Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Staffel 5 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 9
ОглавлениеIm Sonnenwinkel kannte man die Ehefrau des berühmten Professors Auerbach, in Hohenborn war das eher nicht der Fall.
Umso erstaunter war Inge, dass jemand mitten auf dem Marktplatz ihren Namen rief.
Doch sie kannte die Stimme, und deswegen drehte sie sich um, lächelte freundlich den Mann an, der eilig auf sie zugelaufen kam.
»Frau Auerbach, das ist ja eine schöne Überraschung«, sagte der Mann, und ihm war anzusehen, wie sehr er sich freute, Inge zu sehen. Es war Kriminalhauptkommissar Henry Fangmann.
Sie freute sich ebenfalls.
»Sind Sie auf den Spuren eines neuen Falles?«, erkundigte Inge sich, nachdem sie sich gegrüßt hatten.
Er lachte.
»Nein, zum Glück nicht. Ich habe frei und kann dem Kuchen in diesem Wiener Kaffeehaus einfach nicht widerstehen«, sagte er.
Das war ein Zufall!
»Ich auch nicht, und was glauben Sie, wohin ich gerade gehen will?«
Das gefiel Henry.
»Dann schlage ich vor, dass wir dieser Vorliebe gemeinsam frönen und uns auch ein wenig unterhalten.«
Sie mochten sich, und das hatte nichts mit der Anziehungskraft von Mann und Frau zu tun. Sie mochten sich menschlich, und der Kommissar bewunderte Inge für ihre Couragiertheit, die sie gezeigt hatte, als eine Einbrecherbande den Sonnenwinkel unsicher machen wollte, mehr noch, als man ihr sogar nach dem Leben trachtete.
Und auch jetzt im Fall des toten Mädchens vom Sternsee hatte sie richtig gehandelt.
»Herr Fangmann, Sie freuen sich gewiss, auch einmal tagsüber frei zu haben.«
Er lachte. »Ich habe mir einfach mal zwei, drei Stunden frei genommen. Wenn ich all die Überstunden zusammenrechne, die ich noch abbummeln kann, dann sind da Wochen drin. Ich könnte verreisen, ohne einen einzigen Urlaubstag in Anspruch nehmen zu müssen.
Aber so rechne ich nicht. In meinem Beruf hat man keine geregelten Arbeitszeiten, und meistens geschieht etwas außerhalb dieser Zeiten. Doch damit möchte ich Sie nicht langweilen, mein Beruf macht mir Spaß, richtiger, ich bin mit Leidenschaft dabei, und da zählt man keine Stunden. Doch jetzt genug davon.
Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, Frau Auerbach. Ich finde, in Gesellschaft schmecken Kaffee und Kuchen noch einmal so gut.«
Das konnte Inge nur bestätigen.
Das Café war wieder sehr gut besetzt, doch sie hatten Glück und fanden direkt einen freien Tisch. Die aufmerksame Bedienung war direkt zur Stelle, und da sie beide wussten, was sie wollten, standen auch nur kurze Zeit später Kaffee und natürlich die Sachertorte vor ihnen, die natürlich auch der Favorit des Kommissars war, was ihn nur noch sympathischer machte.
Sie unterhielten sich ganz allgemein, es gab viele Themen, die sie beide interessierten. Inge überlegte, ob sie es wagen sollte oder ob sie ihn dadurch in Verlegenheit brachte. Ihre Neugier siegte schließlich.
»Und gibt es schon neue Erkenntnisse zum Tod des Mädchens vom See?«
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, überlegte, doch dann entschloss er sich, offen mit Inge zu reden, weil er wusste, dass diese sympathische Frau nicht zu den Menschen gehörte, die mit brisanten Neuigkeiten sofort hausieren gingen. Das hatte die Vergangenheit gezeigt.
»Es war ein tragischer Unfall«, sagte er, »ein Verbrecher ist definitiv auszuschließen, das sagen die Untersuchungen der Gerichtsmedizin. Außerdem haben wir mittlerweile eine Zeugenaussage, die das bestätigte.«
Inge blickte den Kommissar irritiert an. Eine Zeugenaussage? Sie sprach es aus.
Wieder zögerte der Kommissar kurz.
»Was ich Ihnen jetzt erzähle, bitte ich Sie, ganz vertraulich zu behandeln, Frau Auerbach«, sagte er mit ernster Stimme. »Das muss unter uns bleiben.«
Inge versicherte ihm, dass sie selbstverständlich mit niemandem darüber sprechen werde, dass sie sich an seinen Wunsch halten werde. »Sie können sich auf mich verlassen, Herr Fangmann.«
Inge war auf einmal aufgeregt, weil sie spürte, dass es nicht einfach nur ein tragischer Unfall war, sondern dass mehr dahintersteckte.
»Das Mädchen war mit jemandem verabredet. Wie sich herausgestellt hat, hatte sie jemanden zum See bestellt, und es war …« Er machte eine kurze Pause. »Es war ein Lehrer ihrer Schule.«
Nun verstand Inge überhaupt nichts mehr. Sie bekam ganz feuchte Hände. Rautgundis hatte sich mit einem Lehrer am See verabredet? Aber wozu? Hatte Pamela nicht gesagt, dass sie den See nicht mochte? Wenn es so war, verabredete man sich nicht an einem Ort, der einem zuwider war.
Inge hätte jetzt gern etwas dazu gesagt, doch es kam kein einziges Wart über ihre Lippen. Sie überließ es dem Kommissar, jetzt alles zu erklären. Sollte er Fragen stellen, dann würde sie antworten, obwohl sie kaum etwas über das Mädchen wusste, nur, dass Pamela diese Rautgundis nicht leiden konnte. Das allerdings war in der Sache mehr als bedeutungslos.
Inge vergaß ihren Kaffee und Kuchen, gebannt hing sie an seinen Lippen. Und dann erfuhr sie eine ganz ungeheuerliche Geschichte.
Rautgundis hatte sich in einen jungen Lehrer ihrer Schule verliebt. Und da sie es gewohnt war, alles zu bekommen, was sie haben wollte, verfolgte sie diesen Mann. Dabei legte sie eine unglaubliche Raffinesse an den Tag. Sie stürzte scheinbar, als er in der Nähe war. Natürlich fühlte er sich verpflichtet, hinzuzueilen, sie aufzuheben. Was er allerdings nicht wusste, war, dass nicht nur dieser Sturz geplant war, sondern dass sie gegen Bezahlung auch jemanden abgestellt hatte, der mit ihrem Handy ein Foto machte, als sie den überraschten Mann küsste.
Das war wirklich nicht zu fassen.
»Und dann?«, erkundigte Inge sich leise.
»Jetzt hatte sie etwas in der Hand, um diesen Mann zu kompromittieren, zumal dieses Kussfoto sehr echt aussah. Sie wollte ihn um jeden Preis für sich, obwohl sie wusste, dass er verheiratet war, Vater eines kleinen Sohnes war. Sie bestellte ihn zum See, stellte ihn vor die Alternative, seine Familie zu verlassen, sonst würde sie das Foto ins Netz stellen.«
Das klang gruselig. Was für eine Durchtriebenheit gehörte dazu, so etwas von jemandem zu verlangen!
Inge war nicht in der Lage, etwas dazu zu sagen, musste sie auch nicht, denn er fuhr nach einer Weile fort. »Er versuchte alles, sie zur Vernunft zu bringen. Er wollte nichts von ihr, auch wenn er nicht verheiratet wäre, hätte er sich da auf nichts eingelassen. Sie hatte geglaubt, ihm Angst machen zu können, und weil das nicht klappte, rastete sie aus. Sie stürzte sich auf ihn, dabei rutschte sie aus, fiel mit dem Hinterkopf auf einen Stein. Sie war sofort tot.«
»Und dieser Mann …, er …« Inge war so erschüttert, dass sie nicht in der Lage war, einen vernünftigen Satz auszusprechen.
