Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 10 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 5

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Roberta blieb stehen, verharrte einen Augenblick lang bewegungslos, dann drehte sie sich langsam um.

Unvermittelt ihren Namen zu hören, das hatte ganz merkwürdige Gefühle in ihr ausgelöst … Erstaunen, irgendwie auch Freude … Erinnerung.

Roberta glaubte, die Stimme des Mannes zu kennen.

Und dann standen sie sich gegenüber. Der Mann war ihr zuvor überhaupt nicht aufgefallen, weil Roberta sich zu sehr in ihre Gedanken verloren hatte, in sich gekehrt den ihr so sehr bekannten Weg gegangen war.

Der Mann war groß, schlank, sportlich, trug eine graue Jeans, einen grauen grobgestrickten Pullover, darunter ein weißes Shirt, über allem eine schwarze lässig geschnittene Lederjacke.

Es lag nicht an seiner Kleidung, die ihr gefiel, die sie an Lars erinnerte. Der war immer ähnlich angezogen gewesen und hatte wie dieser Mann lässig gewirkt. Nein, das alles nahm sie bewusst überhaupt nicht wahr. Sie schaute in sein schmales Gesicht, aus dem graue Augen sie musterten.

Roberta war es, die sich zuerst fasste, das Schweigen beendete, indem sie sich ungläubig erkundigte: »Konstantin? Konstantin von Cleven?«

Er strahlte sie an, sie hatte ins Schwarze getroffen, denn er machte einen Schritt auf Roberta zu, schloss sie überwältigt in seine Arme.

»Bitte, kneif mich mal, damit mir bewusst wird, dass du es wirklich bist, dass ich nicht träume.« Seine Stimme war wohlklingend, klang jetzt ein wenig aufgeregt.

Er blickte sie an. Es war ein offenes, gewinnendes Lachen, das plötzlich erklang, und es erinnerte Roberta an den Konstantin von früher.

Roberta war fassungslos. Es konnte nicht wahr sein, dass sie sich ausgerechnet hier am Sternsee trafen, und das nach so vielen Jahren!

Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Sie hatten gemeinsam Medizin studiert, sehr viel Zeit miteinander verbracht, sich ausgezeichnet verstanden, und sie waren sich auf eine scheue, unschuldige Weise nähergekommen. Doch dann war er nach Amerika gegangen, weil er ein Stipendium für Yale bekommen hatte. Dort hatte Konstantin sein Studium fortgesetzt, und auch sie hatte kurz darauf die Universität gewechselt, weil sie mit jemandem tauschen konnte. Das hätte sie besser nicht getan, denn dort war sie auf Max Steinfeld, ihren späteren Ehemann getroffen, und das Unheil hatte begonnen. Doch daran wollte Roberta sich jetzt wirklich nicht erinnern. Dafür freute sie sich über dieses unverhoffte Zusammentreffen mit Konstantin viel zu sehr.

Nachdem sie sich von ihrer ersten Überraschung ein wenig erholt hatten, stellten sie beinahe gleichzeitig die Frage: »Was machst du hier?«

Das war für Roberta nicht so leicht zu beantworten, denn es gab viel zu erzählen, und so schlug sie Konstantin vor, er möge sie doch begleiten.

Merkwürdigerweise sprachen sie beide auf dem Weg zum Doktorhaus nicht viel, beide waren sie wohl von dem unverhofften Zusammentreffen zu überrascht gewesen, und beide hingen sie ihren Gedanken nach, die in die Vergangenheit führte, die schon so viele Jahre zurücklag. Beide waren sie mehr als erfreut, sich getroffen zu haben.

Als sie am Doktorhaus angekommen waren, blieb Roberta stehen, wandte sich ihm zu und sagte voller Stolz: »Das ist mein Haus, hier wohne ich, und hier habe ich auch meine Praxis.«

Seine Gedanken überschlugen sich, er hätte mit allem gerechnet, gewiss nicht damit, dass diese hochbegabte Frau, die immer hoch hinaus wollte, in der Provinz landen würde. Mehr noch irritierte ihn der Name, der auf dem Praxisschild stand. Er schluckte, und seine Stimme klang enttäuscht, als er sich erkundigte: »Du bist verheiratet?«

Sie wusste für einen Moment nicht, was er mit dieser Frage bezweckte, dann schüttelte sie den Kopf und rief: »War, Konstantin, doch komm erst mal rein, ich denke, dass wir uns viel zu erzählen haben.«

Dieser Bitte kam er gern nach, drinnen hatte er nicht viel Zeit, sich in der wirklich hübsch eingerichteten Wohnung umzusehen, weil er deswegen nicht hier war.

Wenig später saßen sie sich gegenüber, tranken Wein, und dann begannen sie zu erzählen. Konstantin hatte ebenfalls eine Ehe hinter sich, war geschieden. Nach langjährigem Aufenthalt in Amerika war er nach Deutschland zurückgekehrt, war mittlerweile Professor, hatte eine große Karriere gemacht.

»Mittlerweile weiß ich, dass es nicht mein Ding ist«, erklärte er. »Ich habe ein Angebot ganz hier in der Nähe bekommen, ich soll für das Hohenborner Krankenhaus die Kardiologie aufbauen, das ist mein Fachgebiet. Es sind großartige Voraussetzungen, ich allein kann entscheiden. Hohenborn ist ja ganz nett, reißt einen nicht unbedingt vom Hocker, aber dieser See, der hat wirklich etwas. Man hatte mir empfohlen, mir den anzusehen, dass ich dabei dich treffen würde.« Er strahlte sie an. »Mensch, Roberta, ich kann es noch immer nicht fassen … dich ausgerechnet hier zu treffen. Du glaubst überhaupt nicht, wie sehr ich es schon bedauert habe, dass wir uns aus den Augen verloren haben.«

»Du hättest dich nur melden müssen, Konstantin.«

»Das habe ich, doch du warst nicht erreichbar.«

Ja klar, sie hatte, als sie die Uni gewechselt hatte, keine Nachsendeadresse hinterlassen. Auch sie hatte gern und oft an ihn gedacht, freilich kaum noch, nachdem das mit Max begonnen hatte und der neuen Clique, die sie rasch gefunden und zu der auch Enno Riedel gehört hatte, der hier ihr Vorgänger gewesen war.

Daran hielt er sich nicht lange fest, denn er wollte wissen, was sie hierher verschlagen, wie es ihr ergangen war.

Es gab viel zu erzählen, und er hörte gespannt zu. Sie sprach über die große Praxis, die sie ihrem Exmann überlassen und die er sehr schnell gegen die Wand gefahren hatte, das Angebot, sich hier niederzulassen.

»Und das hast du nie bereut, Roberta?«, erkundigte er sich ein wenig ungläubig.

Sie zögerte nicht mit ihrer Antwort, schüttelte den Kopf und sagte mit fester Stimme: »Konstantin, es war meine beste Entscheidung. Hier bin ich angekommen, und eigentlich ergreift man doch in erster Linie den Arztberuf, um den Patientinnen und Patienten nahe zu sein. Das ist man hier, denn natürlich gehören Hausbesuche zum Alltag. Es ist nichts mit geregelter Arbeitszeit, aber wenn das mein Ziel wäre, dann hätte ich Beamtin werden müssen.«

Sie erzählte auch von Claire, die jetzt bei ihr arbeitete, so wie es früher in der großen Praxis der Fall gewesen war.

»Claire hat sogar Jahre in Rom hinter sich, sie vermisst nichts von ihrem früheren Leben, ist hier ebenfalls angekommen.«

Er lachte.

»So, wie sich das alles anhört, dann habe ich ja überhaupt keine andere Wahl, als den Job in Hohenborn anzunehmen.«

»Konstantin, es ist ein sehr gutes Krankenhaus, und eine Kardiologie fehlt hier im ganzen Umkreis ganz dringend. Aber du darfst das alles hier natürlich nicht mit einer Universitätsklinik oder einem Spezialkrankenhaus in der Großstadt vergleichen. Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall, und es liegt bei dir, was du daraus machst ….«, sie zögerte, dann fügte sie leise hinzu. »Ich würde mich auf jeden Fall freuen, dich in meiner Nähe zu haben. Es ist so unglaublich, dass wir uns ausgerechnet hier nach so vielen Jahren treffen, und ich weiß nicht, wie es dir geht. Ich habe das Gefühl, dich erst gestern zum letzten Male gesehen zu haben, sie ist wieder da, diese Vertrautheit.«

Das konnte er nur bestätigen.

»Mir geht es nicht anders, Roberta. Es ist eine so unglaubliche Freude, du hast dich überhaupt nicht verändert.«

Jetzt musste sie lachen.

»Nur dass ich älter geworden bin, was auch nicht zu übersehen ist, mein Lieber.«

Er erzählte von seinem Leben, sie von ihrem. Über Lars sprach sie nicht. Das war nichts, was man einfach so in den Raum warf. Irgendwann würde sie es Konstantin erzählen, doch das war ein Thema für sich.

Es war sehr aufregend.

Als Roberta sein Glas füllen wollte, wehrte er ab.

»Danke, das ist lieb gemeint, doch ich muss noch mit dem Auto fahren. Eigentlich wollte ich nach dem kurzen Abstecher zum See die Heimreise antreten, ich hatte im Hotel bereits ausgecheckt. Doch es dürfte kein Problem sein, wieder ein Zimmer zu bekommen.«

»Musst du nicht, Konstantin, du kannst in einem Gästezimmer hier bei mir übernachten. Und ich verspreche dir, dass meine Alma dir morgen früh ein Frühstück zubereiten wird, von dem du noch lange träumen kannst.«

Es hörte sich gut an, und er zögerte auch nicht lange, denn sie hatten sich noch eine ganze Menge zu erzählen.

»Das ist großartig. Gibt es hier ein Restaurant, in das ich dich einladen kann, Roberta?«

Sie nickte.

»Und was für eines, der ›Seeblick‹ ist ein Sternerestaurant, und die Wirtin ist sehr nett, ich bin mit ihr befreundet. Aber das können wir aufschieben, ein andermal hingehen, denn ich hoffe …«

Sie brach ihren Satz ab.

»Konstantin, wirst du den Job in Hohenborn annehmen und die Kardiologie aufbauen?«

Er zögerte kurz.

»Jetzt, da ich dich hier getroffen habe, würde ich natürlich sofort zusagen. Doch aus dem Alter für spontane Entscheidungen bin ich heraus. Ich habe da noch einiges zu überlegen. Und wir zwei, wir können uns doch auch unabhängig von diesem Job wieder treffen. Dafür würde ich alles tun, jetzt, da ich dich gefunden habe, möchte ich dich nicht wieder verlieren. Es fühlt sich alles so gut an, die alte Vertrautheit ist wieder da, und wir haben uns noch immer etwas zu sagen.«

Er fügte nicht hinzu, wie großartig er es fand, dass sie beide frei waren. Er wollte sie nicht erschrecken, und außerdem war auch das etwas, was man nicht übers Knie brechen konnte. Es waren viele Jahre vergangen, ihre Wege waren auseinandergedriftet, und auch wenn es sich so anfühlte wie früher, konnte man nicht dort anknüpfen, wo sie aufgehört hatten.

Er blickte sie an. Roberta erschien ihm jetzt noch begehrenswerter als früher.

Leichte Verlegenheit machte sich zwischen ihnen breit, denn Gefühle, für die sie beide keinen Namen hatten, waren in ihnen.

Roberta überbrückte die Verlegenheit, indem sie sagte: »Meine Freundin Nicki würde jetzt sagen, dass es kein Zufall war, dass wir uns am See begegnet sind. Ich würde sagen, dass es schon ein bisschen verrückt war, denn wären wir beide nicht zufällig dort begegnet, dann wären wir wieder unserer Wege gegangen und hätten weiterhin nichts voneinander gewusst. Du konntest nicht ahnen, dass ich hier meine Praxis habe, und ich konnte nicht wissen, dass du … hoffentlich, die Kardiologie in Hohenborn aufbauen wirst. Nun ja, dann wäre ich dir vermutlich doch irgendwann begegnet. Wenn du allerdings ablehnst, dann wäre es unwahrscheinlich, dass sich unsere Wege irgendwann irgendwo gekreuzt hätten.«

Er lächelte sie an.

»Mir gefällt, was deine Freundin in solchen Fällen sagt, und ich schließe mich dem an … wir mussten uns hier begegnen, Roberta … nach all den Jahren …«

Sie hingen ihren Gedanken nach, die Stille, die plötzlich im Raum herrschte, war nicht unangenehm. Sie mussten ihre Gefühle erst einmal sortieren. Sie waren jetzt nicht in heißer Liebe zueinander entbrannt, doch jemanden, den man sehr mochte, nach so vielen Jahren wieder zufällig zu treffen, das machte etwas mit einem.

Professor Konstantin von Cleven …

Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. Er war schon ein sehr cooler Typ, der Konstantin, und wenn man ihn so sah, dann kam man nicht unbedingt sofort darauf, dass er ein Professor der Medizin, Spezialgebiet Kardiologie war, von dem man sehr viel erwartete.

Eine solche Spezialabteilung aufzubauen, das erforderte ein großes Fachwissen. Auch wenn sie nur ein paar Semester miteinander studiert hatten, konnte Roberta sich sehr gut daran erinnern, dass er ebenfalls wie sie für die Medizin brannte.

Er und sie …

Nein, daran dachte Roberta nicht einen Augenblick, erstaunlich war nur, dass sie sich in der Gesellschaft eines Mannes, der nicht Lars Magnusson hieß, wohlfühlte.

Die Zeit verging, irgendwann bekam Roberta ein schlechtes Gewissen, Konstantin war ihr Gast, also hatte sie auch für dessen leibliches Wohl zu sorgen.

»Konstantin, ich bin leider eine lausige Hausfrau, sonst würde ich jetzt vorschlagen, dir etwas zu kochen. Ich kann dir Brote anbieten, einen leckeren Belag werden wir auf jeden Fall im Kühlschrank finden.«

Er war nicht überrascht.

»Erinnere dich, kochen konntest du damals schon nicht, oder du wolltest es nicht. Damals habe ich immer für uns gekocht, ich kann dir versprechen, dass ich darin besser geworden bin. Wenn du magst, dann können wir hierbleiben, ich inspiziere deine Vorräte. Ich geh mal davon aus, dass ich einige Vorräte vorfinden werde.«

»Wirst du ganz gewiss, Konstantin, doch heute ist ein ganz besonderer Tag, und nichts gegen deine Kochkenntnisse, an die von Julia werden sie nicht heranreichen. Bitte, lass uns in den ›Seeblick‹ gehen. Du wirst es nicht bereuen.«

Er lachte.

»Wie könnte ich dir widersprechen, es ist wie früher, du kannst mich problemlos um den Finger wickeln. Also gut, dann lass uns in den ›Seeblick‹ gehen. Du hast mich neugierig gemacht, ein Sternerestaurant in dieser … äh … ein wenig gewöhnungsbedürftigen Gegend.« Als er ihren Blick bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, es ist wunderschön hier, besonders der See. Ich dachte nur eher daran, dass ein Gourmetrestaurant eher in der Großstadt zu finden ist.«

Sie strahlte ihn an.

»Die Leute hier wissen halt, was gut ist, und Julia hat sich getraut, ihren Traum hier zu träumen.« Sie blickte an sich herunter, sie stylte sich nicht, wenn sie in den ›Seeblick‹ ging, doch in Freizeitkleidung …

Er schien ihre Gedanken erraten zu haben.

»Du siehst wunderschön aus, Roberta, selbst ein übergestülpter Müllsack würde daran nichts ändern.«

Sie lachte.

»Nun übertreibst du aber, mein alter Freund. Und das war ein sehr dick aufgetragenes Kompliment.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, es ist die Wahrheit, und was dir zuvor durch den Kopf gegangen ist, schon vergessen, dass wir uns kennen, dass ich beinahe erraten kann, was dir durch den Kopf geht?«

Er nahm sie in seine Arme, und sie fühlte sich unglaublich wohl in seiner Nähe.

Konstantin war ein so guter Freund!

»Schön, dass wir uns gefunden haben«, rief sie, noch immer ganz überwältigt von dem, was sich da ereignet hatte.

»Finde ich auch«, sagte er mit rauer Stimme, wollte sie enger an sich ziehen, doch dann ließ er es bleiben, um nicht Gefahr zu laufen, es doch noch zu tun, ließ er sie los. Seine Gefühle fuhren gerade Achterbahn, und damit wollte er sie nicht erschrecken.

Welch unglaubliche Geschichte!

»Dann lass uns gehen«, lenkte er rasch ab, »ist es weit?«

»Nein, es ist ein wunderschöner Spaziergang, den du genießen wirst. Jetzt ist es zu spät, aber normalerweise kann man von da oben den See von seiner schönsten Seite sehen.«

Sie griff nach Schlüssel und Tasche, und dann verließen sie Seite an Seite das Doktorhaus. Sie waren ein schönes Paar, doch das wurde ihnen nicht bewusst, weder ihr noch ihm.

Wie selbstverständlich hakte Roberta sich bei ihm ein, das hatte sie früher ebenfalls getan. Es war einfach nur schön, dass ihn ganz andere Gefühle durchfluteten, das bekam Roberta nicht mit.

Sie unterhielten sich, und während sie den Weg zum Restaurant gingen, erzählte sie ihm ein wenig über den Sonnenwinkel, auch über das, was da gerade unterhalb der Felsenburg, die er natürlich auch bewunderte, entstand.

»Ein Hotel für die Reichen und Schönen mit allem, was dazugehört, also Tennisplätze, Golfplatz, nicht zu vergessen die Schönheitsklinik mit Ärzten, die auf diesem Sektor Rang und Namen haben.«

»Auf so etwas wäre ich während meines ganzen Studiums niemals gekommen. Klar muss es Kolleginnen und Kollegen geben, die aus medizinischer Sicht Operationen, beispielsweise an Unfallopfern, durchführen. Aber an jemandem herumzuschnippeln, um eine andere Nase zu zaubern, Lippen, ein Gesichtslifting zu machen, damit möchte ich nichts zu tun haben, und ich kann auch unsere Kolleginnen und Kollegen nicht verstehen, die sich als reine Schönheitschirurgen betätigen, dann kann man doch daran fühlen, warum sie das tun.«

Er hatte sich richtig in Rage geredet, und Roberta konnte ihm eigentlich nur zustimmen, denn auch ihr Ding wäre es etwas niemals gewesen. Es war auch unvorstellbar, dass sie an sich etwas machen lassen würde, vielleicht, weil ihr die Nase nicht mehr gefiel, sie andere Lippen haben wollte oder weil Fältchen sie störten.

Bei diesem Thema hielten sie sich nicht lange auf, denn der Weg war wirklich schön, und es gab hier und da etwas zu bewundern. Sie blieben stehen, das Wasser des Sees war ganz grau und schien sich mit dem Grau der langsam herunterfallenden Nacht zu vermischen. Beinahe lautlos flog ein schwarzer Vogel über sie hinweg, nicht ein Rabe, der sie normalerweise erschreckte, nein, es war ein größerer Vogel gewesen.

Sie gingen weiter. Wie selbstverständlich hatte er seinen Arm um ihre Schulter gelegt, ihrer ruhte auf seiner Hüfte. Auch wenn so viele Jahre vergangen war, hatten sie nicht vergessen, dass sie so früher öfters unterwegs gewesen waren. Manches vergaß man eben nicht. Sie redeten nicht miteinander, hingen jetzt ihren Gedanken nach. Erst als sie oben angekommen waren, blieben sie stehen, und Konstantin rief: »Das ist aber schön hier.«

Dabei hatte er noch nicht alles gesehen, nicht das Highlight, nämlich der Blick von der Terrasse auf den See.

Sie wünschte sich sehr, es ihm ein andermal zeigen zu dürfen. Wenn sie ganz ehrlich war, dann wünschte Roberta sich, er möge nach Hohenborn ziehen und dort die Stelle annehmen.

Konstantin und sie, sie waren so vertraut miteinander, ihr war schon klar, dass sie nicht dort anfangen könnten, wo sie aufgehört hatten, das war ihr, seit sie sich getroffen hatten, mehr als nur einmal bewusst geworden.

Und auch wenn Konstantin von Cleven nicht so lange in ihrem Leben gewesen war, so hatte er doch Spuren hinterlassen, mehr Spuren, als sie es für möglich gehalten hätte.

Es bewahrheitete sich wieder einmal, dass in allem nicht die Quantität zählte, sondern die Qualität …

*

Der Parkplatz war wie immer bis auf den letzten Platz besetzt, doch zum Glück mussten sie sich um einen Platz keine Sorgen machen, denn sie waren zu Fuß gekommen, und das bedeutete, dass sie auch etwas trinken konnten. Roberta war keine Alkoholikerin, genoss Alkohol nur in Maßen. Doch es gab Anlässe, da trank man einfach mehr. Und wenn das jetzt keiner war …

Sie freute sich, es war eine gute Idee gewesen, in den ›Seeblick‹ zu gehen und das unverhoffte Wiedersehen richtig zu feiern. Und es war schön, dass Konstantin bis zum Morgen bleiben würde. Roberta war gespannt darauf, Almas Gesicht zu sehen.

Das hatte Zeit, jetzt waren sie erst einmal hier.

Galant hielt Konstantin ihr die Tür auf, Roberta schlüpfte ins Restaurant, er folgte ihr. Und dann passierte etwas ganz Unglaubliches.

Julia schien auf jemanden gewartet zu haben, denn sie hatten den Raum noch nicht einmal richtig betreten, als sie sich auf Konstantin stürzte, wohlgemerkt auf Konstantin.

Sie strahlte ihn an.

»Herr Richter, wie schön, dass Sie doch noch kommen konnten, und wenn Sie ein wenig Geduld mitbringen, dann kann ich Ihnen auch alles zeigen.«

Dem armen Konstantin war anzusehen, wie ihn dieser Empfang verwirrte. Er wusste nicht, wie ihm geschah.

Roberta erkannte sofort, dass Julia sich da gründlich geirrt hatte.

»Liebe Julia, wen auch immer du erwartest: Das ist auf jeden Fall kein Herr Richter, sondern ich bin mit einem alten Freund gekommen. Darf ich euch miteinander bekannt machen? Das ist Professor Konstantin von Cleven, meine Freundin Julia Herzog, die Chefin dieses großartigen Restaurants.«

Julia lief tiefrot an, sie wäre jetzt am liebsten im Erdboden verschwunden. Wie peinlich war das denn jetzt gewesen. Sie entschuldigte sich wortreich.

Konstantin nahm es mit Humor.

»Es war nicht unangenehm, so freudig begrüßt zu werden, wann passiert das schon mal.«

Roberta erkundigte sich: »Wer ist dieser Herr Richter? Ein besonderer Gast, auf den du ganz offensichtlich gewartet hast?«

Julia erzählte ihnen, dass es sich um keinen Gast handelte, sondern um einen Koch, der sich bei Julia beworben hatte und der, sollte es klappen, auf jeden Fall eine Bereicherung für den ›Seeblick‹ wäre.

»Eigentlich sind wir für morgen in der Frühe verabredet, doch er wollte, sollte er es schaffen, noch heute vorbeikommen, und ich dachte für einen Augenblick …«

Sie brach ihren Satz ab.

Konstantin lachte.

»Ich koche zwar leidlich, doch als Koch bin ich noch niemals durchgegangen. Man hat mich schon für einen Journalisten gehalten, einen Fotografen, auch für einen Lehrer, auf Koch ist wirklich noch niemand gekommen.«

Julia sah den interessanten Mann an Robertas Seite an.

»Und was für ein Professor sind Sie?«, erkundigte Julia sich interessiert.

»Medizin«, erwiderte Konstantin, »ich hoffe, dass Sie nun nicht enttäuscht sind.«

Diese Frage konnte Julia nicht mehr beantworten, denn sie wurde abgerufen, wurde irgendwo gebraucht. Leider hatte sie augenblicklich keine Zeit für einen Small Talk. Also sagte sie Julia und Konstantin rasch noch, wie sie sich hinsetzen konnten, danach eilte sie davon.

»Was für eine Überraschung«, sagte Konstantin, »sie ist nett, deine Freundin, Roberta, und ein solches Restaurant hier in der Gegend zu finden, das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten.«

»Wunder gibt es immer wieder, mein Lieber. Wir hätten schließlich auch beide nicht für möglich gehalten, uns ausgerechnet am See zu begegnen. Und doch ist es geschehen.« Sie strahlte ihn an. »Es ist unfassbar und unglaublich schön.«

Es hatte sich ja bereits vorher eine Veränderung in Robertas Leben gezeigt, es nicht mehr von Trauer und Schwermut bestimmen zu lassen. Durch die zufällige Begegnung mit Konstantin hatte sich alles noch beschleunigt. Mit ihm war sie wieder in ein Leben eingetaucht, das so viele Jahre zurücklag und das von einer Leichtigkeit erfüllt gewesen war, von einer ›Was kostet die Welt-Stimmung‹.

Was ihnen widerfahren war, das war eine von den Geschichten, die das Leben schrieb, die man sich kaum ausdenken konnte, weil man das Gefühl hatte, an der Realität vorbeizudenken. Und dennoch war es geschehen. Konstantin von Cleven … mit einem Jobangebot ausgerechnet in Hohenborn.

Galant rückte Konstantin ihr den Stuhl zurecht. Er wusste halt, was sich gehörte. Dann saßen sie sich gegenüber, und es dauerte nicht lange, als ihnen Champagner serviert wurde, das hatte Julia einer ihrer Bedienungen gesagt. Es fing ja gut an, doch Champagner, der passte.

Sie hatten im Schnelldurchlauf über sich gesprochen, doch es waren noch viele Fragen offen, eine davon interessierte Roberta besonders, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, dass Konstantin so etwas passieren würde.

»Ich will jetzt nicht indiskret sein, Konstantin, doch warum ist deine Ehe gescheitert?« Er blickte sie an, sie wurde rot und fügte rasch hinzu, »ich habe dich als einen total ausgeglichenen Menschen in Erinnerung, mit dem man keinen Krach bekommen kann.«

»Das war auch nicht der Grund für das Scheitern meiner Ehe«, gab er zu, »Anna, das ist der Name meiner Ex, hat sich von der Ehe mit mir mehr versprochen. Sie hat nicht mich, sondern meinen Namen geheiratet und darauf gehofft, an meiner Seite gesellschaftlich zu glänzen. Diesen Wunsch konnte ich ihr nicht erfüllen, weil das so überhaupt nicht mein Ding ist. Sie hat wohl von meinem Bruder Konrad auf mich geschlossen, der tanzt auf jeder Hochzeit, sein Foto ist in jeder Glanzzeitschrift zu finden.«

Roberta hatte den Bruder flüchtig kennengelernt und hatte ihn als einen oberflächlichen Menschen in Erinnerung, der auch einen ziemlich arroganten Eindruck hinterließ, wenn man mit ihm in Berührung kam.

»Wenn das das Ziel deiner Exfrau war, warum hat sie sich dann nicht an deinen Bruder herangemacht?«, erkundigte Roberta sich.

Er lachte, es schien ihm alles wirklich nichts mehr auszumachen, und darum war er zu beneiden. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie am Boden zerstört sie nach ihrer Scheidung gewesen war.

»Anna hätte bei meinem Bruder keine Chance gehabt, denn sie trägt weder einen Namen, der im Adelskalender über unserem steht, noch hat sie Geld. Und nur das ist ausschlaggebend für den lieben Konrad. Aber sag mal, Roberta, müssen wir wirklich jetzt in den Scherben unserer Vergangenheit herumwühlen? Das hat Zeit, oder?«

Sie musste sich dazu nicht äußern, denn die Bedienung kam, erkundigte sich freundlich nach ihren Wünschen, und sie hatten noch nicht einmal in die sehr elegant in grünes Leder gebundene Karte geschaut, auch nicht auf die für alle sichtbare schwarze Schiefertafel, auf der Gerichte standen, die zusätzlich im Angebot waren.

