in deinem Leben verankert bist, verankert und von allen geliebt. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren, und auch wenn mein Verstand mir sagt, dass nichts für die Ewigkeit bestimmt ist, so kann und will ich es nicht einsehen, dass meine Zeit vorüber ist, dass ich nicht mehr gebraucht werde, zum alten Eisen gehöre. Es ist so, im regulären Berufsleben in der Wissenschaft, alles hat ein Verfallsdatum, und nach dem wird man ausgemustert, ohne Vorwarnung, da haben es die Selbstständigen einfacher, die können arbeiten, solange es ihnen Spaß macht.«
»Oder solange sie es müssen, weil sie für ihr Alter nicht vorgesorgt haben, aber wie kommst du denn bei dir nur auf einen derartigen Unsinn, Werner? Du bist ein weltweit gefragter Wissenschaftler, man reißt sich um dich, du kannst Säle voller Menschen begeistern, und wenn …«
Er unterbrach sie, winkte ab.
»Das war einmal, Inge, das war einmal.«
Musste sie sich jetzt Sorgen machen? Was war denn plötzlich mit Werner los? So kannte sie ihn nicht. Es ging nicht anders, sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, ihn zu fragen, statt aufzuzählen, welche Verdienste er für die Wissenschaft errungen hatte, wie erfolgreich seine Bücher waren. Das schien augenblicklich für Werner nicht zu zählen.
»Werner, warum bist du jetzt so negativ?«
Die Frage stand im Raum, doch Werner antwortete lange nicht darauf, und obwohl sie es wissen wollte, drängte sie ihn nicht. Sie merkte aber, wie unbehaglich ihr war, und das verstärkte sich, je länger Werner schwieg.
Endlich begann er zu reden.
»Du weißt doch, dass ich diese Anfrage aus San Francisco hatte, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Und wir beschlossen, dass du der auf jeden Fall folgen wirst, weil es eine ganz besondere Ehre ist, dort zu reden.«
Wieder erfolgte eine Pause, Inge wurde immer nervöser, trank Kaffee, obwohl das ihre Nervosität nur noch steigerte.
»Es kam eine Absage, Inge«, seine Stimme klang dumpf, »man hat sich für einen wesentlich jüngeren Kollegen entschieden, der dabei ist, sich einen Namen zu machen, und der überall begehrt ist.«
Was sollte sie jetzt dazu sagen? Freuen konnte sie sich nicht, obwohl sie das am liebsten getan hätte, weil es bedeutete, dass Werner nicht verreisen würde. Ganz nachvollziehen konnte sie nicht, warum er jetzt so am Boden zerstört war. Manchmal wurden Programme umgestellt, da passte das ursprünglich Geplante nicht mehr. Gerade Werner musste das wissen, denn in der Vergangenheit hatte er mehrfach von solchen Änderungen profitiert, dann war er ausgewählt worden, weil das, was er zu sagen hatte, besser in das neue Konzept passte. Ganz vorsichtig erinnerte sie ihn daran, doch Werner wollte einfach nichts davon wissen. Er hatte sich etwas in den Kopf gesetzt, und daran hielt er fest. Inge wusste, wie stur Werner manchmal sein konnte, wie er auf seiner vorgefassten Meinung beharren konnte.
»Nein, nein, Inge, es war jetzt ein netter Versuch, mich zu trösten. Das war jetzt wieder mal ein Beweis dafür, dass meine Zeit einfach vorbei ist.«
»Unsinn, Werner …«
Er ließ sie ihren Satz nicht beenden.
»Es ist ja nicht nur die Absage, frühere Kollegen, mit denen ich mich ausgetauscht habe, die melden sich nicht mehr, sind nicht mehr erreichbar.«
»Weil sie sich vielleicht ins Privatleben zurückgezogen haben? Vielleicht, weil sie auf Reisen gehen, ihr Privatleben genießen? Für sie war es an der Zeit, sich zurückzuziehen.«
Er nickte. »Und ich tue es nicht, ich hänge an meinem alten Leben …, doch Inge, das ist das, was ich kann, was mich ausmacht. Ich weiß nicht, wie Privatleben und Familienleben gehen, das war für mich immer eine sehr angenehme Randerscheinung.«
Das also war es, Werner hatte Angst.
Angst davor, nicht mehr der bewunderte, verehrte Professor Auerbach zu sein, der sich im Licht seines Erfolges sonnte.
»Werner, lass dich doch von einer Absage nicht so niederziehen, und wen du nicht sofort erreichst, versuche es wieder oder schreib, hinterlasse eine Nachricht, interpretiere bloß jetzt nicht in alles etwas hinein. Du kannst dich noch immer vor Anfragen nicht retten, mehr als nur ein Verlag ist heiß darauf, von dir ein Manuskript in die Finger zu bekommen, und Werner«, ihre Stimme wurde leiser, »man kann alles lernen, auch Privatleben, und glaub mir, das ist ganz wundervoll und erfüllend.«
Er antwortete nicht darauf, sie wusste nicht einmal, ob er ihre Worte überhaupt wahrgenommen hatte. Inge war wirklich sehr besorgt, weil sie ihren selbstbewussten Werner so nicht kannte, Werner, der wie ein Häufchen Elend auf seinem Platz saß und die Welt nicht mehr verstand.
Als das Schweigen anfing sie zu belasten, erhob Inge sich, ging zu ihm, legte ihre Arme um ihn, drückte ihr Gesicht an seines. So verharrten sie eine ganze Weile, ehe sie ganz leise sagte: »Werner, wir sind gesund, wir haben uns, unsere Familie, das ist etwas, wofür wir dankbar sein müssen. Das ist es, was zählt, nicht das, was du bislang gelebt hast. Und wenn du magst, dann helfe ich dir bei deinen Schritten in ein Leben, das du noch nicht kennst …, nur am Rande erlebt hast. Und das tue ich von Herzen gern, weil ich dich liebe, vom ersten Augenblick an geliebt habe.«
Inges Worte hingen im Raum, berührten Werners Herz. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er, der ganze Säle begeistern konnte, etwas sagen konnte, und es war nicht viel, doch es kam vom Herzen.
»Danke, Inge, ich bin so froh, dich in meinem Leben zu haben, du bist ein Geschenk des Himmels.«
Nach diesen Worten war es erst einmal für eine ganze Weile still, denn Inge und Werner küssten sich. Innig und zärtlich wie schon lange nicht mehr. In diesem Augenblick war die Gegenwart ausgeschaltet, sie erlebten die Magie ihrer ersten Begegnung, aus der eine für das ganze Leben geworden war. Eines erfüllten Lebens, in dem es hier und da gehörig gekracht hatte, doch ihre Liebe war daran nicht zerbrochen, und das war ein gutes Zeichen dafür, dass sie jeden Sturm überdauern würde. Daran hatte Inge überhaupt keinen Zweifel. Und Werner? Für den war es schwieriger, denn der musste sein gekränktes Ego beruhigen und im wahren Leben ankommen, in dem man nicht für alles, was man tat, bewundert wurde und in dem man auch nicht fortwährend applaudierte. Es war ein schwerer Weg für den Herrn Professor Werner Auerbach, doch Inge würde alles tun, ihm zu helfen, denn bei all seinen Unzulänglichkeiten, die er vor sich hertrug, besaß Werner einen guten Kern. Er sorgte für seine Frau, wie er es stets für seine Kinder getan hatte, es für Pamela immer noch tat. Irgendwann würde er begreifen, was sie gerade versucht hatte, ihm zu erklären.
Sie schmiegte sich enger an ihn, sie waren sich so nahe, und das nicht nur körperlich, nein, ihre Herzen hatten eine gemeinsame Sprache.
*
Es war ja ein Abschied auf Raten gewesen, sie hatten sich darauf einstellen können, doch Roberta hätte niemals für möglich gehalten, dass der endgültige Abschied ihr so nahe gehen würde, und Claire ging es nicht anders.
Beide Frauen waren emotional sehr berührt, und das war etwas, was zunahm, je näher der Moment kam, in dem sich ihre Wege trennen würden.
Alma hatte sich von Claire verabschiedet, sie hatte sehr geweint, und auch Claires Augen waren nicht trocken geblieben, weil Alma die ganze Gefühlsskala rauf und runter gegangen war. Sie mochte die Frau Dr. Müller sehr, und wenn Alma jemanden mochte, dann musste sie es auch zeigen.
Danach hatte Alma sich diskret zurückgezogen, Roberta und Claire waren allein zurückgeblieben, und weil auch sie mit ihren Emotionen zu kämpfen hatten, unterhielten sie sich zunächst ganz unverfänglich über Allgemeines. Das konnte nicht anhalten, die Zeit eilte ihnen davon, und Claire musste noch an diesem Tag ihren Flieger erreichen, der sie zu Piet bringen würde, der bereits sehnsüchtig auf sie wartete.
Roberta lenkte das Gespräch auf das, was wichtig war, was ihr noch am Herzen lag. »Claire, ich werde dich sehr vermissen, wir zwei sind wirklich ein so gutes Team, das war damals so, und das hat sich hier im Sonnenwinkel ebenfalls gezeigt. Und in die Herzen der Patienten hast du dich ebenfalls geschlichen, nicht zu vergessen in die von Ursel und Leni, so bewegt wie bei eurem endgültigen Abschied habe ich die Damen noch nie zuvor erlebt, die zunächst doch eher einen kühlen, zurückhaltenden Eindruck machen.«
Claire bestätigte, wie nahe ihr der Abschied ebenfalls gegangen war.
»Weißt du, Roberta, ganz richtig kann ich noch immer nicht begreifen, was sich da gerade in meinem Leben abspielt, es überrollt mich ein wenig, zumal es ja auch alles ganz anders gekommen ist als ursprünglich geplant. Dieses Feuer hat nicht nur da oben alles zerstört, sondern es hat auch für uns alles zunichtegemacht. Ganz richtig kann ich noch immer nicht begreifen, was da geschehen ist. Was sind das bloß für Menschen, die eiskalt und skrupellos eine gesamte Anlage, die viele Millionen gekostet hat, zerstören. Nicht nur das, die in Kauf nehmen, dass der wirtschaftliche Aufschwung für eine ganze Region zunichtegemacht wird. Und was ich besonders schlimm finde ist, dass man bis heute den oder die Brandstifter nicht gefasst hat. Wie es scheint, werden diese Verbrecher ungeschoren davonkommen. Aber das ist auch egal«, Claires Stimme klang resigniert, »auch wenn man sie fasst und bestraft, ändert es nichts an der Tatsache, dass nichts als Trümmer zurückgeblieben sind. Piet gehört nicht zu den Menschen, für die eine Bestrafung eine Genugtuung ist, es macht ihn auch nicht glücklich.«
»Aber glücklich macht es ihn, dich in seinem Leben zu haben, Claire. Mit dir an seiner Seite lässt sich alles leichter ertragen.«
»Das sagt Piet mir auch immer wieder«, bestätigte Claire sofort, »doch ich fühle, wie tief Piet in seinem Inneren getroffen ist, und auch wenn es irgendwann verblasst, ein Stachel wird immer bleiben. Und es ist auch nicht damit getan, dass die Versicherung den entstandenen Schaden voll ersetzt. Geld ist nicht alles, Piet hatte eine Vision, und es hätte wirklich was richtig Gutes werden können. Doch die Leute sahen nur die Schönheitsklinik, das Hotel für die Schönen und Reichen und dazu all die Annehmlichkeiten wie halt Golfplatz, Tennisplätze und Spa. Es gab unzählige Voranmeldungen, hätte einen dicken Gewinn eingebracht. Leider hat niemand gesehen, dass dieser einem guten Zweck zugeflossen wäre, dass man damit vielen Menschen hätte helfen können.«
»Leider weiß niemand, welch caritative Ader dein Piet hat, Claire. Äußerlich wirkt er wie der coole Macher, der dynamisch mit seinem teuren Auto angebraust kommt, hier und da seine Anweisungen gibt und dann wieder davonfährt, um als Globalplayer weltweit mitzumischen.«
»Dabei ist Piet so ganz anders«, Claire bekam einen ganz verträumten Blick, »er ist großzügig, warmherzig, und das sage ich jetzt nicht, weil ich ihn liebe und, was ihn betrifft, einen verklärten Blick habe. Frag mal Teresa von Roth, die wird es bestätigen.«
»Hat sie schon, liebe Claire. Sie erzählt jedem, der es hören will oder nicht, was für ein wunderbarer Mensch Piet ist, und wenn jemand etwas Gegenteiliges behauptet, der bekommt ihre spitze Zunge zu spüren, ich finde es großartig, wie Teresa von Roth zu dem steht, wovon sie überzeugt ist. Und von deinem Piet finde ich es noch großartiger, dass er ihr diese Chance gibt. Etwas Besseres hätte er überhaupt nicht tun können, weil er sich auf Frau von Roth voll und ganz verlassen kann, und was noch wichtiger ist, sie mit ihrer ganzen Lebenserfahrung hat nicht nur den Durchblick, sondern sie kann auch als Schlichterin auftreten. Eine der Erzieherinnen dieses neuen Projekts, das ja in Kürze eröffnet wird, ist eine Patientin von mir, und du solltest sie mal hören, sie betet Teresa an und hat mir bestätigt, dass alle von ihr begeistert sind.«
»Piet auch«, jetzt musste Claire lächeln, »wäre Frau von Roth nicht eine ältere Dame, dann wäre ich ziemlich eifersüchtig auf sie.«
Sie unterhielten sich nun doch über etwas anderes, aber Teresa von Roth war auch jemand, über den man nicht aufhören konnte zu reden. Sie waren beide begeistert von dieser Dame.
Und dann war es Claire, die ganz entsetzt aufsprang.
»Roberta, sieh mal auf die Uhr, wie spät es ist. Jetzt muss ich mich aber sputen, denn ich muss auch noch den Mietwagen abstellen, weil mein Auto verkauft ist.«
»Und von mir möchtest du dich ja nicht zum Flughafen fahren lassen, Claire. Ich hätte es sehr gern getan.«
»Weiß ich doch, doch ich hasse Abschiede an Flughäfen, bei den Ankünften ist es anders.«
»Und da bist du genau wie Lars«, entschlüpfte es Roberta, und sie war ganz erstaunt, dass sie jetzt nicht von einer Welle des Schmerzes erfasst wurde.
Sie umarmten sich.
»Claire, ich muss dir nicht wünschen, dass du glücklich werden sollst mit deinem Piet, du bist es, das kann selbst ein Blinder sehen. Und das freut mich sehr. Genieße es jeden Tag, denn Glück ist sehr zerbrechlich.«
Claire antwortete nicht, sie klopfte Roberta nur sanft und verstehend auf den Rücken.
»Wir bleiben in Verbindung, und es tut mir wirklich leid, dass du nun leider nicht meine Trauzeugin werden kannst, denn ich glaube kaum, dass du um die halbe Welt jetten wirst, um das zu werden, und die Hochzeit hier, die hat sich ja, wie du weißt, leider zerschlagen. Ich kann Piet so gut verstehen, dass er den Auftakt für unser gemeinsames Leben nicht ausgerechnet hier haben möchte.«
»Claire, zerbrich dir deswegen nicht den Kopf, es ist nur eine Formsache, egal, wo ihr den Bund fürs Leben schließen werdet, in Gedanken werde ich dabei sein.«
Es gab noch ein paar letzte Worte, Umarmungen, und dann brachte Roberta Claire zur Tür, die eilig in das Auto stieg, winkte und dann davonbrauste.
Nachdenklich blieb Roberta noch eine ganze Weile im Türrahmen stehen. Sie hatte noch so vieles sagen wollen, doch die Zeit war ihnen wirklich davongeflogen.
Nun war Claire weg, und man sollte zwar niemals nie sagen, doch in diesem Fall war Roberta sich sehr sicher, dass es mit ihr und Claire kein drittes Mal geben würde.
Claire hatte die Liebe ihres Lebens gefunden, sie würde mit ihrer großen Liebe fortan gemeinsam durchs Leben gehen, und das war etwas, was Roberta wirklich sehr freute. Claire hatte es so sehr verdient, endlich bei einem Mann angekommen zu sein, denn so prickelnd war es auch nicht gerade gewesen, was sie vor Piet mit den Männern erlebt hatte. Einen Vorteil ihr gegenüber hatte Claire, dass sie mit keinem von ihnen verheiratet gewesen war und dass es bei der Trennung keinen schrecklichen, zermürbenden Rosenkrieg gegeben hatte wie bei ihr und dem Schwerenöter Max Steinfeld, dessen Namen sie leider noch immer trug. Zum Glück hörte sie nichts mehr von ihm, seit er diesen Goldfisch an der Angel hatte. Und das war gut so.
Claire und Piet.
Sie wünschte ihnen wirklich alles Glück der Welt, und mit Erstaunen stellte sie fest, dass es wirklich nicht mehr so wehtat, wenn sie an Lars dachte und daran, dass auch sie ihn beinahe geheiratet hätte, leider nur beinahe.
Natürlich würde Roberta immer an ihn denken, denn er war die Liebe ihres Lebens. Um sich selbst zu retten und um nicht in eine tiefe Depression zu fallen, hatte sie an sich gearbeitet, und wenn sie jetzt an Lars dachte, war es mit einem großen Gefühl von Dankbarkeit, dass sie sie erleben durfte, diese große, die einmalige Liebe …
Leute gingen vorbei, grüßten, sie grüßte zurück, und dann lief sie rasch wieder ins Haus, weil sie keine Lust hatte, jetzt mit jemandem zu reden. Sie wollte allein sein, sich ihren Gedanken hingeben, ja, auch welchen an Claire, denn auch dafür musste sie dankbar sein, was sie miteinander in der Praxis gestemmt hatten. Sie waren wirklich ein sehr fantastisches Team gewesen.
Beinahe wollte Roberta sich wieder Gedanken hingeben, die in die Richtung gingen, dass sie nichts festhalten konnte, dass sie alles, was ihr wichtig war, wieder verlor.
Damit durfte sie gar nicht erst anfangen, weil solche Gedanken töricht waren. Es ging ihr gut, sie war Ärztin aus Leidenschaft, wohnte in einem wunderschönen Haus, das ihr gehörte, sie wurde von Alma umsorgt, die ein richtiges Goldstück war, sie hatte großartige Mitarbeiterinnen, die voll hinter ihr standen, sie wurde von ihren Patientinnen und Patienten geliebt, hatte sich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut, sie war gesund. Was wollte sie eigentlich mehr?
Als sie ins Wohnzimmer trat, fiel ihr Blick auf eines der Fotos von Lars. Sie konnte nicht anders, Roberta nahm es in die Hand, betrachtete sein liebes Gesicht, küsste es, und als sie das Foto wieder wegstellte, murmelte sie: »Mit dir an meiner Seite wäre mein Leben perfekt.«
Roberta war stolz, dass sie jetzt nicht anfing zu weinen, und um vorzubeugen, weil sie sich nicht sicher war, ob die Tränen nicht doch noch fließen würden, ging sie rasch in die Praxis hinüber und vertiefte sich in Krankenakten von Patienten, die ihr Sorgen machten. Das half immer, denn dann wurde sie von allem abgelenkt, auch von den Gedanken an Lars.
*
Ulrike war noch immer nicht richtig im Sonnenwinkel angekommen, dabei war das Haus, das sie gemietet hatte, wirklich sehr hübsch. Es lag auch nicht an dem Haus, an der Umgebung, sondern es lag an ihr. Sie hätte nicht so kopflos alles aufgeben dürfen. Sie war so töricht gewesen, und wenn sie ehrlich war, dann schämte sie sich sehr, wie ein Teenie auf all die Versprechungen hereingefallen zu sein, die Sebastian gemacht hatte. Alles Lügen. Und sie war ihm auf den Leim gegangen, die in klugen Büchern Weisheiten verbreitete über die Verhaltensweisen von Menschen, ganz besonders auch von Paaren. Sie war klug, und was sie schrieb, das stimmte, es war für die Leserinnen und Leser eine Bereicherung. Als sie Sebastian auf den Leim gegangen war, musste sie ein Brett vor dem Kopf gehabt haben.
Sebastian, dieser Rattenfänger, dieser Lügner. Es kochte in ihr hoch, und das war etwas, was sie nun überhaupt nicht gebrauchen konnte. Sie war froh, dass sie zwischendurch ausblenden konnte, was da geschehen war.
Ulrike hatte angefangen zu arbeiten, und erstaunlicherweise war es ihr sogar gelungen, ein paar gescheite Sätze aufs Papier zu bringen für ein Buch, das Sebastian nicht mehr herausbringen würde, was er natürlich wollte, weil es ihm viel Geld eingebracht hätte. Und ihre Sachbücher nicht mehr verlegen zu dürfen, das traf ihn mehr als sie verloren zu haben. Wichtig war sie nicht, wichtig waren seine Frau, seine Tochter und das Kind, das sie endlich bekommen würden.
Ulrike merkte, wie ihre Gedanken begannen, sich in eine ganz gefährliche Richtung zu bewegen, deswegen beschloss sie, das Haus zu verlassen, etwas zu laufen, um den Kopf frei zu bekommen. Eine gute Läuferin war sie nicht, sie bewunderte insbesondere die Marathonläufer, die diszipliniert und mit sehr viel Ausdauer ihre Kilometer herunterrannten. Das würde sie niemals können, ihr reichte es, eine überschaubare Strecke zu laufen.
Bei ihren Erkundungen der Umgebung war sie zufällig auf die Strecke gestoßen, die die Marathonläufer liefen, auch die Menschen, die ambitionierte Läufer waren. Und dort wollte sie mal ein paar Kilometer laufen, auch, weil sie an der Strecke einen sehr gemütlichen Gasthof entdeckt hatte, in dem nicht nur der Kaffee gut schmeckte, sondern in dem man auch, wie es schien, gut essen konnte. Zumindest hatte alles gut ausgesehen, was die nette Bedienung an ihr vorbeigetragen hatte. Mal sehen, vielleicht würde sie sich nach ihrer sportlichen Betätigung auch belohnen und in dem Gasthof nicht nur etwas trinken, sondern auch essen. Ja, das war eine gute Idee. Ulrike war froh, sich in Hohenborn in dem Sportgeschäft nicht nur ein entsprechendes Outfit gekauft zu haben, sondern auch die richtigen Laufschuhe. Und da war sie schon sehr beeindruckt gewesen von dem Fachwissen des jungen Mannes, der sie bedient hatte. Sie hätte ganz andere Schuhe gekauft, und das nach Gefallen, und die hätte sie anziehen können, um ein wenig am See herumzuspazieren, für einen richtigen Lauf, auch wenn er nur ganz kurz war, wären sie nicht geeignet gewesen.