»Er hat sich davon überzeugt, dass sie tot war, und dann hat er leider einen fatalen Fehler gemacht. In seiner Panik hat er die Unfallstelle verlassen und auch nicht die Polizei informiert. Das wird man ihm jetzt anlasten, aus einem Tötungsdelikt ist er raus.«
»Er kann einem leidtun«, bemerkte Inge leise. Ihr Schwiegersohn Fabian war ebenfalls im Schuldienst. Er war ein fantastisch aussehender Mann, ihm konnte so etwas ebenfalls passieren. Durchgeknallte Schülerinnen und Schüler gab es immer wieder.
Das bestätigte der Kommissar.
»Er hat jetzt nicht nur ein Verfahren am Hals, sondern er ist auch seinen Job los, denn für das Gymnasium ist er jetzt untragbar. Tragisch ist, dass er mit seiner Familie gerade erst vor einem Jahr nach Hohenborn gezogen ist, und sie haben vor einem Monat eine Eigentumswohnung gekauft. Dieses Mädchen hat sein Leben zerstört.«
Inge war erschüttert.
So schnell konnte es gehen, von einem Tag auf den anderen geriet man in einen Strudel, der einen ins Verderben zog.
»Aber das Fahrrad«, fiel ihr ein, »das lag doch an einer ganz anderen Stelle.«
Er nickte.
»Das hat bei jemandem Begehrlichkeiten erweckt; weil es abgeschlossen war, schleppte der Dieb es beiseite, um das Schloss knacken zu können. Und weil das nicht gelang, schmiss er das Rad wütend in ein Gebüsch, wo es ja von Ihrer Tochter gefunden wurde. Tja, dieser Fall war sehr schnell gelöst, ehe er überhaupt zu einem Fall geworden war. Das Mädchen hat sich in ihrer Besessenheit ums eigene Leben gebracht, und den jungen Lehrer hat es ins Elend gestürzt.«
Was für eine Geschichte!
»Das Leben geht manchmal wirklich sehr seltsame Wege«, bemerkte Inge leise. »Und es macht da überhaupt keinen Unterschied, ob etwas gerecht oder ungerecht ist. Eigentlich sind die Eltern des Mädchens die Schuldigen, denn sie haben es zu einer egoistischen, maßlosen Person gemacht. Was für Vorwürfe müssen die sich jetzt machen.«
Henry Fangmann hätte es Inge jetzt gern erspart, er tat es nicht, sie hatte so viel erfahren, da musste er ihr den Rest auch nicht ersparen.
»Sie sehen das so, meine Liebe, die Eltern nicht. Die haben gegen den Lehrer ein Verfahren wegen Mordes an ihrer Tochter angestrengt.«
Als er Inges entsetztes Gesicht bemerkte, beruhigte er sie sofort.
»Dazu wird es nicht kommen, das Gericht wird es abweisen. Wie heißt es doch so schön, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Statt sich bei dem Lehrer und seiner Familie zu entschuldigen, deren Leben dieses durchtriebene Ding zerstört hat, fallen sie über ihn her, ziehen die unschuldigen Angehörigen mit hinein. Leider gibt es so etwas immer wieder.«
Eigentlich hatte sie es für sich behalten wollen, doch jetzt erzählte sie ihm doch, dass ihre Tochter gegen diese Rautgundis immer Vorbehalte gehabt hatte.
Er machte ihr ein Kompliment.
»Ist das ein Wunder? Das bestätigt doch meine Theorie von eben, die vom Apfel und dem Stamm.«
Inge wurde rot.
»Herr Fangmann, ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen, und ich kann nur darauf hoffen, dass wir uns ein andermal treffen, ohne dass es einen Fall gibt.«
Er blickte sie an.
»Frau Auerbach, das würde mich sehr freuen. Ich halte Sie für eine sehr kluge, patente Frau. Und ich unterhalte mich sehr gern mit Ihnen.«
Das konnte Inge nur bestätigen, und auch wenn es ein wenig schwierig war, wechselten sie das Thema. Insbesondere Inge war es, die schon gern noch ein paar Fragen gestellt hätte, aber sie wollte den Kommissar nicht überfordern. Und eines wusste sie auch schon, Pamela würde sie nur sagen, dass es ein Unfall gewesen war. Ob Gerüchte in der Schule kursieren würden, ob ein übereifriger Journalist es aufgreifen würde, das konnte ihr egal sein. Sie wollte es aus ihrem Leben streichen. Es war traurig, dass ein junger Mensch auf eine so tragische Weise gestorben war, doch wenn man daran dachte, wen und was Rautgundis mit in diesen Strudel gezogen hatte, hielt sich das Mitleid in Grenzen. Mitleid musste man mit dem Lehrer und seiner Familie haben, die waren fortan unschuldig mit einem Makel behaftet.
Und so etwas verfolgte einen immer.
»Und was werden diese armen Leute jetzt tun?«, wollte Inge aus ihren Gedanken heraus wissen.
»Ihre Wohnung mit Verlust verkaufen, wegziehen, und sie können nur darauf hoffen, dass die Vergangenheit sie nicht einholen wird. Und ob er wieder als Lehrer im öffentlichen Dienst arbeiten kann, das ist ja überhaupt noch nicht gewiss. Er hätte sich nicht vom Unfallort entfernen dürfen: Ich bin überzeugt davon, dass das Gericht ihm nur eine geringe Strafe aufbrummen wird, vermutlich eine Geldstrafe, was auch immer, so etwas wird im Polizeilichen Führungszeugnis vermerkt, und das muss man vorlegen, wenn man im öffentlichen Dienst arbeiten möchte. Er wird sein Leben neu ordnen müssen.«
Inge war voller Mitleid.
»Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«, ereiferte sie sich.
Er blickte sie nachsichtig an, weil er mit so etwas täglich zu tun hatte.
»Die bleibt manchmal leider auf der Strecke.«
Die Bedienung kam an ihren Tisch, erkundigte sich diskret nach ihren Wünschen.
Inge und der Kommissar blickten sich an. Die Lust an einem Plausch war ihnen beiden vergangen, und so entschlossen sie sich zu gehen. Und Kommissar Fangman bestand darauf, Inge einzuladen.
»Es muss sein«, sagte er bestimmt, als sie protestieren wollte, »ich habe oft genug in Ihrem Haus Kaffee getrunken und Kuchen gegessen, der nicht minder köstlich war.«
Sie wurde rot vor Verlegenheit, das war ein Kompliment gewesen, der Kommissar war kein Mann, der etwas sagte, was er nicht so meinte. Das hatte sie längst festgestellt.
Draußen verabschiedeten sie sich voneinander, er lief zum Präsidium zurück, wo reichlich Arbeit auf ihn wartete, und Inge überlegte, was sie jetzt tun sollte.
In den Stoffladen gehen würde sie auf keinen Fall, danach war ihr jetzt wirklich nicht zumute. Und in die Buchhandlung? Okay, dorthin würde sie gehen, aber nur, um die Bücher für ihre Mutter abzuholen. Sie hatte jetzt keine Nerven, sich für sich umzusehen.
Diese Rautgundis!
Pamela hatte das richtige Gespür für dieses Mädchen gehabt. Wie durchtrieben musste man sein, sich an einen Mann heranzumachen, zu versuchen, ihn zu verführen, und als das nicht geklappt hatte, ihn zu erpressen.