Das machte alles einfach, Roberta brauchte die Karte nicht, sie nahm von der Tafel ein Lauchgratin mit Pilzsauce, und Konstantin entschied sich, ebenfalls von der Tafel für Wildschwein-Medaillons mit Marsala-Sauce und Kürbisgemüse. Dazu bestellten sie Rotwein. Wäre sie allein gewesen, hätte sie sich vermutlich für gegrillten Lachs entschieden, aber dazu hätte sie Weißwein trinken müssen, auch kein Drama. Doch wenn sie sich in Gesellschaft befand, dann fand sie es besser, bei einer Weinsorte zu bleiben. So hatte sie es mit Lars ebenfalls immer gemacht.

Lars …

Sie musste an ihn denken, intensiv, voller Liebe, aber ohne Schmerz. Sie begann zu verinnerlichen, dass sie in erster Linie dankbar sein musste, diese Liebe gelebt zu haben.

Lars war nicht da, er war irgendwo im Nirgendwo, und vielleicht …

Nein, das war nicht der richtige Moment, sich darum Gedanken zu machen und Spekulationen anzustellen. Außerdem hatte Konstantin ihr eine Frage gestellt, die sie beantworten musste.

Es waren schöne Stunden, die sie hier im ›Seeblick‹ miteinander verbrachten, und um ein spannendes Gespräch in Gang zu setzen, mussten sie nicht in ihrer Erinnerungskiste herumkramen.

Zwischen ihnen stimmte einfach die Chemie, und deswegen hatten sie sich viel zu sagen.

Julia kam hier und da kurz vorbei, doch als sie sah, dass Konstantin aufstand, um zur Toilette zu gehen, unterbrach sie ein Gespräch mit einem anderen Gast, kam zu Roberta an den Tisch geeilt.

»Dein Professor ist ein richtig guter Typ, Roberta, sag mal ist er …«

Sofort unterbrach Roberta sie.

»Julia, es ist nicht mein Professor, und noch mal nein, er ist nicht der neue Mann an meiner Seite. Konstantin ist ein alter Freund, mit dem ich gern Zeit verbringe, den ich nach so vielen Jahren zufällig getroffen habe.«

»Dafür versteht ihr euch aber bestens«, stellte Julia fest, und das bestätigte Roberta sofort. »So ist es halt, wenn man eine Wellenlänge hat. Also, liebe Julia, wenn du interessiert bist, mach dich an ihn ran. Konstantin ist einer von den Guten.«

Julia winkte ab.

»Nö, nö, lass mal, solche Männer passen besser zu dir, außerdem, sollte es noch einmal einen Mann in meinem Leben geben, dann muss es sofort klick machen, sonst läuft da überhaupt nichts.

Lass mich noch eines sagen, Roberta, dieser Mann tut dir gut, ich habe dich lange nicht mehr so gelöst gesehen wie heute, eigentlich das nur damals, als …«

Sie brach ihren Satz, es war dumm gewesen, das jetzt anzuspielen.

Es machte Roberta nichts aus.

»Als ich noch mit Lars hier war«, ergänzte Roberta den abgebrochenen Satz. »Den kann niemand ersetzen. Ich hätte allerdings nicht für möglich gehalten, dass ich mit einem anderen Mann an meiner Seite so unbeschwert und fröhlich sein könnte. Aber so ist es halt, wenn man jemanden lange und gut kennt.«

Sie konnte nicht mehr sagen, denn Konstantin kam zurück, und weil Julia gerade am Tisch stand, lobte er sie für das köstliche Essen, was er so gut schon lange nicht mehr gegessen hatte.

»Das freut mich, doch ich finde, als krönender Abschluss gehört noch ein köstliches Dessert dazu.«

Dagegen hatten weder Roberta noch Konstantin etwas einzuwenden, sie wollten schon zu der Karte greifen, doch Julia verhinderte das. »Betrachtet euch jetzt mal als Versuchskaninchen, ich habe da etwas Neues kreiert, und ihr müsst mir einfach nur sagen, wie es euch schmeckt … es geht natürlich aufs Haus.«

Konstantin hatte Einwände, doch Roberta sagte: »Konstantin, lass mal, Julia hat da ihren eigenen Kopf.« Sie wandte sich Julia zu. »Einverstanden, meine Liebe.«

Julia ging, Konstantin blickte Roberta an. »Was für ein wundervoller Abend. Ich beginne, den Wohlfühl-Effekt des Sonnenwinkels, des Restaurants, der Leute zu spüren. Irgendwie ist es eine andere Welt, aber eine schöne. Und das Schönste ist, dass wir uns getroffen haben. Ich kann es irgendwie noch immer nicht fassen, glaube zu träumen.«

»Konstantin, nimm das Angebot an, baue das Kardiologiezentrum in Hohenborn auf, dann kannst du das alles ebenfalls haben. Zugestanden, Hohenborn ist nicht das urige Erlenried, unser Sonnenwinkel, aber es ist nicht weit. Und wenn du nicht das Auto nehmen willst, so fahren Busse.«

»Versuchst du gerade, mich zu überzeugen, Roberta?«, wollte er wissen.

»Ja, Konstantin, dich in der Nähe zu wissen, das ist ein sehr schöner Gedanke. Ich weiß ja, was für ein guter Freund du bist.«

Hatte sie etwas Falsches gesagt? Bei ihren letzten Worten hatte sich sein Gesicht verfinstert. Vielleicht war es auch nur Einbildung, er schenkte ihr und sich noch etwas Wein ein, dann bemerkte er: »Mal sehen.«

Das war unverbindlich, konnte alles oder nichts bedeuten. Es würde sie wirklich freuen, ihn in der Nähe zu haben, und dass sie sich am See getroffen hatten, das konnte kein Zufall sein. Sie war nicht immer der Meinung ihrer Freundin Nicki, manchmal nervte es sie sogar, wenn die mit ihren esoterischen Begriffen nur so herumwarf. Diesmal stimmte sie ihr zu, nun, ausnahmsweise – oder?

Ihr kam in den Sinn, wie sie Lars kennengelernt hatte, indem sie aus Unachtsamkeit in sein Auto gefahren war, und wenn … Nein!

Das hieße, Birnen mit Äpfeln zu vergleichen. Lars war neu in ihr Leben getreten, Konstantin gehörte schon so lange dazu, auch wenn sie sich viele Jahre aus den Augen verloren hatten.

Der Nachtisch wurde serviert, und sie konnten nur noch staunen. Es waren viele Variationen, die sie auf ihren Tellern fanden, und es war sehr schwer, herauszufinden, womit sie anfangen sollten. Eines sah köstlicher aus als das andere, und dass es noch besser schmeckte als es aussah, das stellten sie sehr bald schon fest. Julia war großartig.

Und das sagten sie ihr auch, als Julia endlich Zeit fand, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen. Und das war dann das Tüpfelchen auf dem I, sie unterhielten sich prächtig. Konstantin hatte überhaupt keine Berührungsängste, es dauerte nicht lange, da gab es nichts Fremdes mehr, da gehörte er einfach dazu …

*

Mit etwas mehr Vernunft hätten sie nicht so lange im ›Seeblick‹ bleiben sollen. Doch hinterher war man immer schlauer, und eigentlich bereuten sie es auch nicht. Auch ein wenig verschlafen kam man durch den Tag.

Auch bei Alma hatte Konstantin überhaupt keine Berührungsängste und die servierte, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, das Frühstück, das Roberta ihrem Gast angekündigt hatte.

Alma wollte sich zurückziehen, doch Roberta bestand darauf, dass sie sich zu ihnen setzte.

»Alma, ehe Sie sich unnötige Gedanken machen, müssen Sie erfahren, was geschehen ist, und wieso Konstantin jetzt hier ist.«

Roberta kannte diese treue Seele doch und wusste, dass sie sich alle nur möglichen Gedanken machen würde. Und das musste nicht sein. Sie hatte nichts zu verbergen, und Konstantin war ein Freund, mehr nicht. Da sollte niemand auf dumme Gedanken kommen, auch Alma nicht.

Und so erzählte Roberta der staunenden Alma, was sich ereignet hatte und woher sie Konstantin kannte.

»Was für eine unglaubliche Geschichte«, rief Alma. »Das ist wie ein Märchen.«

»Ein Zufall«, bemerkte Konstantin, der sich um Doktorhaus unglaublich wohlfühlte. »Aber ein sehr schöner.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile mit Alma, und dann hatten sie es eilig. Konstantin musste weg, und Roberta hatte noch ein paar Minuten, ehe sie in die Praxis gehen würde.

Alma verabschiedete sich strahlend von dem unerwarteten Besucher. Konstantin von Cleven, was für ein netter Mann, und wie die Frau Doktor an seiner Seite aufblühte. So strahlend hatte sie sie schon lange nicht gesehen, wenn nun dieser reizende Professor …

Sie verbat es sich selbst, diesen Gedanken fortzuspinnen.

Es stand ihr nicht zu, und wenn es sein sollte, dann würde es eh passieren. Es war kein Zufall gewesen, das stand für Alma auf jeden Fall fest, das war Vorbestimmung, und wenn die …

Wieder zwang sie sich, darüber nicht nachzudenken, sondern sie räumte den Frühstückstisch ab, schaffte Ordnung.

Und Roberta begleitete Konstantin bis zu seinem Wagen.

»Schön, dass du hier warst«, sagte sie, »und egal, ob du nach Hohenborn gehen wirst oder nicht. Es wäre schön, wir blieben in Verbindung, Konstantin.«

Er umarmte sie zum Abschied. Das war nicht unangenehm, das hatte sie früher oft getan, dennoch merkte Roberta, wie sie sich in seinen Armen steif machte. Im Überschwang der Gefühle, der Freude, ihn unverhofft zu sehen, war ihr nicht bewusst gewesen, dass er nicht nur ihr alter Freund, sondern in erster Linie ein Mann war, ein kluger, attraktiver dazu. Er mochte sie ebenfalls sehr. Doch wie sah er sie, als jemanden aus längst vergangener Zeit oder als Frau? Und sie waren beide frei, auf dem Markt, wie man allgemein lässig sagte. Und das war etwas, was für sie überhaupt nicht infrage kam. Dahin durften sich ihre Gedanken gar nicht erst bewegen.

Abrupt ließ er sie los.

War er jetzt enttäuscht?

Hatte er doch etwas anderes erwartet?

Sie würde es nie erfahren, denn er wandte sich ihr zu.

»Danke für alles, Roberta«, sagte er, »es war schön hier, mit dir, deiner Freundin Julia und deiner Alma.«

»Ja, es war schön«, wiederholte sie, denn das hatte sie bereits gesagt.

Er zögerte, dann besann er sich, stieg in sein Auto und fuhr zügig davon.

Sie sah ihm nach, ging ein wenig enttäuscht ins Haus zurück. Was hatte sie denn erwartet? Sie wollte schließlich nichts von ihm, und mehr als ein Freund würde er nie sein. Und sie musste sich auch nicht den Kopf darüber zerbrechen, dass es damals eindeutig mehr geworden wäre, hätte er sein Studium nicht in Amerika fortgesetzt und hätte sie nicht die Universität gewechselt.

Sie hatte an seiner Seite lachen können, sie hatten sich blendend unterhalten. Was wollte sie mehr.

Roberta ging ins Haus zurück, wo sie von Alma mit dem Worten empfangen wurde: »Was für ein feiner Mann dieser Herr von Cleven doch ist, und dann auch noch Professor … der Medizin«, fügte sie hinzu.

Roberta wusste nicht, was Alma jetzt erwartete. Sie konnte jetzt auf jeden Fall nichts sagen, was Almas romantische Seele, die sie tief in ihrem Herzen war, befriedigen würde.

»Ja, Konstantin ist wirklich sehr nett«, gab Roberta zu, und da verbog sie sich auch nicht, weil es zutraf. »Und es war wirklich sehr schön, ihn zu treffen.«

»Er wird doch hoffentlich wiederkommen?«, erkundigte sie sich ein wenig erschrocken.

»Alma, ich weiß es nicht. Sollte er die Stelle in Hohenborn annehmen, dann ist davon auszugehen, dass wir uns erneut treffen, und das wär wirklich schön.«

Alma war nicht indiskret, sie hielt sich mit persönlichen Fragen zurück, schließlich war sie die Angestellte der Frau Doktor. Und sie überschritt auch niemals eine Grenze, auch wenn es umgekehrt ganz anders war, die Frau Doktor zog sie in alles hinein, war ihr gegenüber, was die persönlichen Befindlichkeiten betraf, sehr offen. Doch das war etwas anderes. Jetzt musste sie die Frage einfach stellen: »Ist der Herr Professor von Cleven eigentlich verheiratet?« Das sollte belanglos klingen, doch Alma war niemand, der sich verstellen konnte. Roberta ahnte, warum die gute Alma diese Frage stellte.

»Nein, Alma, Konstantin ist geschieden wie ich«, sie sah, wie Almas Augen aufleuchteten, und deswegen musste sie da ganz schnell einen Riegel vorschieben, ehe falsche Hoffnungen erweckt wurden.

»Was macht das schon, ob verheiratet, geschieden oder nicht. Konstantin ist ein alter Freund, und bei einer Freundschaft macht der Familienstand nichts aus, nun ja, es sei, denn die Ehefrau hätte etwas gegen die Freundschaft. Doch, wie gesagt, darum müssen wir uns keine Gedanken machen. Es gibt keine Frau an Konstantins Seite.«

Sie blickte auf ihre Uhr.

»So, und nun ist es allerhöchste Zeit, in die Praxis zu gehen, die Patienten warten dort schon und haben ein Recht darauf, dass die Sprechstunde pünktlich begonnen wird.«

Sie nickte Alma zu, bedankte sich noch einmal bei ihr für das leckere Frühstück, dann ging sie nach nebenan.

Es war wirklich ein ganz großes Glück, zu ihrem Arbeitsplatz keine langen Strecken zurücklegen zu müssen, es waren nur ein paar Schritte. Es ging ihr wirklich gut, in jeder Hinsicht. Das musste sie sich immer wieder vor Augen halten, wenn das Elend und der Schmerz über ihr zusammenbrechen wollten und wenn sie mit ihrem Schicksal haderte. Sie war keine Ausnahme, jeder Mensch hatte sein Päckchen zu tragen.

*

Alma kam hinunter in ihre Wohnung und blieb erstaunt stehen, als sie Pia am Tisch sitzen sah, in ein Buch vertieft.

»Pia, warum bist du nicht im Unterricht? Bist du krank?«, erkundigte Alma sich sofort besorgt. Sie hatte das Mädchen sehr in ihr Herz geschlossen und wollte, dass es Pia, nach allem, was sie in ihrem jungen Leben bereits durchgemacht hatte, gut ging.

»Es ist alles okay, Alma, der Unterricht fällt heute aus, weil es eine Zusammenkunft von allen Lehrern, Betreuern und dem Personal des künftigen Internats gibt. Ich hatte das ganz vergessen. Zum Glück ist es mir noch rechtzeitig eingefallen.«

»Und warum bist du dann nicht zum Frühstück nach oben gekommen?«, erkundigte Alma sich.

»Weil die Frau Doktor Besuch hat, und da wollte ich nicht stören.«

Ach, diese Pia!

Das war nicht abfällig gemeint, sondern sehr besorgt. Das Mädchen hatte ein so geringes Selbstwertgefühl. Doch woher sollte sie das auch haben? Eine kränkelnde, schwache Mutter, die für sich nur den Ausweg gesehen hatte, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, und dann der Vater, ein Trinker, einer, dem gern mal die Hand ausrutschte. Und von dem Leben auf der Straße, wo Pia in ihrer Verzweiflung schließlich gelandet war, wurde man ebenfalls kein selbstbewusster Mensch. Das kannte sie aus eigener Erfahrung, sie hatte sich selbst fast zu Tode geschämt und hatte doch keinen Ausweg aus allem gewusst. Wenn die Frau Doktor nicht gewesen wäre …

Es war vorbei. Es ging nicht mehr um sie, es ging um die junge Pia, die festen Boden unter den Füßen bekommen musste.

»Der Besuch ist längst weg, und wenn nicht, Pia«, sie schaute das junge Mädchen ganz unglücklich an, »dann hätte niemand etwas gegen deine Anwesenheit gehabt. Du weißt doch, wie gern die Frau Doktor dich hat.«

»Aber das muss ich ja nicht überstrapazieren, nicht wahr?«

»Du musst dich aber auch nicht in dein Schneckenhaus zurückziehen, mein Mädchen. Als ich ihr von dir erzählte, war es für sie eine Selbstverständlichkeit, dich hier im Haus aufzunehmen.

Was immer sie für dich auch tun will, das lehnst du ab. Das ist nicht in Ordnung, Pia. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass deine ständigen Ablehnungen die Frau Doktor verletzen könnten?«

Pia machte ein ganz betroffenes Gesicht.

»Nein, das habe ich nicht«, gab sie zu, »und wenn ich da was ausgelöst habe, das wollte ich nicht.«

»Und warum hast du dich für das Internat entschieden?«, erkundigte sie sich. Diese Frage würde sie immer wieder stellen, weil sie so unendlich enttäuscht war, Pia bald nicht mehr bemuttern zu können. Sie liebte Pia wie eine Tochter, die sie leider nicht hatte.

»Alma, weil das für uns alle besser ist. Die Frau Doktor und du, ihr seid eine so eingeschworene Gemeinschaft, da passt einfach kein Dritter dazwischen. Im Internat komme ich mir nicht als ein Störenfried vor, und da bin ich unter Menschen, die auch viel mitgemacht haben, die gestrauchelt sind, die man aus der Gesellschaft aussortiert hat. Wir alle bekommen dort eine Chance, und die ergreife ich. Ich kann mich auf den normalen Schulunterricht vorbereiten mit diesen Kursen. Ich will um jeden Preis das Abitur machen, dann will ich studieren, einen Beruf ergreifen, am liebsten einen, mit dem ich anderen Menschen helfen kann. Alma, ich möchte mir selbst etwas wert sein, und …«

Sie brach ihren Satz ab, sprang auf, fiel Alma in die Arme.

»Ich gehe doch nicht weg aus eurem Leben, ich werde euch auf ewig dankbar sein dafür, dass ihr mich aus dem Sumpf geholt hat … du … Alma, ich liebe dich sehr … Ich möchte, dass du irgendwann stolz auf mich bist … Ich werde immer wieder zurückkommen, und solltest du einmal weggehen von hier, dann werde ich dich finden.«

Alma konnte nichts sagen, sie hatte Tränen in den Augen. Wie sehr sie dieses Mädchen doch liebte.

Pia hatte die Tränen bemerkt, sie verstärkte ihre Umarmung, presste sich vertrauensvoll an Alma.

»Alma, du musst nicht weinen … jetzt tust du alles für mich, doch später, wenn du mal alt bist, vielleicht krank, ich schwöre dir, dann werde ich für dich sorgen, immer.«

Welche Worte!

Alma konnte nicht anders, sie hatte eh nahe am Wasser gebaut, sie begann haltlos zu schluchzen.

Und Pia, die so schwach überhaupt nicht war, tröstete sie liebevoll.

Ihre Worte, die waren nicht nur einfach so dahergesagt gewesen, sie hatte es ernst gemeint, sehr ernst.

Sie liebte Alma über alles, und das nicht nur, weil die sie von der Straße geholt hatte, sondern weil Alma ein Herz aus Gold besaß.

Und die Frau Doktor, die bewunderte sie. Und dankbar war sie ihr auch.

Nachdem Alma sich wieder beruhigt hatte, erkundigte sie sich: »Da du ohnehin frei hast, Pia, sollen wir da nicht etwas unternehmen? Wir könnten beispielsweise nach Hohenborn fahren und uns den Rucksack für die Schule ansehen, von dem du mir so viel vorgeschwärmt hast.«

Pia zögerte.

»Pia, hast du alles vergessen, was ich dir gesagt habe? Also, wenn du möchtest, dann fahren wir nach Hohenborn, und dort können wir sogar etwas essen, denn Frau Dr. Steinfeld und Frau Dr. Müller sind heute Mittag irgendwo eingeladen. Also, was ist?«

Pia atmete tief durch, dann strahlte sie Alma an.

»Fahren wir«, rief sie, »aber ich weiß nicht, welchen Rucksack ich nehmen soll, den blauen, den ich zuerst gesehen habe oder den schwarzen Rucksack mit der grauen Einfassung, der ist ebenfalls megacool, die Pamela Auerbach hat so einen ähnlichen.«

»Ach, Kind«, rief Alma, die sich jetzt auf den Ausflug mit Pia freute. Sie nahm sich vor, dass es nicht bei dem Rucksack bleiben würde, doch das musste sie Pia noch nicht sagen, denn die würde in ihrer Bescheidenheit sofort ablehnen. »Vielleicht finden wir im Geschäft noch einen ganz anderen Rucksack. Und hinterher, wo sollen wir dann etwas essen?«

Pia bekam glänzende Augen.

»In der Pommesbude eine Currywurst.«

Damit hätte Alma jetzt nicht gerechnet, doch es brachte sie auf eine Idee, Currywurst, die konnte sie auch mal auf den Tisch bringen, nicht nur wegen Pia. Die mochte jeder mal gern.

Gemeinsam verließen sie das Doktorhaus, stiegen in Almas kleines Auto und Pia rief: »Den Führerschein, den möchte ich auch gern mal machen. Aber das ist ein Wunsch, den ich ganz nach hinten schieben muss, weil der leider sehr teuer ist, besonders die Fahrstunden.«

»Aber du bist alt genug, auf einem Verkehrsübungsplatz in Begleitung eines Erwachsenen, der den Führerschein besitzt, üben zu dürfen. Und so einen Verkehrsübungsplatz haben wir ganz in der Nähe.«

Pia hielt den Atem an.

»Alma, ist das wahr?«, erkundigte Pia sich atemlos.

Alma bestätigte es.

Pia wandte sich ihr zu, hielt sie so fest am Arm, dass der Wagen schlingerte.

»Bitte, Alma, können wir das mit dem Rucksack lassen und stattdessen auf den Verkehrsübungsplatz fahren? Und es ist ganz sicher, dass ich dort üben darf?«

So kannte Alma die junge Pia überhaupt nicht. Mit dem Verkehrsübungsplatz hatte sie jedoch ins Schwarze getroffen.

»Du darfst«, sagte Alma, dann wendete sie mitten auf der Straße das Auto, zum Glück kam ihnen niemand entgegen.

»Alma, was tust du denn da?«, erkundigte Pia sich aufgeregt, die natürlich wusste, dass das jetzt nicht der Weg nach Hohenborn war.

Alma blickte ihre junge Beifahrerin an.

»Ich denke, du willst zum Verkehrsübungsplatz, und da müssen wir …«

Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn jubelnd schmiss sich ihr Pia in die Arme, was in einem kleinen Auto gar nicht einfach war.

»Alma, danke, danke … ich darf mit deinem Auto fahren. Glaubst du, dass ich das kann?«

»Na klar kannst du das, mein Kind.«

»Und wenn ich dein Auto zertrümmere?«, erkundigte Pia sich besorgt. »Ich bin ja noch nie Auto gefahren, und ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Alma strich ihr über das Haar.

»Du bist ein kluges Mädchen, und das mit dem Auto ist im Grunde genommen nur eine Übungssache, außerdem, was glaubst du wohl, weswegen es die Handbremse gibt?«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Alma das Auto wieder in Bewegung setzen konnte. Pia saß ganz stolz neben ihr, denn sie durfte, wenn Alma es sagte, die Gänge einlegen.

War das aufregend!

Und Alma dachte ganz gerührt, wie schnell man doch jemandem eine Freude machen konnte. Pia war wie ausgewechselt, und wie aufgeregt sie war.

Alma hatte keine Ahnung, sie hatte von diesem Verkehrsübungsplatz nur gehört. Und es war hier ganz schön etwas los. Und dass sich Menschen mit keiner und nur wenig Erfahrung auf diesem Gelände tummelten, sah man daran, dass manche Autos hopsten wie Hasen, quer auf die Wiese schossen, und bei einem Auto ganz in ihrer Nähe wurden die Plätze getauscht, weil da jemand, vielleicht auch beide, die Nerven verloren hatte.

Zum Glück hatte Pia das nicht mitbekommen, denn wer weiß, vielleicht hätte sie dann ihr Mut verlassen. Jetzt war sie nur aufgeregt.

Alma löste direkt eine Zehnerkarte, weil die preiswerter war und weil ihr klar war, dass es nicht bei diesem einen Versuch bleiben würde.

Alma musste mit ihrem Auto selbst auf das Gelände fahren, bis zu einem Punkt, der mit einer großen Fahne markiert war, und dort tauschten sie die Plätze.

Pia hatte unterwegs gut aufgepasst, sie stellte den Fahrersitz richtig ein, Innen- und die beiden Außenspiegel, dann sah sie Alma erwartungsvoll an, und die forderte Pia auf, den Wagen zu starten.

Der erste Versuch schlug fehl, weil Pia mit dem Gas zu zögerlich gewesen war. Und das war natürlich enttäuschend. Doch was hatte Pia denn erwartet, dass sie direkt losfahren würde wie eine Weltmeisterin?

Zum Glück war Alma ein ruhiger Mensch, vor allem konnte sie gut erklären. Und das tat sie jetzt in aller Seelenruhe, Pia hörte aufmerksam zu. Und dann erfolgte der nächste Versuch, und siehe da, es klappte reibungslos.

Pia fuhr!

Und damit das Mädchen dieses Erfolgserlebnis erst einmal richtig genießen konnte, ließ Alma sie erst einmal große Runden drehen. Und immerhin konnte sie vom ersten in den zweiten Gang schalten. Zwischendurch hielt Pia an, startete erneut. Sie war jung, und natürlich wäre sie jetzt am liebsten richtig davongebrettert. Doch das war auf dem Verkehrsübungsplatz nicht möglich, Erlaubt waren maximal 30 km/h.

Für Alma, die eine rasante Autofahrerin war, war das natürlich ein Tempo, bei dem man unterwegs Gänseblümchen pflücken könnte. Doch wenn Pia eine längere Strecke geradeaus fuhr, wenn Alma nicht eingreifen musste, bekam sie mit, dass einige von den Übenden damit gewaltige Schwierigkeiten hatten, denn die Autos schossen von der Straße ab, landeten auf der Wiese, wo sie abgewürgt wurden.

Pia machte auf jeden Fall ihre Sache richtig gut, wie begeistert sie bei allem war. Und die Stunde ging leider viel zu schnell um.

Pia steuerte das Auto auf den. Platz, auf dem Alma wieder übernehmen musste. Sie stiegen aus, und Pia fiel Alma um den Hals, umarmte sie so heftig, dass die Ärmste kaum Luft bekam, und dann sagte sie mit Tränen in den Augen: »Danke, Alma, das war der schönste Tag in meinem Leben.«

Das glaubte Alma zwar nicht, doch sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass man in solchen Augenblicken gern übertrieb, um in Worte zu kleiden, was man empfand.

Wenn es nach Alma gegangen wäre, dann hätten sie jetzt durchaus noch nach Hohenborn fahren können, doch das wollte Pia nicht, und Alma erfuhr auch rasch den Grund dafür.