Rasch zog sie sich um, zog ihre neuen Schuhe an, strich sich über ihre kurzen aschblonden Locken und betrachtete sich im Spiegel. Sie gefiel sich, auch wenn sie sich ein wenig wie eine Hochstaplerin vorkam, den sie strahlte etwas aus, was sie nun wirklich nicht war, eine ambitionierte Sportlerin.
Ach, was sollte es. Sie kannte hier niemanden, und es würde sie gewiss kein Mensch fragen, in welcher Zeit sie einen Marathon lief oder wenigstens einen halben. Außerdem war es nicht nur eine Strecke für Marathonläufer, sie hatte auch Frauen entdeckt, die fröhlich schwatzend mit ihren Stöcken auf der Strecke waren.
Sie begann sich auf ihr Abenteuer zu freuen, wollte gerade das Haus verlassen, als ihr Telefon klingelte.
Nina?
Mit ihrer Freundin würde sie auf jeden Fall reden, weil sie Nina nämlich überreden wollte, bei ihr das Wochenende oder ein paar freie Tage zu verbringen. Nina fehlte ihr.
Rasch lief sie zum Telefon, meldete sich und rief: »Da hast du aber Glück, ich wollte gerade das Haus verlassen. Willst du mir sagen, dass du kommen wirst?«
Es kam keine Antwort, und das war bei Nina ungewöhnlich, denn die plapperte sofort los.
Ulrike kam ein Verdacht, es war zwar richtig, dass nur Nina ihre neue Telefonnummer besaß, doch Sebastian hatte sie sich, wie auch immer, ebenfalls beschafft.
»Ich würde sehr gern kommen, Uli«, sagte er sofort, noch ehe sie sich wieder gefasst hatte. »Du fehlst mir, wir müssen reden, alles ist ein ganz furchtbares Missverständnis.«
Das schlug jetzt wirklich dem Fass den Boden aus.
»Sebastian, ich habe dir gesagt, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben möchte. Daran hat sich nichts geändert, und was, bitte schön, soll ein Missverständnis sein? Du hast mich belogen, und während du mir etwas von Liebe vorgesäuselt hast, von einer gemeinsamen Zukunft, weil mit deiner Frau doch alles so furchtbar ist, hast du alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mit ihr ein weiteres Kind zu bekommen, und wenn …«, sie brach ihren Satz ab, »es ist müßig, ein weiteres Wort darüber zu verlieren, lass mich endlich in Ruhe. Wenn du noch einmal bei mir anrufst oder gar hier auftauchst, dann mache ich meine Drohung wahr und lasse eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirken, dass du dich mir nicht mehr nähern darfst.«
»Uli, ich weiß ja, dass ich dich verletzt habe, ich war nicht ganz aufrichtig, doch eines stimmt, und das musst du mir wirklich glauben, ich liebe dich über alles, und wir …«
»Sebastian, fang jetzt nicht damit an, wie wunderbar wir zusammengearbeitet haben«, unterbrach sie ihn. »Du siehst deine Fälle davonschwimmen, und wenn du das heraufbeschwörst, was zugegebenermaßen wirklich mal schön war, dann geht es dir doch um nichts weiter als den Profit, den du mit meinen Manuskripten machen kannst, um sonst überhaupt nichts. Also lass die Herumsülzerei, begreife endlich, dass es mit unserer Zusammenarbeit vorbei ist, wie mit uns privat. Übrigens kannst du mir auch nicht mehr damit drohen, dass ich verpflichtet bin, weiterhin für deinen Verlag zu arbeiten, weil mir sonst eine hohe Konventionalstrafe droht. Stimmt nicht. Das war mir vorher schon klar, doch jetzt habe ich es mir von einem Rechtsanwalt bestätigen lassen. Es besteht keinerlei vertragliche Verpflichtung. Übrigens, ich denke, dass es dich interessieren wird. Ich habe Kontakt zum Spektrum-Verlag aufgenommen, und dort sind sie vor lauter Begeisterung fast auf den Tisch gesprungen, als ich ihnen in Aussicht stellte, ihnen mein neues Manuskript zu schicken.«
Jetzt war es am anderen Ende der Leitung mucksmäuschenstill, und Ulrike wusste auch warum. Der Spektrum-Verlag war Sebastians größter Konkurrent, und wenn sein allerbestes Pferd im Stall ausgerechnet dorthin überwechseln wollte, dann musste das bei dem guten Sebastian eine Schnappatmung verursachen.
Es war ein Schuss ins Leere gewesen. Ulrike hatte sich überhaupt noch keine Gedanken darüber gemacht, welchem Verlag sie künftighin ihre Arbeiten anbieten würde. Aber das mit dem Spektrum-Verlag würde ihm schlaflose Nächte bereiten. Sollte es doch, sie hatte seinetwegen viele schlaflose Nächte gehabt und sich beinahe die Seele aus dem Leib geweint.
»Das kannst du nicht tun, Uli«, ächzte er schließlich mit bebender Stimme.
Ulrike wunderte sich, dass sie so ruhig sein konnte, als sie nun sagte: »Doch, ich kann, Sebastian. Du hast mir vorgemacht, was man alles tun kann. Doch ich möchte jetzt davon aufhören, weil ich nämlich keine Lust habe, auch noch ein einziges Wort mit dir zu reden. Ich habe eine Verabredung, zu der ich nicht zu spät kommen möchte …, äh …, mit einem sehr charmanten Herrn. Das nur nebenbei, und zum Abschluss noch einmal, rufe mich nicht mehr an, wage es nicht, hier vorbeizukommen. Nimm ernst, was ich dir gesagt habe, denn sonst musst du mit den angekündigten Konsequenzen rechnen.«
Nach diesen Worten wartete sie keine Antwort mehr ab, sondern legte einfach auf. Sie hatte sich töricht verhalten, es war unnötig gewesen, das mit der Verabredung zu erwähnen, so etwas machten Teenies, um jemandem etwas heimzuzahlen, keine erwachsenen Frauen. Sie befand sich halt noch immer in einem Ausnahmezustand und war nicht in der Lage, sachlich zu argumentieren. Dazu war sie noch viel zu verletzt. Sie hatte diesen Mann geliebt, hatte seinen Versprechungen geglaubt, auf ein gemeinsames Leben gehofft. Gefühle ließen sich nicht einfach abstellen.
Sie war so gut drauf gewesen, als sie sich entschlossen hatte, die Laufschuhe und das entsprechende Outfit anzuziehen, jetzt würde sie sich am liebsten wieder ausziehen, und dann?
Nein!
Jetzt war sie nicht mehr in der Lage zu arbeiten, jetzt würde sie sich nur noch auf ihr Sofa oder in einen Sessel setzen und Trübsal blasen. Und das wollte sie nicht, denn dann hätte er ja wieder gewonnen.
Man konnte seinen Problemen nicht davonlaufen, aber den Kopf freibekommen, das konnte man schon, und das war schließlich auch ihre ursprüngliche Idee gewesen. Außerdem war das Wetter schön, nicht zu kalt, nicht zu warm, es regnete nicht.
Ulrike verließ das Haus und fuhr mit ihrem Auto zu dieser Laufstrecke. Als sie dort ankam, entdeckte sie auf dem Parkplatz erstaunlich viele Autos, die Strecke schien beliebt zu sein. Sie sah Männer und Frauen, die entweder gingen oder kamen. Die ihr Pensum hinter sich hatten, machten professionelle Dehnübungen, von denen Ulrike keine Ahnung hatte. Wozu auch? Eines wusste sie, nämlich, dass aus ihr niemals eine verbissene Sportlerin werden würde. Und Marathon? Sie wusste nicht, was in ihrem Leben noch so alles passieren würde, doch eines wusste sie ganz gewiss, Sport, egal welcher Art, würde ihr Leben niemals dominieren. Befände sie sich jetzt noch an ihrem früheren Wohnort, dann würde sie sich mit ihrer Freundin Nina treffen, und sie würde gemeinsam mit ihr allenfalls einen gemütlichen Spaziergang durch den Stadtpark machen, um kein schlechtes Gewissen zu haben, weil man sich doch viel bewegen sollte. Das hörte und las man jetzt überall.
Nun, sie würde jetzt dieser Aufforderung Folge leisten. Ulrike steckte den Autoschlüssel in die Tasche ihrer Sweatjacke, und dann rannte sie einfach los, mit ziemlichen Tempo, weil sie nicht die geringste Ahnung davon hatte, was der richtige Laufschritt war. Der nette Verkäufer in dem Sportgeschäft hatte zwar versucht, ihr da ein paar Regeln beizubringen, doch sie war, ehrlich gesagt, nicht interessiert gewesen. Was sollte das, schließlich war sie schon während ihrer Schulzeit gelaufen, auch wenn es ihr nicht viel Spaß gemacht hatte und sie nicht unbedingt eine Sportskanone gewesen war. Aber verändert hatte sich ja wohl in den Jahren nichts.
Ulrike wusste selbst nicht, warum sie jetzt dieses Tempo vorlegte, sie nahm doch nicht an einem Wettlauf teil und musste als Erste das Ziel erreichen. Und die Leute ringsum, die nahmen sie nicht wahr. Wer hier auf die Strecke ging, wollte seinen Sport machen, sonst nichts.
Sie wäre besser zum See gegangen, dort ein Stückchen gelaufen. Hier hatte sie das Gefühl, unter einem Zugzwang zu stehen, weil alle, egal ob Männer oder Frauen, eine so unglaubliche Leichtigkeit hatten, wenn sie an ihr vorbeiliefen.
Ulrike wurde nicht nur nervös, sondern sie wurde schneller, ihr Atem ging stoßweise, und das konnte es doch wirklich nicht sein. Laufen war nicht ihr Ding, sie wollte umdrehen, machte eine unbedachte Bewegung, stolperte, ruderte mit ihren Armen herum und wäre hingestürzt, hätte einer der Läufer nicht gestoppt und sie aufgefangen.
Sie konnte sich nicht sofort bedanken, denn sie japste, musste erst einmal ihren Atem beruhigen. Endlich konnte sie ein mühsames »danke« hervorstoßen, dann sah sie ihren Retter an. Es war ein sehr sympathisch wirkender Mann mit einem durchtrainierten Körper, und im Gegensatz zu ihr hatte er keine Atemprobleme.
»Schon okay«, sagte er, »Sie sind gelaufen, als müssten Sie um Ihr Leben rennen.«
Sie horchte auf, glaubte, sich an diese wohlklingende Stimme zu erinnern, doch das konnte nicht sein, sie kannte hier niemanden und einen Sportler auf keinen Fall, in diesen Kreisen hatte sie sich auch früher nicht bewegt.
»Ich hatte es mir einfacher vorgestellt«, gab sie zu, »es reichen offensichtlich nicht das richtige Outfit und die perfekten Schuhe. Na ja, es war wohl keine gute Idee.« Sie blickte ihn an. »Danke noch mal, dass Sie mich vor einem Sturz bewahrt haben. So ist ja noch mal alles gut gegangen, es tut mir nur leid, dass dieser Zwischenfall Sie in Ihren Aktivitäten gestört hat.«
Sie nickte ihm zu, wollte den Rückweg antreten, diesmal allerdings, ohne loszurennen, und dann würde sie sich in den Gasthof setzen, etwas essen und trinken und alles, was geschehen war, als Spaß verbuchen.
»Geht es Ihnen wieder gut?«, erkundigte er sich, und das ließ sie innehalten. Sie wusste nicht, was er jetzt mit dieser Frage bezweckte. »Aber ja, dank Ihrer Hilfe ist ja nichts geschehen.«
Damit war es für sie erledigt, für ihn nicht.
»Ich meine nicht diesen kleinen Zwischenfall hier. Wir sind uns schon einmal begegnet …, am See …, da waren Sie sehr unglücklich, und ich gab Ihnen mein Taschentuch.«
Jetzt dämmerte es Ulrike, und sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Klar, da war ein Mann gewesen, der ihr ganz spontan sein Taschentuch gereicht hatte. Doch sie war so durch den Wind gewesen, hatte so sehr geweint, dass sie ihn nicht bewusst wahrgenommen hatte.
Sie schenkte ihm einen vorsichtigen, einen verunsicherten Blick, denn ihr war alles ganz furchtbar peinlich.
»Auch dafür danke, offensichtlich scheinen Sie mein Retter zu sein …, äh …, wenn Sie mir sagen, wohin ich es schicken soll, bekommen Sie das Taschentuch zurück.«
Er winkte ab.
»Behalten Sie es, ich …«
Sie standen sich gegenüber, schwiegen, es war nicht unangenehm, Ulrike sagte ganz spontan: »Jetzt ist es ja wohl nicht so passend, doch ein andermal würde ich Sie gern auf einen Drink einladen …, als Gegenleistung gewissermaßen.«
Ihm war anzusehen, wie erfreut er war. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ihm auch so etwas bereits durch den Kopf gegangen war, er es nur nicht aussprechen wollte, um nicht aufdringlich zu erscheinen.
»Ich nehme die Einladung gern an, gleich«, beeilte er sich zu sagen aus Angst, sie könnte es sich sonst gar noch anders überlegen. Sie gefiel ihm, hatte ihm schon am See gefallen. »Am Anfang der Strecke ist ein Gasthof.«
»Ja, da wäre ich eh gleich hingegangen, also, wenn ich Sie in Ihrer Aktivität nicht störe, dann bin ich einverstanden.«
Sie drehten um, gingen gemeinsam Seite an Seite den Weg zurück, sie war insgeheim froh, dass sie nicht mehr laufen musste.
An seiner Seite hätte sie sich furchtbar blamiert.
»Ich bin übrigens Achim Hellenbrink«, stellte er sich vor, »und oft auf dieser Strecke zu finden, in meiner Freizeit bin ich ein begeisterter Marathonläufer.«
Auch das noch!
»Ich bewundere jeden, der das macht, für mich wäre es niemals eine Option, ich bin ja noch nicht einmal in der Lage, ein paar Kilometer einfach nur zum Spaß herunterzureißen.«
»Man kann alles üben«, entgegnete er, »es ist noch kein Meister von Himmel gefallen, wenn Sie möchten, zeige ich es Ihnen.« Als er ihren entsetzten Blick bemerkte, fügte er lachend hinzu: »Es muss ja kein Marathon sein. Aber würden Sie mir jetzt verraten, wer Sie sind?«
Sie wurde verlegen, er machte sie verlegen.
»Scheibler, Ulrike Scheibler.« Ihren Doktortitel ließ sie weg, sie gehörte nicht zu den Menschen, die damit angaben.
Er blickte sie verblüfft an.
»Die Ulrike Scheibler?«, erkundigte er sich ungläubig. »Haben Sie das Buch über die Trennung von Paaren geschrieben?«
Sie nickte, wusste nicht, wie sie jetzt damit umgehen sollte, denn es war schon ein wenig absurd, dass jemand, noch dazu ein Mann, sie auf einer Laufstrecke, die immer voller wurde, weil sie offensichtlich sehr beliebt war, auf eines ihrer Bücher ansprach, das übrigens ebenfalls ein Bestseller gewesen war.
Ulrike erfuhr, dass ein Freund ihm ans Herz gelegt hatte, dieses Buch zu lesen, als er sich in der Trennungs- und Scheidungsphase von seiner Frau befunden hatte.
»Es ist ein großartiges Buch, und es war für mich sehr hilfreich, es zu lesen.« Er blickte sie ungläubig an. »Und nun steht die Erfolgsautorin vor mir. Das ist etwas, womit ich niemals im Leben gerechnet hätte. Ich will nicht indiskret sein, es interessiert mich wirklich, machen Sie Urlaub hier?«
»Nein, ich habe im Sonnenwinkel ein Haus gemietet.«
»Das ist noch besser, und vor allem ist es eine sehr gute Entscheidung, Auch wenn es mit dem unseligen Brand nicht mehr ganz so friedlich ist, kann man hier doch zur Ruhe kommen, und gewiss werden die Ideen für ein neues Buch nur so sprudeln.«
Sie hätte es jetzt richtigstellen können, sie tat es nicht, denn sie kannte ihn nicht, musste ihm nicht die wahren Gründe nennen, weswegen sie hier war. Er erwartete es offensichtlich auch nicht, sie erfuhr von ihm, dass er Architekt war, geschieden, kinderlos. Danach warf er ihr einen fragenden Blick zu, und diese unausgesprochene Frage konnte sie beantworten. »Ich war noch nie verheiratet, und Kinder habe ich auch nicht.«
»Und dennoch können Sie so kluge Bücher über Beziehungen, Trennungen, menschliche Verhaltensweisen schreiben«, sagte er voller Bewunderung.
»Um das schreiben zu können, muss man nichts davon persönlich erlebt haben, ich habe es studiert, mich immer weitergebildet, über das, was ich schreibe, geforscht.«
Am liebsten hätte sie hinzugefügt, dass ihr persönlich es nichts gebracht hatte, sondern dass sie, obwohl sie es anders wusste, in eine der typischen Fallen getappt war.
Sie hatten den Gasthof erreicht, betraten ihn. Er war gut besucht, meistens hielten sich Sportler und Sportlerinnen im Raum auf, und Achim Hellenbrink kannte man hier, begrüßte ihn freundlich und schenkte Ulrike neugierige Blicke. Entweder war das ein Zeichen dafür, dass er immer wieder mit ständig wechselnden Partnerinnen herkam oder meistens allein.
Was kamen ihr denn da für Gedanken?
Dieser Mann, auch wenn er sympathisch war, war eine Zufallsbekanntschaft. Und aller Wahrscheinlichkeit würden sie sich kaum noch sehen, denn für sie stand eines fest, dass sie diese Laufstrecke in ihrem Leben nicht mehr betreten würde, man musste nicht alles können, und Marathon, für den er schwärmte, der sein Hobby war, so was lag für sie in den Sternen.
Sie musste sich keine Gedanken machen, über nichts, sie begann allerdings, seine Gegenwart immer mehr zu genießen, Achim Hellenbrink sah nicht nur sehr gut aus, war nicht nur sehr sympathisch, sondern er konnte gut erzählen, und ein wenig später stellte Ulrike voller Verwunderung fest, dass er ein Mann war, der sie zum Lachen bringen konnte.
Die Zeit verging.
Gäste kamen und gingen, sie bekamen nichts davon mit, und wer weiß, wie lange sich das fortgesetzt hätte, wären sie nicht durch das Klingeln seines Handys unterbrochen worden. Ein wenig widerwillig meldete er sich, hörte zu, dann sagte er beinahe liebevoll: »Nein, natürlich habe ich es nicht vergessen, Hulda, ich wurde aufgehalten. Doch das Mühlenbrot werde ich dir auf jeden Fall noch vorbeibringe. Ich habe es dir doch versprochen.« Sie sagte etwas, er lächelte. »Weiß ich doch, Hulda, dann bis später, ja?«
Das Gespräch war beendet, Hulda … Ulrike wusste nicht, warum das jetzt etwas mit ihr machte, auch wenn er geschieden war, bedeutete das noch lange nicht, dass es keine Frau in seinem Leben gab, es musste schließlich nicht immer die Ehefrau sein. Und Ulrike konnte jetzt überhaupt nicht begreifen, warum ihr das jetzt so sehr missfiel.
Sie wurde hektisch.
»Es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe, und dass Sie nun …«
Was redete sie da?
Im Gegensatz zu ihr blieb er ruhig, er war wie vor diesem Telefonat.
»Hulda ist meine Schwiegermutter, genau gesagt, ist sie meine Ex-Schwiegermutter. Ich habe sie sehr gern. Wir haben uns immer sehr gut verstanden, und warum soll ich sie aus meinem Leben streichen, nur, weil es mit meiner Frau nicht geklappt hat. Von der wurde ich geschieden, nicht von Hulda. Die hat damit nichts zu tun, ihr tat es nur leid.«
Ulrike war jetzt sehr erleichtert, warum auch immer. Es gefiel ihr sehr, was er da sagte, und diese Einstellung nahm sie noch mehr für ihn ein. Normalerweise war es ja so, dass sich bei Trennungen von Paaren Parteien bildeten, die eine stand hinter der Frau, die andere hinter dem Mann. Und oftmals waren die Fronten so sehr verhärtet, dass kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt wurde, manchmal sogar Anwälte und Gerichte bemüht wurden.
Ulrike sagte ihm, wie sehr ihr seine Einstellung gefiel, und es war nicht zu übersehen, dass er Freude an ihren Worten hatte.
Durch dieses Telefonat hatte sich dennoch etwas verändert, sie waren in der Realität angekommen, die sie für kurze Zeit ausgeschaltet hatte, da hatte es nur sie gegeben und das, was sie sich zu sagen hatten und worüber sie lachen konnten, Ulrike wollte gehen, und er sollte zu seiner Ex-Schwiegermutter gehen, die bereits auf ihn wartete.
Das gefiel ihm nicht, denn auch er hatte ihr Beisammensein sehr genossen, doch Ulrike blieb hart.
»Wenn es am schönsten ist, dann soll man gehen«, bemerkte sie lächelnd, um dann ernst hinzuzufügen. »Und unsere Zeche, die bezahle ich, schließlich war es so vereinbart, und die Einladung kam von mir, weil ich Ihnen etwas schuldig war. Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie mich zweimal gerettet haben.«
Er blickte sie an, sie konnte seinen Blick nicht richtig deuten, doch sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, und das war verrückt. Er war ein Fremder, und sie hatte gerade eine schmerzhafte Trennung hinter sich. »Geben Sie mir Gelegenheit, es wieder zu tun«, sagte er leise, »sehen wir uns wieder? Oder können wir miteinander telefonieren?«
Sie antwortete nicht sofort, deswegen fügte er rasch hinzu: »Es würde mir etwas bedeuten.«
Ihr doch auch, doch das sagte sie jetzt nicht, sondern ihre Stimme klang ein wenig zurückhaltend, als sie erwiderte: »Ja, gegen ein erneutes Treffen hätte ich nichts einzuwenden.« Und dann gab sie ihm auch noch ihre Telefonnummer und freute sich, seine zu bekommen.