Es war schlimm, dass sie das mit dem Leben bezahlen musste, doch schlimmer war es für den armen Mann, dessen Frau und das Kind, das hoffentlich niemals erfahren würde, in welchen Sumpf man seinen Vater ungewollt hineingezogen hatte.
Sie versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, doch ganz so einfach war das nicht. Wenn sie ehrlich war, dann wäre sie jetzt am liebsten nach Hause gefahren, aber es ging nicht, ihre Mutter würde ihr die Hölle heiß machen. Und den Grund für das Durcheinander, in dem sie sich befand, konnte sie ja nicht nennen. Kriminalhauptkommissar Fangmann …
Das war wirklich ein sehr netter Mensch, und es ehrte sie, dass er sie ins Vertrauen gezogen hatte. Wäre sie jünger und frei, dann könnte er ihr schon als Mann gefallen. Doch die Frage stellte sich ihr nicht, sie hatte einen Mann, den sie über alles liebte. Und dass Henry Fangmann ihr dennoch gefiel, das war kein Verbrechen. Wo stand denn geschrieben, dass Männer und Frauen nicht miteinander befreundet sein konnten? Das stand nirgendwo. Und dass sie ihn nett fand, dass sie mit ihm im Café war, darüber konnte sie mit allen sprechen, und als Erstes würde sie es mit ihrer Mutter tun, die sie eh fragen würde, wo sie so lange geblieben war. Ihrer Mutter entging nichts.
Also gut, rasch noch deren Bücher abholen, und dann nach Hause, und wenn sie dort angekommen war, wäre es am besten, an dieses tote Mädchen nicht mehr zu denken. Wenn nur alles so einfach wäre …
*
Über Nacht hatte sich das Wetter verändert. Vorbei war es mit Sonnenschein und milden Temperaturen. Es war um einige Grade kälter geworden, die Sonne versteckte sich hinter zerrissenen grauen Wolken, und der Regen hörte überhaupt nicht auf.
Es war kein Wetter, um das Haus zu verlassen.
Roberta war froh, dass Mittwoch war. Nachmittags gab es also keine Sprechstunde, und sie hatte auch keine Bereitschaft, und Hausbesuche lagen zum Glück ebenfalls nicht an.
Sie wusste jetzt schon, was sie tun würde, nämlich es sich auf dem Sofa gemütlich machen und lesen. Sie wollte es zumindest versuchen, denn leider glitten ihre Gedanken immer wieder ab, und dann gab es nur eines – sie kreisten um Lars, um was und wen den sonst.
Die arme Alma war zu bedauern, denn sie war mit ihrem Gospelchor unterwegs, und gemeinsam mit anderen Chören sollte es ein großes Open Air Konzert geben. Man konnte nur hoffen, dass es dieses schreckliche Wetter nicht überall gab.
Die Sprechstunde war vorbei, für einen Moment überlegte Roberta, ob sie nicht doch ein paar Krankenakten mit nach nebenan nehmen sollte. Dann entschied sie sich dagegen. Aber mit Ursel Hellenbrink wollte sie noch sprechen, bislang hatte sie überhaupt keine Gelegenheit gehabt, ihr die Neuigkeiten zu berichten, die sich hoffentlich ergeben würden. Aber daran zweifelte Roberta eigentlich nicht.
Ursel saß noch an ihrem Schreibtisch und sortierte etwas.
»Jetzt ist aber Feierabend, Ursel«, rief sie, »was immer Sie da jetzt auch machen, das hat Zeit bis morgen. Außerdem muss ich Ihnen etwas erzählen.«
Sofort hörte Ursel mit ihrer Arbeit auf, blickte ihre Chefin erwartungsvoll an, sie bewunderte Roberta über alles. Ursel hatte auch gern für Robertas Vorgänger, den Dr. Riedel gearbeitet, doch diese Chefin zu bekommen, das war eindeutig eine Steigerung gewesen, die durch nichts mehr zu überbieten war.
»Sie wissen ja, dass ich meine Freundin besucht habe«, begann sie, dann erzählte sie von dem zufälligen Zusammentreffen mit ihrer früheren Mitarbeiterin, die aus Rom zurückgekommen und auf der Suche nach einem neuen Job war.
»Wir haben fantastisch miteinander gearbeitet, ich kann mich auf sie absolut verlassen, und sie hat ganz spontan gesagt, hier bei uns arbeiten zu wollen.«
Ursel sagte zunächst einmal nichts, und dann kam ein Satz, den sie von ihrer Freundin erwartet hätte, aber doch nicht von Ursel Hellenbrink.
»Frau Doktor, das kann kein Zufall sein.«
Roberta ignorierte es lieber.
»Ich kann nur hoffen, dass Claire sich wirklich alles ansehen wird, sie will sich melden. Ach, sie heißt übrigens Claire Müller, und machen Sie bitte niemals eine Bemerkung wegen des Namens. Claire gefällt ihr, sie hat auch nichts gegen Müller einzuwenden, doch Claire Müller ist für sie ein No-Go, dann hätten ihre Eltern sie besser Klara nennen sollen.«
Ursel kicherte.
»Hätte auch besser gepasst, aber was ist mit Dr. Anders?«
Roberta zuckte die Achseln.
»Was soll mit dem sein, er hat sich noch immer nicht entschieden, und nachdem ich klargestellt habe, dass er kein schlechtes Gewissen haben muss, weil Sie ihm das Haus besorgt haben, ist die Sache erledigt. Claire ist mir auf jeden Fall lieber, und ich kann nur hoffen, dass sie wirklich kommt. Doch da haben wir natürlich ebenfalls ein Wohnungsproblem, und wie Sie wissen, ist das in unserem Sonnenwinkel, mittlerweile ebenfalls in der Umgebung, ein Problem.«
Das stimmte in der Tat, und Roberta wusste nicht, warum ihre treue Mitarbeiterin jetzt lächelte. Es war wahrlich kein Grund dafür.
»Es ist kein Problem«, lachte Ursel. »Mein Bruder hat am Rande der Siedlung ein älteres Haus gekauft, es von Grund auf saniert und zwei Wohnungen daraus gemacht. Unten wird seine Schwiegermutter einziehen, die erste Etage ist für meine Begriffe viel schöner, sie hat nicht nur einen separaten Eingang, sondern eine wunderschöne Terrasse. Wenn ich nicht mein eigenes Haus hätte, würde ich da sofort einziehen. Es ist hell, großzügig geschnitten, und man hat einen wunderbaren Blick ins Grüne – und sogar auf die Felsenburg.«
Roberta konnte es kaum glauben. »Das ist ja ein Traum, hört sich fantastisch an, und diese Wohnung ist zu vermieten, nicht längst weg?«
Ursel lachte.
»Sie kennen meinen Bruder nicht. Natürlich rennt man ihm die Tür ein, doch ehe der sich entscheidet, da fließt viel Wasser ins Meer. Gestern war die Wohnung noch zu haben, außerdem ist das Badezimmer noch nicht fertig. Das sieht übrigens grandios aus, alles in edlen schwarzen und grauen Farben, aus Granit und Marmor. Das hat er sich was kosten lassen, weil er ursprünglich die Idee hatte, irgendwann später, wenn er kein anderes Haus mehr braucht, selbst da einzuziehen. Deswegen auch der Aufzug und der separate Eingang.«
»Ursel, hören Sie auf, jetzt können wir wirklich nur noch hoffen, dass Claire sich bald meldet. Ich habe mir dummerweise von ihr keine Telefonnummer geben lassen.«
Ursel blickte ihre Chefin irritiert an.
»Und so was passiert Ihnen, Frau Doktor?«, rief sie lachend.