Pia wollte zurück in den Sonnenwinkel, um Pamela Auerbach von diesem Abenteuer zu erzählen. Die würde Augen machen!

Und natürlich würde sie Pamela, später auch der Frau Doktor, den Videofilm zeigen, den Alma von der Autofahrerin Pia machen musste.

Natürlich durfte Pia auf der Rückfahrt wieder schalten, und Alma erklärte dem aufmerksam lauschenden Mädchen die wichtigsten Verkehrsregeln. Pia saugte alles wie ein Schwamm in sich auf.

Pia würde sie niemals darum bitten, doch Alma nahm sich ganz fest vor, sehr schnell mit Pia dieses Abenteuer zu wiederholen, schließlich hatten sie ja auch eine Zehnerkarte.

Pia war außer sich vor Freude, so munter, so aufgeschlossen hatte Alma das ansonsten ziemlich in sich gekehrte Mädchen noch nie gesehen. Sie hatte sich so sehr den Kopf zerbrochen, Pia aufzumuntern, hatte sich alles nur Mögliche ausgedacht, alles Mögliche versucht. Und nun musste sie feststellen, dass es nicht viel brauchte, um ein Leuchten in das Gesicht des anderen zu bringen. Man musste nur das Richtige tun.

Sie hatten den Sonnenwinkel erreicht, Pia wollte vor dem Doktorhaus aussteigen, um bis zu den Auerbachs zu Fuß zu gehen. Sie umarmte Alma erneut stürmisch, blickte sie an, erneut mit Tränen in den Augen, dann sagte Pia leise: »Alma, du weißt überhaupt nicht, wie lieb ich dich habe.«

Dann ließ sie Alma unvermittelt los und rannte in Richtung der Auerbachschen Villa.

Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe Alma in der Lage war, das Haus zu betreten. Als sie die Tür aufschloss, war sie sich sehr sicher, dass ein Rucksack diese Freude niemals ausgelöst hätte.

Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte es ihr selbst auch großen Spaß gemacht, als Fahrlehrerin zu fungieren. Sie war bereits erwachsen gewesen, als sie ihren Führerschein gemacht hatte, und da hatte es solche Verkehrsübungsplätze noch nicht gegeben, da war man heimlich und mit klopfendem Herzen langsam Waldwege entlanggefahren oder hatte es auf entlegenen Parkplätzen versucht. Alles war anders geworden, und die Preise der Fahrschulen hatten sich erheblich erhöht.

Ja, es stimmte wirklich. Alles hatte seine Zeit …

Das traf auch zu, dass Pia das Doktorhaus bald verlassen würde, und daran durfte sie nicht denken, denn es brach Alma beinahe das Herz. Wie sehr sie dieses junge, scheue Mädchen doch liebte.

*

»Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.« An diesen Satz musste Astrid in letzter Zeit häufiger denken, weil er auf sie so zutraf. Was hätte sie ohne Grete Wolfram gemacht, als sie zwischen den Trümmern ihres Lebens stand?

Es war merkwürdig, welche Fäden das Schicksal manchmal zog. Als Angestellte war Grete zu ihnen gekommen, und nun war Astrid dabei, in deren Haus einzuziehen, zusammen mit ihrer kleinen Amelie, die sich unbändig darauf freute. Das allerdings lag an der Katze Mucki. Wie auch immer, es machte alles einfacher.

In das hübsche Reihenhaus nach Hohenborn zu ziehen, war ein richtiger Glücksgriff. Die erste Etage war perfekt für Astrid und die Kleine. Grete hatte von sich aus dafür gesorgt, dass die Anschlüsse aktiviert wurden, und sie hatte eine Küche einbauen lassen. Jetzt waren es nicht nur ein paar schöne Räume in dem Haus, sondern es war eine kleine und feine Wohnung.

Und da Astrid jetzt ganze Tage im ›Outfit‹ arbeiten konnte, als festangestellte Verkäuferin, bestand sie darauf, Grete eine Miete zu zahlen. Das war das Wenigste, was sie tun konnte, denn Grete würde sich um Amelie kümmern, ohne etwas dafür zu nehmen.

Astrid freute sich auf ihr neues Leben, und sie konnte es kaum erwarten, dort anzukommen. Das ›neu‹ traf in jeder Hinsicht zu, mit Hilfe von Grete hatten sie neue Möbel gekauft. Astrid wollte nichts mitnehmen, was sie an diesen Mann erinnerte, der ihr so übel mitgespielt hatte.

Eines war allerdings ganz merkwürdig. Als sie noch geglaubt hatte, die glückliche Ehefrau von Oskar Keppler zu sein, hatte sie alles drangesetzt, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie hatte sich selbst verletzt, war jammervoll gewesen, wenn sie ihn längere Zeit nicht erreichen konnte, weil er angeblich auf Geschäftsreise gewesen war.

Fassen konnte sie noch immer nicht, dass jemand so skrupellos sein konnte, gleichzeitig drei Frauen vorzugaukeln, die einzige, die wahre Liebe in seinem Leben zu sein. Und besonders schlimm war, dass er mit jeder dieser Frauen ein Kind hatte. Mit Regina, die er allerdings unter seinem wahren Namen geheiratet hatte, die Tochter Meike, mit ihr unter dem Namen Keppler Amelie, und mit der dritten Frau, zu der sie allerdings keinen Kontakt hatte, auch nicht haben wollte, weil Reginas Anwälte sich darum kümmerten, hatte er einen Sohn, und dort war er munter dem Namen Sanders aufgetreten. Besonders schlimm war, dass sie alle auf Kosten seiner ersten Ehefrau gelebt hatten. Sie hatte ein verlogenes, ein … Nein, es gab eigentlich überhaupt keine Worte dafür, was sich da abgespielt hatte.

Manchmal musste Astrid sich über sich selbst wundern, dass sie jetzt, da wirklich alles zusammengebrochen war, so standhaft blieb, dass sie versuchte, mit zusammengebissenen Zähnen alles hinter sich zu lassen.

Wahrscheinlich lag es daran, dass dieser Mann eine Grenze überschritten hatte, die endgültig war, die kein Verzeihen zuließ, nicht einmal Schmerz. In ihr war nur eine unglaubliche Wut, die sie alles vergessen ließ, auch das, was schön gewesen war. Wenn man sich auseinandergelebt hatte, wenn man wegen eines neuen Partners verlassen wurde, dann war es anders. Dann lebte man seine Gefühle aus, die manchmal sogar bis in eine Depression führen konnten.

Aber so …

Wie es bei ihr gelagert war, bekam man plötzlich ganz ungeahnte Kräfte, die einen über sich selbst hinauswachsen ließen. Sie war diesem Mann ahnungslos auf den Leim gegangen, hatte ihn geliebt, geglaubt, mit ihm den Rest ihres Lebens zu verbringen. Und er hatte ihre Gefühle missbraucht! Doch jetzt ging es nicht um sie, sie war erwachsen. Sie musste Amelie schützen, ihre kleine Tochter. Amelie war noch sehr jung. Vermutlich würde sie die ganze Tragweite des Geschehens nicht richtig begreifen. Doch Astrid war keine Psychologin. Sie wusste nicht, was sich unbewusst in dieser Kinderseele festsetzen und später zu einem Problem werden würde, hinter dessen Ursachen man erst einmal nicht kam, wenn überhaupt, dann jahrelang auf der Couch eines Psychiaters.

Astrid war sich schon klar, dass Amelie die Wahrheit erfahren musste, doch das dann erst, wenn sie alt genug war, alles zu erfassen, nicht zu verstehen, denn das konnte niemand, wie alt und wie weise er auch war.

Sie musste hier weg!

Und das stand glücklicherweise dicht davor, Amelie wohnte sogar schon in dem neuen Haus, weil sie Mucki nahe sein wollte.

Auch wenn Regina sich bereit erklärt hatte, zunächst einmal weiterhin, diesmal bewusst, für alle Kosten aufzukommen, war Astrid froh, das nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Freilich, ohne Grete Wolfram hätte sie überhaupt keine andere Wahl gehabt.

So würde sie mit leichtem Gepäck einfach ausziehen und die Vergangenheit zurücklassen, in ihrem neuen Leben würde sie nichts mehr an diesen Mann erinnern. Das war ein sehr tröstlicher Gedanke.

In ihrem ersten Zorn hatte sie all seine Sachen aus dem Kleiderschrank geräumt und sie gespendet, da erfüllten sie wenigstens noch einen guten Zweck.

Jetzt war Astrid dabei, ihre Bekleidungsstücke in bereitstehende Kartons zu packen, die sie und Grete dann gemeinsam in die neue Wohnung bringen wollten. Und das war es dann beinahe auch schon. Es erfüllte sie keinerlei Wehmut, sie war nur von dem Gedanken beseelt … nichts wie weg!

Astrid hatte mit allem gerechnet, nicht damit, dass Amelie zu ihr ins Schlafzimmer kommen würde, lachend, mit ihrer Lieblingspuppe unter dem Arm.

Astrid zuckte zusammen, denn natürlich musste die Kleine im Kleiderschrank ihres Vaters jetzt die gähnende Leere bemerken.

Amelie war zwar klein, doch so klein war sie nun auch wieder nicht, um sich ihre eigenen Gedanken zu machen.

Amelie war vertraut mit den Kleiderschränken, sie hatte es geliebt, sich darin zu verstecken.

Sie lief auf den Kleiderschrank ihres Vaters zu, blieb davor stehen.

Astrids Gedanken kreisten, sie versuchte fieberhaft, eine glaubhafte Erklärung zu finden, denn natürlich würde Amelie gleich Fragen stellen.

Es kam anders.

Nachdem Amelie eine Weile in den ausgeräumten Kleiderschrank geblickt hatte, drehte sie sich zu ihrer Mutter um.

»Mami, da bin ich jetzt aber sehr froh«, sagte die Kleine, und Astrid hatte nicht die geringste Ahnung, was das jetzt zu bedeuten hatte. Sie beugte sich zu ihrer kleinen Tochter hinunter, nahm sie zärtlich in ihre Arme.

»Weswegen bist du froh, mein Mäuschen?«, erkundigte sie sich und war froh, Amelie bei dieser Frage nicht ansehen zu müssen.

Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, sagte die Kleine: »Na, dass der Papi seine Sachen mitgenommen hat, dann hat er in dem fernen China wenigstens etwas anzuziehen, Mami.«

Astrid hätte jetzt am liebsten befreit gelacht. Sie hatte sich solche Gedanken gemacht, und nun war es ganz einfach, weil die Kleine halt eine ganz andere Sicht auf die Dinge hatte.

»Das finde ich auch gut«, bestätigte Astrid.

Grete Wolfram kam ins Zimmer gestürzt, rief erleichtert: »Hier bist du, meine kleine Maus. Ich habe dich schon überall gesucht.«

Amelie erklärte auch Grete, dass ihr Papi all seine Sachen mitgenommen hatte, Grete ging darauf ein und freute sich mit Amelie. Sie und Astrid tauschten erleichterte Blicke miteinander, dann zog sie die Kleine mit sich fort. Die Küche war noch in Betrieb. Sie versprach Amelie, gemeinsam mit ihr Waffeln zu backen. Die Kleine quietschte vor Begeisterung, ließ sich nicht zweimal auffordern. In ihrer Begeisterung hatte sie sogar vergessen, ihre Puppe mitzunehmen, die sie zuvor neben den Schrank gelegt hatte.

Astrid bückte sich danach, nahm sie in ihre Arme. Sie war unglaublich erleichtert, drückte die Puppe an sich, die leider nichts von dieser Erleichterung mitbekam.

Puh, das war gut gegangen!

Wenn sich alles so einfach lösen würde, da musste sie sich überhaupt keine Sorgen machen.

Amelie kam ins Zimmer gestürzt. »Mami, ich habe meine Klara vergessen.«

Sie entdeckte die Puppe in den Armen ihrer Mutter, begann zu strahlen.

»Ach, Mami, gewiss hat Klara geweint, weil sie auf einmal so allein war. Wie schön, dass du sie getröstet hast. Aber das kannst du, das tust du auch bei mir.«

Sie schmiss sich in die Arme ihrer Mutter.

»Du bist die beste Mami von der ganzen Welt, doch jetzt muss ich wieder weg, sonst fängt die liebe Grete ohne mich an, und das geht nicht.«

So schnell sie gekommen war, stob Amelie wieder davon, und Astrid blieb gerührt zurück. Was immer dieser Mann ihr auch angetan hatte, um eines tat es ihr nicht leid. Sie hatte eine wundervolle Tochter, die sie über alles liebte. Und Amelie zu haben, das stimmte sie ein wenig versöhnlicher. Aber nur ein ganz kleines bisschen …

Sie machte sich wieder an die Arbeit, je eher sie ihre Sachen ausgeräumt hatte, umso schneller konnte sie unter dieses Kapitel ihres Lebens einen Schlussstrich ziehen. Und wenn das ganze Elend sie wieder einmal überfiel wie ein wildes, zorniges Tier, dann musste sie sich vor Augen führen, dass es andere Menschen oftmals noch schlimmer traf.

Vor allem musste sie dankbar sein, dass sie gesund war, denn das war es, was wirklich zählte im Leben und was man sich für kein Geld der Welt kaufen konnte.

Und dieser Mann?

Es würde ihn einholen, da war sich Astrid ganz sicher.

Sie holte einen Bügel aus dem Schrank, auf dem ein wunderschönes Kleid hing, das sie damals bei ihrer standesamtlichen Trauung getragen hatte. Diese Erinnerungen wollte sie nicht haben, sie riss das Kleid vom Bügel und stopfte es in den Kleidersack, der für die Obdachlosenhilfe bestimmt war. Und danach wanderte noch einiges in den Sack, vor allem Bekleidungsstücke, die sie seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr getragen hatte, die sie an besondere Gelegenheiten mit ›ihm‹ erinnerten.

Es war nicht mehr sehr viel, was sie mit in ihr neues Leben nehmen wollte, doch das fühlte sich gut an. Es war nicht einfach, Ballast abzuwerfen, doch wenn man sich erst einmal entschieden hatte, war man wirklich wie von einer Last befreit.

*

Rosmarie und Heinz Rückert hatten sich schon sehr darauf gefreut, sich von ihrem Sohn Fabian und dessen Familie vor ihrer Reise verabschieden zu können. Es lief so richtig gut zwischen ihnen. Ricky, ihre patente Schwiegertochter, war niemals das Problem gewesen. Die hatte von Anfang an versucht, die Wogen zu glätten.

Doch Fabian war einfach zu verletzt gewesen, um mit seinen Eltern normal umzugehen. Das hatte sich zum Glück geändert, zuerst hatte er mit seiner Mutter Frieden geschlossen, und mittlerweile näherten sich auch Vater und Sohn an. Gut, die große Liebe, wie man sie, wenn es funktionierte, zwischen Eltern und Kindern hatte, würde es nicht geben. Doch Fabian respektierte seinen Vater, und mit seiner Mutter war das Verhältnis wirklich enger geworden, weil Rosmarie auch ganz anders damit umging, sich nicht schämte, all die Unzulänglichkeiten zuzugeben, die es in der Vergangenheit gegeben hatte. Und Fabian war beeindruckt davon, wie sehr seine Mutter sich verändert hatte. Sie war wirklich eine ganz andere geworden, und angefangen hatte es eigentlich, als Cecile, seine Halbschwester, in ihr Leben getreten war.

Rosmarie war gerade mit ihrer Enttäuschung fertig geworden, dass Heinz bei dem Abschiedstreffen nicht dabei sein würde, weil er ins Notariat musste, wo noch etwas Wichtiges zu klären war, als es an der Haustür klingelte. Sofort war es mit ihrer schlechten Laune vorbei, sie begann zu strahlen, ganz besonders auf die Kinder freute sie sich. Sie hätte es früher nicht für möglich gehalten, doch sie war so eine richtig liebevolle Oma geworden und stand da der anderen Oma Inge in nichts nach.

Sie riss die Haustür auf, sah ihren Sohn davor stehen.

»Wo sind Ricky und die Kinder?«, erkundigte sie sich. »Hast du sie im Auto gelassen?«

Die Enttäuschung auf dem Gesicht seiner Mutter war nicht zu übersehen, und er wusste, dass er sie noch mehr enttäuschen musste.

»Es tut mir so leid, Mama, aber Ricky musste mit den Kindern daheim bleiben. Die Kleinsten haben über Nacht­ ­Fieber bekommen, und am schlimmsten hat es unsere kleine Teresa getroffen, die hat sich bei den anderen angesteckt, und leider fangen sich die Kinder in der Schule oder im Kindergarten leicht etwas ein und übertragen es.«

Dagegen war nichts zu machen, doch sie hatte sich so sehr gefreut auf die Kinder, auf ihre Schwiegertochter ebenfalls, die für Fabian das Beste war, was er hatte bekommen können.

Fabian folgte seiner Mutter ins Haus.

»Mama, so sei nicht zu traurig, die Kinder haben mir aber etwas für euch mitgegeben. Sie haben gemalt, Geschichten aufgeschrieben, gebastelt, damit ihr von ihnen auch unterwegs etwas habt. Selbst die kleine Teresa hat voller Begeisterung auf einem Blatt herumgekritzelt. Und für Cecile haben sie auch etwas mitgegeben, was ihr ihr unbedingt geben sollt. Sie sind ganz begeistert von Cecile.«

Das konnte Rosmarie durchaus verstehen, schließlich war sie es ebenfalls. Sie fasste sich. Es war ja doch nichts zu ändern. Mit Kindern passierte sehr schnell etwas, wenngleich sie als Mutter davon nicht betroffen gewesen war, weil die wechselnden Kinderfrauen für die Kinder gesorgt hatten. Schwamm darüber! Es war Vergangenheit.

Sie hatte Inge Auerbach gebeten, Kuchen und Kekse zu backen. Nun, eigentlich war es kein Problem, denn Fabian konnte alles für die Seinen mitnehmen, und die würden sich darauf stürzen, auch wenn sie krank waren. Platz für Kuchen und Kekse war immer, und so krank konnte man überhaupt nicht sein, um das zu verschmähen.

Sie setzten sich in das elegante und doch gemütlich wirkende Wohnzimmer. Meta servierte Kaffee und Kuchen, und ehe sie sich diskret zurückzog, wurde sie von Fabian sehr herzlich begrüßt.

»Mama, was für ein Glück, dass Meta mit euch in den Sonnenwinkel gezogen ist. Sie ist eine so treue Seele. Ich hoffe sehr, dass ihr wisst, was ihr an diesem Goldstück habt.«

Das konnte Rosmarie sofort bestätigen.

»Und ob wir das wissen, mein Junge. Meta ist das Beste, was wir haben. Sie macht uns ja möglich, für längere Zeit bedenkenlos zu verreisen, weil wir wissen, dass daheim für alles bestens gesorgt ist. Hinzu kommt, dass Meta auch ein so angenehmer Mensch ist. Auch unsere Beauty und Missie sind ganz hingerissen von ihr. Wir könnten sie zurücklassen, ohne uns Sorgen machen zu müssen. Aber als wir das letzte Mal unterwegs waren, haben wir unsere beiden Lieblinge so sehr vermisst, dass Papa dafür gesorgt hat, dass wir alle Papiere, die wir benötigen, um mit den Hunden kreuz und quer durch Europa zu fahren, besitzen.«

Fabian trank etwas von seinem Kaffee, genoss den Kuchen, ehe er sich wieder seiner Mutter zuwandte.

»Mama, wer hätte das gedacht, dass in Papa und dir mal eine so große Tierliebe erwachen würde. Ich kann mich noch sehr gut dran erinnern, dass Stella und ich beinahe auf den Knien gelegen haben, um euch davon zu überzeugen, wie schön es wäre, ein Tier zu haben. Klar wäre ein Hund besonders schön gewesen, doch wir wären ja schon mit einem Hamster oder einem Meerschweinchen zufrieden gewesen, Hauptsache ein Tier.«

So etwas hörte Rosmarie nicht gern, doch es würde sie immer wieder einholen, was für grauenvolle Eltern Heinz und sie gewesen waren.

»Fabian, es tut mir heute noch so leid, dass Papa und ich so unerbittlich waren … nicht nur in dieser Sache. Heute würde ich alles anders machen, doch der Zug ist abgefahren.«

Er blickte sie an.

»Mama, du musst dich nicht mehr damit aufhalten, was unabänderlich ist. Für euch war damals alles richtig, was ihr getan habt. Wer weiß, was unsere Kinder Ricky und mir einmal vorwerfen werden.«

Dazu musste sie jetzt unbedingt etwas sagen.

»Fabian, ich bitte dich, bessere Eltern als euch gibt es nicht. Alle eure Kinder werden euch immer lieben, und eines ist gewiss, sie werden zu großartigen Menschen heranwachsen. Es ist bloß gut, dass ihr die Erziehungsmethoden von Papa und mir nicht übernommen habt.«

Fabian schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Du liebe Güte, nein. Dafür haben Stella und ich viel zu sehr unter eurer Lieblosigkeit gelitten. Wie oft haben wir uns gewünscht, mal von unseren Eltern in den Arm genommen zu werden, nicht von Kinderfrauen, die sich bei uns die Türklinke in die Hand gaben, so oft wechselten sie. Und das nicht wegen Stella und mir, sondern weil sie mit euch nicht zurechtkamen. Meine Rettung war damals wirklich Ricky, durch die ich sehen konnte, dass es auch anders geht.« Er seufzte. »Aber bitte, Mama, lass uns endlich für immer damit aufhören. Es bringt wirklich nichts mehr, in der Vergangenheit herumzustochern und sich mit Schuldzuweisungen zu überhäufen. Es lässt sich nichts mehr verändern, was war, das war. Wir sind auf einem sehr guten Weg im Umgang miteinander, und das ist etwas, womit ich niemals gerechnet hätte. Allerdings hätte ich auch darauf wetten können, dass du dich niemals verändern würdest, und nun bist du eine Frau, auf die man einfach nur stolz sein kann. Mama, ich bin es.«

Rosmarie konnte nichts sagen, sie hatte Tränen in den Augen, und deswegen schämte sie sich nicht. Solche Worte aus Fabians Mund, die machten sie glücklich und sehr, sehr stolz.

Er war auch nahe daran, jetzt sentimental zu werden, und deswegen sagte er rasch: »Und nun erzähl mal, wie es mit eurer Reise im Wohnmobil weitergehen wird, wenn ihr das feudale Anwesen der Raymonds verlassen werdet. Cecile hätte ja sehr gern gehabt, uns ebenfalls im Ferienhaus zu begrüßen, damit die Familie wieder einmal zum größten Teil zumindest vereint gewesen wäre. Doch das lässt sich leider nicht machen. Die Kinder haben noch keine Ferien. Selbst wenn es anders wäre, würden wir uns das verkneifen, obwohl wir alle sehr gern mit Cecile zusammen sind. Aber wir haben uns ganz fest vorgenommen, in den Ferien unser Haus umzubauen. Wir benötigen unbedingt ein weiteres Badezimmer, damit endlich morgens das Geschrei und die Rangelei aufhören. Außerdem wollen wir eines der viel zu großen Gästezimmer halbieren, denn dann bekommt unsere kleine Teresa auch ein eigenes Kinderzimmer. Es wird nicht mehr lange dauern, und sie wird dort einziehen. An den Kindern sieht man, wie die Zeit verfliegt.«

»Und wie alt man wird«, fügte Rosmarie hinzu, ehe sie fortfuhr: »Fabian, das alles kostet sehr viel Geld, und wenn ihr Geld benötigt, dann …«

Fabian unterbrach bei diesen Worten seine Mutter sofort.

»Danke, Mama, du musst deinen Satz nicht beenden. Das kommt überhaupt nicht infrage. Ihr habt für das Haus hier wesentlich mehr bezahlt als marktüblich, und dafür sind wir euch auch sehr dankbar. Das war großzügig. Aber wir können alles sehr gut allein stemmen, ohne uns einschränken zu müssen und ohne an unsere Reserven herangehen zu müssen, ich weiß wirklich nicht, wie Ricky alles schafft. Wir leben sehr gut, Ricky achtet sehr darauf, was an Lebensmitteln gekauft wird. Wir geben viel Geld für die Kinder aus, deren kostspielige Hobbys, und dennoch ist am Monatsende einiges Geld übrig, das wir zurücklegen können.«

Ja, so war sie, Ricky, sparsam, aber nicht geizig. Rosmarie wollte überhaupt nicht daran denken, wie sie selbst mit beiden Händen über viele Jahre hinweg das Geld aus dem Fenster geworfen hatte.

Sie freute sich so sehr, dass Fabian da war, das wollte sie sich jetzt nicht verderben, indem sie trübselig wurde wegen etwas, was eh nicht zu ändern war.

Sie ging auf seine Bitte ein, ihm zu erzählen, was sie unternehmen würden. Und wieder konnte Fabian nur staunen, als seine Mutter sagte: »Fabian, wir haben eine ungefähre Vorstellung, was wir uns ansehen möchten, doch wir sind an keinen Zeitplan gebunden. Wir lassen alles auf uns zukommen.«

Fabian nahm sich ein weiteres Stück Kuchen, von dem Rosmarie ihm schon gesagt hatte, dass der von seiner Schwiegermutter gebacken worden war. Sie wollte sich nicht mit fremden Federn schmücken.

Später lehnte er sich zurück.

»Mama, irgendwie kann ich es nicht fassen, dass Papa, dieser pedantische Notar, so etwas unternimmt. Hätte man mir so etwas erzählt, dann hätte ich mein Haus verwettet, dass er das niemals tun würde.« Er lachte. »Was für ein Glück, dass ich das nicht getan habe, denn wohin sollte ich dann gehen mit meiner großen Familie.«

Er wurde wieder ernst, und Rosmarie wurde plötzlich das Gefühl nicht los, dass er etwas auf dem Herzen hatte, von dem er nicht wusste, ob er es ihr erzählen sollte.

Stella …

Eigentlich war es überhaupt kein Wunder, dass sie sofort an ihre Tochter denken musste, die sich nie mehr gemeldet hatte, als sie damals mit diesem anderen Mann davongelaufen war und die Kinder mitgenommen hatte.

Anfangs hatte sie sich ja immer noch bei Fabian erkundigt, weil er und seine Schwester stets ein Herz und eine Seele gewesen waren. Das hatte ihm nicht gefallen, und so hatte sie es gelassen. Von Inge Auerbach wusste sie, dass Stella den Kontakt zu ihrem Bruder irgendwann abgebrochen hatte, und die wusste es vermutlich von Ricky, die schließlich Inges Tochter war.

Noch während sie überlegte, wie sie sich verhalten, ob sie etwas fragen sollte, sagte Fabian leise: »Stella hat sich gemeldet, nur kurz. Sie bat mich, etwas für sie beim Amt zu erledigen.«

Auch wenn es ihr Ärger einbringen würde, Rosmarie konnte nicht anders, sie musste sich nach Stella erkundigen, schließlich war sie ihr Kind.

»Und wie geht es ihr, Fabian?«, wollte sie wissen und blickte ihn angstvoll an, weil sie eigentlich schon ahnte, dass es da in Brasilien nicht zum Besten stand.

»Mama, das kann ich dir nicht sagen, denn Stella hat nichts Konkretes gesagt, doch irgendwie war die Enttäuschung aus ihren Worten herauszuhören. Sie hat sich an der Seite dieses Mannes wohl etwas anderes vorgestellt.«

»Und hat sie gesagt, dass sie zurück nach Deutschland will?«, erkundigte Rosmarie sich aufgeregt.

Fabian schüttelte den Kopf.