Wenig später verließen sie gemeinsam den Gasthof. Er begleitete sie wie selbstverständlich zu ihrem Auto, verabschiedete sich von ihr, hielt ihre Hand länger als allgemein üblich fest, und es fühlte sich so gut an, dass sie nicht einmal etwas gegen eine Umarmung gehabt hätte. Die verkniff er sich, und vermutlich hätte Ulrike nicht schlecht gestaunt, wenn sie jetzt gewusst hätte, dass es auch sein Gedanke gewesen war.
Es war etwas zwischen ihnen, was sie nicht in Worte fassen konnten, fassen wollten, weil es eigentlich nicht wahr sein durfte, konnte.
Ulrike stieg in ihr Auto, sagte: »Auf bald.« Dann fuhr sie los und war froh, jetzt nicht den Motor abgewürgt zu haben, weil sie schon ziemlich nervös war.
Ein sehr netter Mann, und sie hatten sich wirklich sehr gut miteinander unterhalten, und nun war er ihr bereits zum zweiten Male auf den Weg gekommen, und zum zweiten Male war er eingesprungen, einmal mit seinem Taschentuch, und jetzt hatte er sie vor einem Sturz bewahrt. Ulrike war Wissenschaftlerin, sie hatte es nicht mit Vorbestimmung, auf den Weg kommen müssen, auch nicht mit den sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Aber ein wenig merkwürdig war es schon, dass sie Sebastian gegenüber erwähnt hatte, eine Verabredung mit einem sympathischen Mann zu haben. Sympathisch war er, dieser Achim Hellenbrink, auch sehr gut aussehend. Dass sie sich getroffen hatten, war ein Zufall gewesen. So, und nun schlug sie sich diesen Mann wohl besser erst einmal aus dem Kopf. Es war angenehm gewesen, und über einen Anruf von ihm würde sie sich freuen, hätte auch nichts gegen ein erneutes Treffen einzuwenden, allerdings nicht auf dieser Laufstrecke. Und da war sie bei etwas, was sie auf jeden Fall trennte. Er war ein begeisterter Marathonläufer, das hatte er mehr als nur einmal erwähnt, und dazu würde sie sich nicht für alles Geld der Welt begeistern.
Sie fuhr nach Hause, gegessen hatte sie in dem Gasthof nichts, jetzt hatte sie die Wahl, in den ›Seeblick‹ zu gehen oder sich etwas selbst zu kochen.
Ulrike entschied sich rasch, weil sie nämlich keine Lust hatte, sich noch einmal umzuziehen, ausziehen reichte, raus aus den Sportklamotten, rein in etwas Gemütliches. Und dann würde sie sich leckere Spaghetti kochen, so etwas ging immer, vor allem schmeckte es.
Doch vorher würde sie kurz ihre Freundin Nina anrufen, das war eh fällig, und der würde sie von der Begegnung mit Achim Hellenbrink erzählen, natürlich auch, dass Sebastian sich wieder gemeldet hatte.
Es hatte sich etwas verändert. Ihr Zorn auf Sebastian verblasste ein wenig, das konnte doch nicht daran liegen, dass sie Achim Hellenbrink kennengelernt hatte?
Ulrike war verwirrt, sie ließ es jetzt wohl besser mit dem Anruf bei Nina, denn die hatte eine Art, alles aus jemandem herauszuholen, jemandem alles auf den Kopf zuzusagen, und es wäre Ulrike peinlich, zugeben zu müssen, dass ihr Interesse an ihrer neuen Männerbekanntschaft ungewöhnlich groß war.
Dann wohl besser direkt die Spaghetti …
*
Julia und Tim befanden sich in der Küche, weil sie etwas ausprobieren wollten, genauer gesagt, eine Rezeptidee von ihm wollten sie in die Tat umsetzen. Und da waren sie wirklich in ihrem Element, gäbe es Zuschauer, wäre es eine Freude, ihnen zuzusehen. Sie passten wirklich ganz hervorragend zusammen, und auf sie traf der Ausspruch zu, wie Pott und Deckel oder wie Deckel auf Pott.
Klar schmerzte es Julia noch ein wenig, dass er sie aus törichten Gründen nicht heiraten wollte, aber sie waren auch so glücklich miteinander, sie liebten sich, waren ein gutes Team. Und Julia war froh, dass es jetzt auch mit Daniel alles geklärt war, dass sie wieder miteinander umgehen konnten, denn wie sie sich getrennt hatten, das hatte sie ziemlich belastet. Jetzt war alles gut, sie hatten sich ausgesprochen, er hatte eine ganz großartige Reportage über sie gemacht, die sie in Fachkreisen noch bekannter machen würde. Und Daniel und Tim hatten sich kennengelernt, sie wussten voneinander.
Julia schnippelte Gemüse für Tim, es machte ihr nichts aus, ihm jetzt zuzuarbeiten, schließlich war es sein Rezept, das sie ausprobieren wollten.
Sie war ganz erstaunt, als Tim seine Arbeit unterbrach, sich ihr zuwandte. »Julia, dein Ex …, dieser Daniel …«
Was wollte er andeuten?
»Ich bin froh, dass ich wieder ganz normal mit ihm umgehen kann, dass zwischen uns alles geklärt ist, so, wie wir uns getrennt haben, das hat mich schon ziemlich belastet.«
Er überlegte.
»Ich finde, ihr versteht euch für ein getrenntes Paar mehr als gut.«
War Tim etwa eifersüchtig? Diese Frage schoss Julia durch den Kopf.
»Tim, das ist doch gut, das fühlt sich sehr viel besser an als der vorher unerfreuliche Zustand.«
Er rührte in seinem Topf herum, dass man Angst bekommen konnte, er würde ihn irgendwann zertrümmern.
»Ist ja okay, aber muss es jetzt diese Friede-Freude-Eierkuchen-Nummer sein? Er ruft dich ja ständig an, und wie du dann beginnst, herumzusäuseln, das kann man beinahe nicht mehr mit anhören.«
»Tim, es geht in erster Linie um meine Arbeit, und weil Daniel und ich schließlich ein Paar waren, bleibt es überhaupt nicht aus, dass wir auch privat ein wenig miteinander plaudern. Über diese Entwicklung freue mich sehr, denn es hat mich schon ziemlich belastet, dass wir im Bösen auseinander gegangen sind. So wie es jetzt ist, fühlt es sich wirklich viel, viel besser an.«
Tim sagte nichts dazu, sondern rührte weiterhin verbissen in seinem Topf herum.
Deswegen fuhr Julia fort: »Tim, erinnere dich bitte, Daniel ist glücklich verheiratet, das hast du doch mitbekommen, denn schließlich habt ihr euch kennengelernt.«
Jetzt zeigte er eine Reaktion.
»Pah, was bedeutet das schon. Du warst vor seiner Frau in seinem Leben, und ihr scheint ja wieder ein Herz und eine Seele zu sein. Da kann schnell wieder ein Funke überspringen, dass ihr …, er kann …« Er hörte auf herumzurühren, schmiss den Kochlöffel beiseite. »Ach, was soll es, es geht mich schließlich nichts an. Es ist deine Sache, und wenn …«
Jetzt hinderte Julia ihn daran, seinen Satz zu beenden. Sie trat an ihn heran, umarmte ihn und küsste ihn einfach, weil das wirksamer war als alle Worte dieser Welt. Nachdem das geschehen war, löste Julia sich von Tim, blickte ihm ganz tief in die Augen.
»Tim, mein Schatz, du bist ja wirklich eifersüchtig. Doch das musst du wirklich nicht sein, nicht auf Daniel. Auch wenn es keine neue Frau in seinem Leben gäbe, könnte er mir nicht mehr gefährlich werden, das mit ihm und mir, das ist vorbei. Da gibt es wirklich keinen Weg zurück, und jetzt, mit dir an meiner Seite, weiß ich, dass alles gut ist, so wie es gekommen ist. Ich liebe dich über alle Maßen, du bist für mich der perfekte …«, sie zögerte, hatte eigentlich Mann sagen wollen, doch sie wusste nicht, was das wieder bei ihm auslösen würde, also fuhr sie fort: »Partner.«
Jetzt nahm Tim sie in seine Arme, umschloss sie fest und zärtlich zugleich. Sie waren sich ganz nahe. Julia spürte seinen Herzschlag. Es war ein Augenblick der Magie, der keine Worte brauchte.
Nach einer ganzen Weile gab er zu, dass er tatsächlich eifersüchtig auf Daniel war.
»Es ist auch zu verstehen, er ist schon ein cooler Typ, klug, redegewandt, und er …«
»Kann nicht kochen«, vollendete Julia seinen Satz lächelnd. »Tim, Tim, jeder Mensch hat seinen Platz im Leben, und der von Daniel ist ganz gewiss nicht hier, er war es nicht, deswegen mussten wir auch scheitern, aber du …«
Es war nicht wichtig, was sie jetzt sagen wollte, wichtiger war, dass er sie wieder küsste, diesmal voller Leidenschaft, und das genoss Julia, denn Tim Richter war der Mann ihrer Liebe, und das, was jetzt gerade geschah, war wunderschön und hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass sie so gern seine Ehefrau werden wollte. Wenn man verheiratet war, küsste man auch nicht anders, und wenn man sich liebte, wenn man wusste, dass man zusammengehörte, spielte es überhaupt keine Rolle, wessen Namen man trug, und der Ring am Finger, zugegebenermaßen träumte davon jede Frau, doch das Glücksempfinden beeinflusste er nicht …
*
Manchmal gelang es einem tatsächlich, mit Worten, mit Gedanken, etwas heraufzubeschwören. Daran musste Inge denken, als ihr plötzlich ihr Sohn Jörg gegenüberstand, über den sie doch gerade erst mit Werner gesprochen hatte, auch über die längst überfällige Reise nach Stockholm. Doch das war dann irgendwie im Sande verlaufen.
»Jörg, was für eine Überraschung, wie schön, dich zu sehen«, Inge umarmte glücklich ihren Ältesten, der so unverhofft vor der Haustür gestanden hatte.
Im Gegensatz zu sonst blieb Jörg ziemlich steif, und es klang auch nicht gerade freundlich, als er sagte: »Wenn ich nicht ab und zu vorbeischauen würde, bekämen wir uns ja überhaupt nicht mehr zu Gesicht.«
Sofort bekam Inge ein schlechtes Gewissen, sie konnte auch dazu nichts sagen, weil Jörg recht hatte.
Sie bat ihn ins Haus, bot ihm einen Kaffee an, entschuldigte sich dafür, dass sie für ihn nichts vorbereitet hatte, weil sie von diesem Besuch überrascht worden war.
»Mama, ich bin nicht gekommen, um zu essen und zu trinken. Ich habe auch nicht viel Zeit, sondern habe einen Umweg auf mich genommen, um wenigstens mal Hallo zu sagen. Auch wenn es mittlerweile aus der Mode bekommen ist, lege ich Wert auf persönliche Begegnungen, da komme ich wohl auf dich, Mama.«
Noch hatte er seinen Kaffee nicht angerührt, auch nicht die Kekse, die sie rasch noch auf den Tisch gestellt hatte, und das war für Inge ein Zeichen dafür, dass Jörg wirklich sauer war. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass er dennoch gekommen war.
»Ach, weißt du, Jörg, ich habe schon ein schlechtes Gewissen, weil ich noch nicht nach Stockholm gekommen bin, um mir die kleine Lena persönlich anzuschauen, sie in den Arm zu nehmen. Aber ich denke viel an euch, besonders an die Kleine. Und habt ihr mein Paket erhalten mit den Sachen für sie, vor allem mit diesem entzückenden Schlaftier?«
Endlich trank Jörg etwas, die Kekse rührte er noch immer nicht an, und das war ungewöhnlich.
»Haben wir, und Charlotte hat sich in unserem Namen auch dafür bedankt. Mama, lenk jetzt bitte nicht ab. Außerdem, dein Besuch wäre schöner als alle Schlaftiere dieser Welt. Was ist eigentlich so schwer daran, sich in einen Flieger zu setzen und für ein paar Tage zu kommen. Kannst du mir das sagen?« Er blickte seine Mutter anklagend an, er ist wirklich sehr ungehalten, dachte Inge besorgt. »Du hast keine Verpflichtungen, deine ehrenamtliche Arbeit kannst du aufschieben, und Pamela geht gern zu den Großeltern, die scharrt vermutlich bereits mit den Hufen, um ein paar Tage bei ihnen verbringen zu dürfen. Mama, wir können es wirklich nicht verstehen, warum du keine unserer Einladungen annimmst, Charlotte beginnt bereits zu glauben, dass du etwas gegen sie hast.«
»Aber nein, Jörg, Charlotte ist das Beste, was dir passieren konnte. Wir mögen sie alle, auch Sven, ihren Sohn.« Ehe er etwas anderes Törichtes sagen konnte, fuhr sie rasch fort: »Und ihr wohnt in einem wunderschönen Haus, Stockholm ist eine ganz großartige Stadt.«
»Und was ist es dann, Mama?«, bohrte er weiter. »Dieser Besuch bei uns vor gefühlten Ewigkeiten hat dir doch sehr gefallen, erinnerst du dich?«
Und ob sie das tat, sie hatte jeden Tag bei ihren Lieben genossen.
»Jörg, dein Vater …«
Er ließ sie nicht aussprechen.
»Gibt es erneut Probleme mit Papa?«, erkundigte er sich, denn das war damals einer der Gründe für den Besuch seiner Mutter gewesen.
»Ja …, nein …, mit Papa und mir ist alles in Ordnung. Es ist nur so, dass er ziemliche Probleme damit hat, nicht mehr so gefragt zu sein wie früher, dass junge Wissenschaftler nach vorne drängen, die auch etwas zu sagen haben.«
Jetzt griff Jörg in die Keksschale, stopfte sich gleich mehrere Kekse in den Mund, weil sie lecker waren. »Na und?«, entgegnete Jörg ungerührt. »Das ist der Lauf der Dinge, ist Papa endlich in der Realität angekommen? Klar, für jemanden wie ihn muss es hart sein, den Platz an der Sonne, auf der Spitze des Olymps verlassen zu müssen.«
Es gefiel Inge nicht, wie Jörg über seinen Vater sprach, doch widersprechen konnte sie ihm auch nicht, weil er nichts Falsches von sich gegeben hatte.
Sie erzählte ihrem Sohn von dem erst kürzlich geführten Gespräch mit Werner, sie konnte es tun, Jörg war schließlich kein Fremder, er war der Sohn des Hauses. Und man konnte nicht alles für sich behalten, sie machte sich wirklich Sorgen um Werner, und Jörg und sie waren sich sehr nahe, auch wenn er heute ziemlich distanziert wirkte.
»Jörg, ich mache mir wirklich Sorgen um euren Vater. Er hat den Boden unter den Füßen verloren, weiß mit sich nichts anzufangen, er weiß nicht, was Alltag ist.«
Jörg griff erneut in die Keksschale, ließ sich mit einer Antwort Zeit, und als sie dann kam, gefiel sie Inge überhaupt nicht.
»Mama, man kann alles lernen, auch ein Herr Professor Auerbach ist davon nicht ausgeschlossen. Ich denke, Papa jammert auf einem hohen Niveau. Er ist nach wie vor gefragt und geschätzt, von ihm erscheinen kluge Beiträge in den renommiertesten Fachzeitschriften, er wird weltweit eingeladen. Er ist nicht mehr der Jüngste, kann also durchaus etwas Tempo aus seinem Leben herausnehmen. Schon allein deinetwegen, Mama, denn du bist in all den Jahren ziemlich auf der Strecke geblieben. Und komm jetzt bitte nicht damit, dass es für dich okay war, dass es dir genügte, die starke Frau an seiner Seite zu sein. Weißt du, wie es für mich aussah und noch immer aussieht? Du bist auf der Strecke geblieben, damit Papa sich verwirklichen konnte. Er ist in meinen Augen ein großer Egoist.«
Jetzt glaubte Inge, ihren Mann verteidigen zu müssen.
»Hätte er zurückgesteckt, wäre er nicht der geworden, der er jetzt ist. Werner hat wirklich alles erreicht, was man nur erreichen konnte, und deswegen hat er jetzt vermutlich auch diese großen Probleme, mit einer anderen, ihm unbekannten Situation fertig zu werden.«
Jörg blieb von den Worten seiner Mutter unbeeindruckt.
»Mama, bitte erwarte jetzt nicht, dass ich vor lauter Mitleid zerschmelze. Jeder Mensch gerät in seinem Leben in Situationen, die ihm den Boden unter den Füßen wegreißen, die alles auf den Kopf stellen. Besonders schlimm sind Krankheit und Tod. Aber auch wenn ich mich nehme: Ich hatte mich auf ein Leben mit Stella und den Kindern eingestellt, ich war glücklich, und ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass Stella mich verlassen würde, nicht nur das, sondern dass sie mit einem anderen Mann und den Kindern nach Belo Horizonte gehen würde. Es war grauenvoll, ich war verletzt, unglücklich, fühlte mich wie ein Blatt im Wind …, ich habe es überlebt, Charlotte ist auf meinen Weg gekommen, und heute ist es so, dass ich glücklich darüber bin, dass es so gekommen ist, denn ich weiß, dass ich Stella niemals hätte heiraten dürfen, sie passte überhaupt nicht zu mir. Wir haben irgendwie funktioniert, mehr nicht. Es war eine Schnapsidee, sie zu heiraten, nachdem Ricky Fabian, den Bruder, geheiratet hatte. Bei denen war es Liebe, bei uns …, ich weiß nicht mehr, was es war. Doch es hätte funktionieren können, weil ich es nicht anders kannte. Erst das Zusammenleben mit Charlotte hat mir die Augen geöffnet, mir bewusst gemacht, dass es noch etwas ganz anderes gibt im Leben …, was ich allerdings niemals verwinden werde, das ist der Verlust meiner Kinder.«
»Ach, Jörg, du weißt überhaupt nicht, wie oft ich an sie denke, wie oft ich mich frage, wie es ihnen wohl geht.«
»Mama, das weiß ich auch nicht mehr, und das zerreißt mich fast. Ich kann nur froh sein, Sven und unsere kleine Lena in meinem Leben zu haben, die lenken mich ab, ein Ersatz für das, was ich verloren habe, können sie aber nicht sein.«
»Vielleicht hättest du Stella doch nicht das alleinige Sorgerecht übertragen dürfen.«
»Mama, Stella ist mit den Kindern ausgewandert, sie ist, dank des Erbes ihrer Tante, wie du weißt, finanziell unabhängig. Sie hätte auch hier das Sorgerecht bekommen, weil sie sich um die Kinder kümmern kann, und bei den Gerichten wird in erster Linie das Kindeswohl in den Vordergrund gebracht, und da hat eine Mutter immer die besseren Karten. Ich hätte meinen Job nicht aufgeben können, denn dann wären meine Einnahmen eingebrochen, ich hätte die Kinder fremdem Personal überlassen müssen. Ach, Mama, es ist müßig, darüber zu reden. Man kann über Stella sagen, was man will, eines nicht, dass sie eine schlechte Mutter ist. Die Kinder waren ihr immer das Wichtigste in ihrem Leben, und so wird es auch geblieben sein. Wenn wir miteinander in Verbindung waren, machten die Kinder einen glücklichen, fröhlichen, zufriedenen Eindruck. Sie waren sehr schnell in ihrem neuen Leben angekommen, und wenn sie mit mir redeten, wurden sie immer verkrampfter, und es kam sogar vor, dass sie abbrachen, weil sie etwas anderes vorhatten, was ihnen mehr Spaß machte.«
»Jörg, du sprichst immerzu in der Vergangenheit. Wie ist es denn jetzt?«
Er zögerte mit der Antwort, trank langsam von seinem Kaffee, aß ein, zwei Kekse.
»Mama, ich weiß es nicht, denn unsere Verbindung ist seit geraumer Zeit abgebrochen, zuletzt hörte ich von ihnen, dass es ihnen gut ginge, dass ich mir keine Sorgen machen solle, dass sie mit Mama wegziehen würden und dass sie sich darauf sehr freuten.«
Inge fiel die Kaffeetasse aus der Hand, zerbrach, sie musste aufspringen, um den Kaffee vom Tisch zu wischen, dabei zitterte ihre Hand so sehr, dass sie das Tuch kaum halten konnte, und ihre Gedanken überschlugen sich.
Was hatte Jörg da gerade gesagt?
Als sie bemerkte, dass sie noch immer auf dem Tisch herumwischte, obwohl da nichts mehr zu wischen war, brachte sie das Tuch weg, setzte sich, starrte ihren Sohn an und erkundigte sich mit tonloser Stimme: »Du weißt nicht, wo die Kinder sind? Was ist da geschehen?«
Er hätte es besser seiner Mutter nicht erzählen sollen, er kannte sie doch, deswegen hatte er ja auch bislang geschwiegen, und das hätte er weiterhin tun sollen. Für diese Einsicht war es jedoch zu spät.