Roberta fiel in das Lachen mit ein.
»Ursel, Sie wissen doch, nobody is perfect. Ich auch nicht.«
Ursel wollte gerade jetzt was sagen, als es an der Praxistür klingelte. Die beiden Frauen blickten sich an, sehr vielsagend.
Die Sprechstunde war vorüber, wenn es sich allerdings um einen Notfall handeln sollte …
Sie waren beide pflichtbewusst genug, um jetzt einen Patienten oder eine Patientin nicht draußen im Regen stehen zu lassen, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
»Ich mach schon auf«, sagte Ursel und ging zur Tür.
Eine Stimme, die Roberta sofort erkannte, sagte: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe nebenan geklingelt, doch da macht niemand auf. Ist Frau Dr. Steinfeld vielleicht noch hier, oder wissen Sie gar, wo sie ist?«
Ehe Ursel eine Antwort geben konnte, kam Roberta angerannt.
»Das glaube ich jetzt nicht«, rief sie überrascht, und ehe sie die Besucherin begrüßte, wandte sie sich an die staunende Ursel.
»Das ist Frau Dr. Claire Müller«, rief sie freudig überrascht, und zu der gewandt, sagte sie: »Wir haben gerade über dich geredet. Doch bitte, komm erst mal rein. Warum hast du nicht angerufen?«
»Weil ich mir erst einmal alles ansehen wollte, mit diesem scheußlichen Wetter konnte niemand rechnen, war auch nicht angesagt. Aber es gefällt mir sehr sogar. Und wenn man bedenkt, dass bei schönem Wetter die Welt ganz anders aussieht, dann ist das hier ein Paradies.«
»Ist es auch«, riefen Roberta und Ursel wie aus einem Mund, und dann gab es natürlich allerhand zu erzählen, und es war ganz erstaunlich, die drei Frauen waren sofort das perfekte Team, besser konnte es überhaupt nicht sein. Ursel hatte Kaffee gekocht, dafür hatten sie so etwas wie eine kleine Teeküche, dann saßen sie, nachdem Claire sich alles angesehen hatten, in Robertas Zimmer.
»Es ist viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe«, rief Claire ganz begeistert. »Und ich darf wirklich hier bei dir anfangen?«
»Am liebsten sofort«, sagte Roberta. »Du kannst dir auch aussuchen, welches der Räume dein Behandlungszimmer sein soll. Und ich denke, dass Ursel, die so was wie die Feuerwehr ist, auch noch eine Assistentin für dich finden wird.«
Ursel wurde rot, zögerte, dann sagte sie leise: »Habe ich. Im Krankenhaus in Hohenborn arbeitet eine Freundin von mir, die will wegen des Schichtdienstes dort aufhören, weil sie überhaupt kein Privatleben mehr hat und ihr Mann deswegen herummotzt. Die würde direkt bei uns anfangen.«
Roberta gefiel es, dass Ursel ›uns‹ sagte, denn das zeigte ihr wieder einmal, wie sehr Ursel sich mit der Praxis und ihrer Arbeit hier identifizierte.
Wenn es bei etwas Widerstände gab, dann sollte man vorsichtig sein, das Projekt beiseiteschieben, wenn alles glattging, dann war das ein Zeichen dafür, dass alles seine Richtigkeit hatte.
Glatter ging es ja überhaupt nicht, und Roberta war mittlerweile der Überzeugung, dass Claire ihr der Himmel geschickt hatte, und das sagte sie auch.
Alle waren sie Feuer und Flamme, denn eine Frau steckte die andere mit ihrer Begeisterung an.
Und als Roberta dann auch noch die Wohnung erwähnte, gab es für Claire kein Halten mehr.
»Und darf ich die Wohnung sehen?«, erkundigte sie sich ganz aufgeregt.
Die umsichtige Ursel wär nicht die, als die man sie kannte, die rief direkt ihren Bruder an, und es gelang ihr sogar, den zu überreden, direkt zur Wohnung zu kommen.
»Alles okay, wenn Sie wollen, dann können Sie sich die Wohnung ansehen.«
Und ob Claire das wollte.
»Und danach kommst du zu mir zurück, allerdings nach nebenan, wo du zuerst geklingelt hast. Und, Claire, hoffentlich kannst du über Nacht bleiben?«
Darauf war Claire nicht eingerichtet, doch da weder Mann noch Kinder auf sie warteten, war es kein Problem. Roberta hatte Gästezimmer, und einen Schlafanzug hatte sie für Claire ebenfalls, sie hatten ungefähr die gleiche Größe.
Wie aufregend doch alles war!
Das Leben war schön!
Es war so schön, dass ihnen der Regen nichts mehr ausmachte, dass das triste Grau draußen ihre Stimmung nicht trübte.
Und für kurze Zeit musste Roberta auch nicht an Lars denken und an den Schmerz, der sie innerlich zerriss.
Es war auch so wundervoll, dass Ursel und Claire sich direkt so gut verstanden. Doch das war auch in ihrer früheren Praxis so gewesen, Claire hatte ein so sonniges Gemüt, eine so fröhliche, offene Art, dass sie sich nicht nur mit ihren Kolleginnen und Kollegen ganz hervorragend verstanden hatte, sondern mit dem gesamten Personal, ob es nun die Sprechstundenhilfen waren, die Laborantinnen, die MTA’s.
Was für ein Glück, dass sie sich getroffen hatten!
Als Ursel und Claire weg waren, ging Roberta nach nebenan in ihre Wohnung, und wenn sie an das scheußliche Wetter draußen dachte, konnte sie sich wieder einmal glücklich schätzen, nicht nach draußen zu müssen. Welch ein Privileg es doch war, nur nach nebenan zu müssen.
Claire würde kommen, und wie unkompliziert sie alles anging, der Sonnenwinkel gefiel ihr. Roberta konnte wirklich nicht begreifen, was Nicki gegen ein Leben hier hatte.
Es stand noch viel an, die Praxisräume mussten erweitert wer den, eine Mitarbeiterin wurde benötigt. Doch wenn Ursel da jemanden an der Hand hatte, sollte Roberta es nur recht sein, sie vertraute ihrer Mitarbeiterin da voll und ganz, und Ursel würde niemals jemanden empfehlen, für den sie nicht ihre Hand ins Feuer legen konnte. Ach was, nicht eine Hand, sondern beide Hände.
War es nicht verrückt, dass man manchmal an etwas herumdokterte, und auf einmal entwickelte es eine Eigendynamik? Ja, es sollte so kommen.
Auf Dauer hätte sie die ganze Arbeit allein wirklich nicht mehr bewältigen können. Da hätten ihre Patienten darunter gelitten. Und es tat ihr auch in der Seele weh, wenn sie Patienten abweisen oder wenn die eine Wartezeit in Kauf nehmen mussten.
Alles war gut. Nun ja, vielleicht nicht ganz. Hoffentlich würde sich nicht das wiederholen, was sie anfangs erleben musste. Da hatte man sie, was heute kaum noch vorstellbar war, ignoriert, weil man Dr. Riedel wieder als Arzt haben wollte, den man kannte, an den man gewohnt war.
Einen Unterschied gab es allerdings schon. Sie war von Anfang an an Claires Seite. Sie hatte man ins kalte Wasser geworfen, und sie hatte sehen müssen, wie sie allein mit allem fertig wurde, denn Enno Riedel hatte zu dem Zeitpunkt den Sonnenwinkel leider verlassen.
Es war vorbei, es machte keinen Sinn mehr, jetzt zurückzublicken, es war immer die Gegenwart, die entscheidend dafür war, wie es laufen würde.