»Nein, das nicht, denn sonst würde sie sich auch nicht um die Papiere bemühen, die sie für die dortigen Behörden benötigt. Die Kinder sind in ihrem neuen Leben angekommen, haben Freunde, fühlen sich wohl. Und ich glaube, Stella gefällt es ebenfalls.«

»Und dieser Mann?«

Er zuckte die Achseln.

»Über den haben wir nicht gesprochen. Es kann ja auch durchaus sein, dass ich mich irre, ich glaubte einfach nur, ihre Enttäuschung herauszuhören.«

»Das konntest du schon immer, Fabian, dafür hast du immer eine besondere Antenne gehabt, auch als ihr noch Kinder wart.«

Rosmarie versank in Grübeleien, während sich Fabian nach kurzer Überlegung noch ein Stück Kuchen einverleibte. Das konnte er auch, ohne Angst um seine Figur haben zu müssen, er war schlank und durchtrainiert.

»Wenn sie ihn verlässt oder er sie, dann braucht Stella Geld. Sie hat ja nichts Richtiges gelernt, ist so viele Jahre nicht mehr als Hausfrau und Mutter gewesen, was ja nicht verwerflich ist, im Gegenteil. Doch leider wird man dafür nicht bezahlt. Wir müssen ihr helfen, und wenn …«

Fabian unterbrach seine Mutter.

»Mama, stopp, wenn ich geahnt hätte, wie du darauf reagieren würdest, dann hätte ich dir besser nichts erzählt. Noch einmal, Stella hat nichts Konkretes gesagt, es sind nur meine Vermutungen, und damit kann ich falsch liegen. Und angenommen mal, es käme zu einer Trennung, du glaubst doch wohl nicht, dass Stella sich dann an euch wenden und von euch Geld annehmen würde. Durch ihr unfassbares Verhalten hat sie vieles zerstört. Doch wir müssen uns um Stella keine Sorgen machen. Wie du weißt, hat sie das nicht unbeträchtliche Vermögen von Tante Finchen geerbt. Jörg hat davon keinen Cent angerührt, sie musste zu nichts etwas beisteuern, und dieser Mann, mit dem sie davongelaufen ist, besitzt Geld, viel Geld. Er braucht das Geld von Tante Finchen nicht.«

Tante Finchen …

Rosmarie erinnerte sich an den Vorfall, als habe er sich gerade erst gestern ereignet, und sie musste leider auch daran denken, das Heinz und sie keine Glanzrolle dabei gespielt hatten. Obwohl sie sehr vermögend waren, hatten sie sich das Geld von Finchen noch unter den Nagel reißen wollen, das Finchen Stella vererbt hatte. Natürlich war es auch Fabian gegenüber sehr ungerecht gewesen, denn er war Finchens Neffe. Doch dem hatte es nichts ausgemacht, er hatte großzügig darauf verzichtet. Es war ihm nur peinlich gewesen, wie seine Eltern sich deswegen aufgeregt hatten.Es holte einen wirklich alles ein, doch in diesem Falle war es gut, dass es dieses Geld noch gab. Man musste sich um Stella keine Sorgen machen, wenigstens vorerst nicht.

Fabian bemerkte das sorgenvolle Gesicht seiner Mutter.

»Mama, noch ist nichts passiert. Und wenn du dich direkt in alles so hineinsteigerst, dann erzähle ich dir nichts mehr.« Ihr Kopf ruckte hoch.

»Bitte, verschweige nur nichts, Fabian, ich bin froh, von Stella zu hören, und hier bei uns meldet sie sich ja nicht, wir haben nur über dich eine Chance … Und ja, ich verspreche dir, mir deswegen keine Gedanken zu machen. Man ist sehr schnell dabei, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Und wenn man solche Schuldgefühle hat wie ich, wird sehr schnell eine ganze Elefantenherde daraus.«

Fabian konnte nicht anders, er stand auf, ging um den Tisch herum zu seiner Mutter, nahm sie in die Arme und sagte leise: »Vielleicht kannst du dir Gedanken wegen unserer Kindheit machen, doch als erwachsene Frau hat Stella immer ganz genau gewusst, was sie tut. Und damit hast du nichts zu tun, es waren ganz allein ihre Entscheidungen. Stella macht ihr Ding, lässt sich durch nichts und niemanden beeinflussen, und da kommt sie leider sehr auf Papa, der ebenfalls über alles seine vorgefasste Meinung hat«, er zögerte, »na ja, sagen wir hatte, denn auch er hat sich sehr verändert.«

Heinz Rückert betrat den Raum. Er hatte offensichtlich die letzten Worte nicht gehört, denn sonst hätte er sofort nachgehakt.

Er freute sich nur, seinen Sohn zu sehen.

»Wie schön, dass du noch da bist, Fabian«, rief er nach der Begrüßung, »dann können wir uns persönlich verabschieden, und ich muss kein schlechtes Gewissen haben, trotz unserer Verabredung ins Büro gegangen zu sein. Aber manchmal geht es nicht anders.« Er blickte sich um. »Wo sind die Kinder und Ricky? Sollten die nicht mitkommen?«

Auch ihm war die Enttäuschung anzusehen, denn er hatte sich auf seine Schwiegertochter, ganz besonders natürlich auf seine Enkelkinder, gefreut, und deswegen hatte er sich im Notariat auch so sehr beeilt.

Fabian erzählte es seinem Vater rasch, und natürlich musste auch er dafür Verständnis haben. Aber auch ohne den Rest der Familie verbrachten die Rückerts noch eine schöne Zeit mit ihrem Sohn.

Wer hätte diese Entwicklung vor einigen Jahren vorausgesehen. An den Rückerts konnte man erkennen, dass sich immer etwas verändern ließ, man musste es nur wollen.

*

Professor Konstantin von Cleven war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, doch jetzt war er zumindest ein wenig verwirrt. Das, was ihm gerade widerfahren war, damit hätte er im Traum nicht gerechnet.

Roberta Croysen, Steinfeld, wie sie jetzt hieß, nach all den Jahren zu treffen, und das dann auch noch an einem, wenn auch wunderschönen, doch mitten in der Pampa liegenden See.

Er wusste wirklich nicht, was er davon halten sollte, denn mit Vorbestimmung, schicksalhafter Begegnung und ähnlichem hatte er es nicht.

Es war ein Zufall gewesen, dabei wollte er es einfach belassen, doch ein schöner Zufall.

Er konnte jetzt nicht sagen, dass Roberta sich nicht verändert hatte, das musste sie, denn schließlich war sie, wie er ja auch, etliche Jahre älter geworden. Sie war eine sehr attraktive Frau. Das war sie früher ebenfalls gewesen, doch halt anders.

Das war es nicht, Roberta gehörte nicht zu den Frauen, die man auf ihr Äußeres reduzierte. Dafür hatte sie zu viele andere sehr gute Eigenschaften.

Was ihn am meisten irritierte war, dass sie wieder so vertraut miteinander waren, als hätten sie sich erst vor kurzer Zeit zum letzten Male gesehen, nicht vor vielen Jahren, in deren beider Leben unendlich viel geschehen war. Auch eine gescheiterte Ehe hatten sie beide hinter sich, um nur etwas zu erwähnen.

Es waren wunderschöne Stunden gewesen, die sie miteinander verbracht hatten, in dem schönen Doktorhaus, in dem großartigen Restaurant. Und er musste sich unwillkürlich fragen, was wohl aus ihnen privat geworden wäre, hätten sie sich nicht aus den Augen verloren. Er hatte wirklich versucht, sie zu erreichen. Doch er musste zugeben, dass es sehr lasche Bemühungen gewesen waren. Er hatte nicht nachgehakt, und bald schon war sein Leben in Deutschland verblasst, und er hatte sich voll dem in Amerika zugewandt, in dem alles aufregend und neu gewesen war.

Wäre es gut mit ihnen gegangen, oder wäre der Reiz des Neuen in einer Ehe rasch verflogen, wenn sie der Alltag eingeholt hätte?

Am Alltag scheiterten die meisten Ehen, und wenn es auch nicht zu einer Trennung kam, dann wurde häufig aus einem Miteinander ein Nebeneinander, man wurde eine funktionierende Gemeinschaft.

Er und Anna hatte nicht einmal das geschafft, sie hatten nicht einmal einen Versuch unternommen, ihre Ehe zu retten, weil dazu immer zwei gehörten. Er hatte gearbeitet, hatte Karriere gemacht, nicht nur für sich, um sein Ego zu befriedigen, sondern auch, um seiner Ehefrau und später dann den gemeinsamen Kindern, ein komfortables Leben zu ermöglichen. Und während er an seiner Karriere gearbeitet hatte, hatte Anna sich unter den ungebundenen Männern umgesehen und sich dann einen herausgepickt, der ihr alles bieten konnte, Geld und vor allem Zeit.

Alles war dumm gelaufen, so sehr erschüttert hatte es ihn nicht. Als er ernsthaft gezwungen gewesen war, über sich und seine Ehe nachzudenken, da war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen.

Anna und er hätten niemals heiraten dürfen. Sie hatte ihm gefallen, er hatte sich an ihrer Seite ganz gut gefühlt, aber geliebt … Nein, das hatte er sie nicht.

Konstantin war ein attraktiver Mann mit einem attraktiven Beruf, und er trug einen alten Namen. Ein ›von‹ kam bei den Frauen immer an. Es hatte hier und da flüchtige Affären gegeben, die meistens er wieder beendet hatte, weil er nicht noch einmal den Fehler begehen wollte, mit lauwarmen Gefühlen in eine Ehe zu gehen.

Es brachte nichts, die Vergangenheit hervorzukramen, die vorbei war, die nicht einmal bittere Narben hinterlassen hatte. Man war gescheitert, und damit war man nicht allein. Es wurden ständig Ehen gegen die Wand gefahren, oftmals mit großem Getöse, mit Verletzungen, die niemals heilten, und ganz schlimm war es, wenn es auch Kinder gab, die davon betroffen waren und die plötzlich zwischen zwei Stühlen saßen und die nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten, weil sie doch beide Elternteile liebten, ihren Vater und ihre Mutter.

Bei ihnen waren keine Kinder im Spiel gewesen, zum Glück, und es hatte auch keine bittere Scheidungsauseinandersetzung ge­geben. Man hatte sich getrennt, geteilt. Man machte sich allerdings etwas vor, wenn man von einer gütlichen Scheidung sprach. Trennungen bedeuteten immer auch gleichzeitig scheitern, und wer scheiterte schon gern. Wenn man heiratete, ging man schon erst einmal davon aus, dass es für immer sein sollte, dass man den Rest seines Lebens miteinander verbringen wollte.

Er hielt inne.

Warum dachte er ausgerechnet jetzt an das, was gewesen war, an seine Ex, die längst wieder verheiratet war?

Keine Frage, es hing mit Roberta zusammen und der Frage, die er sich unablässig stellte, seit sie zufällig an diesem See zusammengetroffen waren.

Wie wäre es mit ihnen gelaufen?

Er musste sich ablenken, er musste sich mit etwas beschäftigen, das wichtiger war als sein verkorkstes Leben, und das war dieser Job in Hohenborn.

Sollte er dieses Kardiologiezentrum aufbauen und danach der Chefarzt davon werden? Immerhin sollte es ein Zentrum werden, das über die Grenzen von Hohenborn hinausging, das überregional arbeitete. Es war wirklich eine Herausforderung, aber wollte er das?

Diese Frage beschäftigte ihn, seit man ihm dieses Angebot gemacht hatte. Es hatte nichts mit Roberta zu tun. Oder vielleicht doch?

Die alte Vertrautheit war da, sie verstanden sich, konnten miteinander reden, miteinander lachen.

Er stand auf, trat ans Fenster, Regen klatschte gegen die Fensterscheiben, der Wind zerrte wütend an den Bäumen, riss Blätter ab, die auf dem Boden zu einem Haufen welken Laubes verklumpten.

Es war ein trauriger grauer Tag, der schon, je nachdem, wie man drauf war, aufs Gemüt gehen konnte. Damit hatte Konstantin zum Glück allerdings nichts zu tun. Es war der Lauf der Dinge, dass das Wetter mal schön, mal trüb, mal warm oder mal kalt war. Er war wirklich zum Glück nicht wetterfühlig, was nicht bedeutete, dass er kein sensibler Mann war. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, und man konnte es auch nicht vom Wetter oder anderen Befindlichkeiten abhängig machen. Man war es oder man war es nicht. Er war es. Doch das brachte ihn augenblicklich auch nicht weiter.

Man erwartete seine Entscheidung. Warum tat er sich eigentlich so schwer? Eine neue Herausforderung hatte er sich gewünscht, nun wurde sie ihm auf dem silbernen Tablett serviert, er musste nur noch zugreifen.

Ob er es wollte oder nicht. Er musste wieder an Roberta denken. Es hatte Augenblicke gegeben, da waren sie sich sehr nahe gewesen, wie damals, als sie jung und unbeschwert gewesen waren, in denen sie viele Gefühle füreinander hatten und dennoch zögerlich gewesen waren, sie auszuleben. Es war damals wie jetzt sehr sehnsuchtsvoll gewesen, die Nähe und die Gefühle füreinander hatten sie eingehüllt wie eine warme Decke. Dennoch hatten sie wieder nichts daraus gemacht. Vielleicht hätte er sogar diesmal die Grenze überschritten, hätte sich getraut, doch von Roberta war etwas ausgegangen, das ihn zögern ließ, einen Versuch zu unternehmen, sie zu küssen, an sich zu reißen.

Sie hatte eine Barriere aufgebaut, und auch wenn sie es nicht ausgesprochen hatte, war deutlich zu spüren gewesen – bis hierher und nicht weiter!

Er beschäftigte sich zu sehr mit Roberta, dabei sollte er sich wirklich voll und ganz auf dieses Jobangebot konzentrieren.

Das war nicht etwas, was angeboten wurde wie saures Bier, im Gegenteil, zahlreiche Bewerber standen bereit und scharrten mit den Hufen. Viel Zeit hatte er also nicht, auch wenn man ihm den Vorzug gab.

Was sollte er tun?

Unabhängig davon, dass es Roberta ganz in der Nähe gab. Er war kein schwärmerischer Teenager, der die Angebetete anhimmelte, in ihrer Nähe sein wollte und dafür alles andere stehen und liegen ließ.

In ihrer Nähe zu sein, das wäre schön, vielversprechend. Nein, so durfte er es nicht sehen. Er wusste zwar, dass sie geschieden war, das bedeutete jedoch nicht, dass es keinen Mann an ihrer Seite gab, das bedeutete nicht, dass man automatisch dort anknüpfen konnte, wo man mal vor gefühlten Ewigkeiten aufgehört hatte.

Eines allerdings war auf jeden Fall richtig. Auch bloß eine Freundschaft mit ihr, die sie vertiefen konnten, wäre schon etwas sehr Schönes.

Er trat vom Fenster weg, setzte sich wieder hin, nahm sich alle Unterlagen noch einmal vor, und dann war der Herr Professor Konstantin von Cleven nur noch darauf konzentriert, auf sonst überhaupt nichts. Und hier war es auf jeden Fall ein Vorteil, schon ein wenig älter und sehr viel lebenserfahrener zu sein. Da konnte man gewisse Dinge ausschalten und sich auf das Wesentliche konzentrieren, das augenblicklich besonders wichtig war. Und das war das Stellenangebot in Hohenborn.

*

Gewiss würde es Konstantin sehr freuen, wenn er wüsste, dass diese Begegnung am See auch an Roberta nicht spurlos vorübergegangen war.

Konstantin nach so vielen Jahren zu sehen, und das dann ausgerechnet am Sternsee im Sonnenwinkel!

Das machte schon etwas mit jemandem, wenn man nicht gerade das Gemüt eines Fleischerhundes hatte.

Konstantin …

Ihr wurde ganz warm ums Herz, wenn sie an ihn dachte, und ihre Gedanken kehrten sehr gern in die Zeit zurück, in der sie unbeschwert, wissensdurstig und ja, das war sie schon gewesen, verliebt in Konstantin.

Wie er, fragte sie sich unwillkürlich, ob etwas aus ihnen geworden und ob sie heute noch zusammen wären. Da war sie beinahe sicher, mit Konstantin hätte es keine gescheiterte Ehe gegeben wie mit dem windigen Max Steinfeld.

Sie musste sich darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen, denn es waren viele Jahre vergangen, und sie waren ganz unterschiedliche Wege gegangen, mit ganz unterschiedlichen Partnern.

Eines war auf jeden Fall geschehen.

Für ein paar Stunden war sie wieder in das Leben von früher eingetaucht, war dieses unbeschwerte junge Ding gewesen.

Unabhängig davon war es sehr schön gewesen, nein, wundervoll, Konstantin zu treffen. Und wenn sie ganz ehrlich war, dann wünschte Roberta sich sehr, er möge dieses Kardiologiezentrum in Hohenborn aufbauen. In erster Linie natürlich, weil sie sich dann öfters treffen und Zeit miteinander verbringen könnten. Zum anderen war es großartig, dass dieses Zentrum entstehen würde. Es gab viele Herzerkrankungen und kaum Kardiologen in der Nähe, und das wirklich hervorragende Krankenhaus in Hohenborn beschäftigte nicht einmal einen Kardiologen. Es war allerhöchste Zeit, dass sich etwas änderte. Und Konstantin war der richtige Mann dafür, keine Frage.

Und das war etwas, was sie nicht einfach behauptete, sondern weil sie ihn natürlich sofort gegoogelt hatte, und da waren beeindruckende Fakten zutage gekommen.

Konstantin von Cleven, ihr alter Kumpel, hatte Beachtliches erreicht.

Konstantin …

Er sah jetzt, älter geworden, noch besser aus als früher. Und wie cool er gekleidet gewesen war. Ja, da hatte er sie wirklich an Lars erinnert. Daran konnte man sehen, wie tief er in ihrem Herzen war und wie oft sie an ihn denken musste, dass es schon ausreichte, an einem Mann ähnliche Kleidung zu sehen, um ihr Gedankenkarussel anspringen zu lassen.

Claire kam ins Zimmer, riss sie aus ihren Gedanken. Die Sprechstunde am Freitagvormittag war vorüber. Claire wollte ihr etwas bringen, denn am Nachmittag wollte Roberta die Sprechstunde allein bewältigen.

Freitagnachmittag …

Fünfzehn Uhr …

Am Marktplatz in Hohenborn …

Das alles hatte sich tief in Claire einbebrannt, und heute endlich war der Tag gekommen. Sie konnte es kaum erwarten, Piet dort zu treffen.

»Störe ich?«, erkundigte Claire sich besorgt. »Ich glaube, du warst ziemlich in Gedanken versunken. Machst du dir Gedanken wegen einer Patientin oder wegen eines Patienten?«

Claire setzte sich, Roberta lächelte, und das tat man nicht, wenn man sich Sorgen machte.

»Claire, du glaubst überhaupt nicht, was geschehen ist«, sagte sie, und dann erzählte sie Claire was sich ereignet hatte.

Die hatte atemlos zugehört, und als Roberta mit ihrer Erzählung fertig war, rief Claire aufgeregt: »Roberta, das ist ein Zeichen.«

Roberta begann herzhaft zu lachen.

»Bitte, nein, red jetzt nicht so wie meine Freundin Nicki, die es mit den Zeichen hat. Es war wunderschön, Konstantin getroffen zu haben. Das war ein Zufall, wenn er die Stelle annimmt, wären wir uns irgendwann so oder so über den Weg gelaufen.«

»Aber nicht, wenn er die Stelle nicht antritt«, wandte Claire ein, »dann hättest du nicht gewusst, dass er ganz in der Nähe war und er nicht, dass du dich im Sonnenwinkel mit sehr viel Erfolg als Ärztin niedergelassen hast. Roberta, was für eine wundervolle Geschichte. Das ist Gänsehaut pur.«

»Claire, du verklärst augenblicklich alles, weil du dich auf deinen Piet freust, in den du so richtig verknallt bist.« Claire wurde rot.

»Ich … ich mag ihn, ich weiß doch nichts über ihn.«

»Und das, meine liebe Claire, ist etwas, wonach das Herz nicht fragt. Wären da nicht unendlich viele Gefühle im Spiel, dann hätte dein Verstand sich nämlich irgendwann eingeschaltet und hätte gerufen: Moment mal, da gibt es doch noch etwas, was ich wissen muss, ehe ich mich auf diesen Mann einlasse.«

»Du hast recht«, gab Claire zu, »mit mir und Piet ist etwas, was sich nicht in Worte kleiden lässt. Und du glaubst nicht, wie sehr ich mich auf das Treffen mit ihm freue.«

»Dann fahr nach Hause, mache dich hübsch. Oder hast du deine Meinung geändert und isst doch etwas mit uns? Für Alma ist das kein Problem, sie kocht immer reichlich, um dann auch gleich noch etwas einzufrieren für Tage, an denen sie nicht da ist, beispielsweise, wenn sie mit ihrem Gospelchor einen Auftritt hat. Und auftauen und aufwärmen kann ich ein Gericht. Meine Kenntnisse als Hausfrau sind wirklich sehr dürftig«, gab Roberta zu.

Claire winkte ab.

»Dafür bist du als Ärztin unschlagbar, und ich finde, das ist sehr viel wichtiger, einen Menschen zu heilen statt zu wissen, sie man beispielsweise einen saftigen Braten hinkriegt.«

Bei dieser Vorstellung musste Roberta lachen, sie ließ sich von Claire erklären, wie der Stand bei den Patienten war, die sie am Nachmittag übernehmen musste, dann verabschiedeten die beiden Frauen sich voneinander, die unterschiedlich waren und dennoch eine gemeinsame Wellenlänge hatten in ihrem Beruf, und das allein war wichtig.

»Viel Glück mit deinem Piet, Claire«, sagte Roberta, als sie sich voneinander verabschiedeten, »ich freue mich darauf, ihn auch mal kennenzulernen.«

Claire ging, Roberta war wieder allein.

Jetzt dachte sie nicht mehr an Konstantin, sondern warf rasch noch einen Blick in die Unterlagen, die Claire ihr gebracht hatte.

Sie wollte vorbereitet sein, denn wenn die Nachmittagsssprechstunde erst einmal begann, war dafür keine Zeit mehr.

Irgendwann klappte sie die Akten zu, denn sie wollte keinen Ärger mit Alma haben, es wäre ja auch unhöflich, jemanden warten zu lassen, der sich viel Mühe gegeben hatte, ein schmackhaftes Essen zu servieren.

*

Ein wenig kam Claire sich vor wie ein Teenie vor dem allerersten Date mit einem schon lange angeschwärmten Jungen. Das war verrückt. Doch sie konnte nichts machen, es war halt so.

Sie würde endlich Piet wieder treffen.

Welch ein Glück, dass sie sich nicht hier bei ihr verabredet hatten, denn der Gute würde sehr staunen über das Chaos, das sie angerichtet hatte.

Claire gehörte, weiß Gott, nicht zu den Frauen, die sich über ihre Kleidung, ihr Aussehen definierten. Sie war Sportlerin, und da setzte man ganz andere Prioritäten, und auch als Ärztin war es nicht wichtig, was sie anzog.

Heute war auf jeden Fall alles anders. Sie probierte nacheinander alles an, was ihr Kleiderschrank so hergab, und die Berge auf ihrem Bett zeugten davon.

Die Zeit drängte, und irgendwann hatte sie überhaupt keine andere Wahl, einfach etwas anzuziehen, wollte sie zu dem Treffen mit Piet nicht zu spät kommen. Das wäre mehr als peinlich, außerdem war es nicht ihre Art, jemanden warten zu lassen. In ihrem Beruf war man an Disziplin, der Einhaltung von Terminen, gewohnt, und das war einem irgendwann in Fleisch und Blut übergegangen.

Sie war ja so aufgeregt!

Jetzt musste sie sich entscheiden zwischen Hose, Rock oder Kleid.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es Piet gefallen würde, sie in einem Kleid zu sehen. Also entschied Claire sich für ein dunkelblaues Kleid mit kleinen weißen Tupfen. Das Kleid wirkte mit dem schwingenden Rock sehr feminin. Und weil Piet ja nicht sehr groß war, zumindest, was die körperliche Größe betraf, entschied Claire sich für weiße Sneaker, und über das Kleid zog sie eine blaue Cashmerestrickjacke, die farblich genau dazu passte. Das war ein Glück, denn es kam nur äußerst selten vor, dass man, wenn man die Teile unabhängig voneinander gekauft hatte, den genauen Farbton traf. Das traf oftmals nicht einmal bei Schwarz zu, was verwunderte. Doch auch da gab es unterschiedliche Farbnuancen. Das allerdings musste Claire nun nicht interessieren, sie hatte Glück gehabt. Und sie gefiel sich. Es war zwar ein wenig ungewohnt. Jetzt war sie froh, das Kleid irgendwann einmal gekauft hatte. Heute war seine Premiere.

Und ihre Haare?

Normalerweise trug sie die zusammengebunden zu einem praktischen Pferdeschwanz, und so kannte Piet sie auch nur. Heute ritt sie irgendwie der Teufel, sie bürstete ihre Haare glatt herunter. Na ja, es blickte ihr aus dem Spiegel schon ein etwas fremdes Gesicht entgegen, aber die Frisur passte zu ihrem Outfit. Und nun musste sie wirklich los.

Sie nahm nicht, wie gewohnt, die Treppe, als sie ihre Wohnung verließ, sondern den Aufzug. Zum Glück stand ihr Auto vor der Tür. Gerade, als sie einsteigen wollte, kam Hulda Lingen aus ihrer Wohnung, um sich mit ihren neuen Freunden zu treffen.

»Claire, du siehst wunderschön aus«, rief sie ganz entzückt und wollte sich eigentlich auf einen kleinen Plausch einlassen, doch dazu hatte Claire überhaupt keine Zeit.

»Tut mir leid, Hulda, ich muss weg. Ich habe eine Verabredung, wenn du magst, dann kann ich dich unterwegs irgendwo abwetzen.«

Das war nicht nötig, weil Hulda von jemandem abgeholt werden sollte, der motorisiert war. Doch sie hatte Verabredung vernommen und erkundigte sich sofort ganz hoffnungsfroh: »Triffst du dich mit Achim?«

Claire mochte die alte Dame wirklich sehr gern. Doch es nervte ganz einfach, dass Hulda immer wieder anfing, Claire mit ihrem Exschwiegersohn Achim Hellenbrink zu verkuppeln. Das war deren Traum, doch die gingen meistens nicht in Erfüllung. Und dieser Traum gehörte dazu. Wenn Hulda nicht so sehr von diesem Gedanken besessen gewesen wäre, hätte Claire ihr wirklich gern von Piet erzählt. Doch das war jetzt unmöglich, auch Achim konnte sie nicht sagen, dass es da jemanden gab. Sie sprachen ja nicht mehr darüber, doch Claire wurde den Gedanken nicht los, dass er immer noch darauf hoffte, aus ihnen könnte ein Paar werden. Ja, sie mochte ihn, verbrachte auch gern Zeit mit Achim, doch das nicht als Frau, die Herzklopfen bekam, wenn sie ihn sah, sondern er war ihr Kamerad. Und der Marathonlauf, der verband sie, da waren sie ein unschlagbares Team.

Claire winkte Hulda zu, rief: »Nein.«

Nach diesen Worten stieg sie in ihr Auto und fuhr davon, und so konnte sie auch nicht die Enttäuschung von Hulda sehen.

Jetzt musste Claire sich wirklich beeilen, sie gab Gas, der Wagen schoss davon, und sie konnte nur froh sein, dass es hier keine Polizeikontrollen gab und zum Glück nicht einmal diese Blitzanlagen.

Piet … Piet … Piet …

Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass sie sich auf ihn so sehr freuen konnte.