»Mama, ich habe Nachforschungen angestellt, und dabei ist herausgekommen, dass Stella diesen anderen Mann verlassen hat. Und sie hat alles in trockene Tücher gebracht, ehe sie Brasilien verlassen hat, sie hat das deutsche Jugendamt informiert, das für unsere Belange, weil wir ja Deutsche sind, zuständig ist. Sie hat ihre Vermögensverhältnisse dargelegt, und da müssen wir uns keine Sorgen machen, sie hat von diesem Mann wohl eine ordentliche Abfindung erhalten, sie hat Gesundheitsgutachten und psychologische Gutachten über sich und die Kinder beigefügt, sie hat über die Trennung berichtet und dass sie Brasilien verlassen würden, wohin sie gehen wollten, hat sie offen gelassen. Sie hat all ihre Spuren verwischt, und sie hat niemandem etwas gesagt, auch nicht Fabian, ihrem Bruder, mit dem sie doch so eng war. Zu dem und dessen Familie hat sie ja, wie du weißt, längst schon den Kontakt abgebrochen.« Inge wollte etwas sagen, doch Jörg hinderte sie daran. »Mama, was immer du jetzt vorbringen möchtest, lass es bleiben. Es ist ganz schrecklich, dass mein eigen Fleisch und Blut nun ganz aus meinem Leben verschwunden ist, doch damit muss ich mich abfinden, das müssen wir alle. Es besteht nur noch die Hoffnung, dass die Kinder oder eines von ihnen irgendwann den Kontakt zu mir aufnimmt. Mit der Volljährigkeit erlischt das Sorgerecht der Mutter. Der Kontakt zu den Kindern war immer gut, sie wissen, dass ich sie liebe, dass meine Tür jederzeit für sie offen ist. Ich weiß nicht, was Stella da abzieht, ich habe keine Ahnung, warum sie diesen Mann verlassen hat, ohne den sie doch nicht mehr leben wollte. Doch eines weiß ich, bei all ihrer Unzulänglichkeit, was vieles in ihrem Leben betrifft, sie ist eine Löwenmutter und wird sich immer vor die Kinder stellen.«
»Aber was das alles in deren Seelen anrichtet, das weißt du nicht, mein Junge.«
»Mama, nichts ist perfekt, und auch in einem scheinbar harmonischen Elternhaus gibt es große Mängel.«
»Was willst du damit sagen, Jörg«, kam es wie aus der Pistole geschossen, dabei wusste sie doch, was er andeuten wollte.
Jörg blickte seine Mutter an, und Inge bereute auch sofort ihre unbedachte Äußerung, denn sie spürte, was kommen würde, und richtig, Jörg legte auch sofort los: »Mama, bei uns herrschte doch auch nicht eitel Sonnenschein.«
Sofort glaubte Inge, ihren Werner verteidigen zu müssen, denn auf den waren Jörgs Worte abgezielt, ohne dass er es ausgesprochen hatte.
»Papa hat euch immer geliebt, liebt euch, und er hat dafür gesorgt, dass es euch an nichts mangelte. Interessierten euch teure Hobbys, wurden sie bezahlt, und ihr konntet, wenn ihr wolltet, auch ohne euch Sorgen machen zu müssen, studieren. Und wenn du bedenkst …«
Jörg unterbrach seine Mutter.
»Mama, mach dir und mir nichts vor, ja, es ist richtig, dass wir ein privilegiertes Leben führen durften, doch Geld, teure Hobbys, teure Fahrräder oder was auch immer, das ist nicht alles. Ich beispielsweise wäre mit meinem Vater gern mal zu einem Fußballspiel gegangen, hätte mich gern mal mit ihm unterhalten, nicht nur am Frühstücks-, am Mittags- oder am Abendbrottisch. Ich hätte ihm gern erzählt, wer ich wirklich bin, wie es in mir aussieht. Zu so etwas ist es nie gekommen, und ehrlich mal, im Grunde genommen war Papa für uns als Kinder und Heranwachsende nichts mehr als ein seltener Besuch, der Geschenke mitbringt. Wobei ich nicht einmal weiß, ob du ihm vorher nicht gesteckt hast, dass er und was er uns mitbringen soll.«
»Jörg, Papa hat aber …«
Wieder unterbrach Jörg seine Mutter, weil er aus vielen Gesprächen in der Vergangenheit wusste, dass es nichts brachte, dass sie sich im Kreise drehten.
»Mama, es ist vorbei, wir akzeptieren mittlerweile Papa alle so, wie er ist. Er hat ja auch seine guten Seiten, und wenn du so willst, hätte es uns schlimmer treffen können. Aber so, wie wir alle dich lieben, kann es mit Papa nicht mehr werden. Wenn man etwas ernten möchte, muss man es zuerst säen, sorgsam pflegen und gießen, dann kann man ernten. Wenn Papa jetzt sein Leben um die Ohren fliegt, dann hält sich mein Mitleid in Grenzen. Außerdem habe ich, ehrlich gesagt, auch überhaupt keine Lust, über Papa zu reden und das, was wir geworden sind. Dank dir, liebe Mama, sind wir Menschen, die ihren Weg gehen, die wissen, was sie tun. Ricky hat sich für Familie und Kinder entschieden, ist glücklich. Ich rechne ihr hoch an, dass sie ihre persönlichen Interessen zurückgestellt hat, als ihr in den Sinn gekommen war, doch zu studieren und sie merken musste, dass die Kinder und Fabian darunter leiden würden. Hannes ist ein großartiger junger Mann, der genau weiß, was er will, und er hat so viele Talente. Er hat seinen Platz im Leben gefunden, ist glücklich, und ich bin begeistert von allem, was er tut.«
»Viel bekommt man da ja nicht mit«, wandte Inge ein. »Damals, als er nach dem Abitur auf Weltreise war, hat er sich mehr gemeldet, obwohl das viel beschwerlicher war, als jetzt von Cornwall Nachrichten zu verschicken.«
Jörg trank etwas von seinem Kaffee, wollte in die Keksschale greifen, ließ es aber bleiben.
»Mama, wundert euch das, warum er nichts über das schreibt, was jetzt sein Leben ausmacht, was ihm wichtig ist? Hannes kann ganz gut wegstecken, doch es hat ihn sehr verletzt, wie abfällig Papa über das gesprochen hat, was er jetzt tut, besonders seine Bemerkung verletzte ihn, dass man, um Kunsttischler zu sein, kein Hirn brauche. Hannes ist glücklich mit dem, was er tut, und er scheint auch außerordentlich begabt dafür zu sein, denn sonst würde er nicht andauernd Preise gewinnen. Übrigens denkt Hannes darüber nach, nach seiner Ausbildung auf eine Kunstakademie zu gehen.«
Jetzt war Inge überrascht.
»Ja? Davon wissen wir nichts, warum teilt er uns das nicht mit, ich denke, es würde Papa sehr freuen.«
Jörg schüttelte den Kopf, er liebte seine Mutter wirklich über alles, aber manchmal konnte er sie nicht verstehen.
»Und genau das ist der Grund, Mama, warum er es nicht tut. Es ist Hannes mittlerweile vollkommen egal, was Papa über ihn denkt oder nicht, ob er sich freut oder sauer ist. Hannes macht sein Ding, und er weiß, was er tut. Ich bin sehr froh, dass unser Verhältnis zueinander im Laufe der Zeit enger geworden ist, dass er mich und Charlotte an seinem Leben teilhaben lässt. Und wir haben ihn in Brenlarrick bereits einige Male besucht, es ist herrlich dort. Und, um es abzuschließen, Hannes kommt hin und wieder zu uns. Sven vergöttert ihn, und Hannes ist übrigens der Patenonkel von Lena.«
»Patenonkel?« Jetzt war Inge mehr als irritiert. »Bedeutet das, dass Lena mittlerweile getauft wurde?«
»Ja, Mama, das bedeutet es«, bestätigte Jörg, »die Taufe hat im engsten Kreis stattgefunden, die Großeltern wussten es, konnten leider nicht kommen, weil die Omi mittlerweile so etwas wie ein Superstar geworden ist, was wir ganz großartig finden. Euch haben wir nicht eingeladen, weil eine Absage uns sehr getroffen hätte.«
Jetzt war Inge erschüttert, aber sie hatte auch ein sehr schlechtes Gewissen, es war unangenehm, den Spiegel vorgehalten zu bekommen. In einer solchen Situation war es am besten, von sich abzulenken.
»Und Ricky und Pamela?«
»Für Ricky war es unmöglich, mit ihren Kindern und Ehemann außerhalb der Ferien anzureisen, und Pamela, die hat für Lena eine ganz wundervolle Geschichte geschrieben. Sie will übrigens die ganzen großen Sommerferien bei uns verbringen, ich weiß nicht, ob sie mit euch bereits darüber geredet hat. Und dann soll auch ein großes Familientreffen stattfinden. Alle haben zugesagt, und ihr, wenn ihr Lust habt, seid natürlich auch herzlich eingeladen. Ihr hättet kurz davor von uns die Einladung bekommen, langfristige Planungen sind mit Papa nicht möglich, und du richtest dich ja nach ihm.«
Das war jetzt wirklich starker Tobak!
Weil sie und Jörg sich so gut verstanden, weil sie so eng miteinander waren, hatte es in der Vergangenheit nie Differenzen zwischen ihnen gegeben, waren die bereits im Ansatz ausgeräumt worden. Diesmal war es anders, Jörg war nicht beleidigt, nein, er war verletzt, und das tat weh.
Sie schwiegen beide, er war es, der irgendwann das Wort ergriff.
»Mama, es tut mir leid, dass unser Gespräch jetzt so ausgeufert ist, dabei ging es doch eigentlich darum, ob und welchen Schaden meine Kinder, die nun ganz ohne mich aufwachsen müssen, davontragen. Ich denke, dass wir uns keine Sorgen machen müssen, denn die Zeit in Brasilien haben sie nicht nur gut überstanden, sondern sie waren glücklich, fühlten sich wohl. Es ist davon auszugehen, dass sie es an jedem anderen Ort der Welt ebenfalls gut haben werden. Kinder besitzen die erstaunliche Gabe, sich jeder Situation anpassen zu können, und sie vergessen auch schnell. Sie wissen, wo sie mich erreichen können, sie wissen, dass ich sie liebe, immer für sie da sein werde. Und sie haben, als Stella und ich noch miteinander verheiratet waren, die Liebe beider Elternteile erlebt. Auch wenn ich viel gearbeitet habe, habe ich mir doch die Zeit für die Kinder genommen, viel Zeit.«
Er blickte seine Mutter an.
»Mama, und nun bekomme kein schlechtes Gewissen, vor allem versuche nicht, Papas Verhalten zu rechtfertigen. Er war ein grauenvoller Vater, und auch als Großvater kann man ihm keine Bestnoten geben. Er ist von Kindern halt leicht und schnell genervt, und sein Interesse beginnt erst, wenn es um die spätere Zukunft geht, die Lebensplanung, und da greift er leider daneben, weil er von seinen Kindern erwartet, dass sie seine Erwartungshaltung erfüllen. Wir haben es hinter uns, jetzt hat es nur noch Pamela vor sich. Und da kann man nur froh sein, dass wir miteinander in Verbindung stehen und dass sie dieses besondere Verhältnis zu Hannes hat. Hannes und Pamela sind so eng miteinander, dass zwischen die wirklich kein Blatt Papier passt. Sie vertraut ihm alles an, und das wird immer mehr, je älter Pamela wird.«
Bei Inge gingen sämtliche Alarmglocken an. Ihr war bereits aufgefallen, dass Pamela nicht mehr so redselig war wie früher, und man konnte sie auch nicht mit einem blauen Kleid, einer bunten Bluse oder einem anderen Kleidungsstück, das Inge für ihre Tochter nähte, so wie früher zum Quietschen bringen.
Hatte sie etwas falsch gemacht?
Jörg schien die Gedanken seiner Mutter erraten zu haben, und er beruhigte sie sofort.
»Mama, ab einem gewissen Alter läuft man nicht mehr zu seinen Eltern, wie zuvor, speziell zu seiner Mutter. Pamela liebt dich über alles, und daran wird sich nichts ändern. Wir alle lieben dich, wissen, was wir an dir haben. Eines stört nur, nämlich, dass du immer glaubst, Papa verteidigen zu müssen, sein Verhalten schönreden zu müssen. Du bist nicht Papa, für uns bist du die allerbeste Mutter der Welt, und auch die Großmutter, zumindest kann man das für Rickys Kinder sagen, und wenn du das ebenfalls für Sven und die kleine Lena sein möchtest, dann komm uns öfters besuchen, löse all deine Versprechungen endlich ein, du bist jederzeit herzlich willkommen, ob mit und ohne Papa, über dessen Besuch würden wir uns ebenfalls freuen, er ist unser Vater, wir mögen ihn. Und da glaube ich, auch für meine Geschwister sprechen zu können, er ist, wie er ist, und so akzeptieren wir ihn. Doch davon lass uns jetzt bitte aufhören. Lange kann ich nicht mehr bleiben, und eigentlich hatte ich mir die Zeit, die wir miteinander verbringen können, anders vorgestellt. Wie geht es dir, Mama? Bitte erzähl mir davon, was du so machst.«
Insgeheim atmete Inge auf, denn wenn über Werner gesprochen wurde, dann übernahm sie automatisch die Rolle der Beschützerin, dabei konnte man an der Vergangenheit nichts mehr ändern. Und auch wenn es sie beinahe zerriss, wie sehr Werner unter der derzeitigen Situation litt, nicht mehr so gefragt zu sein wie früher, wie schwer es ihm fiel, in einem Seniorenleben anzukommen; sie konnte ja verstehen, dass Ricky, Jörg, Hannes sich darum keine Gedanken machten, und Pamela bekam nichts davon mit, für sie war ihr Papa wie immer.
Inge war froh, dass sie Jörg von ihren Aktivitäten erzählen konnte, denn sie war schon stolz auf sich, dass sie für sich einen Weg gefunden hatte, aus dem Allerlei ihres Alltags ausgebrochen zu sein. Kurse im Stoffladen gab sie nur noch selten, weil die Arbeit mit den gestrauchelten Jugendlichen, die eine Haftstrafe verbüßten, ihr wichtiger war. Da konnte sie etwas bewirken, sie kam bei den Jugendlichen an, und sie bildete sich ständig weiter, um noch mehr bewirken zu können. Inge strebte keine Festanstellung an, nein, diese Ambition hatte sie wirklich nicht. Ihr ging es einzig und allein darum, diesen gestrauchelten jungen Menschen dabei zu helfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Sie würde immer ehrenamtlich diese Arbeit verrichten, doch durch die Fortbildungen, all die Kurse, die sie besuchte, bekam alles eine ganz andere Qualität, vor allem, sie durfte mehr tun als nur mit den Jugendlichen zu reden, sie zu bespaßen. Man mochte sie, das auf beiden Seiten, und Inge genoss diese Wertschätzung. Doch ihr war bewusst, dass sie das alles nur tun konnte, weil Werner gut für sie sorgte. Sie musste sich um Geld keine Sorgen machen, hatte es nie gemusst. Sie hatte immer ein sorgenfreies Leben führen können, was die finanziellen Aspekte betraf, und die durfte man nicht unterschätzen.
Jörg wollte zwar nicht, dass sie darüber redete, ihn daran erinnerte, doch Inge konnte einfach nicht anders. Eines musste sie ihm noch sagen.
»Jörg, alles ist nur möglich, weil ich dieses sorgenfreie Leben führen kann, das Papa mir ermöglicht, was er uns immer in all den Jahren ermöglicht hat.«
Jörg hätte jetzt am liebsten die Augen verdreht. Seine Mutter konnte es einfach nicht lassen, die Fürsprecherin ihres Ehemannes zu sein, es war eine unendliche Geschichte, auf die Jörg einfach keine Lust mehr hatte. Außerdem verflog die Zeit, und die letzten noch verbleibenden Minuten wollte er lieber dafür nutzen, seiner Mutter von Charlotte, Sven, den er mittlerweile längst liebte wie einen eigenen Sohn, und von der kleinen Lena zu erzählen. Nein, er wollte nicht nur erzählen, er schwärmte regelrecht von seiner kleinen Tochter.
Inge war begeistert, um Jörg musste sie sich keine Sorgen mehr machen. Er war angekommen in seinem Leben ohne seine frühere Familie. Natürlich würden ihn die Schatten seiner Vergangenheit immer wieder einholen. Doch jetzt war er nicht mehr allein, er hatte Charlotte an seiner Seite, diese liebenswerte, warmherzige Frau, mit der er sich so wunderbar ergänzte. Charlotte war dazu in der Lage, die Schatten zu vertreiben.
Ganz verschwinden würden sie zwar nie, doch sie würden sich im Laufe der Zeit verflüchtigen, denn eines würde Inge immer wieder unterschreiben, nämlich, dass die Zeit alle Wunden heilte.
In Stockholm war die Welt weitgehend in Ordnung. Das konnte man von ihrer hier überhaupt nicht behaupten, und einen Vorwurf mussten sie sich machen. Sie und Werner hatten einfach zu sehr geschlampt und aus lauter Bequemlichkeit alle anderen Arten der Kommunikation gewählt. Dabei wusste sie doch, dass persönliche Kontakte das Salz des Lebens waren.
Sie und Jörg waren sich besonders nahe, sie musste höllisch aufpassen, dass sich da kein Keil zwischen ihre Beziehung schob. Inge glaubte zu spüren, dass Jörg ein Stückchen von ihr abgerückt war, und das durfte sie auf keinen Fall zulassen.
»Jörg, ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich sehr schnell, ob mit oder ohne Papa, zu euch nach Stockholm kommen werde, und diesmal meine ich es wirklich ernst.«
Jörg war nicht nachtragend, dazu hatte er seine Mutter viel zu gern, die für ihn immer ein Fels in der Brandung gewesen war, und daran hatte sich nichts geändert, weil er wusste, dass er sich auf sie in allen Lebenslagen verlassen konnte.
»Mama, es würde mich, es würde uns alle sehr freuen. Doch das glaube ich erst, wenn ich dich, ob allein oder mit Papa«, wiederholte er die Worte seiner Mutter, »am Flughafen abholen werde.«
Es war alles gesagt, seine Mutter musste es nicht noch einmal beteuern. Er wollte die letzte, jetzt noch verbleibende Zeit, lieber dafür nutzen über Charlotte, Sven, den er wie einen eigenen Sohn liebte und vor allem über die kleine Lena sprechen, die sich in die Herzen ihrer Eltern und ihres großen Bruders geschlichen hatte.
Worüber sie bislang gesprochen hatten, war so ermüdend, weil das alles eh nichts brachte, immer führten sie diese sinnlosen Diskussionen.
Es sprudelte nur so aus ihm heraus, und er untermauerte seine Worte auch sofort mit neuen Fotos, die Inge noch nicht kannte und die sie natürlich auch sofort haben wollte.
Als Inge ihren Sohn irgendwann zur Tür begleitete, waren sie wieder ein Herz und eine Seele. »Schön, dass du da warst, mein Junge, grüße Charlotte von mir, umarme Sven, und die kleine Lena knuddele für mich.«
»Was du hoffentlich sehr bald selbst tun wirst, Mama. Weißt du, wir fühlen uns in Schweden unglaublich wohl, es ist einfach unser Land, das wir gewiss nicht mehr verlassen werden. Den Sonnenwinkel vermisse ich nicht, doch die Großeltern, Pamela, Ricky und ihre große Familie, ganz besonders dich …, und, nun ja, Papa auch. Ricky geht es da auf jeden Fall besser, sie wohnt nicht gleich nebenan, doch sie kann mal kurz vorbeikommen …«, er umarmte seine Mutter. »Ich hab dich lieb, und ich bin stolz auf das, was du tust, das muss ich dir einfach noch einmal sagen, Mama …, pass auf dich auf. Du wirst gebraucht.«
Als habe er schon zu viel gesagt, drückte er seiner Mutter rasch noch Küsschen auf die Wangen, dann rannte er los, stieg in sein Auto und brauste davon.
Sie stand noch im Türrahmen, als von Jörg längst nichts mehr zu sehen war.
Die Zeit war wieder einmal verflogen, dabei hätte sie ihm noch so viel sagen wollen. Aber wenigstens war er daheim gewesen, und das war gut, nein, es war sehr gut gewesen.
Kaffee trank sie nun keinen mehr, als sie wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm, aber in die neuen Fotos von der kleinen Lena vertiefte sie sich noch einmal. Was war das für ein wonniges kleines Geschöpf. Die Sehnsucht danach, endlich ihre kleine Enkelin in die Arme schließen zu können, wurde übermächtig, und jetzt machte sie wirklich Nägel mit Köpfen. Sie sah nicht im Internet nach, sondern sie rief ihr Reisebüro an und erkundigte sich nach Flügen nach Stockholm.
Dann suchte sie sich zwei, drei Alternativen aus, und mit denen würde sie Werner konfrontieren, entweder kam er mit, oder er ließ es bleiben. Sie würde sich nicht von ihm vertrösten lassen. Inge wunderte sich selbst darüber, dass sie auf einmal so entschlossen war.
*
Manchmal tat sich tagelang nichts, und dann auf einmal gaben sich die Besucher die Türklinke in die Hand.
Inge war noch immer in die Fotos versunken von Lena, Sven, Charlotte und Jörg, als es an der Haustür klingelte.
Ihre Eltern konnten es nicht sein, auch nicht Werner oder Pamela, die waren unterwegs. Gemeinsam, und das freute Inge sehr, besonders für Pamela, die zwar ein wenig mehr von der Gegenwart ihres Vaters hatte als die Geschwister, aber längst noch nicht genug.
Als es erneut klingelte, murmelte sie: »Ja, ja, ich komme schon, eine alte Frau ist schließlich kein Eilzug.«
Wenig später öffnete sie die Haustür und staunte nicht schlecht, Berthold von Ahnefeld zu sehen.
»Berthold«, rief sie überrascht.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, Inge, doch mein Besuch hier im Sonnenwinkel kam ganz überraschend, und ich hatte keine Zeit, mich bei euch anzumelden.«
So war er, der Berthold, immer auf Höflichkeit und Formen bedacht.
»Ich bitte dich, du musst dich bei uns nicht anmelden, mein Lieber. Du bist jederzeit herzlich willkommen, das weißt du, doch heute musst du mit mir vorlieb nehmen, es ist sonst niemand daheim.«
»Weiß ich doch, ich habe mit Werner telefoniert, und der hat mir von dem Ausflug mit Pamela, Teresa und Magnus erzählt.«
»Ja, dann ist es ja gut, komm herein, ich freue mich über diesen unverhofften Besuch. Wärest du ein wenig früher gekommen, dann hättest du auch noch Jörg begrüßen können.«
Das bedauerte Berthold, denn er kannte die Auerbach-Sprösslinge von Kindesbeinen an, auch wenn er sie nicht regelmäßig gesehen hatte.