Und in der Gegenwart fühlte sich alles gut an, geradezu perfekt …
*
Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis Claire ins Doktorhaus zurückkehrte, und Roberta wusste nicht, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Es konnte doch nicht so lange dauern, sich eine Wohnung anzusehen. Und das Wetter lud auch nicht dazu ein, draußen herumzulaufen. Im Gegenteil, zu dem klatschenden Regen war auch nach ein heftiger Wind aufgekommen, der wütend an den Bäumen riss und Blätter vor sich hertrieb.
Roberta war froh, als Claire endlich eintraf, und natürlich blickte sie diese direkt an. Sie war bestens gelaunt, von Enttäuschung keine Spur. Bedeutete das …
Roberta musste sich deswegen keine Gedanken mehr machen, denn Claire fiel ihr jubelnd um den Hals und rief ganz begeistert: »Roberta, ich habe die Wohnung, und ich glaube, ich habe auch direkt eine Eroberung gemacht, Ursels Bruder …«
Sie wurde von Roberta unterbrochen.
»Claire, ich warne dich. Ich möchte nicht, dass du eine erneute Enttäuschung erlebst. Der Mann ist verheiratet.«
Das tangierte Claire in keiner Weise.
»Seine Schwiegermutter wird ebenfalls in das Haus einziehen, und ich möchte nicht, dass es da direkt zu Konflikten kommen wird.«
Auch diese Worte dämpften Claires Begeisterung nicht, und die Erklärung bekam Roberta direkt geliefert.
»Achim Hellenbrink ist geschieden, und es ist seine Ex-Schwiegermutter, die in das Haus einziehen wird. Ganz offensichtlich hat es bei der Trennung nicht den meist üblichen Rosenkrieg gegeben, sie verstehen sich noch immer und gehen freundschaftlich miteinander um. Ehrlich, Roberta, Achim Hellenbrink hat mit mir ganz offensichtlich geflirtet. Und ich finde ihn nett, als Architekt hat er gewusst, was er mit dem Umbau des Hauses zu tun hat, und die Wohnung ist perfekt für mich.«
Sie setzten sich.
»Es macht mir schon Angst, dass alles auf einmal in meinem Leben so reibungslos klappt, dass es keine Hindernisse mehr gibt.« Sie hielt Roberta ihren Arm entgegen. »Bitte kneife mich, damit ich spüre, dass das alles wunderbare Wirklichkeit ist, dass ich nicht träume.«
So war Claire!
Sie war erfrischend, und ihre gute Laune übertrug sich direkt auf ihr Umfeld. Das war gut für die Patienten.
Roberta lachte.
»Ich muss dich nicht kneifen, du träumst nicht. Es ist für uns beide eine ganz wunderbare Fügung, und wenn das jetzt auch mit der Wohnung in trockenen Tüchern ist, dann kannst du direkt anfangen. Bis wir ein Behandlungszimmer nach deinen Wünschen und Bedürfnissen für dich hergerichtet haben, findet sich schon eine andere Möglichkeit, Räume genug sind vorhanden.«
Claire freute sich über Robertas Begeisterung, doch dann wurde beiden Frauen schon klar, dass noch weitere Voraussetzungen notwendig waren, und mit der Wohnung würde es noch zwei, drei Wochen dauern. Außerdem musste die dann eingerichtet werden.
Sie durften jetzt nichts überstürzen.
»Und was dein Gehalt betrifft«, begann Roberta, doch da wurde sie direkt von Claire unterbrochen. »Das ist zweitrangig, ich weiß natürlich, dass ich hier nicht das verdienen kann wie in der alten Praxis. Es sind ja ganz andere Voraussetzungen, da konntest du mit den Kassen anders abrechnen als hier als praktische Landärztin.«
Eigentlich hatte Roberta ihr sagen wollen, dass sie das alte Gehalt nur gering erhöhen konnte, und nun ging Claire davon aus, weniger zu verdienen. Das stellte Roberta direkt richtig, und Claire sagte: »Das kommt überhaupt nicht infrage, wenn ich mein altes Gehalt bekomme, womit ich, wie gesagt, nicht gerechnet habe, dann ist das mehr als großzügig. Mehr nehme ich nicht an. Soll ich dir mal etwas sagen? Ich bin so glücklich, wieder für dich, vor allem, mit dir arbeiten zu dürfen …, irgendwie kann ich das noch immer nicht fassen. Es ist unbeschreiblich. Es ist wie ein Hauptgewinn bei einem Glücksspiel. Eigentlich müsste ich ja jetzt noch Geld mitbringen, weil sich gerade für mich ein Traum erfüllt.« Sie blickte Roberta an. »Du und ich …, wir zusammen wieder in einem Team …, danke Roberta, danke für die Chance, die ich da gerade von dir bekomme. Ich schwöre dir, du wirst es niemals bereuen, ich verspreche dir, alles zu geben …, ich glaube, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich richtig begriffen habe, was für ein großes Glück …, wenn ich das so richtig überlege …, in Italien mehr oder weniger gescheitert, angeschlagen, ohne Perspektive …, und dann kamst du.«
Roberta war ganz gerührt. Es fühlte sich alles so gut, so richtig an. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, weil sie sich kannten, wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Es würde wieder zu einer großartigen Zusammenarbeit kommen, und das freute Roberta nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für die Patientinnen und Patienten. Die kamen für sie immer an erster Stelle, weil sie Ärztin aus Leidenschaft war, und das war etwas, was man auch von Claire behaupten konnte.
»Claire, ich bin nicht minder glücklich. Und ich freue mich von ganzem Herzen auf unsere Zusammenarbeit hier im Sonnenwinkel.«
Der Regen hatte aufgehört, ganz vorsichtig lugte ein vorwitziger Sonnenstrahl aus dem grauen Himmel.
Schade, dass jetzt nicht Nicki anwesend war, die würde direkt sagen, dass das das ein Zeichen war. Und vielleicht war es das ja auch. Es fühlte sich auf jeden Fall sehr gut an.
*
Inge und Werner Auerbach warteten auf ihren Freund Berthold von Ahnefeld. Sie wussten beide, dass es diesmal kein längerer Aufenthalt sein würde, sondern dass Bert kam, um sich zu verabschieden und für die zuvor genossene Gastfreundschaft zu bedanken.
Bert war ein gern gesehener Gast gewesen, und sie hätten ihn gern noch eine Weile um sich gehabt. In der Auerbach Villa war es schon lange sehr ruhig, seit bis auf Pamela alle Sprösslinge längst ausgeflogen waren. Doch das war nun mal der Lauf der Dinge, das war etwas, was auf alle Eltern zukam.
Dass Bert nun seinen Aufenthalt bei ihnen nicht verlängern wollte, darüber konnten sie sich nur freuen. Welche Sorgen sie sich um ihn gemacht hatten, die auch sehr berechtigt gewesen waren. Er hatte vollkommen den Boden unter den Füßen verloren, nachdem sein vorheriges glückliches Leben sich in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte.
Dass es nun diesen Lichtblick gab, darüber konnten sie sich nur freuen.
Werner sprach es jetzt auch aus.
»Weißt du, Inge-Maus, ich freue mich aufrichtig, dass unser Bert mit der reizenden Angela von Bergen zusammen ist. Aber wenn ich ehrlich bin, bedaure ich auch ein wenig, dass er nun nicht mehr bei uns sein wird. Ich habe die Zeit mit ihm genossen, wir haben alte Erinnerungen aufgefrischt, und mit ihm an meiner Seite waren meine Reisen noch einmal so schön. Bert ist wirklich ein überaus angenehmer, feiner Mensch.«
Inge blickte ihren Mann an.