Sie wäre keine Frau, wenn sie sich, nachdem sie Hohenborn erreicht hatte, nicht gefragt hätte, ob sie das Richtige angezogen hatte und ob es nicht besser gewesen wäre, sich doch einen Pferdeschwanz zu machen.

Zu spät …

Sie war noch in der Zeit, doch Piet war es offensichtlich auch nicht anders gegangen, denn er wartete nicht, wie verabredet, auf dem Marktplatz, sondern Piet war zum Parkplatz gelaufen.

Und da hatte er den richtigen Riecher gehabt, denn es gab in Hohenborn nicht nur diesen einen Parkplatz, doch wenn man mitdachte, dann kam man zu dem Schluss, dass man den nehmen würde, wenn man aus dem Sonnenwinkel kam. Dass Piet denken konnte, das er ein kluger Mann war, das hatte Claire längst schon erkannt.

Er trug eine Jeans, einen dazu passenden Blazer, darunter ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Das bemerkte Claire allerdings nur ganz nebenbei. Er hätte sich einen Kartoffelsack überstülpen können, und ihr Herz hätte gehüpft wie gerade jetzt.

Sie hatte ganz wackelige Knie, als sie aus dem Auto stieg, er rannte auf sie zu. Ehe er sie erreicht hatte, blieb er stehen, warf ihr einen bewundernden Blick zu, ehe er sagte: »Claire, du siehst umwerfend aus. Du solltest öfters Kleider anziehen und deine Haare offen tragen.«

Doch dann reichten Worte erst einmal. Er breitete seine Arme aus, und sie flog im wahrsten Sinne des Wortes hinein und fühlte sich sofort beschützt und geborgen.

Da sie flache Schuhe trug, waren sie beinahe gleich groß. Das allerdings registrierte Claire nicht wirklich, weil es darauf überhaupt nicht ankam.

»Du weißt überhaupt nicht, wie sehr du mir gefehlt hast«, flüsterte er ihr ins Ohr, und dann küsste er sie.

Sie befanden sich auf einem gut besuchten Parkplatz, und ganz unbekannt war Claire in Hohenborn ebenfalls nicht, weil auch Patienten von hier zu ihnen kamen.

Sie dachte an nichts, und selbst, wenn es ihr bewusst gewesen wäre, hätte es ihr nichts ausgemacht.

Sie war Piet nahe, Wellen des Glücks schlugen über ihnen zusammen. Ihre Herzen schlugen in einem Takt. Es hatte nicht nur die Ärztin Frau Dr. Claire Müller total erwischt, Piet, wie immer er auch hieß, ging es nicht anders.

Irgendwann trennten sie sich voneinander, und jetzt bemerkten sie, dass sich Zuschauer eingefunden hatten, die diese Szene wohlwollend verfolgt hatten.

»Warum applaudiert keiner?«, flüsterte Piet Claire zu, und weil es ihm überhaupt nichts ausmachte, wollte sie es ebenfalls nicht dramatisieren. Was war denn schon geschehen? Zwei Menschen, deren Herzen füreinander schlugen, waren froh gewesen, sich endlich wieder in die Arme schließen zu dürfen.

Er nahm sie bei der Hand, willig folgte sie ihm.

»Claire, ich bin froh, dass wir uns hier treffen können, denn ich muss dir etwas zeigen.«

Was immer er auch wollte, sie würde ihm bis ans Ende der Welt folgen, warum also nicht irgendwo an einen Platz, an einen Ort, in dieser Stadt?

Sie unterhielten sich, überquerten den Marktplatz, bogen in eine Villenstraße ein, die beeindruckende Häuser hatte, als sie die ehemalige Rückertsche Villa erreichten, sagte Claire: »Diese Villa wird gerade zu einem Internat für Jugendliche umgebaut, die bislang nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Ich finde das so großartig. Es ist ein so schöner Gedanke zu wissen, dass da jemand handelt, nicht redet, und dass es nicht einmal an die große Glocke kommt, so mit Presse, Fernsehen, allem Tamtam. Ich weiß es von einer Dame, die im Sonnenwinkel wohnt und die den Mann kennt, der das alles ermöglicht.« Sie blickte ihn an. »Er heißt übrigens auch Piet, wie du, Piet van Beveren. Du heißt doch wohl nicht Peter und nennst dich Piet, weil dieser Mann für alle Männer nur ein Vorbild sein kann?«

War sie von Sinnen?

Wieso hatte sie ihn das jetzt gefragt? Das war ja wohl so unnötig wie ein Kropf.

Er sagte nichts, blickte sie an, und Claire war sich nicht sicher, ob er jetzt sauer auf sie war. Einen Grund dazu hätte er ja.

Was er dann allerdings sagte, riss ihr beinahe den Boden unter den Füßen weg.

»Ich bin Piet van Beveren … und ich wollte dir das hier zeigen, weil das ein Projekt ist, das mir wirklich am Herzen liegt, auf das ich stolz bin.«

Seine Worte rauschten an ihr vorbei, es krallte sich nur eines in ihr fest.

Piet war nicht der Handelsvertreter, wie von ihr vermutet, er war dieser Piet van Beveren, über den gesprochen wurde, voller Hochachtung von denen, die ihn kannten, zornig sprachen die Leute über ihn, die es störte, was er da unterhalb der Felsenburg erbaute.

Und sie … sie war hoffnungslos in ihn verliebt.

Ihre Gedanken überschlugen sich.

Was hatte er da mit ihr veranstaltet? Gespielt? Nein!

Diese Gedanken verwarf Claire sofort, solche Gefühle konnte man nicht spielen, aber was nun?

Sie war vollkommen verunsichert, blickte ihn an, was wiederum ihn veranlasste, sie in die Arme zu nehmen.

»Claire, es war eine so unglaubliche Erfahrung für mich, einer Frau zu begegnen, die nicht weiß, wer ich bin. Die mich in ihr Herz lässt, ohne etwas über mich zu wissen. Claire, ich habe so etwas noch nie zuvor in meinem Leben erfahren«, er machte eine kurze Pause, schob sie ein wenig von sich weg, um ihr in die Augen sehen zu können, »ich habe mich jedoch auch noch nie zuvor in meinem Leben auf eine Frau so vorbehaltlos eingelassen wie jetzt auf dich. Ich hatte noch niemals zuvor den Wunsch, sesshaft zu werden, mit jemandem mein Leben zu teilen. Claire, ich liebe dich. Ich möchte dich keinen Augenblick mehr vermissen, ich möchte dich für immer an meiner Seite haben … Claire, heirate mich.«

Das war so unglaublich, dass sie es erst einmal überhaupt nichts sagen konnte.

»Piet, ich …«

Eigentlich wollte sie ihm jetzt sagen, wer sie war, denn auch über sie hatten sie nicht gesprochen, weil es für sie unwesentlich gewesen war.

»Tut mir leid, mein Liebes, ich will dich nicht bedrängen und mit nichts überfallen. Doch ich kann nicht lange bleiben, hier ist nicht mehr viel für mich zu tun. Ein Großprojekt in Kanada wartet auf mich, das ich erst einmal richtig ankurbeln muss, dennoch bleibt genügend Zeit, mit dir durch dieses großartige Land zu reisen.«

Weil sie noch immer nichts sagte, fügte er hinzu: »Claire, glaubst du, hier nicht abkömmlich zu sein, eine Kündigungsfrist einhalten zu müssen? Als Arbeitgeber kannst du jemandem fristlos kündigen, als Arbeitnehmer hast du ebenfalls das Recht.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Piet, es tut mir leid, doch so einfach ist es nicht. Ich arbeite nicht irgendwo in einem Büro und bin jederzeit ersetzbar. Ich bin Ärztin und arbeite im Sonnenwinkel. Frau Dr. Steinfeld und ich kennen uns seit vielen Jahren, wir haben bereits früher sehr erfolgreich und unserer freundschaftlicher Verbundenheit gemeinsam in einer Praxis gearbeitet. Ich kann Roberta nicht einfach im Stich lassen.«

Piet sagte nicht direkt etwas, weil er diese Neuigkeit erst einmal verarbeiten musste. Er hatte tatsächlich geglaubt, Claire arbeitete irgendwo in einem Büro.

»Claire, das verstehe ich«, bemerkte er schließlich, »Frau Dr. Steinfeld ist übrigens eine großartige Ärztin, ich schätze sie sehr.«

Er nahm sie erneut in seine Arme.

»Wir müssen nichts überstürzen, bitte entschuldige, dass ich da wieder mal hervorgeprescht bin. Das ist mein Naturell, ich will am liebsten alles schon gestern regeln, ich bin ein Macher, dem es nicht schnell genug gehen kann … Ich werde mich in Geduld üben, weil du mir wichtiger bist als alles sonst auf der Welt. Ich bin sehr froh, dass wir unsere Gefühle füreinander entdeckt hatten, ohne voneinander zu wissen. Ich muss keine Angst haben, dass du mich wegen meines Geldes willst, und du musst nicht glauben, dass ich mich an dich herangemacht habe, weil du eine erfolgreiche Ärztin bist.«

Allmählich begriff sie so richtig, was sie da erfahren hatte.

Piet van Beveren …

Das jetzt zu wissen, änderte nichts an ihren Gefühlen für ihn, sie wollte nur nicht überrollt werden. Doch da hatte er zum Glück bereits von sich aus die Reißleine gezogen.

»Claire, ich verspreche dir, dich nicht mehr zu bedrängen, mich in Geduld zu üben, auch wenn ich damit Schwierigkeiten habe. Für dich würde ich alles auf mich nehmen, und eigentlich interessiert mich augenblicklich nur eines …, kannst du dir vorstellen, die Frau an meiner Seite zu sein?«

Welche Frage!

Und ob sie das konnte, in ihrem Träumen hatte sie sich das längst ausgemalt. Sie war überwältigt vor Glück und konnte nur nicken, doch das tat sie heftig.

»Danke, Claire … Ich freue mich sehr darauf, mit dir auf die Reise zu gehen, und jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt, und den haben wir getan, nicht wahr?«

Sie war durcheinander und bewunderte ihn dafür, wie er damit umgehen konnte, in ihr war nur Chaos.

»Jetzt möchte ich dir gern das Internat zeigen, Claire, ich glaube, dass es dir gefallen wird. Und wenn du magst, können wir später im ›Seeblick‹ essen, Julia ist eine so großartiger Köchin und eine unglaubliche Frau. Ich bewundere sie dafür, was sie als Frau allein auf die Beine gestellt hat.«

Julia?

Leise Eifersucht war plötzlich in Claire, doch dieses Gefühl unterdrückte sie sofort wieder. Wäre es zwischen Piet und Julia Herzog, die sie ebenfalls sehr schätzte, mehr, dann wäre sie die Frau an seiner Seite.

Piet hatte sich für sie entschieden, und er wollte sie sogar heiraten, und sie war sich augenblicklich nicht sicher, ob sie eigentlich ja gesagt hatte.

»Und hinterher gehen wir zu dir.«

Oh Gott, nein, das ging überhaupt nicht. Sie musste ihn so entsetzt angesehen haben, dass er sich erkundigte: »Willst du das nicht?«

Sie musste es ihm sagen, und auch wenn es Claire einige Überwindung kostete, erzählte sie ihm, welches Chaos sie daheim angerichtet hatte, weil sie nicht sicher gewesen war, was sie anziehen sollte.

Piet war ganz gerührt, dass sie sich seinetwegen eine solche Mühe gemacht hatte, und dafür musste er diese Frau, die einfach so in sein Leben geschneit war, einfach küssen. Und Claire ließ es nicht nur geschehen, nein, sie erwiderte voller Leidenschaft seine Küsse, und die von Piet van Beveren waren nicht anders als die Küsse von Piet Soundso …

Kein Name zählte, kein Geld. In ihrem Fall waren es die Gefühle, die sie füreinander hatten, und das waren sehr, sehr viele Gefühle, und alles fühlte sich so gut und so richtig an.

Nachdem er sie wieder losgelassen hatte, hatte er auch direkt eine Idee, er war halt ein Macher.

»Weißt du was, mein Liebling, dann machen wir es anders, wenn es dich stört, dass deine Wohnung nicht aufgeräumt ist, was mir übrigens gar nichts ausmachen würde. Ich habe hier in Hohenborn im Hotel eine sehr schöne Suite, die ich immer bewohne, wenn ich mich hier aufhalte. Lass uns, wenn wir uns hier alles angesehen haben, irgendwo einen Kaffee trinken, dann gehen wir ins Hotel, und dort lassen wir uns später Essen bringen, man kann sehr gut im Hotel essen, und der Zimmerservice ist ausgezeichnet. Wir können ungestört und glücklich unser Beisammensein genießen. Du kannst doch über Nacht bleiben?«

Darauf war sie nicht eingerichtet, aber musste man das? Musste immer alles nach Plan gehen. Das, was zählt war, dass sie endlich beisammen waren, dass sie ihre Gegenwart genießen konnte, und die Zukunft, die er angefangen hatte, in rosigen Farben auszumalen.

Sie konnte und wollte nicht anders. Im Brustton der Überzeugung sagte Claire: »Ja.«

Piet beruhigte es sehr, dass sie sofort zustimmte und keine Einwände hatte, und dafür bedankte er sich erst einmal, ehe sie Hand in Hand durch die wirklich sehr beeindruckende Villa gingen. Und je länger sie das taten, umso unvorstellbarer wurde es für Claire, dass in diesem riesigen Haus tatsächlich zwei Personen gewohnt hatten. Zwei Personen in diesem Palast, in dem sich schon in Kürze junge Menschen tummeln würden, die durch Piet die Chance bekamen, in der Gesellschaft anzukommen. Dafür liebte Claire ihn noch mehr.

Sie war ganz gerührt, mit welchem Eifer er ihr alles zeigte, und daran erkannte sie, wie sehr ihm dieses Projekt am Herzen lag. Das konnte man bei allem spüren. Dafür liebte sie ihn noch mehr, obwohl das kaum noch möglich war. Er hatte es vorhin gesagt, und dem musste sie zustimmen, auch sie hatte eine solche Liebe noch nie zuvor erlebt, und das war etwas, was sie ein wenig atemlos machte, sprachlos streckenweise ebenfalls.

Auch Claire lagen soziale Projekte am Herzen, und das war schon immer so gewesen, auch ehe sie von Gloria Weitz, der sie das Leben gerettet hatte, mit einem großen Betrag bedacht worden war, den sie beliebig verwenden konnte. Und das hatte Claire getan, und zum Schluss hatte sie lange überlegen müssen, wer die Hilfe am meisten benötigte.

Es gab einfach zu viel Elend auf der Welt, leider machten die meisten Menschen davor ihre Augen zu.

Weil Claire sich mit so etwas beschäftigte, konnte sie jetzt ein paar sehr gute Veränderungsvorschläge machen, die er sofort akzeptierte, weil sie ihm gefielen und weil sie sinnvoll waren. Piet van Beveren war beeindruckt.

»Dann weiß ich, wer sich in Zukunft mit den Projekten beschäftigen wird, die mir ganz besonders am Herzen liegen und für die ich leider nicht die Zeit aufbringen kann, die sie brauchen.« Als Piet ihren überraschten Blick bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Wenn alles geregelt, in trockenen Tüchern ist und du meine Frau sein wirst, die ich auf Händen tragen und immer lieben werde.«

Mit welcher Selbstverständlichkeit er das sagte. Claire fühlte sich augenblicklich ein wenig überfordert. Sie wusste nicht, in welchem Film man ihr gerade eine Hauptrolle zugedacht hatte, über deren Inhalt sie nichts wusste, für den es kein Drehbuch gab. Eines allerdings wurde ihr klar, dass Piet es ernst meinte, obwohl sie sich kaum kannten. Das war es nicht allein, sie hatten gerade erst voneinander erfahren, wer sie wirklich waren. Er hatte es erstaunlich ruhig weggesteckt. Für ihn zählte es nicht, da zählte nur sie. Mit ihr machte es schon etwas, jetzt zu wissen, dass dieser Mann nicht einfach ein Piet war, sondern ›der Piet‹, über den sie vieles gehört hatte, Gutes und Schlechtes. Doch das war es nicht, Claire war ein Mensch, der sich seine eigene Meinung bildete. Aber das er ein Macher war, der unendlich viel Geld besaß, dass er sie heiraten wollte, ohne sie zu kennen, dass …

Sie wollte nicht länger darüber nachdenken, denn das alles zählte doch überhaupt nicht. Sie waren zwei Menschen, die sich zufällig begegnet waren und die sich sofort ineinander verliebt hatten, von dem berühmten Blitzschlag der Liebe getroffen worden waren.

Ihr Schweigen dauerte ihm zu lange, und deswegen erkundigte er sich beinahe ein wenig verunsichert, weil er es nicht gewohnt war, auf etwas zu warten.

»Claire, du wirst mich doch heiraten, oder?«

Musste man für alles einen Plan haben? Musste man Regeln einhalten, wenn Gefühle im Spiel waren? Darauf gab es nur eine Antwort, und die lautete nein!

Claire holte ganz tief Luft, dann strahlte sie ihn an, ehe sie mit vor Aufregung bebender Stimme rief: »Ja.«

Sie hatte doch überhaupt keine andere Wahl. Das Jetzt zählte, sonst nichts. Sie hatten beide Beziehungen hinter sich, kurze oder lange, schöne oder schmerzhafte, sie waren beide niemals verheiratet gewesen, und auch wenn Claire dazu neigte, alles erst mal zu überdenken. Das, was sich gerade im rasenden Tempo ereignete, musste sie nicht überdenken. Ihr Herz schlug für seines, sein Herz schlug für ihres. Liebe stellte keine Fragen, und sie musste auch nicht überdacht werden, nur gefühlt …

Seine Arme umschlossen sie ganz sanft.

Er blickte ihr tief in die Augen und flüsterte: »Danke, mein Herz, du wirst es nie bereuen, weil mir schon klar ist, dass es ein Wunder ist, was gerade mit uns geschieht. Du und ich … das ist das Schönste, was mir passieren konnte. Claire, ich liebe dich.«

Er wollte sie küssen, doch dann ließen Geräusche sie herumfahren. Jemand hatte den Raum betreten. Und es war jemand, den sie beide kannten … Teresa von Roth, die erschrocken mitten im Raum stehen blieb, weil sie nicht damit gerechnet hatte, hier jemanden zu treffen. Das Internat war noch nicht seiner Bestimmung übergeben worden. Sie hatte wieder mal nach dem Rechten sehen wollen, das hatte sie Piet versprochen, und sie hielt sich daran. Es machte ihr allerdings auch Spaß, gebraucht zu werden.

Claire war ein bisschen verlegen, doch Piet blieb cool, er begrüßte Teresa ganz formvollendet mit einem Handkuss, ehe er sagte: »Liebe Teresa, was für eine Überraschung. Schön, dich zu sehen, denn dann kannst du jetzt als allererste Person überhaupt erfahren, dass Frau Dr. Müller und ich heiraten werden. Sie hat meinen Antrag angenommen und macht mich damit zum glücklichsten Menschen von der ganzen Welt.«

Welch ein Glück, dass ein Stuhl in der Nähe stand, den die Handwerker wohl vergessen hatten. Auf den musste Teresa sich erst einmal setzen. Was für eine Überraschung. Piet van Beveren und die Frau Dr. Müller. Damit hätte sie niemals gerechnet. Piet war so etwas wie ein einsamer Wolf, der ruhelos durch die Welt zog, seine Geschäfte machte, immer etwas ankurbelte, und die Frau Doktor, die war eine Bodenständige, die für ihren Beruf und den Marathonlauf aufging. Sie war attraktiv und jung genug, um eine Familie zu gründen. Doch wenn, dann wäre Teresa eher ein Mann in den Sinn gekommen wie beispielsweise Achim Hellenbrink, mit dem sie die Frau Doktor hin und wieder gesehen hatte. Aber Piet? Teresa neigte ja ein wenig dazu, Menschen miteinander zu verkuppeln, aber darauf wäre sie niemals gekommen, wirklich nicht.

Aber warum nicht? Sie mochte beide, und wie sie strahlten, dann mussten sie sich sehr ineinander verguckt haben. Teresa stand wieder auf, umarmte Piet: »Piet, ich freue mich so sehr für dich.« Und das tat sie wirklich – das waren keine leeren Worte, die man bei solchen Gelegenheiten oftmals gebrauchte. Dann wandte sie sich Claire zu, die immer noch ein wenig verlegen war. Verlegen, aber auch freudig erregt. Sie ergriff Claires rechte Hand, umschloss sie, blickte sie an und sagte: »Ich gratuliere Ihnen, Frau Doktor. Piet ist ein so wundervoller Mensch.«

Nach diesen Worten zog sie sich diskret zurück.

Claire und Piet waren wieder allein, eine leichte Verlegenheit hatte sich zwischen ihnen breit gemacht. Doch das hielt nicht lange an.

Piet umfasste sie.

»Claire, bitte entschuldige, dass ich dich so überrannt habe, ich bin ein Stoffel, mache dir einen Antrag in einem bis auf einen Stuhl leeren Raum, und ich habe nicht einmal einen Ring dabei, den man ja der Braut bei solchen Gelegenheiten an den Finger steckt.« Er schaute ihr tief in die Augen. »Ich kann zu meiner Entschuldigung nur vorbringen, dass ich meine Gefühle nicht mehr im Griff hatte, von ihnen überrollt wurde. Seit ich dich kenne, habe ich den Wunsch, dich zu heiraten, mit dir den Rest meines Lebens zu verbringen. Ich wollte dich von Anfang an, und das für immer. Wenn ich an dich dachte, musste ich daran denken, und vorhin … ich konnte nicht anders, es kam über mich, und ich wäre daran erstickt, hätte ich die Worte nicht gesprochen – willst du mich heiraten.«

Er zog sie enger an sich.

»Wir holen es nach, und ich denke, zuerst einmal verlassen wir das Haus, und ich …«, er brach seinen Satz ab, küsste sie sehr sanft und sehr zärtlich.

Claire lehnte sich an ihn, sie fühlte sich unglaublich geborgen, wie sie es noch niemals an der Seite eines Mannes erlebt hatte.

Wie sich alles entwickeln würde, darüber machte sie sich keine Gedanken, was zählte, war die Liebe …

Es dauerte doch noch eine ganze Weile, ehe sie gingen, und Claire hatte weder ein Problem damit, dass er ihr keinen Ring an den Finger gesteckt hatte, noch dass er seinen Antrag in diesem schönen, aber leeren Raum gemacht hatte. Er hätte es überall tun können, die Hauptsache war doch, dass er es getan hatte. Und sie, die eigentlich stets der ­Meinung gewesen war, man müsse nicht heiraten, merkte, dass es einen großen Unterschied machte, dass ein ganz anderes Zusammengehörigkeitsgefühl entstand, und das, obwohl sie sich kaum kannten.

Sie lehnte sich an ihn, hörte seinen Herzschlag und lauschte all den zärtlichen Worten, die er für sie fand. Worte, die sie ihm nicht zugetraut hätte.

Sie freute sich auf ihre gemeinsame Reise, denn es war noch sehr viel, was sie aneinander entdecken konnten.

Claire wartete nicht darauf, dass er sie küsste, sie tat es, und es fühlte sich großartig an.

*

Da sie das Wochenende in der Hotelsuite verbringen wollten, passte es ganz gut, dass Piet noch etwas Geschäftliches zu erledigen hatte. Sie würde dann schnell in ihre Wohnung fahren und ein paar Sachen, um alles einzupacken, was man für ein Wochenende außerhalb der eigenen vier Wände brauchte. Und dann würde sie ins Hotel fahren und ihn treffen.

Claire schwebte auf einer Wolke des Glücks, als sie in den Sonnenwinkel fuhr. Am liebsten hätte sie Roberta alles erzählt, doch die hatte noch Sprechstunde, hatte alles übernommen, damit sie ihren Piet treffen konnte. Roberta würde Augen machen, wenn sie erfuhr, dass Piet kein Handelsvertreter war, der von Tür zu Tür steppen musste, um etwas zu verkaufen. Vielleicht war es ja nicht so, aber sie hatte sich sein Leben derartig vorgestellt. Und nun das, nun war er …

Nein!

Daran wollte sie jetzt nicht denken, das hatte Zeit, sie wollte einfach nur ihr Glück, ihre Liebe genießen, und das alles hatte nichts mit Geld und anderen materiellen Werten zu tun.

Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte ihn angenommen.

Irgendwann würde sie ihren verhassten Familiennamen Müller ablegen, der ja an sich nicht schlimm war, ein ordentlicher Name, den es oft gab. Für sie hatte er nur diesen faden Beigeschmack, weil ihre Eltern ihr den Vornamen Claire gegeben hatten, den sie liebte, der aber nicht zu Müller passte. Das hätten sie sich vorher überlegen können, Clara wäre zu Müller auf jeden Fall passender gewesen. Clara Müller …

Darüber musste sie sich keine Gedanken mehr machen, sie würden van Beveren heißen … Claire van Beveren, das klang wie Musik.

Damit beschäftigte sie sich allerdings nicht sehr lange, sie dachte voller Liebe und Zärtlichkeit an ihn, an seine Küsse, seine Worte …

Claire war so mit ihm beschäftigt, auch damit, was geschehen war, dass sie sich nicht einmal Gedanken darüber machte, was sie einpacken sollte.

Und die Realität hatte sie ebenfalls ganz ausgeschaltet, doch die holte sie ein. Sie traf wieder einmal auf Achim, als sie ihr Auto anhielt und ausstieg. Er tat es beinahe gleichzeitig. Er wollte seine Ex-Schwiegermutter besuchen.

Als er Claire erblickte, strahlte er, lief auf sie zu.

»Was ist los, Claire? Heute ist Freitag, musst du da nicht arbeiten?«

Sie schüttelte den Kopf, und noch während sie sich eine Begründung überlegte, rief er direkt: »Ich muss Hulda nur etwas bringen, danach habe ich Zeit. Was ist, sollen wir bei diesem herrlichen Wetter mal paar Kilometer mehr laufen, was wir meist nicht können, weil uns die Zeit dazu fehlt? Hinterher können wir essen gehen und uns ein wenig unterhalten. Das haben wir auch schon eine ganze Weile nicht gemacht.«

Er blickte sie erwartungsvoll an, wartete ihre Antwort nicht ab, sondern sagte: »Claire, du siehst großartig aus. Du strahlst ja richtig, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich jetzt sagen, dass du verliebt bist.«

Du liebe Güte, nicht auch das noch!

Sie hatte fieberhaft überlegt, was sie ihm erzählen sollte, jetzt hatte sie keine andere Wahl. Sie durfte Achim nicht belügen, auch wenn das für ihn schmerzhaft sein würde.

»Achim, es gibt da etwas, was ich dir sagen muss, auch wenn zwischen Tür und Angel nicht der richtige Ort dafür ist … Ich, ja, es gibt da jemanden in meinem Leben …, noch nicht lange, aber sehr intensiv …, ich … wir … wir werden … heiraten … Er hat mir einen Antrag gemacht, den ich angenommen habe.«

Bei ihrer Stammelei war er ganz blass geworden, und er tat ihr jetzt unendlich leid, sie kannte ja seine Gefühle, und es musste für ihn jetzt sehr bitter sein, dass ein anderer Mann das Rennen gemacht hatte. Nein, es war kein Marathon, bei dem man gewinnen wollte.

»Achim, es ist einfach passiert.«

Er sagte noch immer nichts, und sie sagte etwas, um das Schweigen zu durchbrechen, durchdacht waren ihre Worte nicht, aber wichtig war es schon.