Inge kochte Kaffee, und während sie damit beschäftigt war, griff Berthold in die Keksschale, die noch immer auf dem Tisch stand, die jedoch ziemlich geräubert war.
Inge mochte Berthold sehr, sie bedauerte unendlich, was ihm widerfahren war, mehr noch bedauerte sie, dass aus Angela von Bergen und ihm kein Paar geworden war, dabei hatte es so hoffnungsvoll angefangen, und alle hatten sich über das Glück von ihnen gefreut. Es hatte nicht sollen sein, und das war unendlich schade, denn Berthold und Angela waren ein so schönes Paar gewesen.
Inge servierte den frischen Kaffee und war insgeheim jetzt froh, auch noch einen Grund zu haben, eine weitere Tasse ihres Lieblingsgetränks trinken zu können, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Inge konnte auf vieles verzichten, auf Kaffee verzichten zu müssen, würde ihr allerdings unendlich schwerfallen.
Sie saßen sich gegenüber, und dann platzte es aus Inge auch schon heraus: »Weswegen musstest du so plötzlich in den Sonnenwinkel kommen, Berthold?« Sie verkniff sich, danach zu fragen, ob vielleicht Angela der Grund sei. Auch wenn sie getrennt waren, so waren sie nicht miteinander verfeindet, sondern hatten sich freundschaftlich getrennt, genauer gesagt, war Angela es gewesen. Und so war es nicht verwunderlich, dass sie alle noch die stille Hoffnung in sich trugen, es möge mit ihnen doch noch etwas werden.
»In erster Linie, um mich von dir zu verabschieden, Inge. Du hast so unendlich viel für mich getan, das werde ich niemals vergessen. Du bist großartig. Und ich kann nur immer wiederholen, dass mein Freund Werner irgendwann einmal begreifen wird, was er an dir hat.«
Es waren schöne Komplimente, die er ihr gerade machte, doch freuen konnte sich Inge augenblicklich darüber nicht.
»Verabschieden, Berthold? Was meinst du damit? Du hast doch hier das Haus, in das du mit Angela einziehen wolltest und das ihr so liebevoll renoviert habt.«
Er nickte.
»Das Haus ist der eigentliche Grund. Ich habe es verkauft, es hat sich sofort ein Käufer gefunden, und ich war bei Heinz Rückert, der es beurkundet hat.«
Aus also der Traum für Berthold und Angela!
Inge war so enttäuscht, dass sie zunächst einmal nichts sagen konnte. Der Verkauf des Hauses hatte bereits einmal im Raum gestanden, doch dann hatte Berthold alles abgeblasen in der Hoffnung, doch noch mit Angela in die Villa einziehen zu können, die ein richtiges Juwel war. Es war kein Wunder, dass sie nicht lange auf dem Markt gewesen war wie beispielsweise die Villa von Rosmarie und Heinz, die sie angeboten hatten wie saures Bier und trotz erheblicher Preisabschläge zunächst nicht verkaufen konnten. Sie hatten sie mittlerweile längst verkauft, sogar zum ursprünglichen Preis, in Kürze würde das Internat eröffnet werden. Sie musste sich deswegen keine Gedanken machen, sondern erst einmal verdauen, was Berthold ihr da gerade verkündet hatte. Aber so war es, erfuhr man etwas, was einem nicht gefiel, dachte man prompt, um abzulenken, an etwas anderes.
Sie erkundigte sich nicht danach, wer die Villa gekauft hatte, was eigentlich naheliegend gewesen wäre. Sie war irritiert darüber, dass es geschehen war.
Inge wusste nicht, wie sie sich jetzt verhalten sollte und konnte nur hoffen, dass Berthold ihr ihre Enttäuschung nicht zu sehr ansah, weil es sie schließlich nichts anging, ob und was er mit seiner Immobilie machte. Und was zwischen ihm und Angela war, das durfte sie ebenfalls nicht interessieren. Doch wenn man so miteinander verbandelt war wie die Auerbachs, die von Roths und die Damen von Bergen, dann war das wie eine Familie, und was die betraf, ging einem alles nahe, so einfach war das.
Zum Glück bemerkte Berthold nicht ihre Zerrissenheit, er begann von sich aus über sich und Angela zu sprechen, über die Villa, die ihr Lebensmittelpunkt hatte werden sollen.
»Wie du weißt, Inge, hätte ich Angela die Villa gern geschenkt, weil sie es so sehr verdient hätte. Ohne sie hätte ich die letzte Zeit nicht überstanden.« Seine Stimme klang bewegt, und er hatte Tränen in den Augen, was Inge veranlasste, ebenfalls zu weinen, weil sie so gerührt war, als Berthold begann von Angela zu schwärmen, die ihm vorbehaltlos ihr Herz geschenkt hatte.
»Inge, ich liebe Angela, ich werde niemals aufhören, sie zu lieben, doch sie hat mehr verdient als das, was ich ihr geben kann. Ich kann nachvollziehen, warum sie die Reißleine gezogen hat. Eine Frau wie Angela hat ein ganzes Herz verdient, nicht ein Stückchen, weil das meiste bereits besetzt ist …, doch Inge, ich kann nicht gegen meine Gefühle an, und ich kann Angela auch nicht belügen, dazu ist sie ein zu wertvoller Mensch, sie hat einen Mann verdient, der ganz und vorbehaltlos für sie da ist, nicht so einen menschlichen Krüppel wie mich, der sich …«
Jetzt unterbrach Inge ihn.
»Berthold, bitte hör auf damit. Niemand kann über seinen Schatten springen, und ich glaube auch, niemand, der selbst nicht ein solches Schicksal hatte wie du, kann ermessen, wie es in dir aussieht.« Sie glaubte, Angela in Schutz nehmen zu müssen. »Ich bin überzeugt davon, dass Angela es sich nicht leicht gemacht hat. Und dass sie das Haus nicht möchte, kann ich verstehen. Wie hätte sie dort einziehen können, alles würde sie doch an dich erinnern und an das Leben, das ihr dort führen wolltet. Und das Haus anzunehmen, um es zu verkaufen, so etwas ist nicht Angelas Ding, sie ist keine Goldgräberin, die nur ihren Vorteil sieht.«
»Inge, das weiß ich doch, du glaubst überhaupt nicht, wie sehr ich es bedaure, dass sie sich von mir getrennt hat, doch, wie bereits gesagt, ich kann ihren Schritt nachvollziehen. An ihrer Stelle hätte ich auch nicht anders gehandelt.«
»Ich denke, Berthold, Angela musste auf deinen Weg kommen, und sei es nur, um dir dabei zu helfen, einen Weg zu finden, wieder am Leben teilnehmen zu können. Und das ist ihr gelungen.«
Er bestätigte es sofort, begann erneut von Angela zu schwärmen, und das zerriss Inge beinahe das Herz. Wieso war das Schicksal so grausam, zwei Menschen zusammenzuführen, die wie sonst nichts zueinanderpassten und um dann doch Barrieren aufzurichten, die nicht überwunden werden konnten.
»Und was willst du jetzt tun, Berthold?«, erkundigte sie sich leise, nachdem er eine kleine Pause gemacht hatte, um etwas von seinem Kaffee zu trinken, den er zuvor kaum angerührt hatte und der mittlerweile ziemlich kalt sein musste. Sie sprach ihn nicht darauf an, weil das jetzt so nebensächlich war.
Er stellte seine Tasse zurück, und Inge bemerkte, wie sehr seine Hand vor innerer Anspannung zitterte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte ihn tröstend in die Arme genommen. Sie verkniff es sich, weil das etwas war, womit er allein fertig werden musste, wobei ihm niemand helfen konnte. Wenn er es wollte, konnte sie ihm eine helfende Hand reichen, mehr ging nicht, denn man konnte jemanden auch mit seinen Gefühlen, seinem Mitleid unangenehm bedrängen.
»Ich werde alles hinter mir lassen und nach Afrika gehen, dorthin, wo ich alles verloren habe. Ich war bereits mit Angela dort, mit ihr an meiner Seite konnte ich beginnen, alles, was geschehen war, ein wenig aufzuarbeiten. Ohne sie wird es ganz furchtbar werden, doch ich habe keine andere Wahl. Ich bin überzeugt davon, dass es niemals mehr eine andere Frau an meiner Seite geben wird. Ich weiß, dass ich an Angela denken werde, wenn der Schmerz mich zu zerreißen droht, und daraus werde ich Kraft schöpfen, werde ich versuchen, Kraft zu schöpfen«, korrigierte er sich sofort.
Er war blass, hatte einen zerquälten Gesichtsausdruck, Inge musste an sich halten, ihm jetzt zuzurufen, die Toten ruhen zu lassen, sich den Lebenden zuzuwenden. Warum quälte er sich so? Er hatte diesen Flugzeugabsturz nicht verursacht, wäre selbst Insasse gewesen, hätte man ihn nicht zurückgerufen wegen eines dringenden geschäftlichen Anrufs. Und er hatte den Flug verschieben wollen, doch damit waren seine Frau und seine Kinder nicht einverstanden gewesen. Sie hatten es so gewollt, das Schicksal hatte die Karten gemischt, ihn am Leben gelassen, seine Familie in den Tod geschickt. Auch wenn es kein Trost war, so hatten er, seine Frau und die Kinder lachend voneinander Abschied genommen.
Der Preis, den er jetzt zahlte, der war zu hoch!
»Berthold, was du tun willst, das ist keine Lösung, hast du …, hast du schon mal darüber nachgedacht, dir psychiatrische Hilfe zu holen?«
»Ja, doch das hat mir nichts gebracht. Mit mir ist nichts mehr los, selbst Angela mit all ihrer Geduld, ihrer Empathie, ihrem großen, warmen Herzen musste die Segel streichen, um von mir nicht erdrückt zu werden … Inge, lass es gut sein. Inge, ich wünsche Angela von ganzem Herzen, dass sie noch mal einen Mann kennenlernen wird ohne Altlasten … Inge, wenn es dir nichts ausmacht, dann möchte ich jetzt nicht mehr über Angela sprechen, es ist alles noch so frisch, und es tut verdammt weh. Bei dir möchte ich mich auch noch mal ganz besonders bedanken, dass du dich so sehr um mich gekümmert hast, als ich wirklich am Boden lag. Der Abschied von dir, deinen Lieben, fällt mir ganz besonders schwer.«
Sie war gerührt, sagte etwas, was sie eigentlich nicht hatte sagen wollen. Doch immerhin passte es.
»Berthold, es muss kein Abschied für immer sein.«
Er blickte sie ernst an.
»Nein, Inge, das muss es nicht. Doch es wird ein wenig schwierig werden, und eines ist gewiss, wenn ich jetzt Deutschland verlasse, dann für immer. Und kannst du dir vorstellen, mich in Kenia zu besuchen?« Weil sie nicht sofort antwortete, fuhr er fort: »Inge, Kenia ist ein wundervolles Land, es würde dir gefallen. Und was immer dort auch geschehen ist, das Land kann nichts dafür.«
Inge hütete sich davor, jetzt eine Zusage zu machen, die sie dann doch nicht einhalten würde. Sie schaffte es ja nicht einmal, bis Stockholm zu fliegen, und dann bis Kenia? Sie durfte wirklich keine Versprechungen machen, die sie nicht halten konnte, Berthold war überempfindlich und verletzlich.
»Danke für die Einladung, Berthold, doch komm erst einmal an, zum Glück ist es heutzutage nicht mehr problematisch, in Verbindung zu bleiben, wo immer man sich auch befindet. Manchmal ist es zuträglich, weltweit miteinander vernetzt zu sein. Und das möchte ich auf jeden Fall, mit dir eng verbunden sein, mein Freund.«
Er war gerührt, konnte nicht sofort etwas sagen, dann nickte er. »Das möchte ich ebenfalls, Inge. Du bist sehr wichtig für mich, auch wenn ich das manchmal nicht richtig zum Ausdruck bringen kann.«
Dann wechselte er abrupt das Thema, begann über Alltäglichkeiten zu sprechen, über die Politik, die immer für ein intensives Gespräch gut war. Inge war ihm dankbar dafür, denn das Gespräch zuvor war grenzwertig gewesen, hätte sie beinahe zerrissen, und das in mehrfacher Hinsicht, erst einmal, was da in Kenia geschehen war und hernach die Trennung dieser beiden wunderbaren, wertvollen Menschen.
»Berthold, darf ich dir noch einen Kaffee anbieten?«, erkundigte sie sich irgendwann. Er lehnte ab, doch das war für ihn ein Zeichen, mal auf die Uhr zu sehen, und nun hatte er es eilig, um noch seinen Flieger zu bekommen.
Er erhob sich, sie tat es ihm gleich, sie umarmten sich, und dann begleitete sie ihn zur Tür, zum zweiten Mal heute einen unverhofften Besucher, der ihr am Herzen lag.
»Danke für alles, Inge«, sagte er, umarmte sie, drückte sie ganz fest an sich.
»Pass auf dich auf, Berthold«, sie strich ihm liebevoll über den angespannten Rücken. »Und schön, dass du da warst.«
Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann verabschiedeten sie sich. Inge sah noch, wie er in sein Auto stieg, winkte ihm kurz zu, dann ging sie ins Haus zurück, dort angekommen, lehnte sie sich gegen das harte Holz der Tür.
Sie mochte Berthold wirklich sehr gern, er war nicht nur Werners Freund, sondern längst auch einer von ihr, und deswegen erschütterte sie sein Schicksal so sehr. Er kam aus den Fangarmen von Schmerz und Trauer nicht heraus und war ein Gefangener seiner eigenen Gefühle. Und schrecklich dabei war, dass man diesem großartigen Mann nicht helfen konnte.
Sie wagte keine Prognosen, wie alles mit ihm enden würde, eines allerdings wusste sie ganz gewiss, es war keine gute Idee, nach Kenia zu ziehen. Wenn man dem Feuer entronnen war, rannte man nicht wieder hinein.
Aber Berthold war erwachsen, er war ein kluger Mann, dem man nicht vorschreiben durfte, was er zu tun oder zu lassen hatte.
Er hatte sich entschieden, und jeder hatte für alles seine Gründe.
Sie ging in die Küche zurück, machte die Terrassentür auf, dann rief sie nach den Hunden, die die ganze Zeit über im Garten herumgetollt waren. Jetzt ließ sie sie herein, denn jetzt war niemand mehr hier, den sie stören konnten.
Luna und Sam kamen angerannt, und jetzt bekamen sie von Inge erst einmal eine ganze Menge Streicheleinheiten. Beide spürten, dass mit Inge etwas nicht stimmte, sie ließen nicht nur alles geschehen, sondern sie jaulten, gaben ihre Hundeküsschen, zeigten Inge ihre Gefühle. Und das konnten Tiere, ganz besonders Hunde, die besonders dafür sensibilisiert waren, wie es den Menschen ging, bei und mit denen sie lebten.
Inge merkte, wie sie sich allmählich beruhigte, denn das war schon eine ganze Menge gewesen, was sie erlebt hatte, zuerst mit Jörg, danach mit Berthold.
»So, meine Süßen«, sagte sie, streichelte beide Tiere noch einmal ausgiebig, »und jetzt habt ihr eine Belohnung verdient.«
Bei dem Wort Belohnung spitzten beide die Ohren, und dann rannten sie zum Küchenschrank, in dem die heiß begehrten Leckerli untergebracht waren und schauten erwartungsvoll zu dem Fach, in dem sie sich befanden. Dabei waren sie ganz aufgeregt, wedelten mit dem Schwanz, sprangen an Inge hoch, und dabei ließen sie den Schrank nicht aus den Augen.
Jetzt musste Inge unwillkürlich lachen, obwohl ihr wirklich nicht danach zumute war. Sie holte die Leckerli heraus, und diesmal verteilte sie sie sehr großzügig an Luna und Sam, die ihr Glück nicht fassen konnten und sich über die Köstlichkeiten hermachten.
Es war wirklich genug gewesen, denn diesmal bettelten sie nicht um mehr, sondern zogen sich zufrieden auf ihre Kissen zurück.
Wie leicht man Hunde doch zufriedenstellen konnte, dachte Inge beinahe neidisch. Wenn es doch bloß bei den Menschen auch so einfach wäre. Wenn, dann würde sie sich verpflichten, einen Kuchen nach dem anderen zu backen oder immer auch das, was gerade begehrt wurde.
Sie packte das benutzte Geschirr in den Geschirrspüler, auch die Keksschale, denn auf der befand sich nicht ein einziges Krümelchen. Berthold hatte seinen Kaffee kaum angerührt, weil er ihn schlichtweg vergessen hatte, bei den Keksen allerdings hatte er zugeschlagen.
Berthold …
Ob Angela von dem Verkauf der Villa wusste, auch, dass er nach Kenia gehen würde, um dort zu leben?
Sie hatte keine Ahnung, es ging sie auch nichts an, und von sich aus würde sie das Thema auch nicht berühren. Da war sie ganz anders als ihre Mutter, die direkt aussprach, was sie beschäftigte.
Nachdem Inge sich eine Weile ihren traurigen Gedanken hingegeben hatte, wanderten die zu Werner, ihren Kindern, ihren Enkelkindern, und schon durchflutete sie eine riesige Welle von Dankbarkeit.
Allen ging es gut, sie waren gesund …
Mehr konnte man nicht verlangen, sie schickte ein kleines Dankesgebet gen Himmel, denn das war nötig, weil es keine Selbstverständlichkeit war, glücklich, gesund und zufrieden zu sein. Und sie nahm sich ganz fest vor, sich nicht mehr über Nichtigkeiten zu ärgern, über Kleinigkeiten aufzuregen, sondern achtsam zu sein, ihrer Familie und sich selbst gegenüber.
Inge schaltete jetzt aus, was ihr nicht so gefallen hatte, vor allem alles, was sie an Werner störte. Sie musste dankbar dafür sein, ihn zu haben, mit ihm ihr Leben verbringen zu dürfen. Insgesamt stimmte es doch mit ihnen, und über alles andere konnte man reden. Das war es, was sie noch lernen musste.
Das Telefon klingelte, sie zuckte zusammen und meldete sich ein wenig unwillig. Doch sie begann sofort zu strahlen, als sie bemerkte, wer da anrief.
Es war ihr Werner.
»Inge, mein Schatz, Pamela hat die Großeltern beschwatzt, mit ihr in so einen Andenkenladen zu gehen, weil es da etwas gibt, was sie unbedingt haben will. Und du kennst deine Eltern, sie sind Wachs in Pamelas Händen. Aber das gibt mir die Gelegenheit, mich kurz bei dir zu melden. Ich vermisse dich, mein Schatz. Ich vermisse dich sehr.«
Das war neu an Werner, irritierte sie ein wenig, doch noch ehe sie eine Frage stellen konnte, erklärte er: »Inge, ich habe mit Berthold geredet, der hat mir zum wiederholten Male gesagt, was ich an dir habe. Als wenn ich das nicht wüsste. Aber was mich so nachdenklich gemacht hat, ist die Tatsache, wie sehr er unter dem Verlust seiner Familie leidet. Es hat ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er ist nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen …, das hat mir irgendwie die Augen geöffnet, dich zu verlieren, nein, das kann und will ich mir gar nicht vorstellen. Das Gespräch mit Berthold hat mir bewusst gemacht, wie kostbar das Leben ist, dass es von einer Sekunde zur nächsten zu Ende sein kann. Inge, ich möchte dich nicht verlieren, ich möchte mit dir steinalt werden. Aber das möchte ich in Harmonie, mit Verständnis füreinander, miteinander. Inge, ich habe in der Vergangenheit eine ganze Menge versäumt und noch mehr falsch gemacht. Wie blöd war ich eigentlich, diesem Karriereknick alle Aufmerksamkeit zu schenken, herumzujammern, statt mich zu freuen, dass ich jetzt endlich Zeit habe für dich, für ein gemeinsames Leben. Dass es geht, wie gut es geht, sehe ich an deinen Eltern, man kann neidisch werden, wie liebevoll die miteinander umgehen, wie sehr sie sich lieben, auch im hohen Alter. Inge, verzeih mir, was ich dir angetan habe, und ich möchte dir sagen, wie sehr ich dich liebe …, deine Eltern, ganz besonders Berthold haben mir die Augen geöffnet. Er wird dich übrigens besuchen, weil er die Villa verkauft hat.«
Sie wollte ihm gerade erzählen, dass das bereits geschehen war, als Werner hastig sagte: »Wir müssen Schluss machen, sie kommen aus dem Laden zurück, und so, wie unsere Tochter strahlt, kann man nur annehmen, dass die Großeltern all ihre Wünsche erfüllt haben. Ich habe Sehnsucht nach dir, ich freue mich auf unser Wiedersehen.«
Sie konnte nichts sagen, bekam gerade noch mit, wie Werner sagte: »Das ging aber schnell«, wie Pamela quietschte, und dann war das Gespräch unterbrochen.
Sie hatte sich so mies gefühlt, war so traurig, so unglücklich gewesen, und nun das.
Das Gespräch mit seinem Freund Berthold musste Werner wirklich sehr erschüttert haben, denn das, was gerade geschehen war, hatte Inge noch nie zuvor in ihrem Leben erlebt.
Fast hatte sie das Gefühl, auf Wolken zu gehen.
War das tatsächlich ihr Ehemann gewesen, der diese liebevollen, vor allem diese einsichtigen Worte gefunden hatte? Es war wirklich kaum zu glauben, doch es machte Inge glücklich. Und auch wenn Werner irgendwann vielleicht in alte Verhaltensmuster zurückfallen würde: Es machte nichts, es machte überhaupt nichts, nach all den vielen Jahren ihrer Ehe, in denen es Höhen und Tiefen gegeben hatte, war Werner noch niemals zuvor so ehrlich gewesen, hatte er noch niemals darüber gesprochen, dass er Angst hatte, sie zu verlieren. Er hatte noch niemals solche Gefühle gezeigt, Gefühle, von denen er offenbar gerade überrannt worden war, sonst hätte er sie nicht angerufen, hätte bis zu seiner Heimkehr gewartet. Es hatte sich etwas verändert, und das war so neu, dass Inge noch nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte.