»Und du bist ein Egoist, mein lieber Werner. Erst einmal zwingt dich kein Mensch, all diese Reisen zu unternehmen, die sind nur wichtig für dein Ego, und dass Bert und Angela sich zusammengetan haben, finde ich großartig. Sie tun einander gut. Bert hätte nichts Besseres passieren können, als ihr zu begegnen, sie ist einfühlsam, warmherzig, und sie hat, wie du weißt, auch schon eine ganze Menge mitgemacht. Ja, es war sehr angenehm, Bert hier zu haben, weil man mit ihm sehr gute Gespräche führen kann. Aber darauf kann man doch gern verzichten, wenn man weiß, dass er auf einem guten Weg ist, wieder zu seiner Mitte zu finden. Werner«, sie blickte ihn an, »bitte mach keine unbedachte Bemerkung, du weißt, wie empfindlich Bert ist. Freue dich mit ihm.«
»Aber das tue ich doch«, beschwerte er sich, »du tust ja geradezu so, als sei ich ein Monster.«
»Reg dich ab, mein Lieber, natürlich bist du das nicht. Aber du bist mit deinen Gedanken manchmal ganz woanders, und da sagst du etwas, was …«
Sie brach ihren Satz ab, weil es in diesem Augenblick an der Tür klingelte.
Die öffnete normalerweise Inge, doch diesmal ließ Werner es sich nicht nehmen, zur Tür zu gehen, und dann hörte Inge, wie die beiden Männer sich begrüßten.
Ja, sie freute sich wirklich für Bert.
Bert und Werner kamen in den Raum, Bert begrüßte Inge herzlich. Er hatte sich sehr verändert, wirkte nicht mehr so erloschen.
»Schön, dass du da bist«, sagte sie, dann zauberte er einen wunderschönen Rosenstrauß hinter seinem Rücken hervor, überreichte ihn Inge.
»Danke, dass ich in der schlimmsten Zeit meines Lebens bei euch sein durfte, ihr habt mir sehr geholfen. Ich weiß überhaupt nicht, was ich ohne euch gemacht hätte.«
»Du hättest vor allem Angela nicht kennengelernt, mein Lieber«, sagte Inge, dann bedankte sie sich für die Blumen, bat ihn, Platz zu nehmen.
»Ja, das ist richtig«, griff er Inges vorherigen Worte auf, »dann hätte ich sie nicht kennengelernt. Ihr habt mich aus meinem Tief geholt, doch Angela hat mich gerettet.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«, wollte Werner wissen, der sich niemals lange mit einer Vorrede aufhielt.
Inge interessierte die Frage ebenfalls, doch sie hätte sie nicht direkt gestellt. Bert war doch gerade erst angekommen. Dem machte es allerdings offensichtlich nichts aus, denn er sagte sofort: »Wir wollen bald gemeinsam auf unsere Lebensreise gehen …, ich muss nur noch die Scherben aus meiner Vergangenheit beseitigen.«
»Bert, wir haben alle unsere Vergangenheit, die uns geprägt hat, die kann man nicht aus seinem Leben streichen«, wandte Inge ein.
Er schaute sie an, lächelte.
»Das will ich nicht, Inge, aber ich denke, Angela soll mit mir nicht das Leben an der Stelle fortsetzen, wo das alte aufgehört hat. Meine Frau und meine Kinder werden immer einen Platz in meinem Herzen haben. Angela soll nicht in deren Leben eintauchen.«
Sie sagte ihm, dass er sich nicht zu viele Gedanken machen müsse, dass Angela alt genug sei um zu wissen, worauf sie sich da einlasse.
»Außerdem soll doch Sophia bei euch sein«, erinnerte sie ihn, »die bringt Angela, wenn du so willst, mit in eure gemeinsame Zukunft.«
Ehe jetzt eine lange Diskussion einsetzte, machte Werner allem ein Ende.
»Müssen wir jetzt darüber reden? Die Zukunft wird es bringen. Ich finde, wir sollten uns jetzt der Gegenwart zuwenden, denn meine Inge hat für dich extra diesen köstlichen Bienenstich gebacken, den du so gern magst. Ich finde, den sollten wir jetzt genießen, und dann hoffe ich, mein Lieber, dass du wenigstens über Nacht bleiben wirst.«
Berthold lachte, und das war ebenfalls neu.
»Ja, das habe ich vor, mein Gepäck ist noch im Auto, aber du hast recht, der Bienenstich deiner Frau ist durch nichts zu überbieten.« Er wandte sich Inge zu. »Du bist ein Schatz, danke, Inge. Weiß Werner eigentlich, was er an dir hat?«
Sie wurde rot, und Werner beeilte sich zu sagen: »Und ob ich das weiß, eine bessere Frau als Inge hätte ich nicht finden können. Sie ist mein Glück, mein Anker, und ich liebe sie über alles, auch wenn ich ihr das nicht oft genug sage.«
Inge sprang auf.
»Was wollt ihr zu dem Kuchen? Kaffee? Tee?«, erkundigte sie sich. Sie war verwirrt, denn so hatte Werner in Gegenwart Dritter noch nie über seine Gefühle gesprochen. Wahrscheinlich war ihm durch Bertholds Gegenwart bewusst geworden, wie vergänglich Glück war, wie schnell es vorbei sein konnte.
Beide Männer wollten Kaffee, und bei ihr war es überhaupt keine Frage, Kaffee natürlich.
Berthold probierte den Bienenstich, strahlte Inge an.
»Meine Liebe, du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, die Nachmittage hier mit Kaffee und Kuchen, die werden mir fehlen.« Dann fügte er leise hinzu: »Mehr noch werde ich euch vermissen, all die Gespräche, die wir geführt haben. Erst wenn man in der Not ist, erfährt man, was wahre Freunde sind. Wir haben so viele Jahre kaum etwas voneinander gehört, dennoch war es für euch selbstverständlich, mich aufzufangen, ganz für mich da zu sein. Das war so wohltuend, ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass wir uns nicht wieder aus den Augen verlieren und erst erneut zueinanderfinden, wenn etwas passiert.«
»Bert, das wollen wir ebenfalls nicht«, erwiderte Werner, »und da glaube ich, auch für Inge sprechen zu dürfen.«
Die nickte.
Es war jetzt ziemlich emotional, und Inge musste an sich halten, denn sie gehörte zu den Menschen, die nahe am Wasser gebaut hatten. Bei ihr kamen die Tränen sehr schnell, ganz gleichgültig, ob es nun Freudentränen waren oder welche, die man vergoss, weil man traurig war, aus einem anderen Grund emotional bewegt.
Sie wollte von sich ablenken, und deswegen sagte sie rasch, obwohl das ebenfalls schon gesagt worden war: »Bert, ich freue mich für dich und Angela.«
Dann musste keiner mehr etwas sagen, denn die beiden Hunde hatten offensichtlich genug davon, im großen Garten herumzutollen, sie kamen auf die Terrasse gerannt, kratzten an der Tür, bellten.
Inge stand auf, um zu öffnen, und dann mussten Luna und Sam erst einmal den Besucher begrüßen, den sie in bester Erinnerung hatten. Er war mit ihnen um den See gelaufen, und unterwegs hatte es auch immer dies köstlichen Leckerli gegeben. Die gab es jetzt zwar nicht, doch ein paar Streicheleinheiten waren auch nicht verkehrt.
»Was für wunderschöne Tiere das doch sind«, bemerkte Berthold, eifrig bemüht, keinen zu kurz kommen zu lassen. »Es ist kaum zu glauben, dass die aus einem Tierheim kommen …, apropos Tierheim. Inge, bitte erinnere mich daran, dass ich dem auch wieder etwas spende.«
Inge war begeistert.