»Du wirst mich doch jetzt nicht … aus der Wohnung hinauswerfen?«

Vielleicht war es doch nicht so verkehrt gewesen, das zu erwähnen. Er blickte sie beinahe empört an. »Claire, ich bitte dich, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir haben einen Mietvertrag miteinander abgeschlossen … ich bin jetzt …«, er machte eine kurze Pause, sagte leise: »Danke, dass du jetzt aufrichtig warst, dann weiß ich wenigstens, wo ich dran bin …, äh … ich gratuliere dir.«

Er warf ihr einen Blick zu, der ihr Schuldgefühle machte, obwohl sie nichts für seine Gefühle konnte, dann wandte er sich ab, stürmte in Huldas Wohnung.

Claire blieb noch einen kurzen Augenblick wie benommen stehen, dann wandte sie sich ab, um in ihre Wohnung zu gehen.

Es war gut, dass sie es Achim gesagt hatte, doch es wäre ihr lieber gewesen, sie hätten sich jetzt nicht getroffen. Mit ihrer glücklichen Leichtigkeit war es vorbei.

Seufzend rannte sie nach oben in ihre Wohnung, obwohl sie zuerst versucht gewesen war, den Aufzug zu nehmen. Oben angekommen, überkam sie wieder das Glücksgefühl, wie schön sie doch wohnte. Als sich etwas anderes in dieses Gefühl schob.

Sie hatte Piets Heiratsantrag angenommen, ohne über auch nur etwas nachzudenken. Er besaß viel Geld, doch über ihn wusste sie auch, dass er nicht einmal eine Wohnung hatte, sondern weltweit in Hotels wohnte, ständig unterwegs war. Es war kaum vorzustellen, dass er hier bei ihr einziehen würde. Das würde sie wegen Achim auch nicht zulassen, außerdem hatte sie als Einzelperson den Mietvertrag abgeschlossen. Er würde sich niemals damit einverstanden, dass ein anderer Mann bei ihr einzog. Außerdem, warum machte sie sich diese Gedanken? So schön die Wohnung auch war, sie passte nicht zu Piet. Sie musste herausfinden, was zu ihm passte.

Claire ging in ihr Schlafzimmer, in den Schrank musste sie ja nicht mehr gucken, das lag alles auf dem Bett. Und als sie auf dieses Chaos blickte, wusste sie, dass sie recht daran getan hatte, nicht mit ihm in ihre Wohnung zu gehen.

Die neuen Cashmerepullis würde sie mitnehmen, die nahmen nicht viel Platz weg, und sie konnte sich entscheiden. Sie blickte an sich herunter, ein Kleid hatte sie an. Vorsichtshalber packte sie ein schmal geschnittenes schwarzes Kleid mit ein, das war etwas für alle Fälle.

Und als sie das Kleid in ihre Tasche packen wollte, fiel ihr siedend heiß etwas ein.

Die Praxis …

Sie war ortsgebunden, er fuhr durch die Welt. Das passte nicht. Auf ihr Glück fiel ein erster dunkler Schatten, und das gefiel ihr überhaupt nicht.

Claire nahm sich vor, alles auszuschalten, was sonst ihr Leben und ihren Alltag ausmachte, und das bedeutete auch, dass sie nicht an Achim denken musste. Auch mit ihm würde alles anders werden. Claire glaubte nicht, dass er weiterhin mit ihr Marathon laufen würde, dazu war er zu enttäuscht. Und wenn er sich das nicht anmerken lassen würde, dann wusste sie, dass sie vollkommen verkrampft an alles herangehen würde.

Es war blöd, dass sie sich ausgerechnet heute getroffen hatten, dachte sie, als sie mit ihrer Tasche die Wohnung verließ. Ehe sie aus der Haustür trat, blickte sie zur Seite, sein Auto stand noch immer da.

Claire schloss die Haustür, dann rannte sie rekordverdächtig zu ihrem Auto, schmiss die Tasche auf den Beifahrersitz, dann raste sie davon, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.

Sie wollte ihm nicht noch einmal begegnen, und dafür gab es mehrere Gründe – sie wollte nicht in sein enttäuschtes Gesicht blicken, und sie wollte keine Schuldgefühle haben, die sie unweigerlich bekommen würde. Dabei gab es dafür überhaupt keinen Grund. Sie hatte ihn nicht verlassen, sie hatte ihn nicht betrogen, weil sie niemals ein Paar gewesen waren. Und dass sie seine Erwartungshaltung nicht erfüllen konnte, dass war nicht ihre Schuld.

Achim Hellenbrink war ein sehr, sehr netter Mann, sie wünschte ihm aus tiefstem Herzen, dass er die Frau finden würde, die seine Qualitäten zu schätzen wusste.

Offensichtlich hatte er, was Frauen betraf, nicht das richtige Händchen. Die Frau, mit der er verheiratet gewesen war, passte überhaupt nicht zu ihm, sie war, schlicht gesagt, grauenhaft und gierig.

Tja, und dass er sich in sich verguckt hatte …

Stopp!

Sie wollte darüber jetzt wirklich nicht nachdenken, sie fuhr ein wenig schneller, weil sie zu Piet wollte, um in seinen Armen alles Unliebsame, alle Probleme, alles Belastende zu vergessen. Da wollte sie einfach nur glücklich sein …

Bei den Gedanken an Piet wurde ihre Laune sofort besser, und sie konnte es kaum erwarten, zu ihm zu kommen, um seine Wärme, seine Nähe, seine Umarmungen, seine Küsse … seine Liebe zu spüren, die unbeschreiblich schön war …

Sie hatte Hohenborn erreicht, fuhr zum Hotel, und dort stieg sie mit vor Aufregung klopfendem Herzen aus. Nicht, weil sie von diesem Hotel beeindruckt war, nein, weil sie Piet gleich sehen würde.

Jetzt hatte Claire es eilig, sie stürmte ins Hotel …

*

Nach einem traumhaften mit Piet verbrachten Wochenende fuhr Claire am Montagmorgen zurück in den Sonnenwinkel, ihren Alltag, den sie beide vollkommen ausgeblendet hatten, es hatte nur sie und ihre Liebe gegeben, dabei hatten sie sich auch stundenlang über Gott und die Welt unterhalten, über sich hatten sie kaum gesprochen. Doch das war immer schon so gewesen, und warum sollte sich jetzt daran etwas ändern? Sie hatten Zeit.

Sie und Piet hatten sehr früh gefrühstückt, weil er zu einem Termin musste, was auch bedeutete, dass sie sich nicht sofort wiedersehen würden. Das machte Claire nichts aus, von dem, was zwischen ihnen gewesen war, konnte sie noch lange zehren.

Als sie vor dem Doktorhaus ankam, wusste Claire, dass sie Roberta und Alma noch am Frühstückstisch vorfinden würde, und das war gut so. Sie platzte beinahe, weil sie vollgestopft war mit allem, was sie den beiden unbedingt erzählen musste.

Sie klingelte Sturm, Alma öffnete, begann zu lächeln. Claire war anzusehen, wie glücklich sie war.

Nachdem sie Alma begrüßt hatte, stürmte sie an der vorbei zu Roberta, die ihre Kaffeetasse abstellte, als Claire sie stürmisch umarmte.

»Ihr glaubt nicht, was geschehen ist«, rief Claire, nachdem sie Roberta losgelassen hatte und sich auf einen Stuhl fallen ließ.

Alma stellte ihr kommentarlos eine gefüllte Kaffeetasse hin.

»Du bist über beide Ohren verliebt, meine liebe Claire«, lachte Roberta, »und hattest ein wundervolles Wochenende. Du musst nichts sagen, dein Gesicht spricht Bände.«

Claire atmete tief durch, dann hielt sie den beiden Frauen ihre linke Hand hin, an der ein wunderschöner Brilli am Ringfinger strahlte. Den hatte Piet noch besorgt, und dann hatten sie richtig Verlobung gefeiert, nur sie allein, und das würde Claire für immer unvergesslich in Erinnerung bleiben. Sie entdeckte an Piet immer neue Seiten, und je inniger sie miteinander waren, umso weicher wurde er, umso mehr zeigte er seine verletzliche Seite, die ihm niemand abnehmen würde.

Roberta sagte erst einmal nichts, weil sie sich von dieser Überraschung erholen musste. Damit hatte sie niemals gerechnet.

Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre sie nicht dazu gekommen, denn Alma erkundigte sich, nachdem sie den Ring bestaunt hatte: »Ist der echt?«

Claire lachte.

»Ja, Alma, er ist echt, und ich bin mit meinem Piet richtig verlobt, wir werden irgendwann heiraten.«

Das überraschte Roberta dann doch. Denn so kannte sie Claire nicht. Aber sie freute sich mit ihr, denn Claire sah so unendlich glücklich aus, und das war es doch allein, was zählte. Nachdem Alma es ausgiebig getan hatte, gratulierte Roberta ihr ebenfalls, dann fügte sie hinzu: »Dein Piet muss ein unglaublicher Mann sein, es ist an der Zeit, dass wir ihn kennenlernen, nicht wahr, Alma?«

Die nickte sofort, Claire trank etwas von ihrem Kaffee, das allerdings nur, um ein wenig Zeit zu gewinnen, dann ließ sie die Bombe platzen. Anders konnte man es nicht nennen.

Sie stellte ihren Kaffeebecher ab, dann sagte sie: »Ihr kennt ihn … ich habe mich mit Piet van Beveren verlobt, ohne vorher auch nur die geringste Ahnung zu haben, wer er ist. Und das hat ihm gefallen, dass jemand mit ihm zusammen ist, weil er er ist, nicht, weil hinter ihm ein großes Vermögen steckt. Und ich wusste ja wirklich nichts.«

Nach dieser Eröffnung war es erst einmal still. Roberta wäre niemals darauf gekommen, dass es Piet van Beveren sein könnte, als Claire von ihrem Piet, dem Handelsvertreter, gesprochen hatte. So konnte man sich irren. Doch auch diese Tatsache änderte nichts daran, dass sie sich sehr für Claire freute, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, dass sich bald auch etwas in der Praxis ändern würde.

»Mein Gott, Frau Doktor«, Alma bekam sich überhaupt nicht mehr ein, »Sie werden den Mann heiraten, dem das riesige Grundstück einschließlich der Felsenburg gehört, wo diese ›Sunlight Klinik‹ kurz vor der Eröffnung steht, in der man sich für sehr viel Geld ein neues Gesicht, eine Nase oder was auch immer machen lassen kann. Und dann dieses Hotel für die Reichen und die Schönen und alles, was da gerade auch noch gebaut wird.« Sie wollte mehr fragen, eine Frage hätte sie besonders gern gestellt, ob die Frau Doktor gar da einziehen würde. Doch das gehörte sich nicht. Es ging sie auch überhaupt nichts an.

Sie erhob sich.

»Ich will dann mal in meine Wohnung gehen und Pia aufwecken. Sie hat mich darum gebeten, weil sie nicht zu ihren Kursen zu spät kommen möchte. Pia ist die reinste Schlafmütze, die kann schlafen.«

Alma erwartete darauf keine Antwort, sie ging, Roberta und Claire waren allein.

Claire hatte das Gefühl, jetzt etwas sagen zu müssen, etwas zu erklären.

»Roberta, was augenblicklich geschieht, dafür finde ich keine Erklärung, keine Worte. Du kennst mich, du weißt, dass ich nicht zu überstürzten Entscheidungen neige. Mit Piet ist alles so selbstverständlich, da hinterfrage ich nichts. Ist das noch normal?«

Roberta konnte das nur bestätigen, sie erzählte ihr, wie es mit ihr und Lars angefangen hatte, wo auch direkt Gefühle im Spiel gewesen waren.

»Wenn man sich liebt, dann möchte man auch vor dem Gesetz miteinander verbunden sein, besonders Frauen wünschen sich den Heiratsantrag und das gemeinsame Zusammenleben. Lars hat sich damit Zeit gelassen, und dass er ein Leben mit mir plant, dass er sich Heirat, ein Zusammenleben und gemeinsame Kinder wünscht, das habe ich erst erfahren, als er bereits verschollen war.«

Claire stand auf, ging zu Roberta, setzte sich neben sie, umarmte sie. Sie kannte diese Geschichte, und es tat ihr unendlich leid, weil Roberta unbedingt ein Happy End verdient hätte.

»Aber du hast es noch erfahren. Und klar träumt man davon, entscheidend ist es nicht. Es gibt genug Beispiele von großartigen Menschen, die ihr ganzes Leben miteinander verbracht haben, ohne verheiratet zu sein. Es ist über Piet und mich im wahrsten Sinne des Wortes hereingebrochen. Ich möchte nicht darüber nachdenken, ob es richtig oder falsch war, ich möchte mir auch keine Gedanken darüber machen, wohin unsere gemeinsame Reise uns führen wird. Ich möchte augenblicklich nicht mehr, als einfach nur dieses große Glück genießen, das atemlos macht, das einen glauben lässt, dass die Sonne plötzlich heller strahlt, die Welt schöner ist, der Himmel blauer.«

»Genieße es, Claire«, Robertas Stimme klang leise, »genieße jeden Augenblick, denn es kann von einem Moment zum nächsten vorbei sein.«

Roberta hatte geglaubt, alles im Griff zu haben, doch damit war es für den Augenblick vorbei, sie wurde von ihrer Vergangenheit eingeholt, und angesichts der strahlenden Claire wurde ihr wieder bewusst, was sie verloren hatte, auch, um was sie gebracht worden war.

Es traf zu, Gefühle ließen sich nicht regulieren, sie waren einfach da.

Es wurde an die Tür geklopft, Ursel Hellenbrink betrat den Raum, entschuldigte sich.

»Es ist nur so, eigentlich hätte die Sprechstunde vor zehn Minuten begonnen.«

»Danke, Ursel«, rief Roberta, »wir kommen.«

Ursel lief zurück, die beiden Ärztinnen folgten ihr, und bei all ihren Gefühlen, die sie für Piet hatte und die ihr Denken beherrschten, fragte Claire sich unwillkürlich, ob Achim wohl bereits mit seiner Schwester gesprochen und ihr alles erzählt hatte. Aber vielleicht machte sie sich auch vollkommen umsonst Sorgen, und Ursel wusste überhaupt nichts von den Gefühlen, die ihr Bruder für die Frau Dr. Müller hatte.

Als sie die Praxis betraten, war alles Private wie weggewischt, jetzt zählten nur noch die Patientinnen und Patienten für die beiden Frauen.

*

Eine der Patientinnen, die Roberta heute zu verarzten hatte, war Julia Herzog, die eine ziemlich böse Brandverletzung auf ihrem linken Unterarm hatte, die sich entzündet hatte, weil sie nicht direkt richtig behandelt worden war.

»Du hättest früher kommen müssen, Julia«, Roberta blickte Julia streng an, und die versuchte, sofort eine Entschuldigung anzubringen. »Ich hatte keine Zeit.«

»Julia, das lasse ich jetzt nicht gelten, denn ein Anruf hätte genügt und ich oder Frau Dr. Müller wären im ›Seeblick‹ vorbeigekommen. Wir hätten die Verbrennung entsprechend behandelt, und die Entzündung, die du jetzt an der Brandwunde hast, die wäre dir erspart geblieben. Vor allem hätte die Heilung früher eingesetzt.« Sie blickte Julia an. »Wie ist es denn passiert?«

»Wenn du so willst, ganz dämlich, ich habe unachtsam mit einer heißen Pfanne herumhantiert.«

Roberta wollte jetzt nicht die besserwisserische Ärztin herauskehren, was geschehen war, war geschehen.

Während sie die Verbrennung behandelte erkundigte sie sich: »Musstest du so oft an diesen Koch denken, auf den du damals gewartet hast?«

»Er ist nicht gekommen, hat das Vorstellungsgespräch abgesagt, dabei hätte ich ihn so gern als Souschef genommen, er hat nicht nur fabelhafte Zeugnisse, sondern er ist auch durchaus der veganen und vegetarischen Küche zugetan. Das gefällt mir, auch wenn ich mein Konzept mittlerweile geändert habe.«

Roberta hatte es hautnah mitbekommen, wie Julia anfangs immer knapp am Ruin vorbeigeschrappt war, weil niemand ihr ursprünglich geplantes veganes Restaurant besuchen wollte.

»Und hat es dir leidgetan, von deinem Traum Abschied nehmen zu müssen?«

Ganz spontan rief Julia: »Nein, überhaupt nicht. Verrückt ist doch, dass viele Leute vom Angebot der veganen Gerichte begeistert sind, und das sind die, die vorher absolut dagegen waren. Nö, alles ist gut. Jetzt kann ich wenigstens gut schlafen, weil mein Restaurant immer gut besucht ist und ich alle Rechnungen bezahlen kann. Es ist halt viel Arbeit, und ich müsste schon jemanden haben, der mich voll vertreten kann. Es ist wirklich schade, dass es nicht geklappt hat.«

»Wenn der Mann gut ist, dann spring einfach über deinen Schatten, melde dich noch mal bei ihm, mach ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Vielleicht hat er ja auch nur Probleme damit, dass das erfolgreiche Sterne-Restaurant einer Frau gehört.«

»Den Eindruck hatte ich zwar nicht, aber vermutlich habe ich ihn auch verärgert, weil ich ziemlich schnippisch war, als er den Termin absagen musste. Ehrlich gesagt war ich es, die es hat platzen lassen, weil ich ihm nämlich sagte, dass er dann überhaupt nicht kommen muss.«

Roberta war fertig, ehe sie sich von Julia verabschiedete, sagte sie: »Dann weißt du ja jetzt, was du zu tun hast, nicht wahr?«

Julia blickte sie an, versprach, sich bei Tim Richter zu melden, dann maulte sie: »Weißt du immer, was richtig und was falsch ist?«

»Nein, das weiß ich nicht«, gab Roberta zu.

»Und was diesen netten Professor Konstantin von Cleven betrifft, ich hoffe, dass du bei dem alles richtig machst, Roberta. Er ist ein ausgesprochen sympathischer, kultivierter Mann, und er himmelt dich an.«

»Ich bin nicht auf der Suche, Julia«, sagte sie knapp, weil ihr derartige Gespräche unangenehm waren.

Julia kannte die ganze Geschichte, konnte mitfühlen, was Roberta da durchgemacht hatte.

Aber …

»Roberta, das Leben geht weiter, du darfst dich nicht abkapseln. Vor allem darfst du nicht etwas predigen und dann selbst etwas anderes tun. Erinnere dich bitte daran, was du mit auf den Weg gegeben hast, als ich am Boden zerstört war, als ich lesen musste, dass Daniel eine andere Frau hat, die er sogar heiraten will. Du hattest recht mit allem, doch solche Worte gelten nicht nur für mich allein. Sie gelten für alle, also auch für dich. Lars Magnusson war … äh … er ist ein großartiger Mann, ihr wart wie Pott und Deckel. Dieser Konstantin von …«

Roberta ließ sie überhaupt nicht aussprechen.

»Julia, er ist ein Freund, und wenn er mir vorbestimmt gewesen wäre, dann hätte es früher mit uns geklappt, dann hätten wir uns nicht getrennt. Mach dir bitte keine Sorgen um mich, mir geht es gut, ich kann allein sein, und das bin ich sogar gern. Also, fummele jetzt nicht an dem Verband herum, entweder ich oder Claire werden vorbeikommen, oder wenn du in der Nähe bist, spring einfach in die Praxis, Ursel Hellenbrink oder auch Leni Wendler können den Verband ebenfalls wechseln, oder sie können dir sagen, ob ein neuer überhaupt nötig ist.«

Sie verabschiedeten sich, Julia ging, und in Robertas Sprechzimmer kam ein Patient, der noch nicht lange im Sonnenwinkel lebte und mit einem Ulcus ventriculi, einem Magengeschwür, zu ihr in die Praxis gekommen war, ganz erstaunt darüber, dass er so etwas bekommen konnte. Dabei war bekannt, dass jeder ein Magengeschwür bekommen konnte, besonders betroffen waren allerdings Männer zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr, und das viermal so häufig wie Frauen. Für die Entstehung eines Magengeschwüres waren keine eindeutigen Ursachen bekannt, es spielten viele Faktoren eine Rolle, und einer war auf jeden Fall eine psychische Stressbelastung, und das traf auf ihren Patienten zu. Markus Dörner war geschäftlich nicht nur sehr angespannt, viel unterwegs, sondern er ließ sich von seinem Handy beherrschen, das er sogar mit auf seinen Nachttisch nahm, um immer erreichbar zu sein. Und statt sich in seiner knappen Freizeit auszuruhen, gab es bei ihm nicht nur reihenweise Aktivitäten, sondern er war zwar kein Alkoholiker, doch Alkohol gehörte zu seinem Alltag, und wenn es auch ›nur‹ Wein war, wie er betonte. In Maßen genossen, war nichts dagegen einzuwenden, doch dass er auch noch rauchte, und das nicht zu knapp, das war ein absolutes No-Go, und Roberta macht diesem Patienten sehr ernst klar, wohin das alles führen konnte. Das Magengeschwür war erst der Anfang.

Er war ein sehr netter Mann, der wegen seiner kleinen Tochter mit seiner Frau hierher gezogen war. Und das war es, womit sie ihn packen konnte, die Verantwortung für seine Frau und für sein Kind.

Roberta war keine Therapeutin, die Patientinnen und Patienten das Rauchen abgewöhnte, aber in ihrer langen Praxis hatte sie schon mitbekommen, ob und welche Therapien erfolgreich waren. Und eine davon hatte sie ihrem Patienten empfohlen, nachdem sie ihm ins Gewissen geredet hatte. Das Magengeschwür hatten sie ganz gut im Griff, Roberta war heute sehr gespannt, ob er an seinen Rauchgewohnheiten etwas verändert hatte. Und vor allem, ob das dann Erfolg haben würde. Gute Vorsätze hatten viele Leute, doch es war sehr schwer, die durchzuhalten, und wenn man erst einmal rückfällig geworden war mit nur einem einzigen Versuch, dann war die Hemmschwelle wieder überschritten, man resignierte und rauchte munter weiter. Es war ein Teufelskreis, der nur sehr schwer zu durchbrechen war. Allerdings gab es auch Leute, die mit dem Rauchen überhaupt nicht aufhören wollten, die es genossen, und dazu gehörte, obwohl ebenfalls Arzt, auch ihr Exmann Max, von dem sie glücklicherweise nichts mehr hörte, der sie nicht mehr stalkte oder anderweitig belästigte. Das machte es Roberta einfacher, nicht mehr an das düsterste Kapitel ihres Lebens erinnert zu werden, an eine Zeit, in der sie nur draufgezahlt hatte.

Roberta warf ihrem Patienten einen prüfenden Blick zu begrüßte ihn freundlich. Ein gutes Zeichen war, dass er nicht einfach weggeblieben war. Raucher waren streckenweise uneinsichtig und blieben einfach weg, um nicht ihre Schwäche ihr gegenüber eingestehen zu müssen, dass sie es nicht geschafft hatten, mit ihrem Laster aufzuhören oder aber auch, weil sie es nicht wollten, nicht einsahen, dass mit dem Genuss von Tabak auch ein großes gesundheitliches Risiko verbunden war. Das war allerdings eher in ihrer früheren Praxis der Fall gewesen, nicht im Sonnenwinkel, wo man sich mehr oder weniger kannte, sich immer wieder mal begegnete.

Roberta erkundigte sich zunächst nach den Magenbeschwerden ihres Patienten, und sie registrierte zufrieden, dass die von ihr vorgeschlagene Therapie Früchte trug, ihm ging es wesentlich besser. Und ehe sie ihm eine Frage stellen konnte zu etwas, was sie sehr interessierte, nämlich seine Leidenschaft für Zigaretten, fing er selbst davon an.

»Frau Doktor, ich rauche nicht mehr«, sagte er voller Stolz, »es ist zwar qualvoll, doch meine Frau unterstützt mich dabei, und wenn ich mir meine kleine Tochter anblicke, die ich ja auch einnebele, habe ich ein gutes Gefühl. Doch auf diese Weise habe ich es immer wieder erfolglos versucht. Ehrlich gesagt, hätte ich nicht für möglich gehalten, dass die von Ihnen erwähnte und vorgeschlagene CD mir ­helfen würde. Doch das tut sie. Diese Mischung aus Suggestion, Entspannungsübungen und Atemübungen, aus Meditation … ich weiß nicht, was das mit Tabakgenuss zu tun hat, aber es hilft, ich muss nicht mehr zur Zigarette greifen.«

Er blickte sie an.

»Haben Sie dafür eine Erklärung?«

Die hatte Roberta, sie erklärte ihrem Patienten, dass Raucher, wenn sie Stress hatten, unbewusst zu ihrer Zigarette griffen, wenn sie entspannter waren, Stress abbauten, war es nicht nötig.

»Diese CD unterstützt Sie, Herr Dörner, doch es gehört auch sehr viel Willenskraft dazu, seiner Sucht zu widerstehen. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind auf dem richtigen Weg, ich freue mich für Sie.«

Roberta besprach mit ihrem Patienten, wie es weitergehen sollte, dann verabschiedeten sie sich voneinander, Markus Dörner voller Dankbarkeit, und Roberta freute sich mit ihm und motivierte ihn noch einmal, den eingeschlagenen Weg weiter einzuhalten. Dann war es auch schon Zeit für den nächsten Patienten, der nicht so einsichtig war, er nahm nicht einmal regelmäßig seine Tabletten ein, sondern glaubte, es reiche, die zu schlucken, wenn er Schmerzen verspürte. Dieser Mann wollte einfach nicht begreifen, dass es keine Smarties waren, die man sich bei Bedarf oder wenn man Lust darauf hatte, in den Mund schob. Leider war das kein Einzelfall, und daran würde sich wohl auch niemals etwas ändern.

»Und, Herr Krause«, erkundigte sie sich nach der Begrüßung, »haben Sie Ihr Versprechen gehalten und die Ihnen verschriebenen Medikamente regelmäßig eingenommen?«

»Hab ich, Frau Doktor«, sagte er, »und dabei ist sehr hilfreich das Pillendöschen, das Sie mir mitgegeben haben. Meine Frau hat die Kontrolle übernommen, und Sie kennen meine Hannelore, wenn die sich was vornimmt, zieht sie es auch durch.«

Es traf zu, Hannelore Krause war anders drauf als ihr Mann.

»Das freut mich, Herr Krause, es ist nur in Ihrem Interesse, und Sie wollen doch wieder gesund werden, nicht wahr?«

Er wollte es, ganz glaubte Roberta seinen Beteuerungen noch nicht, doch bei der nächsten Blutuntersuchung würde es sich zeigen, ob Herr Krause sich an die Verordnung hielt oder nicht. Sie überprüfte seinen Blutdruck, der war wieder zu hoch, doch nicht so hoch wie beim letzten Mal. Wenn man berücksichtigte, dass bei den meisten Menschen der Blutdruck in die Höhe ging, wenn sie beim Arzt waren, so war schon eine Verbesserung erkennbar. Hannelore Krause schien es wirklich im Griff zu haben.

*

Es war wie verhext, nun hatte Inge sich dazu durchgerungen, das Seminar zu besuchen, und nun war es abgesagt worden wegen der Erkrankung des Kursleiters, es war verschoben worden.