Inge gehörte nicht zu den Menschen, die ihr Vergnügen darin fanden, viel zu laufen. Doch jetzt hatte sie das Bedürfnis, sich bewegen zu müssen.
Was für ein Tag!
Es war alles ein wenig viel gewesen, emotional war es auf und ab gegangen.
»Luna, Sam, kommt, wir laufen eine Runde. Ich kann euch nicht versprechen, dass es der ganze See sein wird, aber ein Stückchen auf jeden Fall.«
Die Hunde hatten nur See gehört, und das hatte sie sofort aufspringen und direkt zur Haustür laufen lassen.
»Gemach, gemach, meine Besten«, lachte Inge, »ich muss mir wenigstens noch die Schuhe anziehen und eine Jacke, doch danach können wir los.«
Zuerst Jörg, dann Berthold und danach der unverhoffte Anruf von Werner, der ihr Dinge gesagt hatte, die …
Sam kam auf sie zugestürzt, weil es dem alles zu langsam ging, Inge wurde aus ihren Gedanken gerissen, das machte aber nichts. Sie hatte unterwegs genug Zeit, sich ein wenig zu sortieren, noch einmal über alles nachzudenken, denn am See mit all den interessanten Gerüchen waren die Tiere abgelenkt. Sie liebten den See, und sie kannten sich aus, weil sie dort oft mit Pamela, mit Teresa und Markus unterwegs waren. Hier und da auch mal mit Inge, das allerdings war nicht erwähnenswert.
Endlich konnten sie los, die Hunde freuten sich, und jetzt begann auch Inge sich zu freuen. Es war ein so herrlicher Tag, viel zu schade, ihn daheim zu verbringen.
*
Roberta und Alma hatten gerade begonnen zu essen, als es an der Haustür Sturm klingelte, so, wie es eigentlich nur eine Person tun konnte. Doch das konnte nicht sein, Nicki würde nicht an einem Mittwochmittag einfach so vorbeikommen.
Alma erhob sich, ging zur Tür, um zu öffnen, dann gab es so etwas wie einen Freudenausbruch, was wiederum Roberta veranlasste, ebenfalls aufzuspringen und zur Tür zu laufen.
Da hatte jemand gerade nicht so geklingelt wie Nicki, nein, es war Nicki.
Als Nicki ihre Freundin erblickte, machte sie sich aus Almas Umarmung frei, stürzte sich auf Roberta.
»Jetzt staunst du, nicht wahr?«, lachte Nicki nach dieser mehr als nur stürmischen Begrüßung. »Was für ein Glück, dass ich die Gepflogenheiten des Doktorhauses kenne und weiß, dass am Mittwochnachmittag die Praxis geschlossen ist, und wenn du heute keine Hausbesuche mehr machen musst, dann wirst du mich nicht mehr los, Roberta.«
Sie waren mittlerweile in der Küche angelangt, Nicki schnupperte, sagte: »Hm, das riecht köstlich. Ihr habt doch hoffentlich auch etwas für mich? Ich habe nämlich einen Bärenhunger – und Alma, ich weiß ja, wie hervorragend du kochst. Was gibt es denn?«
Nicki plapperte und plapperte, und das war typisch für sie, wenn die erst einmal anfing, dann hatte niemand eine Chance, auch nur eine Chance, ein einziges Wort zu sagen. Aber so war sie nun mal die Nicki. Und was immer sie auch sagte oder tat, niemand trug ihr etwas nach, weil sie ein so liebenswerter Mensch war.
Nicki ließ sich auf einen Stuhl fallen, und Alma beeilte sich, ihr das Essen zu servieren, was überhaupt kein Problem war, denn Alma, wohl geprägt durch ihre Vergangenheit, in der sie oftmals darben musste, kochte immer reichlich.
Alma hatte den Teller kaum abgestellt, als Nicki sich auch schon über das Essen hermachte, und erst einmal hörte man abwechselnd begeisterte Ausrufe wie: »Boh, wie lecker, schmeckt das gut, so lecker habe ich Zürcher Geschnetzeltes noch nie gegessen.«
Natürlich ging das bei Alma herunter wie Öl, zumal sie in Nicki ganz vernarrt war.
Und Roberta hatte Gelegenheit, ihre Freundin ein wenig zu betrachten. Nicki war klein und zierlich, und man konnte immer wieder nur staunen, welche Energie in dieser kleinen Person steckte. Eines hatte sich allerdings verändert. Nicki hatte ihre langen Haare, auf die sie immer so stolz gewesen war, ein ganzes Stück abschneiden lassen. Die neue Frisur stand ihr gut, Roberta gefiel sie sogar besser als die langen Haare. Darum ging es jetzt nicht. Sie musste einfach erfahren, was der Grund für diese Handlung gewesen war. Und so unterbrach sie Nickis Lobeshymnen und wollte wissen: »Warum hast du deine Haare abschneiden lassen? Du hast doch immer um jeden Millimeter gekämpft und bist fuchsteufelswild geworden, wenn ein Friseur es einmal gewagt hatte, eben diesen Millimeter abzuschneiden.«
Nicki schob sich erst einmal ein Stückchen Fleisch in den Mund, kaute genüsslich, dann lachte sie.
»Ach, Roberta, du kennst mich doch. Ich hatte plötzlich das Gefühl, bei mir etwas verändern zu müssen, etwas Sichtbares.«
Jetzt konnte Roberta nicht anders, sie musste in das Lachen mit einfallen.
»Nicki, ich bitte dich, du veränderst doch andauernd etwas in deinem Leben und schaffst in einem Jahr das, was viele Menschen in ihrem ganzen Dasein nicht erreichen. Denke bloß mal an deine letzte Aktion, nach Japan zu gehen, dort erst mal zu bleiben.«
»Na ja, richtig durchgehalten habe ich es nicht, denn sonst wäre ich heute noch dort, beständig bin ich nicht gerade. Das zieht sich durch mein ganzes Leben, sehr deutlich ist es erkennbar an Männern, die ich … sammle.«
Das traf zu, Roberta sagte nichts dazu, Alma allerdings: »Du hast halt den Richtigen noch nicht gefunden, Nicki, und dann ist es besser, sich zu trennen, anstatt es bei jemandem nur auszuhalten, um Ausdauer zu beweisen. Und ich bin glücklich, dass du wieder hier bist. Auch wenn du nicht so oft hier vorbeischaust, du kommst. Und wärest du noch in Japan, dann hättest du, wie beispielsweise heute, nicht einfach vorbeikommen können. Du hättest dich halt anmelden sollen, dann hätte ich eines deiner Lieblingsgerichte gekocht und dir auch einen Kuchen gebacken.«
Nicki war gerührt.
»Alma es ist alles unheimlich lecker, was du kochst. In dieses Geschnetzelte könnte ich mich glatt hineinlegen, und ich hoffe, dass noch etwas übrig ist, was ich mitnehmen kann. Und das betrifft auch den Kuchen, ich könnte darauf wetten, dass es da noch irgendwo einen gibt, bei dessen Anblick man bereits Pfützchen auf der Zunge bekommt.«
Natürlich gab es den. Alma konnte nicht nur ganz hervorragend kochen, sondern auch backen. Da stand sie Inge Auerbach in nichts nach, was das Backen betraf. Roberta bedauerte manchmal, das nicht richtig würdigen zu können, weil sie sich nicht viel aus Kuchen machte.
Sowohl Roberta als auch Alma freuten sich über Nickis unerwartetes Kommen, denn plötzlich war, wie man allgemein so sagte, Leben in der Bude.
Dass sie beinahe als Alleinunterhalterin auftrat, wurde Nicki überhaupt nicht bewusst, sie ließ ja niemanden sonst kaum zu Wort kommen. Und Roberta konnte sich nur wundern, wie Nicki es schaffte, Berge von Essen zu verschlingen und dabei auch noch wie ein Wasserfall zu reden.
Jetzt tranken sie gemeinsam noch eine Tasse Kaffee, das war ein schönes Ritual, das sich von Anfang an eingebürgert hatte, auch ohne Nickis Anwesenheit. Mit der war es allerdings sehr viel unterhaltsamer.
»Wollt ihr eigentlich nicht wissen, warum ich hier bin? So mitten in der Woche?«, erkundigte sie sich unvermittelt.
»Du wirst es uns sagen«, bemerkte Roberta und hoffte insgeheim, dass es nichts Dramatisches war, was Nicki hergetrieben hatte.
Weil sie so eng miteinander befreundet waren, kannten sie sich natürlich in- und auswendig Einer harmlosen Frage folgte bei Nicki oftmals eine Eröffnung mit einem Paukenschlag.
Nicki ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, trank genüsslich etwas von ihrem Kaffee, dann sagte sie: »Ich bin vor Jens geflohen.«
Das konnte Roberta nun überhaupt nicht verstehen, Jens war nicht nur Nickis Nachbar, sondern sie verstanden sich hervorragend, und Roberta war sogar davon überzeugt, dass Nicki und Jens zusammenpassten wie Pott und Deckel. Doch davon wollte Nicki überhaupt nichts wissen, Jens war ein Freund, nicht mehr, und damit basta. Jens schien es offensichtlich auch nicht anders zu sehen, denn er, der smarte Professor, hatte ständig wechselnde Frauenbekanntschaften.
Nicki sollte es nicht so spannend machen.
»Nicki, lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, wieso bist du vor Jens geflohen? Das kann man nicht leicht nachvollziehen, denn ihr seid doch ein Herz und eine Seele.«
Nicki kicherte. »In der Regel schon, doch nicht, wenn Jens mal wieder für ein Wesen weiblichen Geschlechts entbrannt ist, und unerträglich ist er, wenn es wieder einmal nicht die Richtige war, wenn er sie oder wenn sie ihn verlassen hat.«
»Und das war jetzt der Fall, oder?«
Nicki nickte, trank wieder erst einmal etwas von ihrem Kaffee, ehe sie sich genötigt sah, eine Erklärung abzugeben.
»Er hatte da eine Rothaarige am Bändel, und dann musste er feststellen, dass diese Dame zweigleisig fuhr. Sie hatte neben Jens noch einen anderen Mann. Und so was geht für ihn ja überhaupt nicht. Ich glaube nicht einmal, dass er besonders in diese Frau verliebt war, Es ist eher so, dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fühlt. Männer …«
Sie führte den Satz nicht aus, doch man konnte klar erkennen, was sie davon hielt.
»Auf jeden Fall wollte er den Abend mit mir verbringen, und darauf habe ich nun überhaupt keinen Bock. Er hat mir bereits genug damit in den Ohren gelegen, mehr geht nicht.«
»Nicki, ein Abend vergeht so schnell, die paar Stunden hättest du auch noch geschafft, und eines ist gewiss, du mit deiner fröhlichen Art hättest ihn auf andere Gedanken gebracht«, wandte Alma ein.
Nicki nickte. »Ja, Alma, das stimmt. Aber ich habe mehr als nur einmal mit Jens über dieses Thema gesprochen, mit dem er mir stundenlang in den Ohren gelegen hat. Einmal muss Schluss sein, schließlich bin ich keine Alleinunterhalterin. Außerdem …«, ihre Stimme wurde leiser, zögerlich, »gibt es da noch etwas.«
Bei Roberta gingen alle Alarmglocken an, das mit Jens war nur vorgeschoben, der eigentliche Grund ihres Hierseins war das, womit sie nicht so recht herauswollte. Roberta war klug genug, jetzt nichts zu hinterfragen. Wenn, dann musste Nicki es von sich aus erzählen, und damit ließ sie sich Zeit. Sie trank Kaffee, stopfte sich einen kleinen Florentiner in den Mund, die Alma in weiser Voraussicht auf den Tisch gestellt hatte, obwohl nach allem, was Nicki gegessen hatte, eigentlich kein Platz mehr in ihrem Magen sein dürfte. Es war Platz, doch das registrierten Alma und Roberta nur, sagten nichts.
»Pete ist in der Stadt«, sagte Nicki schließlich, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. »Mehr oder weniger auf der Durchreise, ich habe keinen Bock, ihn zu sehen, und das ist auch der eigentliche Grund, weswegen ich hier bin. Kann ich bis zum Wochenende bleiben?«
»Du kannst bleiben, so lange du willst, Nicki, das weißt du doch. Ich freue mich über jeden Tag, den du im Doktorhaus weilst, und da glaube ich auch, für Alma sprechen zu können.«
Die nickte zustimmend, und dann sprang sie auch schon auf, um das Gästezimmer für Nicki herzurichten. Das hätte sie auch später tun können, doch Alma war ein sehr feinfühliger Mensch, sie wollte die Freundinnen allein lassen, weil es Gespräche gab, bei denen niemand dabei sein musste.
Die Freundinnen waren allein, und zunächst einmal herrschte Schweigen, doch das war keinesfalls unangenehm. Den beiden Frauen waren alle Facetten der Kommunikation vertraut, sie konnten miteinander reden, lachen, weinen, aber auch schweigen. Es war nicht so, dass es Roberta nicht interessierte, jetzt mehr zu erfahren. Schließlich war Pete, der englische Straßenmusikant, nicht irgendwer. Nein, er wäre der Vater von Nickis Baby gewesen, wenn sie es denn bekommen hätte. Es war eine lange, eine sehr traurige Geschichte, an der Roberta freiwillig nicht mehr rühren würde.
»Pete ist für ein paar Tage in der Stadt, genau bis zum Wochenende, das stand so in den Zeitungen. Er ist schließlich nicht irgendein Musikant, sondern stammt aus hochherrschaftlichem englischen Hause, darüber lohnt es sich, schon mal zu schreiben. Er stand vor meiner Tür, aber ich habe nicht geöffnet.«
»Und warum nicht, Nicki? Auch wenn es nur für kurze Zeit war, standet ihr euch doch sehr nahe. Und dass er direkt bei dir anklingelt, ist doch ein gutes Zeichen.«
Das sah Nicki ganz anders, und das drückte sie auch mit ihren nächsten Worten aus.
»Roberta, verbräme es nicht mit einem romantischen Schleier. Pete und ich hatten eine unverbindliche Affäre, und dass ich von ihm schwanger geworden bin, war ein Zufall, man kann auch sagen, meine Dummheit, Nachlässigkeit. Wie auch immer. Das mit ihm und mir war nett, unverbindlich, und selbst wenn ich das Kind bekommen hätte, hätte er niemals etwas davon erfahren. Es ist anders gekommen. Ich habe kein Kind, und ich will ihn nicht treffen, weil ich durch seine Gegenwart an das Geschehen aus der Vergangenheit erinnert werde, was wirklich sehr schmerzlich für mich war, weil ich das Kind wollte. Ich will ihn nicht sehen, weil es vorbei ist, weil man Affären nicht aufwärmt. Würde man es tun, wäre es keine Affäre mehr. Alles hat, wie du weißt, seine Zeit, es war nett, doch es lohnt sich nicht, es aufzuwärmen. Ehrlich mal habe ich auch überhaupt keine Lust, das jetzt aufzuwärmen, es ist vorbei. Und das Schicksal hat es so gewollt, dass ich das Kind nicht bekommen soll. Es tut immer noch ein bisschen weh, aber damit muss ich leben, und mittlerweile sage ich mir sogar, wer weiß, wofür es gut war.« Sie blickte Roberta an. »Es tut mir leid, dass ich Pete jetzt als Vorwand brauche, um ein paar Tage in deinem Sonnenwinkel sein zu können. Sei bitte nicht böse, dass ich es sonst kaum schaffe. Aber dein Sonnenwinkel und ich, wir werden wohl niemals Freunde werden. So, und jetzt erzähl mal, was hier so alles passiert ist. Claire hat sich wirklich diesen reichen Piet van Beveren geschnappt und hat die Praxis verlassen. Kannst du damit umgehen?«
»Ich hätte sie gern hier behalten, denn wir waren ein so gutes Team, doch ich muss etwas richtigstellen, Nicki. Sie hat sich ihn nicht geschnappt, weil er reich ist. Piet und Claire verbindet eine große, eine aufrichtige Liebe. Anfangs wusste sie nicht einmal, wer er ist, was er besitzt. Sie hielt ihn für einen Handelsvertreter, der mühsam sein Geld verdient, und dennoch hatte sie sich in ihn verliebt. Es gibt sie wirklich noch, die wahren Liebesgeschichten, die man staunend betrachtet, an denen man sich erfreuen kann. Das auf jeden Fall ist so eine, und auch wenn ich Claire deswegen verloren habe, freue ich mich für sie. Es geht immer weiter, wir sind dabei, in der Praxis alles umzustellen, und es klappt schon ganz gut.«
»Und jemanden einzustellen, daran denkst du nicht, Roberta?«, wollte Nicki wissen. »In der derzeitigen Konstellation kann man alles überhaupt nicht schaffen, da bleibst du irgendwann auf der Strecke. Warum nimmst du denn nicht diesen Kollegen, den du ins Auge gefasst hattest, ehe du Claire begegnet bist?«
Roberta winkte ab.
»Ich hatte ihn wegen Claire nicht ausgebootet, sondern er konnte sich nicht entscheiden. Jetzt weiß ich, dass es mein Glück war, denn er und ich, das hätte nicht gepasst. Dr. Anders ist ein wirklich guter Arzt, den ich sehr schätze, aber er und ich, wir funktionieren einfach zu verschieden, und Claire hat große Fußspuren hinterlassen, in die passt so schnell niemand. Mach dir mal keine Sorgen, Nicki, es ist gut wie es ist. Ich arbeite gern, und weil das, was ich mache, meine Berufung ist, arbeite ich auch viel.«
Nicki hatte noch etwas auf dem Herzen.
»Oder schüttest du dich mit Arbeit zu, um nicht an Lars denken zu müssen, Roberta?«
Nicki konnte solche Fragen stellen, weil Roberta wusste, dass sie es nicht aus Neugier tat, sondern aus Besorgnis.
»Nicki, ich denke immer an Lars, und so viel Arbeit kann es überhaupt nicht geben, um diese Gedanken zu verhindern. Er war meine große Liebe, und so, wie wir getrennt wurden, das wünscht man nicht einmal seinem ärgsten Feind. Es hat sich aber etwas verändert. Es zerreißt mich nicht mehr vor lauter Schmerz, sondern in mir ist unendlich viel Dankbarkeit, dass ich die Zeit mit Lars erleben durfte. Ihm zu begegnen, das war Schicksal, kein Zufall, eine Fügung, Vorbestimmung. Solche Worte sind dir nicht fremd, Nicki, mir schon. Ich würde sie nicht immer anwenden, aber was mich und Lars betrifft, schon. Und es war sein Schicksal, eigentlich ohne Grund noch einmal ins ewige Eis zu gehen und dort dann spurlos zu verschwinden. Vielleicht hat er es ja auch geahnt, denn warum hätte er zuvor so vieles hinterlassen, was mich erst nach seinem Verschwinden erreichte? Den gemeinsamen Stern, den Brief, seinen Heiratsantrag, das poesievolle Buch ›Sternenstaub‹, mit dem er mich in seine Seele blicken ließ.«
»Und das mir den Auftrag in Japan verschaffte«, wandte Nicki ein. »Lars Magnusson war wirklich ein ganz besonderer Mann, warum verdammte Hacke musste das passieren? Warum habt ihr nicht noch mal eine Chance bekommen, um jetzt eure Träume zu leben, gemeinsam zu leben? All die Träume, die du zuerst allein hattest. Das ist gemein, so was von gemein.« Nicki ereiferte sich richtig, doch das tat sie immer, wenn sie emotional bewegt war.
»Ach, Nicki, du glaubst nicht, wie oft ich mir deswegen den Kopf zerbrochen habe, mit dem Schicksal haderte. Auch dass es dieses jähe, tragische Ende fand, war kein Zufall, es war Schicksal, deswegen kann ich auch nicht jammern, weil es mit Lars und mir keine zweite Chance gab, die niemals geben wird. Das mit ihm und mir ist wie ein Buch, das zugenäht ist, das kann man nicht mehr öffnen. Doch bitte, lass uns davon aufhören und nicht in eine Traurigkeit versinken. Ich bin so froh, das du hier bist, egal, aus welchem Grund auch immer. Und weißt du, worauf ich mich am meisten freue? Auf einen Mädchenabend wie in alten Zeiten mit einem zu Herzen gehenden Film, einer großen Tüte Chips, leckerem Wein und in Reichweite eine riesige Packung von Taschentüchern.«
»Ich bin nicht ganz einverstanden«, widersprach Nicki, und nun war Roberta ganz erstaunt. »Aber das haben wir doch immer so gemacht, und wir hatten viel Spaß dabei.«
»Ist schon gut, Roberta, es gibt da nur noch eine Kleinigkeit, die ich hinzufügen möchte.«
»Da bin ich jetzt aber gespannt.«
»Zwei Tüten Chips«, sagte Nicki, »du weißt doch, dass uns eine niemals reicht und dass wir immer Probleme damit haben, wer aufsteht, um die zweite Packung zu holen.«
Als sie über Lars gesprochen hatte, war es wieder da gewesen, dieses schmerzhafte Ziehen in ihrem Herzen, doch jetzt musste sie lachen, und sie merkte, wie sich ihre innere Anspannung zu lösen begann, und das war gut so, nichts ließ sich zurückholen, nichts ließ sich herbeiwünschen. Wider Willen musste Roberta lachen.
»Wenn das deine einzige Sorge ist, liebste Freundin, die musst du dir nicht machen, natürlich bekommst du deine zwei Tüten Chips.«
Alma kam zurück, weil sie etwas vergessen hatte, sie bedauerte, am Abend nicht da zu sein, weil sie Chorprobe mit ihrem Gospelchor hatte, doch sie versprach, für das leibliche Wohl der beiden Damen zu sorgen, sie erkundigte sich bei Nicki nach deren Wünschen, und insgeheim musste Roberta schmunzeln, denn das tat Alma bei ihr so gut wie nie. Doch damit hatte sie überhaupt kein Problem.
*
Inge und Rosmarie trafen sich oft, sie mussten keine Treffen ausmachen, man kam einfach vorbei. Bei den Auerbachs war es immer so gewesen, mittlerweile funktionierte es auch bei den Rückerts.