»Bert, das ist großartig. Da wird meine Mutter sich sehr freuen, und die kann dir auch ganz genau sagen, wo es im Tierheim gerade ganz besonders fehlt.«
Werner mischte sich ein.
»Natürlich fehlt es an allen Ecken und Kanten. Es ist ein Fass ohne Boden, und ohne all die freiwilligen Gaben und die freiwilligen Helfer hätte die arme Frau Dr. Fischer das Tierheim längst schon schließen müssen. Ich bin immer wieder begeistert davon, wie sehr meine Schwiegermutter sich da engagiert und es längst zu ihrer eigenen Sache gemacht hat. Sie ist sich nicht zu schade dafür, von Tür zu Tür zu gehen und um Spenden zu bitten. Du weißt, wie manche Leute drauf sind, sie haben kein Problem damit, Geld mit vollen Händen für allen Unsinn aus dem Fenster zu schmeißen. Wenn es um eine kleine Spende geht, halten sie ihr Portemonnaie zu. Aber da solltest du Teresa mal sehen, die nimmt kein Blatt vor den Mund.«
Berthold lächelte.
»Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Sie ist eine großartige Frau, und da sind sie und Sophia sich ähnlich, obwohl Teresa sehr viel couragierter ist. Die beiden Frauen haben was, kein Wunder, sie tragen beide einen großen Namen.«
Werner blickte seinen Freund ein wenig erstaunt an.
»Du bist doch auch ein ›von‹, Bert«, lachte er.
Berthold winkte ab.
»Wir Ahnefelds stehen ganz weit unten, werden im Adelskalender nicht einmal erwähnt, die von Roth und die von Bergen schon. Aber darauf kommt es im Leben nicht an. Für mich war es nie wichtig, zum Glück hat auch Angela keinen Adelsdünkel.«
»Nö, hat sie wirklich nicht«, bestätigte Inge sofort, »denn sonst hätte sie keinen Bürgerlichen geheiratet, und dass sie ihren Mädchennamen wieder angenommen hat, verdankt sie nur meiner Mutter, die beinahe darauf bestanden hat.«
Werner lachte. »Da bin ich aber froh, dass sie es erlaubt hat, dass du einen einfachen Auerbach geheiratet hast.«
Inge winkte ab. »Du weißt, wie sehr meine Eltern dich schätzen, und das mit Angela, das hat einen ganz anderen Grund. Mama fand es unerträglich, dass Angela den Namen eines Mannes auch nach der Scheidung trägt, der ihr so übel mitgespielt hat. Sie hat doch wahrlich …«
Beinahe erschrocken brach Inge ihren Satz ab.
»Bitte, entschuldige, ich bin normalerweise keine Plaudertasche, und es lag nicht in meiner Absicht, dir etwas über Angelas Vergangenheit zu erzählen.«
Berthold beruhigte sie sofort. »Inge, du musst kein schlechtes Gewissen haben. Du erzählst mir keine Neuigkeiten. Angela und ich sind sehr offen und ehrlich zueinander. Sie hat mir alles erzählt. Ich weiß alles über sie, sie weiß alles über mich. Nur so geht es. Dann erlebt man auch keine Überraschungen, wenn die Verletzungen der Vergangenheit aufbrechen, und der andere nicht weiß, was da auf einmal geschieht.« Er machte eine kleine Pause, die er dazu nutzte, etwas von seinem Kaffee zu trinken, von seinem Kuchen zu essen. »Ich glaube, Angela ist sehr gefestigt, es ist nicht zu erwarten, dass deren Vergangenheit sie einholen wird, aber ich …, ich bewege mich noch auf einem sehr dünnen Eis. Dank Angela bin ich überhaupt schon dort. Vorher befand ich mich nur in einem Abgrund. Und ich sah überhaupt kein Licht. Angela ist wirklich ein Segen für mich, ein Engel, der auf die Erde gekommen ist, um mich zu retten. Sie ist verständnisvoll, kann so unendlich viel Liebe geben. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ich irgendwann einmal etwas von dem zurückgeben kann, was sie mir jeden Tag schenkt.«
Sie verriet jetzt kein Geheimnis, sie durfte es ihm sagen und das tat sie auch voller Überzeugung: »Bert, Angela liebt dich, und wenn es um Gefühle geht, dann rechnet man nicht auf, dann gibt man nur, und das aus vollem Herzen.«
Er warf ihr einen dankbaren Blick zu, dann musste er sich wieder um Luna und Sam kümmern, die sich offensichtlich entschlossen hatten, ihm nicht nur ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken, sondern die umgekehrt von ihm auch zu verlangen.
*
Auch wenn sie eigentlich überhaupt keine Zeit dazu hatte, ließ Roberta es sich nicht nehmen, Patienten zu besuchen, die sie leider ins Krankenhaus einliefern lassen musste. Sie tat es in erster Linie, weil sie nicht wollte, dass die den Eindruck bekamen, abgeschoben worden zu sein, sondern auch, weil es sie interessierte, ob man im Krankenhaus das durchführte, was sie vorgeschlagen hatte, leider in einer normalen Praxis nicht durchführen konnte, weil nicht alle Geräte und Möglichkeiten vorhanden waren.
Claire hatte endgültig zugesagt, auch bei ihrem Vermieter unterschrieben. Sie würde kommen, und das bedeutete neben vielen anderen Vorteilen für Roberta auch, dass sie sich mehr um ihre Sorgenkinder kümmern konnte.
Heute hatte sie eine ihrer Patientinnen besucht, die eingesehen hatte, dass es richtig gewesen war, ins Krankenhaus zu gehen. Bei einem Oberschenkelhalsbruch hatte man auch überhaupt keine andere Wahl. Roberta hatte sich davon überzeugt, dass die Patientin gut untergebracht war und dass man sie richtig versorgte. Klar hatte sie der Besuch ihre kostbare Zeit gekostet, doch das war überhaupt nichts gegen das Strahlen im Gesicht der alten Dame.
Jetzt war sie auf dem Heimweg, den sie mit einem Hausbesuch bei einem Patienten verbinden würde, der dabei war, sich von einer schweren Lungenentzündung zu erholen. Eigentlich hatte dieser Mann ebenfalls in ein Krankenhaus gehört, doch da hatte er sich mit Händen und Füßen gesträubt, denn Aufenthalt in einem Krankenhaus war für ihn gleichgesetzt mit sterben müssen, und das wollte er nicht. Roberta hatte eingewilligt, ihn daheim zu behandeln, weil er zusammen mit seiner Tochter und deren Familie in einem Haus lebte. Sie wusste, dass man sich um ihn kümmerte, weil er keine Last war, sondern sehr geliebt wurde. Das gab es ebenfalls. Die allgemein verbreitete Meinung, man wolle die Alten immer abschieben, traf nicht generell zu. Und es gab auch Fälle, in denen die Senioren ganz schön bösartig sein konnten und die Familie drangsalierten. Nichts ließ sich verallgemeinern, doch die Presse war es immer, die sich das heraussuchte, was die höchste Quote brachte. Und das war nun mal die Diskriminierung alter Menschen, was leider auch häufig vorkam, da musste man kein Läppchen drummachen, es nicht schönreden.
Auf jeden Fall hatte sie ihre Pflicht getan, und sie fühlte sich gut dabei. Und darauf kam es schließlich an.
Roberta wollte gerade die Station verlassen, als sie zurückgehalten wurde.
»Frau Kollegin, haben Sie einen Moment?«
Die Stimme gehörte zu Dr. Anders, der auf sie zugeeilt kam.