Nachdem sie mit dieser Enttäuschung fertig geworden war, kam sie zu der Überzeugung, dass es vielleicht nicht einmal verkehrt war. Sie und Werner hatten sich noch immer nicht so ganz richtig ausgesprochen, gingen eher wie höfliche Nachbarn miteinander um. Das musste sich auf jeden Fall ändern, und dieses Seminar … aufgeschoben war nicht aufgehoben. Sie musste nur ihren Koffer wieder auspacken und alles rückgängig machen. Pamela war ein wenig enttäuscht, denn sie hatte sich auf die Zeit bei den Großeltern gefreut, nicht, weil sie diese lieber hatte, sondern weil Omi und Opi ihr viel mehr durchgehen ließen und weil sie es mit der Rationierung von Süßigkeiten nicht so genau nahmen.

Inge war gerade vom Markt gekommen, als sie jemanden vor der Haustür bemerkte. Und das konnte jetzt nicht wahr sein, war es die Belohnung dafür, dass sie zu Hause bleiben musste?

Inge begann zu rennen, denn natürlich wusste sie, wer da vor der Haustür stand, obwohl sie ihn nur von hinten sah. Und da musste sie sich auch nicht an den lässig zusammengebundenen Haaren orientieren.

Vor der Haustür stand ihr Hannes!

»Hannes, Hannes«, rief sie aufgeregt. Der drehte sich um, kam auf seine Mutter zugelaufen, nahm ihr den Einkaufskorb ab, umarmte sie mit dem freien Arm.

»Mama, ich hatte schon Sorge, dich nicht anzutreffen und war voller Selbstvorwürfe, weil ich mich wieder einmal nicht angemeldet habe. Doch ich wusste selbst nicht, dass ich nach Deutschland kommen würde. Es hat sich plötzlich ergeben, und ich kann auch nicht lange bleiben.«

»Wieder nur ein paar Stunden, mein Junge?«, erkundigte Inge sich, und sie atmete erleichtert auf, als Hannes ihr sagte, dass er schon über Nacht bleiben könne.

Inge war außer sich vor Freude, und ihre Enttäuschung wegen des verschobenen Seminars löste sich in Luft auf, als ihr bewusst wurde, dass sie wegen des Seminars Hannes nicht gesehen hätte.

Und es war keine Frage, ihren Sohn Hannes, wenn auch nur für kurze Zeit zu sehen, das war wichtiger als alle Seminare dieser Welt.

Sie betrachtete ihn wohlgefällig, Hannes war ein so großartiger junger Mann, und wie gut er wieder aussah. Alle Auerbach-Kinder waren schöne Menschen, auch wenn das nicht entscheidend war. Doch Hannes sah am besten aus. Nicht nur das, Hannes war anders als seine Geschwister. Das nicht, weil er eine Weltreise nach dem Abitur gemacht hatte, weil er keine Lust hatte, zu studieren, obwohl er dieses tolle Abitur gemacht hatte. Nein, Hannes war ein Individualist, er wusste, was er wollte, und er machte sein Ding und ließ sich in nichts hineinreden.

»Welchem Umstand haben wir zu verdanken, dass du hier bist, mein Junge?«, erkundigte Inge sich.

»Ein Shooting für Dan Vox, das ganz hier in der Nähe stattfinden soll. Und das lasse ich mir natürlich nicht entgehen, denn das bringt Geld. Und das kann man immer gebrauchen, wenn man in der Ausbildung ist.«

»Aber du hast doch noch Geld vom Verkauf deines Anteils an der Surf- und Tauchschule und der Werbung für das Surfbrett, oder?«

Hannes lachte.

»Keine Sorge, Mama, natürlich habe ich das Geld noch, und da gehe ich auch nicht dran. Es ist beruhigend, ein gutes Polster für die Zukunft zu haben. Und wenn die von Dan Vox mich wollen, bitte schön, dann sollen sie mich auch haben.«

Sie hatten die Villa erreicht, die beiden Hunde kamen ihnen entgegengestürzt, kaum hatte Inge aufgeschlossen. Und obwohl sie Hannes nicht so oft sahen, liebten auch sie ihn über alles.

Musste man sich darüber wundern? Hannes war halt ein Sonnenschein.

»Mit euch gehe ich heute noch spazieren«, versprach er den beiden Tieren, und dann nickte Inge ihrem Sohn zu, als er an den Schrank ging, in dem das Glas mit den Leckerli stand.

Luna und Sam ließen Hannes nicht aus den Augen, und dann stürzten sie sich auf die begehrten Köstlichkeiten, die Hannes reichlich an sie verteilte. Doch einmal musste Schluss sein. Als Luna und Sam begriffen, dass jetzt nichts mehr zu holen war, trollten sie sich.

Hannes wandte sich jetzt lachend seiner Mutter zu.

»Muss ich jetzt Männchen machen, um ebenfalls etwas zu bekommen, Mama?«, wollte er wissen.

Inge strahlte ihren jüngsten Sohn an.

»Nein, du bekommst, was du willst«, versprach sie ihm.

Das hörte Hannes gern, und dann wünschte er sich, wie in früheren Kindertagen, eine heiße Schokolade. »Und hast du Kuchen oder Kekse da, Mama? Die gehören natürlich dazu.«

Inge hatte beides, denn nichts davon im Hause zu haben, das hatte sie sehr schnell aufgegeben, weil sie sich damit selbst schadete, sie genoss zu ihrem Kaffee, den sie nach wie vor über alles liebte, gern etwas Süßes.

Es dauerte nicht lange, da stand alles vor Hannes, was er begehrte, und er machte sich auch sofort darüber her.

Irgendwann blickte er seine Mutter an.

»Und das, Mama, gibt es nirgendwo sonst auf der Welt, deswegen komme ich auch so gern nach Hause.«

»Du könntest es öfters haben«, wandte Inge ein und ärgerte sich sofort über ihre Bemerkung. Das war jetzt dumm gewesen, sie kannte die Einstellung ihres Sohnes, für den der Sonnenwinkel keine Option war und auch niemals eine Option sein würde.

Hannes schob sich einen Keks in den Mund, aß den erst einmal genüsslich auf, ehe er sagte: »Mama, nicht schon wieder das.«

»Tut mir leid, Hannes, das war jetzt blöd von mir, erzähl mir lieber, wie es dir in Brenlarrick ergeht, wie du dich fühlst, nachdem du als Auszubildender bereits einen Preis gewonnen hast. Da kann man wohl davon ausgehen, dass du es nicht bereut hast, diese Lehre zum Möbeltischler begonnen zu haben, oder?«

Hannes warf seiner Mutter einen liebevollen Blick zu. Anders als sein Vater, der so etwas verächtlich aussprach, weil er es nie verkraften würde, welchen Weg sein Sohn eingeschlagen hatte, wusste Hannes, dass seine Mutter einfach nur wünschte, dass er in seinem Leben angekommen war.

»Mama, diese Ausbildung anzufangen, das war die allerbeste Entscheidung meines Lebens. Es ist faszinierend zu sehen, was man alles aus Holz machen kann, welche Gestaltungsmöglichkeiten sich einem da bieten. Ich bin Tom Betham, meinem Chef, unendlich dankbar dafür, dass er mir mehr beibringt, als es nach dem Lehrplan sein müsste, auch dass er dafür Verständnis zeigt, dass ich für Dan Vox so etwas wie ein Aushängeschild bin. Und das bin ich nur geworden, weil mein Gesicht durch all die Kampagnen für Sundance bekannt ist. Nein, Mama, du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin wirklich angekommen, nicht nur mit dem, was ich werden will, sondern auch mit meinem Leben in dieser Künstlerkolonie, in der großartige Menschen leben. Wann kommst du mich endlich mal besuchen, um dir das alles anzusehen? Ich glaube, da würde eine ganz große Sorgenlast von dir abfallen, du würdest dich für mich freuen, dass ich dort leben darf und Kunsttischler werden kann.«

Inge überlegte. Das Seminar würde erst zu einem anderen Termin stattfinden. Eigentlich hatte sie jetzt Zeit, und wenn nicht jetzt, wann sonst?

Ehe sie etwas sagen konnte, meinte Hannes: »Mama, bei Jörg und Charlotte warst du bereits in Stockholm. Du möchtest doch nicht, dass ich mich benachteiligt fühle?«

Dieser Charmeur, er wusste immer, wo er jemanden packen konnte, und das tat er so, dass man ihm nichts abschlagen konnte. Das war schon immer so gewesen. Auch als kleiner Steppke hatte er alle um den kleinen Finger gewickelt.

»Das möchte ich natürlich nicht, mein Junge«, ging Inge auf seinen launigen Ton ein. »Wenn du magst, dann kannst du mich abholen, wenn du mit deinem Shooting fertig bist. Und es wäre nett, wenn du mir direkt einen Flug buchen könntest. Dann können wir zusammen fliegen, und du kannst den Ticketpreis direkt von meinem Konto abbuchen lassen.«

Er konnte es nicht glauben, seine Mutter war sonst nicht so spontan. Sollte er da etwas verpasst haben? Auf jeden Fall sprang er auf, umarmte seine Mutter, freute sich, dann musste er noch eine heiße Schokolade haben und wollte wissen, wieso sie sich so schnell entschlossen hatte.

Inge erzählte Hannes von dem Seminar, das erst später stattfinden würde, dass Pamela begeistert sein würde, weil sie nun doch bei den Großeltern sein durfte.

»Und Papa, was sagt der überhaupt zu allem? Dass du Strafgefangene betreust, dass du diese Ausbildung machst. Ich finde es großartig, und auch Jörg und Ricky sind so froh, dass du dich nicht mehr über den Kuchen, den du backst, und über die Klamotten, die du nähst, definierst. Mama, wir sind sehr, sehr stolz auf dich. Es ist großartig.«

Inge versuchte, über die Frage, die Hannes gestellt hatte, hinwegzugehen. Doch Hannes wäre nicht Hannes, wenn er nicht nachgebohrt hätte.

»Papa kann es doch nicht toll finden, dass du dich endlich emanzipierst. Also, wie verhält Papa sich?«

Wie aufs Stichwort hatte Werner Auerbach den Raum betreten, und noch ehe er seinen Sohn begrüßte, erkundigte er sich: »Wozu soll ich mich wie verhalten?«

Hannes stand auf.

»Hallo, Papa«, sagte er, umarmte seinen Vater flüchtig. Die Auerbachs verstanden sich, doch das Verhältnis zu ihrem Vater war im Vergleich zu ihrer Mutter distanziert worden. Das war allerdings auch kein Wunder, denn die Mutter hatte die Kinder aufgezogen, war immer anwesend gewesen. Nach der Begrüßung des Vaters setzte Hannes sich wieder, vor allem, weil er sah, dass seine Mutter ihm den nächsten Becher heißer Schokolade auf den Tisch gestellt hatte.

Ehe der Professor seine Frage wiederholen konnte, erklärte Hannes, wie großartig er die Veränderung bei seiner Mutter fand, dass es ihm, dem Herrn Professor, gewiss nicht recht sein konnte. Und dann fügte er hinzu: »Ich habe Mama endlich davon überzeugen können, mich in Brenlarrick zu besuchen. Morgen fahre ich weiter«, seinem Vater erzählte er nicht, wohin er fahren würde, weil er einfach keine Lust mehr auf diese fruchtlosen Diskussionen über seine Lebensweise hatte, »übermorgen komme ich zurück, werde hier noch einmal übernachten, und dann nehme ich die Mama mit.«

Werner setzte sich, er war ein wenig durcheinander, einesteils, weil er nicht damit gerechnet hatte, Hannes zu sehen, und dass Inge mit Hannes nach Cornwall fahren würde, ohne mit ihm darüber gesprochen zu haben, ließ ihn spüren, wie tief doch der Graben war, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte und dass, auch wenn sie miteinander gesprochen hatten, längst noch nicht alles in Ordnung war.

Professor Werner Auerbach hatte seinen Aufenthalt in Amerika sehr genossen, doch allmählich bereute er es, selbstherrlich dort geblieben zu sein. Der Preis, den er dafür zahlen musste, war hoch. Hätte er nicht sein Leben gelebt, sondern wäre, wie versprochen, daheim geblieben, hätte Inge sich nicht in eine Richtung entwickelt, die ihm überhaupt nicht gefiel, die bei den Kindern allerdings Anklang zu finden schien.

»Und wie lange wirst du bei Hannes bleiben, Inge?«, erkundigte er sich, um überhaupt etwas zu sagen.

Inge blickte Hannes an, und der antwortete für seine Mutter. »Open end, Papa«, er konnte es nicht lassen, jetzt musste Hannes hinzufügen, »du weißt doch, wie es ist, Papa, eine Reise zu planen und die dann einfach auszudehnen. Da ist es besser, wenn Mama direkt sagt, dass sie noch nicht weiß, wann sie wieder in den Sonnenwinkel kommen wird. Sie versäumt hier nichts, das Seminar ist verschoben, die Großeltern werden Pamela bestens versorgen. Für dich muss das eigentlich angenehm sein, du kannst tun und lassen, was du möchtest.«

Das hatte gesessen, der weltberühmte Herr Professor machte einen recht bedröppelten Eindruck, doch er konnte dagegen nichts sagen, weil jedes der Worte stimmte.

Was sollte er jetzt tun?

Dazu etwas sagen, das war keine gute Idee, denn dann würde er auf jeden Fall den Kürzeren ziehen. Das war etwas, was Werner erst einmal verinnerlichen musste. Also äußerte er sich dazu nicht, freute sich erst einmal über den Besuch seines Sohnes, und das tat er wirklich. Auf seine Weise liebte Werner seine Kinder, doch dann bemerkte er: »Hannes, findest du nicht, dass es an der Zeit ist, dass du dir mal eine ordentliche Frisur zulegst? Diese zusammengebundenen langen Haare … So läuft man als Mann doch nicht herum.«

Wieder die alte Masche, Hannes verdrehte die Augen. Hoffentlich fing sein Vater nicht auch noch damit an, dass eine akademische Laufbahn für ihn das Wahre sei, weil er doch ein so großartiges Abitur gemacht hatte.

»Papa, ich kenne viele Männer, die sich dazu entschlossen haben, ihre Haare so zu tragen. Doch auch wenn das nicht der Fall wäre, wenn ich der einzige Mann auf der ganzen Welt wäre, der seine Haare so trägt, dann wäre es mir ebenfalls recht.«

»Bitte, hört auf«, mahnte Inge, die ebenfalls keine Lust mehr auf diese endlosen Diskussionen hatte, zu denen es vermutlich doch noch gekommen wäre, weil Werner nicht aufhören konnte zu dozieren und bei seiner Meinung zu bleiben, wenn nicht plötzlich die Haustür geknallt hätte. Wenig später kam Pamela in die Küche gestürzt, schmiss ihren Schulrucksack in eine Ecke, dann begann sie zu quietschen: »Hannes, nein, das glaube ich jetzt nicht. Kneif mich, damit ich es wirklich glauben kann und nicht träume.«

Hannes war aufgestanden, Pamela schmiss sich in seine Arme, herzte ihn.

»Hannes, Hannes, wie schön, dass du endlich mal wieder nach Hause gekommen bist. Und wie toll du aussiehst. Natürlich stammt dieses coole Outfit von Dan Vox, ich habe es in einer Zeitschrift gesehen, und ein Junge bei uns von der Schule, der so was wie ein Trendsetter ist, hat so eine Jacke, cool.«

Es wäre noch eine ganze Weile weitergegangen, wenn Werner nicht autoritär gesagt hätte: »Nun ist es aber gut, Pamela.«

Pamela ließ ihren Bruder los, murmelte leise, aber laut genug, um verstanden zu werden, »Spielverderber.« Dann setzte sie sich, und als sie die heiße Schokolade bei ihrem Bruder bemerkte, rief sie: »Mami, kann ich auch eine haben? Darauf habe ich jetzt so richtig Lust.«

Natürlich erfüllte Inge den Wunsch ihrer Tochter, sie war froh, aufstehen zu dürfen, weil Werner sie anschaute wie ein waidwundes Tier, und das machte ihr Schuldgefühle. Hatte sie zu voreilig zugesagt? Hätte sie vorher nicht doch mit Werner sprechen müssen? Schön, er traf meistens einsame Entscheidungen, ohne sie einzubeziehen, doch sie musste nicht Gleiches mit Gleichem vergelten.

Zu spät!

Hannes erzählte Pamela gerade, dass es ihm gelungen war, ihre Mutter davon zu überzeugen, endlich mal nach Cornwall zu kommen und dass sie zugesagt hatte.

»Wie cool, Mami«, freute Pamela sich, »wenn ich Ferien hätte, würde ich dich sofort begleiten. Aber geht wegen der Schule ja leider nicht. Wenn es um freie Tage geht, machen sie einen Aufstand, doch über die vielen Ausfallstunden wird kein Wort verloren. Aber, Mami«, wandte sie sich an ihre Mutter, »das bedeutet, dass ich nun doch zu den Großeltern gehen kann, und wenn die Ferien beginnen, dann nehme ich den ersten Flieger, um zu dir zu kommen, Hannes. Da kannst du Gift drauf nehmen.«

Hannes lachte.

»Und wer soll dich dann empfangen und dir alles zeigen, Schwesterherz? Ich wäre dann ja tot. Also lass mich leben, die Ferien beginnen bald, und du bist jederzeit herzlich willkommen! Wie gut wir zwei miteinander klarkommen, das haben wir in Australien bewiesen, wir waren eine tolle WG. Wer weiß, vielleicht können wir das wieder werden? Du wirst von Brenlarrick begeistert sein. Vielleicht willst du dort gar nicht mehr weg?«

»Hannes, setz Pamela keine Flausen in den Kopf. Ihr Platz ist hier bei uns, und ehe sie außerhalb der Ferien irgendwohin fährt, muss sie ein ordentliches Abitur machen. Und eine Reise nach dem Abi, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist …«

Man wusste sofort, woran der Herr Professor dachte. Die Reise rund um die Welt, die Hannes nach seinem Abitur gemacht hatte, war ganz in seinem Sinne gewesen. Doch weil sein Sohn nach seiner Rückkehr weder das Stipendium in Amerika angenommen hatte noch sich für ein Studium entschieden hatte, war es auf einmal die Weltreise gewesen, die Hannes die Lust genommen hatte, eine ordentliche akademische Laufbahn einzuschlagen. Dass das ein Fehler gewesen war, davon würde sich Werner niemals abbringen lassen.

Das war ein Thema, auf das keiner mehr Lust hatte, deswegen bemerkte Hannes rasch: »Pam-Pam, ich habe dir die neueste Musik von den Jungs aus Brenlarrick mitgebracht, die ist brandneu und kommt erst nächsten Monat in den Handel. Du kannst damit bei deinen Freunden punkten, dass du die erste Person bist, die die CD’s hat.«

Pamela blickte ihren Bruder an wie ein Fabelwesen.

»Und das sagst du mir jetzt erst?«, schrie sie. »Hannes, wo sind die CD’s? Ich muss die Musik sofort hören.« Sie fiel ihrem verdutzten Bruder um den Hals, umarmte ihn so heftig, dass er kaum noch Luft bekam.

»Wenn du mich umbringst, kann ich dir die Musik nicht geben«, lachte Hannes, befreite sich von dem Würgegriff seiner kleinen Schwester, danach verließen sie einträchtig den Raum.

Inge und Werner blieben allein zurück. Zunächst herrschte Funkstille zwischen ihnen. Inge hatte ja versucht, wieder so etwas wie Harmonie zu erreichen, doch richtig geklappt hatte es nicht. Sie war zutiefst verletzt, und Werner wollte einfach nicht einsehen, dass er diesmal übertrieben hatte.

Es war keine schöne Situation, und da Inge ein eher harmoniesüchtiger Mensch war, litt sie besonders unter diesem angespannten Verhältnis.

Umso erstaunter war Inge, als Werner plötzlich sagte, und dabei klang seine Stimme ziemlich zerknirscht: »Ich habe wohl keine so guten Karten, nicht wahr?«

»Wie meinst du das, Werner?«, wollte Inge wissen.

»Na, ich komme mir ein wenig wie ein Außenseiter vor, wenn ich sehe, wie harmonisch ihr zusammen seid, der Hannes, die Pamela und du.«

Inge blickte ihren Mann ernst an.

»Werner, du befindest dich genau dort, wohin du dich selbst gestellt hast. Es ist an der Zeit, dass du endlich begreifst, dass das hier nicht dein Publikum ist, das dich bewundert, das dir applaudiert. Wir sind deine Familie, hier genießt niemand eine Sonderstellung, wir ziehen alle an einem Strang, sind miteinander und sind füreinander da.«

Er wollte anfangen, für alles eine Erklärung zu finden, doch das wollte Inge einfach nicht hören. Es tat ihr unendlich weh zu sehen, wie dicht sie davor waren, ihre Ehe gegen die Wand zu fahren, weil sie sich nicht mehr viel zu sagen hatten. Man konnte jemanden ewig lieben, doch es reichte nicht, es im Herzen zu spüren, man brauchte dazu auch ein miteinander gelebtes Leben, und das war ihnen längst abhanden gekommen. Vielleicht war es ja auch schon früher so gewesen, doch da war es Inge nicht bewusst geworden, weil sie ständig mit den Kindern und deren Bedürfnissen beschäftigt gewesen war. Die Leere hatte sich allmählich ausgebreitet, und Inge wollte nicht wahrhaben, dass es zwischen ihr und Werner ein funktionierendes Nebeneinander, lange schon kein Miteinander mehr gewesen war.

Zum ersten Male zeigte Werner Einsicht, und das erstaunte Inge sehr. Doch er war nicht dumm, unsensibel auch nicht wirklich, so spürte er wohl, dass er immer mehr ins Abseits abdriftete.

»Inge, es tut mir alles leid. Ich kann mich nur immer wieder für mein Verhalten entschuldigen.«

Sie blickte ihn an, und er musste es ja nicht erfahren, dass ihr Herz bei seinem Anblick ganz weit wurde, anfing zu klopfen beinahe so wie in den ersten Zeiten ihrer Verliebtheit. Er sah unglaublich gut aus mit seinen grauen Schläfen, seinem schmalen Gesicht, der randlosen Brille.

Sie durfte sich jetzt nicht von ihren Gefühlen überrollen lassen, sonst würde sich niemals etwas ändern. Diese bittere Erfahrung hatte sie mehr als nur einmal gemacht, und nun hatte er das Fass einfach zum Überlaufen gebracht.

»Werner, das reicht nicht, du musst diesen Worten endlich einmal Taten folgen lassen.«

Er versuchte, ihr den Schwarzen Peter zuzuschieben.

»Du hast dich verändert, arbeitest mit diesem Polizisten zusammen.«

»Kriminalhauptkommissar«,

korrigierte sie ihn sofort. »Henry Fangmann traut mir einiges zu, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Dir langt es doch, dass der Haushalt funktioniert, wenn du mal mit Anwesenheit glänzt, dass du dein Lieblingsessen pünktlich vorgesetzt bekommst, dass immer Kuchen und Kekse deiner Wahl im Haus sind.« Sie blickte ihn traurig an. »Werner, hast du dich jemals gefragt, was ich will? Noch nicht einmal das, was dir bekannt ist, hast du beherzigt. Es gab und gibt kaum Theaterbesuche, wann haben wir eine Kunsthalle oder ein Museum zum letzten Mal gemeinsam von innen gesehen, gemeinsam, wohlgemerkt?«

Es traf alles zu, was Inge sagte, und er fühlte sich wirklich schlecht. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm Vorwürfe machte, und er kam, ehrlich gesagt, mit dieser neuen Inge auch überhaupt nicht klar. Die Inge, die er kannte, war pflegeleichter gewesen.

Es war ungemein schwer, sich von seinen Gewohnheiten zu lösen, doch Werner war klar, dass er etwas tun musste, ernsthaft, wollte er sie nicht verlieren. Das war ein Gedanke, der ihm nicht zum ersten Mal gekommen war, und es war auch nicht zum ersten Male, dass sie vor diesem Punkt standen. Es traf zwar nicht ganz zu, so ernsthaft wie jetzt war es noch nie zuvor gewesen. So lange wie jetzt war er allerdings auch noch nicht weg gewesen.

Er gab sich einen Ruck, schaute sie bittend an, doch in seinem Blick lag auch Liebe, und das war etwas, was Inge sofort versöhnlich stimmte.

»Inge, bitte lass uns alles vergessen. Es bringt ja nichts, es immer wieder vorzuholen, was war. Meinetwegen nehme ich alles auf mich, aber bitte, versöhne dich mit mir, richtig, nicht nur verbal. Ich liebe dich, ich möchte dich nicht verlieren, du fehlst mir, ohne deine Nähe fühle ich mich einsam, verloren.«

Sie atmete, versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen schießen wollten. Es fiel ihr unendlich schwer, jetzt nicht aufzuspringen, sich in seine Arme zu flüchten, ihm zu sagen, wie sehr er ihr ebenfalls fehlte.

Sie hatte immer nachgegeben, und es hatte sich nichts verändert, denn nach kurzer Zeit war Werner in seine alten Verhaltensmuster verfallen.

»Gut, Werner, wenn du es ernst meinst, dann sage die Konferenz in Montevideo ab, fliege nicht nach Vancouver und lehne die Gastprofessur in Oxford ab.«

Er starrte sie an, schnappte förmlich nach Luft.

»Inge, das sind die Highlights des Jahres, und Oxford, das kann ich mir eigentlich nicht entgehen lassen.«

Sie wurde ganz traurig, doch eine Chance gab sie ihm noch, was danach kommen würde … sie hatte keine Ahnung.

»Also gut, Montevideo und Vancouver sind ein No-Go, und nach Oxford kommen Pamela und ich mit. Pamela kann ein Auslandshalbjahr nicht nur verkraften, weil sie dank ihres Australienaufenthaltes perfekt Englisch spricht, sondern es wird sie bereichern. Und ich werde mich in diesem wunderschönen Städtchen ganz gewiss nicht langweilen.«

»Das mit Oxford klingt gut«, gab er zu.

»Und das andere?«, hakte Inge nach.

Er erhob sich.

»Darüber muss ich nachdenken, Inge, es ist doch jeweils maximal eine Woche, mögen es zehn Tage sein, mehr nicht.«

Jetzt benötigte sie einen frischen Kaffee, und da keiner vorhanden war, kochte sie sich einen.

Werner blieb unschlüssig im Raum stehen, wollte auf sie zugehen, sie wich zurück. Für einen Augenblick sahen sie sich in die Augen, waren sich nahe, die Vertrautheit sprang über, doch der Graben war einfach zu tief, um ihn mit einem Schritt zu überqueren.

»Inge, ich liebe dich«, sagte er beinahe beschwörend, und sie antwortete: »Werner, ich liebe dich auch, werde dich immer lieben. Doch die Liebe ist kein Freibrief, für niemanden von uns. Denke nach, ich bin gern bereit, mit dir zu reden, doch dann musst du ernsthaft wollen, dass sich etwas verändert. Sonst wird es nichts, Werner. Und jetzt will ich dich nicht länger aufhalten, gewiss musst du an deine Arbeit.«

So war es meistens, Werner zögerte, dann ging er. In der Vergangenheit war er leichthin über alles hinweggegangen, weil es zwischen ihnen, trotz vieler Auseinandersetzungen, immer zur Versöhnung gekommen war, und Werner hatte für sich den Satz verinnerlicht – Hunde, die bellen, die beißen nicht.

Dieser Satz traf nicht mehr zu, er, Werner, war ohne es zu merken aufs Nebengleis geraten, das fühlte sich überhaupt nicht gut an. Besonders nicht für jemanden, der es liebte, im Mittelpunkt zu stehen.

Montevideo …Vancouver ….

Er musste sich entscheiden, und Oxford, war es wirklich nötig? Als Bestätigung benötigte er alles nicht, denn er hatte mehr erreicht, als er sich erträumt hatte. Und er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er es ohne Inge, die starke Frau an seiner Seite, niemals geschafft hätte.