Beide Damen freuten sich, als sie unverhofft auf dem Bauernmarkt zusammentrafen, der manchmal nur einmal, manchmal zweimal im Sonnenwinkel stattfand.
Den Bauernmarkt liebten alle Bewohner des Sonnenwinkels, nicht nur, um erstklassige Waren einzukaufen, sondern auch, um hier und da ein Schwätzchen zu halten. Mit den Schwätzchen hatte sich allerdings etwas verändert. Man war nicht mehr so unbefangen wie vor diesem schrecklichen Brand, der noch immer die Bewohner lähmte, weil leider noch immer nicht bekannt war, wer diese Freveltat zu verantworten hatte. Und so misstraute beinahe jeder jedem. Das war unschön, und der idyllische Frieden war längst gestört.
Die Auerbachs und die Rückerts bedauerten natürlich zutiefst, was da geschehen war, doch weil sie voneinander wussten, dass sie nicht in das Geschehen involviert waren, konnten sie unbefangen damit umgehen, und sie konnten sich freuen, sich zu sehen. Das taten Inge und Rosmarie auch.
Inge hatte ihre Einkäufe fast getätigt, sie brauchte nur noch ein paar Kleinigkeiten. Doch Rosmarie hier anzutreffen, verwunderte sie schon ein wenig, und das sagte sie ihr auch.
»Was machst du denn auf dem Markt?«, erkundigte sie sich lachend. »Ist für die Einkäufe nicht deine unbezahlbare Meta zuständig?« Das bestätigte Rosmarie sofort.
»Und so soll es auch bleiben, ich möchte nur ein paar Blumen kaufen, weil dieser Blumenstand wirklich unglaublich gut sortiert ist. Einen Strauß möchte ich für mich behalten, einen soll Meta bekommen, und einer ist für Frau Dr. Fischer vom Tierheim bestimmt. Ich weiß, wie gern sie Blumen mag und dass sie nicht das Geld dafür ausgeben will, sondern es immer ins Tierheim steckt, das wirklich so etwas wie ein Fass ohne Boden ist. Ich weiß nicht, woher diese Frau die Kraft nimmt, alles durchzustehen und zu managen. Mit einer Tierarztpraxis hätte sie es einfacher und würde Geld verdienen und müsste nicht jeden Cent zum Erhalt des Tierheimes opfern.«
»Solange die Menschen keine andere Einstellung zu den Tieren bekommen und sie nur als ein nettes Spielzeug betrachten, das man mehr oder weniger entsorgen kann, wenn man dessen überdrüssig ist, wird sich auch nichts ändern. Aber da fällt mir ein, dass es doch ein weiteres Fest zur Erhaltung des Tierheims geben sollte, wie sieht es denn damit aus?«
»Mit den Vorbereitungen hatten wir begonnen, doch dann ist deine Mutter erst einmal abgesprungen, weil sie sich in ihre Rolle als Grande Dame des Internats einarbeiten will, und jetzt soll sie sogar die Eröffnungsrede halten.«
Das wusste Inge doch alles.
»Und was hat das mit dem Fest zu tun?«, wollte sie wissen.
Rosmarie lachte.
»Deine Mutter will um jeden Preis bei der Gestaltung auch dieses Festes mitwirken, und du weißt, wie es ist, wenn deine Mutter etwas möchte.«
Und ob Inge das wusste.
»Mama kann nicht auf jeder Hochzeit tanzen«, bemerkte sie.
»Ja, stimmt schon, aber, wie du weißt, ist sie dem Tierheim eng verbunden.«
»Rosmarie, das bist du ebenfalls. Erinnere dich bitte daran, was du und Heinz schon getan habt, du hast deinen teuren Schmuck verkauft, Designertaschen und Outfits, Heinz hat ein ganzes Dach gespendet.«
»Stimmt alles, Inge, doch deine Mutter sammelt unermüdlich, sie rennt von Haus zu Haus, redet, wann immer es auch möglich ist, die Leute an, und dagegen kommt niemand an. Teresa hat es geschafft, Piet van Beveren davon zu überzeugen, dieses Grundstück für das Tierheim zu kaufen, er hat Teresa freie Hand gegeben, monatlich über das Geld zu verfügen, das er für einen guten Zweck zur Verfügung stellt. Glaub mir, Inge, es wird immer etwas für das Tierheim abfallen.« Sie begann zu schwärmen. »Du weißt überhaupt nicht, was für eine großartige Mutter du hast, um die ich dich glühend beneide. Teresa traut sich was, aber was sie anpackt, hat Hand und Fuß.« Rosmarie lachte. »Na ja, Piet van Beveren ist ein ganz schlauer Fuchs, wenn er nicht wüsste, welches Potenzial in Teresa schlummert, hätte er ihr nicht all diese Angebote gemacht, die nicht nur viel Verantwortung bedeuten, sondern es geht auch um viel Geld, über das Teresa verfügen darf, und auch wenn dieser Mann mehr als genug davon besitzt, schmeißt er bestimmt nicht einfach damit herum.«
Auch Inge, wie alle im Familienkreis, bewunderte ihre Mutter, und wenn sie ganz ehrlich war, würde sie sich das nicht zutrauen, sie war eher zögerlich, und leider hatte sie nichts von diesem großen Selbstbewusstsein ihrer Mutter. Vielleicht lag das wirklich daran, dass sie in einem hochherrschaftlichen Gut aufgewachsen war und feinstem Adel angehörte. Als sie auf die Welt gekommen war, war von allem nichts mehr übrig geblieben, denn ihre Eltern hatten alles verloren. Doch sie waren beide stark, hatten sich nicht unterkriegen lassen, hatten gekämpft, mit Armut umgehen müssen, doch ihre angeborene Würde hatten sie nie verloren, und jetzt ging es ihnen gut. Und sie konnten stolz darauf sein, dass sie diesen Neuanfang allein geschafft hatten.
»Ich glaube, ich werde für meine Mutter auch einen Blumenstrauß kaufen«, sagte Inge aus ihren Gedanken heraus, »ich weiß, womit ich sie glücklich machen kann.«
»Eine gute Idee«, rief Rosmarie, »den hat Teresa verdient. Schade, dass es auf dem Merkt nicht ein Café gibt, in das man sich jetzt setzen könnte.«
Eine Marktbesucherin hatte es mitbekommen.
»Wenn Sie keine zu hohen Ansprüche stellen, es gibt jetzt tatsächlich etwas, ein Stückchen hinter dem Blumenstand gibt es immerhin einen Stand mit ein paar Tischen und Stühlen, sogar für schlechtes Wetter mit Überdachung. Dort bekommt man einen erstaunlich guten Kaffee und Crêpes, die auf der Zunge zergehen. Es ist für unseren Markt wirklich eine große Bereicherung.«
Rosmarie bedankte sich, schaute Inge an.
»Und …, was sagst du dazu?«
Inge lachte. »Welche Frage, wir gehen hin.«
Es dauerte nicht lange, da saßen sie an einem kleinen Bistrotisch und waren froh, überhaupt einen Platz bekommen zu haben. Das eigentlich nur, weil gerade jemand aufgestanden war.
Sie bestellten jeweils einen großen Milchkaffee, mit den Crêpes warteten sie, weil sie sich ausrechnen konnten, wie lange es dauern würde, ehe sie an der Reihe waren. Auch wenn es nett war, das Wetter traumschön, so hatten sie doch keine Lust, stundenlang zu warten. Alles war neu, deswegen war der Andrang groß, mit der Zeit würde es sich normalisieren, und auf diese Crêpes, die wirklich sehr gut aussahen, waren sie nicht unbedingt heiß, Inge machte welche, die ganz hervorragend waren, und die von Meta waren ebenfalls köstlich. Aber zwischendurch einen Kaffee zu trinken, zu plaudern, das war eine angenehme Unterbrechung, und das genossen Inge und Rosmarie jetzt. Sie hatten sich immer etwas zu erzählen. Inge erzählte von Jörgs Besuch, das konnte sie mittlerweile unbefangen tun, denn Rosmarie mochte ihren Ex-Schwiegersohn noch immer, und weil Stella sich so unmöglich verhielt, freute sie sich über Jörgs neues Glück. Von dem Verkauf der Villa, in der Berthold von Ahnefeld und Angela von Bergen leben wollten, hatte sie gehört. Es war kein Wunder, so etwas sprach sich in Windeseile herum. Doch sie wusste nicht, dass Berthold nach Kenia gehen würde, um dort, wo das Schicksal ihn so hart getroffen hatte, zu leben.
»Inge, findest du, dass das eine gute Idee ist?«
»Nein, Rosmarie, doch wie sagt Mama immer so schön? Jeder hat für alles seine Gründe. Er ist erwachsen, weiß, was er tut. Bedauerlich ist, dass Angela und Berthold sich getrennt haben, dass seine Vergangenheit die Oberhand gewonnen hat, dabei sah anfangs alles so gut aus, hatte es den Anschein, als habe er alles überwunden.«
Rosmarie trank etwas von ihrem wirklich köstlichen Milchkaffee, stellte die Tasse wieder ab.
»Ich kann verstehen, dass Angela sich von ihm getrennt hat. Sie hat kein Land in Sicht gesehen, und immer nur drittes Rad am Wagen zu sein, das hat sie nicht verdient. Sie ist ein so wundervoller Mensch, wenn, dann muss ihr das Herz eines Mannes ganz gehören, nicht nur ein Stückchen.«
Dem stimmte Inge sofort zu.
»Berthold weiß das auch, und er leidet sehr darunter, dass Angela die Reißleine gezogen und ihn verlassen hat. Doch niemand kann über seinen Schatten springen. Es ist auf jeden Fall besser, vorher einen Schlussstrich zu ziehen als eine laue Beziehung zu führen, in der immer ein bisschen fehlt, ein bisschen, das übermächtig wird, weil man es mit Wünschen befrachtet, die vielleicht nicht einmal der Realität entsprechen. Ja, ja, es ist schon seltsam mit den menschlichen Beziehungen.«
»Wem sagst du das«, pflichtete Rosmarie sofort bei, »doch manchmal lohnt es sich, nicht direkt die Flinte ins Korn zu werfen, sieh mal, was aus mir und meinem Heinz geworden ist, ein glückliches Paar, nicht mehr eine funktionierende Gemeinschaft wie in all den früheren Jahren.«
»Rosmarie, das kannst du nicht vergleichen, als du Heinz geheiratet hast, wusstest du, was du wolltest, Rosmarie, einen Mann, der sehr viel Geld besaß, weil du gut versorgt sein wolltest. Du mochtest Heinz, bei ihm war es ähnlich, vermute ich. Auf jeden Fall konnte er dir das Leben bieten, von dem du immer geträumt hast, ihr seid ein gutes Team gewesen, ganz tief in seinem Herzen war da noch immer die Liebe zu seiner großen Liebe Adrienne Raymond, Ceciles Mutter. Euer Arrangement hat ja auch viele Jahre lang geklappt, ihr wusstet, was ihr aneinander hattet. So oder ähnlich hast du es mir erzählt.«
Rosmarie bestätigte es, fügte hinzu: »Irgendwann reichte es nicht mehr, zumal ich, wie du weißt, mich sehr verändert hatte. Wir standen kurz vor der Trennung, tja, und dann kam unsere spontane, denkwürdige Reise mit einem gemieteten Geländewagen und einem gemieteten Campinganhänger …«, sie hielt inne, versank in ihre Erinnerungen, Rosmarie lächelte glücklich. »Was für viele Menschen ein Grund ist, sich nach einer derart abenteuerlichen Reise auf engstem Raum zu trennen, hat für Heinz und mich die Wende zum Guten gebracht. Wir entdeckten unsere Gefühle füreinander. Uns haben die Enge, die Einfachheit nicht getrennt, sondern all das hat uns einander nähergebracht, wir funktionieren nicht mehr wie eine gut geölte Maschine, sondern wir werden von unserer spät entdeckten Liebe getragen.«
Inge kannte das alles, doch sie konnte es immer wieder hören, Frauen waren halt emotional und konnten von Liebesgeschichten einfach nicht genug bekommen.
Jetzt bestellten sie sich doch Crêpes, weil Rosmarie entdeckt hatte, dass der Ansturm vorbei war. Freilich hatten sie auch nicht damit gerechnet, so lange hier zu verweilen, aber wenn man erst einmal anfing zu sprechen, da kam man sehr schnell vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Und Kaffee brauchten sie ebenfalls.
Bis die Crêpes serviert wurden, erwähnte Inge rasch noch die zweite Reise im Luxuswohnmobil, das sich die Rückerts mittlerweile angeschafft hatten.
»Und diese Reise war ja nun leider nicht der Hit, Rosmarie, doch ich bin froh, dass ihr nicht direkt die Flinte ins Korn geworfen und alles verkauft habt. Ihr hättet es bereut, die Voraussetzungen, die Reise nach einem längeren Aufenthalt auf einem Luxusanwesen der Raymonds anzutreten, war nicht gerade eine gute Idee.«
»Stimmt, Inge. Vielleicht hatten wir auch einfach zu viel erwartet, so nach dem Motto, im einfachen Campinganhänger war es toll, dann müsste es im Wohnmobil der Extraklasse doch supertoll sein.
Unsere Erwartungshaltung war wirklich zu groß. Aber zum Glück ist das vorbei, wir konnten im letzten Moment den Verkauf stoppen, und jetzt freuen wir uns einfach nur noch auf eine gemeinsame Reise mit Fabian und Familie. Und weißt du was, Inge, ich finde es so großartig von dir, dass du es uns gönnst. Immerhin hattet ihr eine solche Reise mit den Kindern noch nicht.«
Inge beruhigte Rosmarie.
»Auch wenn es sich nicht so ergeben hätte, wäre es niemals dazu gekommen, meine Liebe, denn mein Werner würde sich eher erschießen lassen, als Urlaub auf diese Weise zu machen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er es mit allen zusammen in einem Luxushotel aushalten würde, was wiederum nichts für unsere Ricky wäre. Nein, nein, es ist alles gut. Ich freue mich wirklich für euch.«
»Das weiß ich doch, Inge. Aber sag mal, mit dir und Werner, ist es da zu einer Art Waffenstillstand gekommen? Ich weiß noch so genau, wie glühend ich euch immer um euer Glück beneidet habe.«
»Weil du nur von außen gesehen hast, was du sehen wolltest.«
Weil Rosmarie und sie längst Freundinnen geworden waren und ganz offen miteinander redeten, erzählte Inge ihr auch von Werners unerwartetem Anruf, in dem er viele Gefühle gezeigt hatte.
»Ich war ganz schön überrascht, Angst aus seiner Stimme zu hören, Angst, mich zu verlieren.«
»Er weiß, was er an dir hat, liebe Inge, und er weiß, dass er ohne dich nichts ist. Außerdem, er liebt dich.«
»Und ich liebe ihn ebenfalls«, sagte Inge leise, dann erst einmal nichts mehr, weil die Crêpes serviert wurden, und beide Frauen stellten übereinstimmend fast, dass es eine sehr gute Idee gewesen war, die zu bestellen, sie schmeckten nämlich köstlich, und für einen Augenblick konnten sie vergessen, dass sie sich nicht irgendwo in Frankreich befanden, sondern im behaglich schönen Sonnenwinkel.
Eigentlich hatte Inge noch etwas zu dem letzten Thema sagen wollen, sie ließ es aber bleiben, weil es jetzt nicht mehr passte. Außerdem hatte es Zeit, Rosmarie irgendwann zu erzählen, dass Werner zurückhaltender geworden war und sie sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass er sich beinahe ein wenig dafür schämte, kurz Gefühle und Schwäche gezeigt zu haben.
Was war das lecker gewesen, zufrieden schoben sie die leeren Teller beiseite, und dann war es auch schon allerhöchste Zeit, aufzubrechen.
Inge kaufte die Kleinigkeiten nicht mehr ein, aber die Blumen für ihre Mutter doch. Das tat sie nicht aus Pflichtgefühl, oder weil es einen konkreten Anlass gab, sondern einfach so. Sie liebte ihre Mutter wirklich sehr, und sie war unglaublich stolz auf sie, was die plötzlich alles auf die Beine stellte.
Es ging ihr gut, sie führte ein schönes Leben, hatte die Eltern ganz in der Nähe, und den Sonnenwinkel, den sie ebenfalls über alles liebte, für einen Augenblick war es beinahe so wie früher. Die Sonne schien, die Luft war mild, Menschen kauften ein, unterhielten sich. Hier und da hörte man ein Lachen. Und von hier aus konnte man nichts von der Zerstörung sehen, die auf alles einen grauen Schleier gelegt hatte, auch auf die Menschen.
Da Inge die Blumen zuerst gekauft hatte, verabschiedete sie sich von Rosmarie.
»Es war schön, dich zu sehen, und das eben, das war besonders schön. Man sollte dem, der die Idee hatte, gratulieren, so ein Treffpunkt hat eindeutig gefehlt.«
»Finde ich auch, meine Liebe, wir sollten es wiederholen, oder?«
»Werden wir, grüß deinen Heinz von mir und auf bald, Rosmarie.«
Es gab eine letzte Umarmung, dann ging Inge rasch nach Hause, jetzt musste sie sich aber sputen, die Zeit das Essen zu kochen, das sie geplant hatte, reichte nicht mehr aus. Dann mussten halt Spaghetti her, die dauerten nicht lange, und die gingen immer, mehr noch, Pamela würde sich ganz besonders freuen. Wenn es nach der ginge, könnten jeden Tag Nudeln auf den Tisch kommen.
Es war schön gewesen, Rosmarie so unverhofft zu treffen.
Und der Crêpe …, hm, der war so was von lecker gewesen.
Sie überlegte kurz, ihrer Mutter die Blumen direkt zu bringen, dann jedoch entschied sie sich dagegen. Es musste warten. Sie ging ins Haus, packte ihre Einkäufe aus, und dann musste sie sich wirklich sputen.
Natürlich hatten Sam und Luna bemerkt, dass wieder jemand im Haus war, sie kratzten an der Terrassentür, doch so leid es Inge auch tat, die mussten warten, denn die würden ja nicht nur hereinkommen und sich auf ihre Kissen zurückziehen, sondern erwarteten Streicheleinheiten und mehr noch die begehrten Leckerli. Das musste Zeit haben bis später. Eine richtig gute Tomatensauce zu kochen, das war sehr aufwändig, und wenn Inge sich schon mal dran machte, eine zu kochen, dann tat sie es stets auf Vorrat und fror sie portionsweise ein. Was für ein Glück. Jetzt musste sie die Sauce nur noch auftauen und erwärmen, und die Spaghetti brauchten nicht lange.
Inge war gerade mit allem fertig, als Pamela ins Haus gepoltert kam, stürmisch und laut, dabei war das sonst überhaupt nicht ihre Art. Doch wenn sie aus der Schule kam, geschah das immer mit viel Radau. Sie hatte das Haus kaum betreten, als sie auch schon brüllte: »Ich bin wieder da«, und die nächste Frage, die kam prompt: »Was gibt es denn zu essen?«
Inge sagte es ihrer Tochter, die mittlerweile in die Küche gekommen war, und das bescherte ihr auch prompt eine stürmische Umarmung.
»Mami, du bist die Allerbeste, hm, Spaghetti, du weißt doch, dass ich mich in die hineinlegen könnte.«
Wenn es etwas zu essen gab, was Pamela mochte, erfolgten immer solche oder ähnliche Aussprüche und Umarmungen, deswegen musste Inge das nicht überbewerten. Aber schön war es doch.
»Und wo ist der Papi?«, erkundigte Inge sich. »Er wollte dich doch von der Schule abholen.«
»Hat er, Mami, sonst wäre ich ja noch nicht daheim. Der Papi bringt nur noch sein Auto in die Garage, du weißt doch, wie ordentlich er ist. Er lässt es niemals einfach nur vor der Tür stehen.«
Ganz im Gegensatz zu mir, dachte Inge, die ihren Wagen aus lauter Bequemlichkeit nämlich meistens vor dem Haus parkte.
»Prima, mein Kind, dann kannst du jetzt schon mal den Tisch decken, und was möchtest du trinken?«
Diese Frage war berechtigt, denn Pamela konnte sich niemals sofort für etwas entscheiden.
»Lass mal, Mami, darum kümmere ich mich selbst. Ich glaube, heute nehme ich eine Apfelschorle, aber nein, vielleicht auch diesen leckeren Rhabarbersaft, oder nein, doch lieber bloß ein Wasser.«
Inge lächelte still vor sich hin. Vermutlich würde es letztendlich doch die Apfelschorle sein.
Pamela deckte den Tisch, und danach riss sie die Terrassentür auf und schrie: »Luna, mein Schätzchen, Sam, mein Großer, ich bin wieder daheim.«
Oh nein, dachte Inge und verdrehte die Augen, eigentlich hatte sie sich auf ein gemütliches Mittagessen mit Werner und Pamela gefreut, doch damit war es erst einmal vorbei. Die beiden Hunde kamen durch den Garten gehechelt, und dann gab es eine stürmische Begrüßung.
Werner betrat die Küche, umarmte seine Frau, küsste sie, dann deutete er auf die Idylle draußen auf der Terrasse.
»Mein Gott, Inge, musste das jetzt vor dem Essen sein«, beschwerte er sich.
Sie schmiegte sich an ihn.
»Werner, du kennst doch unsere Tochter, Luna und Sam kommen immer zuerst, ganz so, wie es früher mit Jonny war.«
Ein wenig anders war es doch, Pamela tollte nicht so lange wie sonst üblich mit den beiden Labradoren herum, mehr noch, sie sorgte dafür, dass sie erst einmal draußen blieben, was den Hunden überhaupt nicht gefiel, denn sie zogen beleidigt ab.
Inge war sich sicher, dass das einzig und allein an den Spaghetti lag, die Pamela genüsslich und in ganz großen Mengen essen wollte.
Inge trug das Essen auf, Pamela setzte sich mit glänzenden Augen an den großen Familientisch, doch von dort wurde sie sofort verscheucht, als ihr Vater mit autoritärer Stimme sagte: »Pamela, ehe du dich über das Essen hermachst, wäschst du dir erst einmal die Hände. Ordnung muss sein.«
Widerwillig erhob Pamela sich und rannte ins Badezimmer, um den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen.