Inge war die Liebe seines Lebens, es hatte niemals eine andere Frau für ihn gegeben. Er erinnerte sich an die eindringlichen Worte seines Freundes Berthold von Ahnefeld, der ihm vor Augen geführt hatte, mit welch großartiger Frau er verheiratet war, er hatte Inge einen kostbaren Edelstein genannt. Berthold hatte ihm geraten, sich mehr um Inge zu kümmern.

Werner hatte sein Arbeitszimmer erreicht, wollte es betreten, als er innehielt. Er konnte jetzt nicht zu seiner Normalität zurückkehren, mit dem Trümmerhaufen ringsum.

Für Ricky, Jörg und Hannes war er längst nicht mehr wichtig. Wenn es für die etwas zu besprechen gab, dann taten sie es mit Inge. Und Pamela? Die war lieber bei den Großeltern als bei ihm, wenn Inge nicht daheim war.

Und Inge?

So lange wie jetzt hatte eine Krise bei ihnen noch niemals zuvor gedauert, und noch niemals zuvor hatte Inge eigene Pläne gehabt, eigene Entschlüsse getroffen, ohne mit ihm darüber zu sprechen, wie sie es früher immer getan hatte.

Es war an der Zeit, die Reißleine zu ziehen!

So bewusst geworden war ihm das noch nie zuvor in seinem Leben.

Seine Frau Inge …

Werner liebte sie, er wollte nicht ohne sie sein, sie nicht verlieren. Er wurde auf einmal regelrecht panisch, machte kehrt, rannte zurück in die Küche, die er gerade erst verlassen hatte. Inge wollte sich gerade hinsetzen, um den Kaffee zu trinken, den sie gerade gekocht hatte und den sie jetzt auch brauchte. Sie war fix und fertig.

Inge wusste allerdings jetzt nicht, wie ihr geschah. Werner stürmte auf sie zu, riss sie in seine Arme, presste sie fest an sich, wie ein Ertrinkender, der gerade im letzten Augenblick noch das rettende Ufer erreicht hatte.

»Inge, ich werde alles absagen, ob Vancouver, Montevideo oder Oxford und auch das, was sonst noch auf meinem Schreibtisch liegt. Nichts davon ist wirklich wichtig, aber du, du bist es, denn du bist mein Leben, ohne dich kann ich nicht sein, weil ich dich liebe … bitte, gib mir noch eine Chance. Diesmal, das verspreche ich dir, werde ich nicht mehr rückfällig, denn ich brauche nicht nur dich, sondern auch meine Familie, und ich möchte teilhaben an allem und nicht so etwas wie ein netter Verwandter sein, der hin und wieder zu Besuch kommt und wohlwollend empfangen wird …, wenn ich … Du kannst mir den Koffer vor die Tür setzen, wenn ich in alte Verhaltensmuster verfallen sollte, du kannst alle Papiere verbrennen, mit denen ich irgendwohin gelockt werden soll, du kannst alles tun, aber bitte, sei nicht länger böse, ich brauche dich.«

Inge glaubte zu träumen. Was war das jetzt für eine Wendung? Gerade hatte es noch ganz anders ausgesehen.

Ein wenig hilflos blickte sie ihn an, wollte etwas sagen, doch dazu kam sie nicht, denn Werner, überwältigt von seinen Gefühlen, küsste sie einfach, und Inge ließ es nicht nur geschehen, sondern auch sie war überwältigt und erwiderte seine Küsse.

Ihr Groll schmolz dahin, sie liebte ihn halt, und Liebe, die konnte alles verzeihen.

Es gab nur noch sie und ihn, und da sie sich so lange aus dem Weg gegangen waren, genossen sie ihre Zweisamkeit. Und ganz gewiss wäre es noch eine ganze Weile so weitergegangen mit ihren Zärtlichkeiten, wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätten, nicht mehr allein im Raum zu sein.

Inge drehte sich zur Seite, und sie errötete vor lauter Verlegenheit, als sie bemerkte, wie Hannes und Pamela im Türrahmen standen und belustigt zusahen, wie ihre Eltern sich innig küssten.

*

Astrid wunderte sich über sich selbst, als sie die Tasche ergriff, in der sie alles untergebracht hatte, was bei ihrem Auszug übersehen worden war.

Jetzt also konnte sie das letzte Kapitel schließen von einer Geschichte, die nie eine Basis, ein festes Fundament gehabt hatte, sondern in der es nur Lügen und Betrug gab.

Sie war erstaunlich ruhig!

Warum weinte oder schrie sie nicht? Sie war um ihr Leben betrogen worden!

Vermutlich würde es noch kommen, jetzt war sie mit dem Umzug beschäftigt gewesen, sie arbeitete ganztägig im ›Outfit‹, und das war auch etwas, woran sie sich erst gewöhnen musste. Sie war nach einem langen Arbeitstag rechtschaffen müde. Es war alles ungewohnt für sie, und sie musste sich mehr konzentrieren als eine gelernte Verkäuferin. Sie musste ihrer Chefin unendlich dankbar dafür sein, dass sie sie angestellt hatte und auch noch gut bezahlte. Ihr Glück war, dass sie sich für Mode interessierte und im hochpreisigen Segment auskannte, weil all ihre Outfits edel und teuer waren. Sie durfte nicht daran denken, dass Regina, seine erste Ehefrau, unbewusst alles bezahlt hatte. Sie durfte an überhaupt nichts mehr denken. Letztlich hatte sie Glück gehabt, Reginas Anwälte würden sich auch für sie kümmern. Sie musste nur ein paar Vollmachten unterzeichnen, und bezahlen musste sie nichts. Und um das Haus im Sonnenwinkel musste sie sich ebenfalls nicht kümmern, auch nicht um die Möbel, Bilder, alles, was dieser Mann, der sich Oskar Keppler genannt hatte, mit fremdem Geld gekauft hatte.

Und nicht zu vergessen, ohne Grete Wolfram wäre alles überhaupt nicht möglich gewesen, dann müsste sie noch immer in diesem Haus hocken, in dem Erinnerungen sie überfallen würden wie böse Geister.

Nein, sie musste nach vorne blicken, durfte nicht daran denken, welchen Albtraum sie hinter sich hatte. Sie war nicht allein, und es würde immer Männer geben, die sich so verhalten würden wie dieser Mann, der der Vater ihrer Tochter war, der sie hoffentlich nie die Wahrheit erzählen musste.

Stopp!

Astrid merkte, dass sie begann jammervoll zu werden, und das war das Zeichen dafür, endlich zu gehen. Sie blickte sich nicht um, durchwanderte nicht noch einmal die Räume, sondern sie legte entschlossen die Schlüssel auf den Tisch, dann verließ sie das Haus und drehte sich nicht noch einmal um, als sie in ihr Auto stieg. Sie hatte nie in den Sonnenwinkel gewollt. Ob sie da wohl schon geahnt hatte, was auf sie zukommen würde? Wenn man so wollte, hatte es eigentlich nicht mit dem Umzug zu tun, sondern weil er eine andere Frau kennengelernt und die geheiratet hatte. Und drei Frauen im Leben eines Mannes, da waren eindeutig zwei zu viel.

Nun also wohnte sie in Hohenborn, und das war okay, in ihr altes Leben konnte sie nicht zurück, denn dann müsste sie ja ihren Freunden und Bekannten erzählen, was in ihrem Leben gelaufen war. Nun verstand sie, warum er nicht wollte, dass sie weiterhin in Verbindung blieben. Er durfte keine Gefahr laufen, aufzufliegen.

Frau Dr. Müller hatte den Stein ins Rollen gebracht, damit hatte er nicht gerechnet, und es war auch unglaublich, dass die Frau Doktor ihn in einer fremden Stadt mit seiner, wie man jetzt wusste, dritten Frau und dem dritten Kind sehen würde. Und dass die dann auch noch so geistesgegenwärtig gewesen war, ihnen zu folgen …

Es hatte so sein müssen. Astrid wollte nicht darüber nachdenken, wie es sich weiter entwickelt hätte.

Sie wollte unter die Vergangenheit einfach nur einen ganz dicken Strich machen.

Ehe sie zu dem Haus fuhr, in dem sie jetzt mit Amelie und Grete Wolfram lebte, hielt sie an einem Blumengeschäft an und kaufte einen ganz dicken Blumenstrauß. Den hatte Grete auf jeden Fall verdient, eigentlich müsste man die gute Seele in Gold aufwiegen. Das hatte sie leider nicht, aber sie konnte Grete ihre Dankbarkeit zeigen, und sollte die mal in eine ausweglose Situation kommen, dann wollte sie für diese herzensgute Frau da sein. Aber um jemandem seine Zuneigung zu zeigen, musste man nicht auf etwas Schlimmes warten. Dazu fand sich jeden Tag eine Gelegenheit.

Als Astrid mit dem gerade erstandenen Blumenstrauß wieder in ihr Auto steigen wollte, brach die Sonne durch die graue Wolkendecke und schickte ihr goldenes Licht hinab auf die Erde, machte auf einen Schlag alles freundlich und hell.

Wenn das kein gutes Zeichen war!

Doch es war nicht so, dass jetzt die sonnigen Zeiten anbrechen würden. Es wäre sehr töricht, so etwas zu glauben. Astrid wusste, dass ihr augenblicklich so etwas wie eine kurze Ruhepause vergönnt war, weil sie mit vielem Neuen beschäftigt war, überhaupt keine Zeit hatte, richtig nachzudenken, und natürlich verdrängte sie auch eine ganze Menge. Der Schmerz, die Verzagtheit, Sorgen, Wut, alles, alles würde sie wieder einholen. Es war noch lange nicht zu Ende. Sie konnte sich nur damit trösten, dass nach der Dunkelheit wieder Licht kam, schien die Sonne. Und daran wollte sie sich hochziehen und versuchen, auch wenn es immer wieder Rückschläge geben würde, positiv in die Zukunft sehen. Es hätte sie schlimmer treffen können, und sie hatte jetzt die alleinige Verantwortung für ihre kleine Amelie. Und Grete half ihr dabei.

Sie gab Gas, denn jetzt hatte sie es eilig, in das kleine Reihenhaus zu kommen, in dem sie eine wunderschöne Wohnung hatte, eingerichtet mit Gretes Hilfe.

Alles, was jetzt in ihrem Leben geschah, war nicht auf Sand gebaut. Und … es konnte nur besser werden. Es war wichtig, sich das immer wieder zu sagen, daran vor allem zu glauben.

Die Vergangenheit lag hinter hier, und es lohnte sich kein einziger Blick zurück.

*

Das Leben hatte seine eigenen Spielregeln, und es geschahen Dinge, die man nicht planen, die man auch nicht vorhersehen konnte. Sie geschahen einfach.

Die Frau Dr. Claire Müller begann erst ganz allmählich zu begreifen, was da gerade in ihrem Leben passierte. Piet van Beveren hatte es ganz schön durcheinandergebracht. Wenn Claire in der Praxis war, dann hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken, das wollte sie auch nicht. Denn an diesem Ort zählten allein die Patientinnen und Patienten. Was in ihrem Privatleben auch so durcheinander war, ihr Beruf hatte damit nichts zu tun. Den übte sie weiterhin voller Begeisterung aus, und da zählte wirklich sonst nichts. Gut, wenn sie ehrlich war, dann dachte sie zwischen zwei Patienten schon mal an den Mann, der so plötzlich in ihr Leben getreten war, den sie über alles liebte.

Wieder daheim, konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen, und die fuhren dann Achterbahn.

Zwei Dinge wünschte sie sich in solchen Augenblicken aus tiefstem Herzen, und beides hatte sie nicht.

Piet …

Doch der war bereits wieder irgendwo, und auch wenn er auf alle nur mögliche Weise mit ihr in Verbindung trat, war es nicht so, als wäre er an ihrer Seite.

Und dann der von ihr geliebte Marathonlauf …

Wie schön wäre es, wenn sie allem, was sie gerade beschäftigte, einfach davonlaufen könnte. Aus Erfahrung wusste sie, dass man einen freien Kopf bekam, wenn man lief. Doch sie traute sich einfach nicht, weil sie Angst hatte, Achim Hellenbrink unterwegs irgendwo zu begegnen, er konnte überall und nirgends auf der Strecke sein. Und das wollte Claire vermeiden. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit sie ihm erzählt hatte, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gab, was alle Hoffnungen auf sie zerstört hatte.

Claire hätte kein schlechtes Gewissen haben müssen, denn sie hatte ihn nicht betrogen, zwischen ihnen war niemals mehr als Freundschaft gewesen. Aber er war so nett, hatte ihr diese wunderschöne Wohnung vermietet, sie waren auf der Strecke ein sehr gutes Team. Sie könnte vieles anführen, doch sie wusste, dass es auch ohne Piet mit ihnen niemals etwas geworden wäre. Der Gedanke, dass es irgendwann einmal mit ihnen etwas werden könnte, hatte sich verflüchtigt. Seit sie Piet kannte, seit er mit geradezu elementarer Gewalt in ihr Leben eingebrochen war, wusste Claire, dass es solche Gefühle mit Achim niemals gegeben hätte, auch in hundert Jahren nicht.

Eigentlich hätte jetzt alles eitel Sonnenschein sein müssen, doch das war nicht so.

Der Alltag begann sie einzuholen, nachdem das große Staunen sich gelegt hatte. Und das war es, was sie verwirrte, weil sie sich begann zu fragen, wie sie ihrer beider Leben auf die Reihe bekommen konnten.

Claire hatte einen verantwortungsvollen Beruf, den sie über alles liebte und den sie auch niemals aufgeben würde, für nichts auf der Welt. Auch nicht für Piet? Er führte ein so ganz anderes Leben, war ein sogenannter Global Player. Wie sollte sie da hineinpassen? Claire hatte keine Ahnung, zumal sie wusste, dass sein großes Projekt so gut wie vollendet war. Es mussten nur noch ein paar Abschlussarbeiten durchgeführt werden, dann konnte die ›Sunlight-Klinik‹ eröffnet werden, und ebenso verhielt es sich mit dem Luxushotel und allem, was dazu gehörte.

Die Eröffnung stand kurz bevor. Es gab dann nichts mehr, was ihn hier hielt, denn das Internat in Hohenborn, das war zwar eine Herzensangelegenheit für ihn, doch dafür musste er nicht bleiben.

Warum machte sie sich auf einmal diese Gedanken? Es gab doch überhaupt keinen Grund dazu. Claire wusste es nicht. Piet war ein wundervoller Mann. Er meldete sich, so oft es ihm möglich war von allen Plätzen der Welt, auf denen er sich gerade tummelte und von denen sie nicht wusste, was er dort machte.

War es das?

Sie liebten sich, waren verrückt aufeinander, aber wie sie ihren Alltag lebten, da wussten sie voneinander kaum etwas. Und gehörte nicht gerade der zum Leben dazu?

Claire hatte Feierabend. Eigentlich hatte sie zu Julia Herzog in den ›Seeblick‹ gehen wollen, doch dann hatte sie sich dagegen entschieden, sich eine Kleinigkeit zu essen gemacht, und nun gammelte sie in einer alten Jogginghose und einem großen Pullover, der gleichfalls die besten Zeiten hinter sich hatte, auf ihrem Sofa herum. Ihre Haare hatte sie auf dem Oberkopf zu einem Dutt zusammengedreht, was ein wenig an Witwe Bolte erinnerte. Was sollte es, da war Claire recht uneitel.

Sie hatte sich gerade ein Glas Rotwein eingeschenkt, als es an ihrer Haustür klingelte, anhaltend und fordernd. Da war jemand aber ungeduldig. Achim konnte es nicht sein, der würde niemals so klingeln. Außerdem würde er um diese Zeit keine Besuche mehr machen, weil er ein viel zu höflicher Mensch war. Und ein Vertreter konnte es um diese Zeit nicht sein. Also blieb eigentlich nur noch Roberta, die die Hausbesuche übernommen hatte. Gab es da etwas, was sie wissen sollte und was keine Zeit bis zum nächsten Morgen hatte? Ungewöhnlich war das nicht, denn sie waren über alle Patienten und Patientinnen informiert, und es konnte durchaus sein, dass sich etwas ergeben hatte, was dringend besprochen werden musste. Da spielte nichts eine Rolle, Und sie blickten auch nicht auf die Uhr.

Sie ging zur Tür, drückte auf den Türöffner, erkundigte sich nicht danach, wer Einlass begehrte, sie wusste es.

Jetzt wunderte Claire sich nur, dass Roberta nach einem langen Arbeitstag nicht den Aufzug nahm, sondern die Treppe heraufgelaufen kam, und das sogar recht zügig.

»Sportlich, sportlich, meine Liebe«, lachte Claire, »willst du mich beeindrucken, indem du zu so später Stunde leichtfüßig wie eine Gazelle die Treppe hochgehüpft kommst, Roberta? Also wenn du …«

Sie brach ihren Satz ab, schaute die Person, die jetzt zu sehen war, wie einen Geist an. Es war nicht Roberta!

Sie brauchte nicht lange, um der Person in die Arme zu stürzen. Es war Piet, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hätte, er hatte bei ihrem letzten Telefonat mit keiner Silbe verraten, dass er kommen würde. Dann hätte sie sich doch etwas anderes angezogen. Gedanken schossen ihr durch den Kopf, doch das waren jetzt ganz andere als vorhin. Jetzt war nur noch Freude in ihr.

Sie küssten sich, das Treppenhauslicht war längst ausgegangen, sie merkten es nicht.

Irgendwann lösten sie sich voneinander, alles war wieder da, die Schmetterlinge im Bauch, die Leichtigkeit, eine unendliche Freude, ganz viel Liebe.

Es war genau dieser Zustand, in dem sie sich befanden, wenn sie sich sahen und der alles ausklammerte, was mit dem Alltag zu tun hatte.

Diesmal würde es anders sein, nahm Claire sich ganz fest vor, als sie, eng an ihn geschmiegt, die Wohnung betraten.

»Piet, was für eine wundervolle Überraschung«, rief sie glücklich und hätte am liebsten, was draußen auf dem Flur begonnen hatte, fortgesetzt.

Piet wollte ebenfalls ein Glas Wein trinken, doch ehe er es an die Lippen führte, schaute er sie ganz verzückt an.

»Du bist so wunderschön«, rief er, und sie dachte, dass er sie wirklich sehr lieben musste, wenn er über alles hinwegsehen konnte. Nachdem er Claire noch ein paar Komplimente gemacht hatte, wechselte er rasch das Thema, denn sonst wären sie wieder nicht dazu gekommen, ein ernsthaftes Gespräch miteinander zu führen, und das war es, was er ebenfalls wollte.

»Claire, ich hätte mir sehr gern ein wenig mehr Zeit genommen, doch ich muss morgen in aller Frühe wieder weg. Es war nur noch etwas zu klären, was meine persönliche Anwesenheit erforderte. Aber nun kann nichts mehr passieren, das große Eröffnungsfest kann in Kürze steigen, und weißt du, worauf ich mich am meisten freue?« Er blickte sie zärtlich an. »Dass du die Frau an meiner Seite sein wirst. Die Frau, um die mich alle bewundern werden.

Ich kann mein Glück noch immer nicht fassen, und es wird wohl auch noch eine ganze Weile dauern, bis ich alles verinnerlicht habe. Eine Frau an meiner Seite stand eigentlich niemals auf meiner Prioritätenliste, weil ich es nicht für möglich gehalten hätte, dass es so jemanden wie dich gibt. Du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich dich liebe.«

Er wollte aufstehen, um seinen Worten durch einen langen, leidenschaftlichen Kuss Nachdruck zu verleihen, doch dann erinnerte er sich, dass er nicht nur gekommen war, um ihre Nähe zu genießen.

Sie wollte gerade antworten, dass auch sie ihn über alles liebte, als er fortfuhr: »Claire, wir haben noch nie über uns gesprochen, wie es mit unserem Leben, unserem gemeinsamen Leben, in Zukunft gehen soll.«

Sie schluckte, weil er es ansprach, aber sie hatte auch ein wenig Angst davor, weil sie sich nicht vorstellen, konnte, wie ein gemeinsamer Weg aussehen sollte, wie das, was sie bislang ausgemacht hatte, vereinen ließ, ohne dass einer benachteiligt wurde oder das, was er liebte, aufgeben musste.

»Claire, ich habe mir viele Gedanken gemacht, und wenn ich ehrlich bin, dann würde ich dich sofort mitnehmen, weil ein Tag ohne dich ein leerer Tag ist. Aber du bist nicht jemand, der an einem Platz sitzt und mühelos ersetzt werden kann. Du bist Ärztin, du liebst deinen Beruf. Ich kann mir jedoch, bei aller Liebe, nicht vorstellen, hier im Sonnenwinkel sesshaft zu werden. Das Grundstück zu bebauen, das hat mich fasziniert, aber die Faszination ist für mich nicht größer als bei anderen Projekten … Claire, ich kann mir vorstellen, sesshaft zu werden, Kinder mit dir zu haben, aber nicht hier, und ich könnte dir auch nicht sagen, wo. Das ist etwas, was wir gemeinsam entscheiden müssen, und deswegen brauchen wir auch nichts zu überstürzen. Die Dinge geschehen, wenn die Zeit dafür reif ist, und dann werden wir auch wissen, ob wir auf einem Bauernhof leben wollen, in einem Chalet, im Penthouse, was auch immer.« Wieder schenkte er ihr einen dieser Blicke, die ihren Herzschlag beschleunigten. »Mit dir kann ich mir vorstellen, überall zu leben, Hauptsache, wir sind zusammen. In deinem Beruf hast die viele Möglichkeiten, es muss nicht die Arbeit in einer Praxis sein, wenn du magst, kannst du beispielsweise die ganzen sozialen Projekte betreuen, die ich habe, du kannst selbst etwas ins Leben rufen. Mit dir an meiner Seite kann ich mir auch vorstellen, mich ganz ins Privatleben zurückzuziehen. Alles ist möglich, nur wir müssen es beide wollen. Niemand darf eine einsame Entscheidung treffen, und niemand darf sich opfern, seine eigenen Interessen hintenan stellen, um dem Partner einen Gefallen zu tun … ich freue mich auf unsere gemeinsame Reise, auch wenn wir beide noch nicht wissen, wohin die gehen wird.«

Jetzt stand er doch auf, kam zu ihr, nahm sie liebevoll in seine Arme, blickte ihr ganz tief in die Augen.

»Claire, du hast aus mir einen anderen Menschen gemacht, an deiner Seite bin ich ruhig und lasse all die Gefühle zu, die ich vorher immer erfolgreich verdrängte … danke, dass du dich auf das Wagnis einlassen willst, meine Frau zu werden.«

Sie lehnte sich an ihn, so eng, dass sie seinen Atem spürte.

»Piet, danke, dass du das Thema angesprochen hast, gerade erst vorhin habe ich mich damit beschäftigt, und nun fühlt sich alles so einfach an.« Sie blickte ihn an. »Und du hast wirklich nichts dagegen, dass ich erst einmal in der Praxis weiter meine Arbeit verrichte? Ich kann Roberta nicht einfach im Stich lassen, und eigentlich gefällt es mir auch, dass wir nichts überstürzen müssen. Ich habe auch keine Angst vor der Zukunft, mir kann ja überhaupt nichts passieren bei den Möglichkeiten, die du mir eröffnest. Und auch ich kann nur bestätigen, dass ich mit dir an alle Orte der Welt gehen würde, auch in die kleinste Hütte, Hauptsache, du bist da, weil ich dich nämlich ebenfalls über alles liebe. Und auch wenn ich mir immer gewünscht habe, einen Partner an meiner Seite zu haben, das, was mit uns geschieht, davon kann man eigentlich nur träumen. Dass es das tatsächlich gibt …«

Sie wollte noch eine ganze Menge erzählen, doch dazu kam es nicht, weil er sie jetzt küsste, diesmal ganz sanft und zärtlich, beinahe behutsam.

Es war so unglaublich zu wissen, endlich angekommen zu sein im Leben, mit dem Mann an seiner Seite, den man über alles liebte.

Morgen, wenn der Tag sich zeigte, würden sie sich wieder trennen müssen. Doch daran wollte Claire jetzt einfach nicht denken, Piet war gekommen, und sie würden Stunden voller Liebe und Zärtlichkeit miteinander verbringen.

»Schön, dass du da bist«, sie strahlte ihn an, er nahm ihre rechte Hand behutsam in seine beiden Hände, umschloss sie sanft, dann lächelte er sie an: »Es wäre sehr dumm gewesen, nicht zu kommen, und jetzt bin ich sehr froh, dass unfähige Handwerker meine Anwesenheit hier erforderlich machten, sonst hätten wir uns nicht sehen können. Es stimmt, aus etwas Negativem entwickelt sich etwas Positives … Ach, Claire, auch wenn ich dich damit langweile, ich kann einfach nicht anders. Ich muss dir immerfort zwei Dinge sagen, zum einen, ass für eine wunderschöne, kluge Frau du doch bist, und dann … dass ich dich liebe.«

Sie fühlte sich in seiner Nähe wohl, geborgen, und das hatte sie wirklich noch niemals an der Seite eines Mannes erlebt. Da war meistens Leidenschaft gewesen, die so schnell, wie sie entflammt war, wieder erloschen war.

Sie strahlte ihn an.

»Piet, ich freue mich sehr darauf, bald Claire van Beveren zu werden.«

Sie freute sich wirklich, und irgendwann würde sie ihm erzählen, dass Müller sie immer gestört hatte, weil dieser Name nun wirklich nicht zu Claire passte.

Sie hatten ihren köstlichen Rotwein kaum berührt, weil sie sich immerfort küssen mussten.

Piet war gekommen!

Obwohl sie sich kaum kannten, fühlte sich alles vertraut an, und das lag nicht nur daran, dass die Liebe sie wie ein Blitzschlag getroffen hatte, sondern dass sie eine Wellenlänge hatten, gemeinsam miteinander lachen konnten, und dass es viele Themen gab, bei denen sie übereinstimmten.

Ach, was sollte es, die Liebe brauchte keine Erklärungen. Sie war einfach nur schön.

*

Für Roberta war es eine schöne Gewohnheit geworden, bei gutem Wetter und wenn ihre Zeit es erlaubte, an den See zu gehen. Man konnte herrlich abschalten, und dem Auge bot sich ein sich ständig änderndes Bild. Der See war wunderschön, und es war gut, dass man bei der Gemeinde und dem Naturschutzbund darauf achtete, dass er auch ein Naturschutzgebiet blieb und nicht, wie es oftmals anderswo war, zugebaut wurde. Es hätten sich für ein Seegrundstück viele Interessenten gefunden, die auch bereit wären, viel Geld für ein solches Sahnestückchen zu zahlen.

Das kleine Haus am See hätte bleiben können, es wäre immer etwas Besonderes gewesen, nicht nur wegen der einzigartigen Lage.

Dennoch hatte Lars beschlossen, alles zu verkaufen mit dem Wissen, dass man alles abreißen würde.

Er wollte alles aufgeben, um zu ihr zu ziehen, und mit und neben ihr ein neues Leben anzufangen, ganz so, wie sie es sich gewünscht hatte, mit Ehering am Finger und mit Kindern. Sie versuchte, darüber hinwegzukommen, und es gelang ihr auch immer besser.

Als sie die Stelle passierte, an der das Haus gestanden und in dem sie so viele glückliche Stunden verbracht hatte, warf sie einen Blick an den Ort, den die Natur wieder in Besitz genommen hatte, und dann stockte ihr der Atem, als jemand hinter den Büschen hervortrat.

Der neue Sonnenwinkel Box 10 – Familienroman

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