Er hatte ja recht, dachte sie, als sie sich wenig später die Hände abtrocknete, nachdem sie die gewaschen hatte.
Spaghetti mit dieser leckeren Tomatensauce, die so schmeckte wie in Italien. Pamela bekam Pfützchen auf der Zunge, und ja, zu diesem köstlichen Essen trank sie eine Apfelschorle, die nicht minder lecker war.
*
Es war immer wunderschön, wenn Nicki sie im Sonnenwinkel besuchte, und leider verging die Zeit jedes Mal wie im Fluge, auch diesmal.
Roberta und Nicki machten einen letzten gemeinsamen Spaziergang am See, dann würde ihre Freundin sich in ihr Auto setzen und wieder nach Hause fahren.
Roberta bedauerte wieder einmal, wie schade es doch war, dass Nicki nicht wenigstens in der Nähe wohnte. Doch da war nichts zu machen, jetzt schon überhaupt nicht, seit sie in diesem herrlichen Loft wohnte in der ehemaligen Papierfabrik.
Die beiden Frauen waren nicht in Eile, sie mussten nicht als Erste ins Ziel kommen.
Es war noch ziemlich früh, und nur wenige Menschen waren unterwegs. Doch das würde sich im Laufe des Tages ändern, denn der Sternsee war ein beliebtes Ausflugsziel, und die Menschen kamen nicht nur aus der näheren Umgebung oder direkt aus dem Sonnenwinkel. Die sah man eigentlich am wenigsten, doch es war ja meist so, dass man das, was vor der Tür lag, am wenigsten schätzte.
Sie hatten gemütlich gefrühstückt, dafür hatte Alma noch gesorgt, ehe sie aufgebrochen war zu einem Auftritt mit ihrem Gospelchor.
Was für ein schöner Morgen!
Die Luft war klar, die Sonne schien vom klarblauen Himmel, es versprach, ein wunderschöner Tag zu werden. Der Sternsee wirkte wie ein glatter Spiegel, nur hier und da kräuselten sich ein paar Wellen, die sanft am dicht bewachsenen Ufer ausrollten. Es war ein Augenblick der Stille, der nicht einmal durch das Geschnatter der Enten und Gekreische der Möwen unterbrochen wurde. Die Natur hielt ihren Atem an. Nur Schwäne segelten schön und stolz über das sich in allen Blauschattierungen zeigende Wasser.
Eine ganze Weile gingen Roberta und Nicki nebeneinander her, still, in sich versunken und sich doch so nahe, wie es allerbeste Freundinnen nur sein konnten.
Je näher sie der Stelle kamen, auf der früher das kleine Haus gestanden hatte, in dem sie zunächst kurz mit dem unkonventionellen Kay, später mit ihrer großen Liebe Lars verbracht hatte, umso langsamer wurden ihre Schritte. Und dann hatten sie den Ort erreicht. Das Haus war längst abgerissen worden, nichts erinnerte mehr daran. Es waren Bäume und Sträucher angepflanzt worden, die sich längst mit der Natur ringsum vereint hatten.
Anfangs war es Roberta nicht möglich gewesen, hierher zu kommen, denn es hätte sie zerrissen. Mittlerweile ging es, und der Schmerz war dem gewichen, was sie für sich erkannt hatte, das Schicksal anzunehmen, loszulassen und die Erinnerungen als ein schönes Geschenk zu betrachten. Etwas, was nicht alle Menschen erleben durften.
Roberta und Nicki blieben stehen, schauten an den Ort. Auf einem Ast eines Baumes saß ein Vogel mit einem bunt schillernden Gefieder.
Nicki musste an sich halten, jetzt nicht auszurufen, dass es ein Zeichen war, für sie war es das, Roberta durfte sie damit jetzt nicht kommen, obwohl sie mittlerweile längst nicht mehr alles ablehnte, was mit Vorsehung, mit Zeichen, halt mit allem, für das es keine Erklärung gab, zu tun hatte.
Sie standen still da, jede in ihre Gedanken versunken, als der bunte Vogel mit lautlosem Flügelschlag davonflog, durchbrach Nicki das Schweigen.
»Roberta, kannst du es aushalten, hier zu stehen? Vermisst du das Haus nicht sehr? Vielleicht hätte es doch nicht abgerissen werden dürfen.«
»Doch Nicki, denn Lars hat es so gewollt, Solveig hat nur seinen Wunsch ausgeführt, denn er hatte doch alles unterschrieben. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob es nicht schwerer für mich gewesen wäre, dieses Haus zu sehen, entweder leerstehend oder von fremden Menschen bewohnt. Letztlich war es nicht mehr als ein äußerer Rahmen, eine Hülle. Man kann es ein wenig vergleichen mit einem wunderschönen, kostbaren Bild. Es bleibt das Bild, auch wenn man den Rahmen entfernt. Lars bleibt in meinem Herzen, wird es immer sein, und das unabhängig von diesem Haus, nein, es ist alles gut, wie es ist. Und ich bin auch froh, nicht viele Erinnerungen aus dem Haus mitgenommen zu haben, Solveig hatte es mir angeboten.«
»Wie geht es ihr eigentlich? Stehst du noch mit ihr in Verbindung?«, wollte Nicki wissen, die froh war, mit diesen Fragen diesen magischen Augenblick, oder wie man es immer auch nennen wollte, durchbrochen zu haben. Sie hatte Lars gespürt, und wie musste es dann in Roberta aussehen?
»Ach, weißt du, Solveig ist ein so ruheloser Mensch, wie Lars es war, und jetzt, da ihr Bruder, ihr einziger Verwandter, nicht mehr am Leben ist, ist sie noch mehr unterwegs.«
»Sie ist auf der Flucht«, wandte Nicki ein.
Roberta widersprach nicht.
»Mag sein, jeder geht mit Verlust und Schmerz anders um. Ich habe mich ja auch in meine Arbeit geflüchtet und mich damit zugeschüttet. Und nun zu deiner zweiten Frage. Ja, wir stehen in Verbindung, nicht mehr so oft wie nach …«, sie konnte das Wort Tod noch immer nicht aussprechen, obwohl sie doch wusste, dass dort, wo Lars verschollen war, niemand überleben konnte, auch keiner, der sich dort gut auskannte. »Wir melden uns an Geburts- und Feiertagen, hier und da auch einmal zwischendurch, jetzt weniger als anfangs. Doch das ist normal.«
Sie setzte ihren Weg fort, und Nicki folgte ihr. Lars Magnusson, sein Verschwinden, das war ein wunder Punkt im Leben ihrer Freundin, und auch wenn sich einiges verändert hatte, konnten sie noch immer nicht normal damit umgehen. Das war normal, jeder Mensch hatte etwas in seinem Leben, das er am liebsten unter der Oberfläche hielt, weil er es noch nicht loslassen konnte.
Sie waren eine Weile gegangen, drehten um, um den Rückweg anzutreten, weil es zu lange dauern würde, den ganzen See zu umrunden, Nicki wollte nach Hause, um eine angefangene Arbeit zu beenden.
Viel Zeit blieb Roberta also nicht mehr, Nicki das zu fragen, was ihr auf der Seele brannte. Schließlich fasste sie sich ein Herz.
»Nicki, du bist nicht hergekommen, weil du Pete ausweichen wolltest, nicht wahr? Dazu war eure Affäre, anders kann man es ja nicht nennen, viel zu unverbindlich. Du wolltest ihn nicht sehen, weil du Angst davor hattest, den Schmerz erneut durchleben zu müssen, dein Kind verloren zu haben. Das ist eng mit Pete verbunden, weil er schließlich, auch wenn er davon nichts weiß, der Vater ist. Da bist du ihm lieber ausgewichen. Habe ich damit recht, Nicki?«
Die antwortete nicht sofort, dann stieß sie ein: »Du hättest Psychologin werden sollen«, hervor. Weil gerade eine Bank in der Nähe stand, lief Nicki auf die zu, setzte sich, Roberta folgte ihr.
Nicki malte mit der Fußspitze Kringel in den Sand, ehe sie sich ihrer Freundin zuwandte, die still neben ihr saß.
»Es stimmt, Roberta, davor hatte ich Angst. Wir hätten uns nicht einmal nahe kommen müssen, ich meine, wieder miteinander ins Bett zu steigen. Allein seine Gegenwart hätte gereicht, alles wieder hochkommen zu lassen. Auf jeden Fall hat mir meine Reaktion bewusst gemacht, dass ich längst noch nicht alles verarbeitet, sondern nur verdrängt habe.« Sie blickte Roberta an. »Warum habe ich es nicht behalten dürfen? Ich wollte es doch, oder wurde ich bestraft dafür, dass ich es ganz am Anfang nicht wollte?«
»Nicki, das hatten wir schon, und ich habe dir mehr als nur einmal erklärt, dass dich dieses Schicksal nicht allein getroffen hat, dass es sehr viele Frauen Fehlgeburten erleiden, auch Frauen, die alles versuchen, um ein Baby zu bekommen, die alles auf sich nehmen. Mache dich doch endlich von diesen Gedanken frei.«
Nicki war warmherzig, liebenswert, doch manchmal konnte sie stur sein, störrisch wie ein Esel.
»Ich hatte ja gehofft, in Japan darüber hinwegzukommen, es hat nicht funktioniert«, klagte Nicki, »es holt mich immer wieder ein, auch wenn ich mittlerweile ein wenig anders damit umgehen kann.«
Roberta rückte näher an ihre Freundin heran, legte einen Arm um deren Schulter.
»Nicki, du kannst mehrfach die Welt umrunden, wohin du auch reist, du nimmst deine ungelösten Problem mit im Gepäck. Du musst es loslassen, und wenn du es allein nicht schaffst, dann ist es notwendig, dass du dir professionelle Hilfe holst. Das habe ich dir mehr als nur einmal gesagt. Und wenn dir das nicht behagt, dann melde dich bei einer Selbsthilfegruppe an, da triffst du Gleichgesinnte, die ebenfalls dieses Schicksal erlitten haben. Du musst etwas tun, sonst wirst du ständig auf der Flucht sein, ob vor Pete, ob vor dem glücklichen Lächeln einer Mutter, einem Baby im Kinderwagen. Es gibt vieles, zu dem du eine Verbindung herstellen kannst.«
Nicki lehnte ihren Kopf an Robertas Schulter.
»Ach, Roberta, du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich dich beneide, du bist stark, du hast die Liebe deines Lebens verloren und hast es wegstecken können.«
Darauf musste Roberta sofort antworten.
»Irrtum, Nicki, ich habe nichts weggesteckt, ich habe mittlerweile gelernt, mit dem Verlust umzugehen. Der Schmerz wird immer in mir bleiben wie ein ständiger Begleiter, doch ich lasse nicht zu, dass er über mein Leben dominiert.«
Nach diesen Worten war es still, zumindest bei ihnen auf der Bank, denn ansonsten hatte sich die Szenerie verändert. Jogger drehten ihre Runden, Spaziergänger, meist welche mit einem Hund an der Leine, gingen vorüber, und Möwen kreisten über dem Wasser, Enten kamen neugierig näher, um abzudrehen, als sie bemerkten, dass für sie nichts zu holen war.
Eigentlich war es an der Zeit für sie, aufzustehen, ihren Weg fortzusetzen. Sie blieben sitzen, hingen ihren Gedanken nach, es war Nicki, die irgendwann das Schweigen durchbrach.
»In deinem Leben ist ja wieder dein alter Studienfreund aufgetaucht, dieser Konstantin. Triffst du ihn noch? Kannst du dir vorstellen, dass es mit … dir und ihm … etwas werden könnte? Ich finde, es ist ein Zeichen, dass er nach so vielen Jahren ausgerechnet hier aufgetaucht ist, in einer Gegend, in der sich eigentlich Hase und Fuchs Gute Nacht sagen.«
Roberta konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, und das brachte sie in die Gegenwart zurück. Nicki konnte es einfach nicht lassen.
»Ja, ich treffe mich mit Konstantin. Er ist ein sehr angenehmer Mensch, wir führen schöne Gespräche, unternehmen hier und da etwas, besuchen gemeinsam Restaurants, telefonieren, wir können miteinander lachen.«
Das war eine ganze Menge, und das veranlasste Nicki zu der Frage: »Ist da wieder ein Funke übergesprungen? Schließlich wart ihr ja mal ineinander verliebt.«
Roberta bestätigte es.
»Doch nicht genug, um in Verbindung zu bleiben, und nein, es ist kein Funke übergesprungen, zumindest nicht von meiner Seite, Konstantin …, ich glaube, er hat mich gern.«
Nicki wollte etwas sagen, doch dazu ließ Roberta es nicht kommen.
»Nicki, jetzt bitte keine Mutmaßungen, keine Prognosen. Es ist zwischen Konstantin und mir nichts, nichts weiter als eine schöne Freundschaft, und ich finde, das ist schon viel, sehr viel. Mir gefällt seine Fürsorge, die er beispielsweise nach dem Brand gezeigt hat, da rief er sofort an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.«
»Das ist doch was«, rief Nicki.
»Ja, Nicki, das ist was«, bestätigte Roberta, dann erhob sie sich, »ich denke, wir wollten zurückgehen. Hast du nicht gesagt, dass du heute noch arbeiten musst?«
Das brachte auch Nicki auf die Beine, sie hakte sich bei Roberta ein, als sie weitergingen.
»Roberta, es hat mir wieder einmal so richtig gut bei dir gefallen, und Alma, ehrlich mal, die würde ich am liebsten mitnehmen, sie ist ein solches Juwel.«
»Nicki, das weiß ich, ich würde um sie kämpfen wie eine Löwin, sollte mal jemand versuchen, sie mir abspenstig zu machen.« Nicki lachte belustigt.
»Diese Sorgen musst du dir nicht machen, liebste Freundin, Alma hängt an dir, sie würde dich niemals verlassen, du bist der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Um eure Verbundenheit seid ihr wirklich zu beneiden, ich glaube, so was findet man heutzutage nicht so oft. Die Menschen sind doch eher so was wie Zugvögel, immer unterwegs nach einem neuen Futterplatz, sprich Geld oder nach einem neuen Kick. Ach ja, so eine Alma hätte ich auch gern, doch die könnte ich mir überhaupt nicht erlauben. Ich verdiene gut, sehr gut sogar, aber nicht genug, um auch all die Extras bezahlen zu können, die einem das Leben erleichtern, außerdem muss ich Monat für Monat dafür sorgen, das Geld für meine festen Kosten zu verdienen, Miete, Lebensunterhalt, Krankenkasse, Altersversorgung«, sie seufzte, »ein Monat ist so schnell um.«
»Du könntest es einfach haben, Nicki, ein Anruf genügt, und einer deiner Auftraggeber, für den du bereits als Angestellte gearbeitet hast, würde dich mit Kusshand zurücknehmen.«
»Roberta, hör bitte auf davon, ich weiß, dass eine Festanstellung mit ein sicheres Einkommen beschert, ob ich nun krank bin oder nicht, ob ich viel oder wenig arbeite. Aber das ist nicht mein Ding. Ich habe es versucht, es engt mich ein. Außerdem, dank ›Sternenstaub‹, dank meines Aufenthalts in Japan haben sich mir neue Türen geöffnet. Ich kann mich über Aufträge nicht beschweren, du kennst mich, manchmal jammere ich halt gern auf hohem Niveau.«
»Nicki, Nicki, warum bist du eigentlich nicht Schauspielerin geworden?«, erkundigte Roberta sich, »du spielst sehr glaubhaft jede Rolle.«
Nicki hätte gewiss eine passende Antwort darauf gewusst, doch dazu kam sie nicht, sie bogen um eine Kurve, und dann standen sie plötzlich Teresa und Magnus von Roth gegenüber, die mit Sam und Luna einen Spaziergang machen wollten.
Das Ehepaar von Roth und Roberta waren mittlerweile in Freundschaft verbunden, und natürlich kannten sie auch Nicki, die allerbeste Freundin der Frau Doktor, nicht nur das, sie mochten sie. Und so gab es eine sehr herzliche Begrüßung.
»Wie schön, dass Sie wieder einmal in unserem schönen Sonnenwinkel sind, Frau Beck, das freut die Frau Doktor sicher sehr, und uns würde es ebenfalls freuen, Sie zu treffen, nicht wahr, Magnus?«
»Tut mir leid, Frau von Roth, dazu ist es leider zu spät, denn ich werde gleich in mein Auto steigen und nach Hause fahren«, bedauerte Nicki, die das Ehepaar sehr mochte, ganz besonders natürlich Teresa, die für jede Frau ein Vorbild sein konnte.
»Das ist aber schade, Frau Beck, ich wollte Sie gerade einladen zur Eröffnung des Internats in Hohenborn, in der ehemaligen Rückert-Villa.«
»Ich habe davon gehört, Roberta hat mir erzählt, dass Sie die Eröffnungsrede halten werden. Das finde ich ganz großartig, doch wissen Sie was, ich nehme die Einladung gern an. Sagen Sie Roberta Bescheid, wann genau das sein wird, und ich werde da sein. So etwas lasse ich mir doch nicht entgegen.«
Teresa war sichtlich gerührt, ihre Stimme zitterte vor Freude, als sie sagte: »Das wollen Sie tun?«
»Ja, Frau von Roth, danke für die Einladung, es wird mir eine Ehre sein, bei diesem Ereignis dabei zu sein.«
Sie war jetzt wirklich in Eile, doch von sich aus hätte sie das Beisammensein nicht beendet, es waren die Hunde, die ungeduldig an ihren Leinen zerrten, weil sie all die aufregenden Gerüche erschnüffeln wollten.
»Wir müssen leider weiter«, bemerkte Magnus, »Sam und Luna fangen an, durchzudrehen.«
Eigentlich war ja auch alles gesagt, sie verabschiedeten sich voneinander, umarmten sich, Teresa bedankte sich noch einmal bei Nicki, dann gingen Teresa und Magnus nach einem letzten Winken in die Richtung, aus der Roberta und Nicki gerade gekommen waren. »Was für tolle Menschen«, schwärmte Nicki, »und schau sie dir an, wie stolz und hocherhobenen Hauptes sie daherschreiten.«
»Ich mag sie auch sehr«, bestätigte Roberta, dann erkundigte sie sich: »Nicki, war es nur so dahergesagt, oder willst du wirklich zu der Eröffnung kommen?«
»Roberta, ich bitte dich, ich würde Teresa von Roth doch nichts vormachen. Klar werde ich kommen, und wenn ich dafür einen Termin absagen muss. Er ist nett, aber sie ist einmalig, einer Frau wie ihr kann man nur nacheifern, sie sich als Vorbild nehmen. Es gibt nur die Grenzen, die man sich selber setzt. Ist man offen für alles, dann kann man beinahe fliegen.«
Roberta lachte.
»Nicki, jetzt wirst du ja richtig philosophisch, aber es stimmt schon, Teresa von Roth ist offen für alles, sie traut sich alles zu, grenzt sich nicht selber ein, indem sie sagt, dass man dies und das in ihrem Alter nicht mehr tun kann. Sie macht es einfach, unbeirrt, mutig. Es ist die Gesellschaft, die Frauen, schon bei Fünfzig beginnend, nichts zutraut, allenfalls Kaffee beim Seniorentreffen zu trinken oder Socken für die Dritte Welt zu stricken. Dabei schlummert in den vielen lebenserfahrenen Frauen ein so großes Potenzial, Teresa ist das beste Beispiel dafür. Sie hat keinen lückenlosen Lebenslauf vorzuweisen, keine Berufstätigkeit, doch sie besitzt eine große Lebenserfahrung, sie ist klug, ist durch Höhen und Tiefen gegangen, weiß, wo es längs geht. Sie ist eine Grande Dame, und das kann man nicht lernen, und das hat Piet van Beveren klug erkannt.«
»Was ich ihm übrigens nicht zugetraut hätte, doch das sagte ich bereits. Es reicht offensichtlich wirklich nicht aus, einem Menschen nur vor den Kopf zu blicken. Ach, Roberta, das Leben kann manchmal ganz schön kompliziert sein.«
»Nicki, man kann es sich auch kompliziert machen.«
Nicki grinste.
»Eins zu Null für dich, liebste Freundin.«
Sie hatten mittlerweile das Doktorhaus erreicht, vor dem Nickis Auto stand.
»Eigentlich habe ich jetzt überhaupt keine Lust mehr zu fahren, Roberta.«
»Dann bleib«, war deren Antwort, obwohl sie wusste, dass Nicki das nicht tun würde. Ihre Freundin liebte halt theatralische Abschiedsmomente, sie war halt eine verkappte Staatsschauspielerin, aber eine liebenswerte.
»Du weißt, dass es nicht geht, und deswegen muss ich jetzt auch los. Danke für alles, du bist die beste Freundin der Welt, und ich bin ja so froh, dich in meinem Leben zu haben.«
Es gab nach diesen Worten eine letzte Umarmung, dann stieg Nicki in ihr Auto und fuhr rasant und mit quietschenden Reifen los.
Roberta winkte ihr nach, bis Nicki um die Ecke gebogen war, dann ging sie in ihr so sehr geliebtes Haus, in dem es jetzt erst einmal sehr einsam sein würde, weil Nicki es nicht mehr mit Leben erfüllte.
*
Alma kam von einem Auftritt ihres Gospelchores zurück, und sie war noch ganz erfüllt von allem, dem Gesang, dem Applaus. Doch jetzt freute sie sich auf ihre Wohnung, würde ganz gemütlich alles ausklingen lassen und dann zu Bett gehen. Denn morgen war ein neuer Tag, es gab einiges zu tun.
Sie hatte den Sonnenwinkel erreicht, gleich würde sie daheim sein. Sie bog um die Ecke und sah, dass gerade der Bus anfuhr, sie drosselte ihr Tempo, blieb hinter ihm. Es waren nur wenige Passanten ausgestiegen, ein Mann, der es eilig hatte, zwei kichernde Teenager, die sich etwas zu sagen hatten, noch etwas, und dann …
Alma trat auf die Bremse. Ihr Auto blieb stehen, sie hätte mit allem gerechnet, damit nicht …