Seit sie klargestellt hatte, dass sie nicht sauer auf ihn war, weil er durch die Vermittlung ihrer Frau Hellenbrink im Sonnenwinkel wohnen konnte, war ihr Verhältnis entspannt. Dass er ihr dennoch weitwehend aus dem Weg ging, lag in erster Linie daran, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er sich zu ihrem Jobangebot nicht mehr geäußert hatte.
Sie blieb stehen.
»Trinken wir zusammen einen Kaffee?«erkundigte er sich. »Ich habe Feierabend.«
»Und ich bin auf dem Weg zum nächsten Patienten«, antwortete sie. »Tut mir leid, ich bin wirklich in Eile. Ein andermal.«
Mit dieser Antwort gab er sich offensichtlich nicht zufrieden, deswegen fügte sie hinzu: »Oder haben Sie etwas auf dem Herzen?«
Das hatte er, es war ihm anzusehen.
»Was ist los, Herr Kollege?«, erkundigte sie sich.
»Ach, das ist zwar jetzt wohl nicht der richtige Moment, weil Sie keine Zeit haben, aber für mich ist es wichtig …, es geht um das Jobangebot …, wir haben einen neuen Oberarzt bekommen, mit dem es sich nicht gut zusammenarbeiten lässt, wir haben alle Probleme mit ihm, und da dachte ich …«
Sie wusste, was er dachte, was er wollte, doch sie wartete ab.
»Frau Steinfeld, ich würde das Angebot, in Ihrer Praxis arbeiten zu dürfen, gern annehmen.«
Ihm war anzusehen, wie sehr es ihn erleichterte, es ausgesprochen zu haben. Sie verspürte keinerlei Triumphgefühl in sich, als sie entgegnete: »Das ehrt mich, lieber Kollege. Doch es ist leider zu spät. Eine Kollegin wird bei mir anfangen, wir haben alles perfekt gemacht.«
Er blickte sie ganz ungläubig an, und Roberta war zwar keine Hellseherin, doch sie glaubte, ganz sicher seine Gedanken erraten zu können, die ihm jetzt durch den Kopf schossen.
»Herr Anders, Sie glaubten wohl, dass niemand sich um einen Job in einer Landarztpraxis reißt. In den Medien wird ja oft genug darüber berichtet, dass die jungen Ärzte nicht auf dem Lande arbeiten möchten, dass die älteren Kollegen keinen Nachwuchs finden. Nun, der Sonnenwinkel ist kein Dorf, er ist dicht besiedelt, hat ein großes Umfeld. Und ich bin überglücklich, damals die Entscheidung getroffen zu haben, die Praxis zu übernehmen. Ich habe das nicht eine Sekunde bereut, und diese Kollegin, Frau Dr. Müller, die hat sich spontan entschieden, ohne vorher überhaupt die Praxis gesehen zu haben, sie wusste, was sie wollte.«
Er errötete, denn er wusste selbst, dass er nicht gerade entscheidungsfreudig war.
»Ich … äh …«
»Herr Anders, vielleicht ist es ganz gut so, dass es so gekommen ist. Ganz sicher waren Sie sich nie, sonst hätten Sie spontan zugegriffen, und nur weil der Oberarzt Ihnen nicht gefällt, ist das kein Grund für einen Stellungswechsel. Es gibt immer etwas, was einem nicht behagt. Davon bin auch ich nicht frei. Schließlich sind wir alles nur Menschen, doch eines ist gewiss, man muss für das, was man tut, brennen.«
Das musste jetzt sein. Er war wirklich ein überaus sympathischer Mensch, an seiner beruflichen Qualifikation war nichts auszusetzen, sie schätzte ihn. Doch all das reichte nicht für eine reibungslose Zusammenarbeit. Jetzt, da Claire sich für den Job entschieden hatte, wusste Roberta, dass das mit ihr und Dr. Anders nicht gut gegangen wäre. Sie hätten keinen Krach miteinander bekommen, doch es wäre eher eine Partnerschaft auf Schmalspur gewesen. Und das reichte nicht, nicht, wenn man so drauf war wie sie.
Er überlegte, was er jetzt sagen sollte. Er musste es nicht, für sie war die Sache erledigt. Sie fand ihn noch immer nett, sie schätzte ihn als Arzt. Aber innerlich atmete sie erleichtert auf, dass der Kelch an ihr vorübergegangen war.
»Warten Sie doch erst einmal ab, Herr Kollege. Vielleicht ist der Oberarzt doch noch ganz nett, oder Sie überlegen sich in aller Ruhe, was Sie wirklich möchten. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall alles Gute. Und jetzt muss ich wirklich weg.«
Roberta verabschiedete sich von ihm, eilte davon, sie merkte nicht, wie betroffen er ihr nachblickte. Er hatte es vermasselt, doch wie hatte er auch ahnen können, dass es da tatsächlich jemanden gab, der in eine Privatpraxis einsteigen wollte. Das durfte er jetzt seiner Lilli auf keinen Fall sagen, dass er zu lange gezögert hatte. Die hatte ihn bestärkt, den Job anzunehmen, und er wusste jetzt selbst nicht mehr, warum er das eigentlich nicht getan hatte. Dr. Steinfeld hatte einen ganz hervorragenden Ruf, ihre Praxis war überfüllt. Das hätte wirklich etwas werden können. Er war zu zögerlich gewesen, und jetzt musste er sich mit diesem arroganten Oberarzt herumschlagen. Mit Frau Dr. Steinfeld hätte es keine Probleme gegeben.
Verflixt noch mal, so eine Chance würde sich ihm so schnell nicht bieten. Er hatte es auf dem Silbertablett serviert bekommen, er hätte nur einfach zugreifen müssen.
Hatte er nicht. Gerade als er zum Fahrstuhl gehen wollte, um in den wohlverdienten Feierabend zu kommen, bog der verhasste Oberarzt um die Ecke.
»Herr Anders, gut dass Sie noch da sind. Auf Station eins ist ein Kollege ausgefallen, können Sie dessen Dienst übernehmen? Wir haben sonst einen Engpass.«
»Okay«, sagte er, ihm blieb keine andere Wahl. In der Privatpraxis hätte er ziemlich geregelte Arbeitszeiten gehabt, und direkt um die Ecke gewohnt.
Zu spät …
Er war wütend auf sich selbst, als er ins Ärztezimmer ging, um seinen Blazer mit dem weißen Arztkittel zu vertauschen, dann rief er Lilli an, um ihr Bescheid zu geben, dass es nun aus dem gemeinsamen Feierabend nichts werden würde, dann ging er auf die Station, und dort wurde er auch direkt von einem sehr nörgeligen Patienten verlangt.
*
Pamelas Schultasche war das reinste Stimmungsbarometer. Ging es ihr gut, stellte sie die ordentlich ab, war sie erregt oder wütend, weil sie sich über etwas ärgerte, ob nun eine schlechte Note oder einen Lehrer, knallte sie die auf den Boden, sobald sie den Raum betreten hatte.
Heute landete die Tasche mit Karacho auf dem Boden. Das war nicht gut.
»Mama, du glaubst nicht, was passiert ist«, sprudelte es nur so aus ihr heraus, »hast du vielleicht etwas Süßes für mich? Ich brauche das für meine Nerven.«
Auch das kannte Inge.
»Ja, ich habe etwas, doch das werde ich dir ganz gewiss nicht jetzt geben, denn wir essen gleich.«
Pamela seufzte.
Leider konnte ihre Mutter manchmal ziemlich unerbittlich sein, auch wenn es ihr oftmals gelang, sie mit einer Charmeoffensive herumzukriegen. Vor dem Essen allerdings nicht, da war sie unerbittlich.
Dann eben nicht.
Pamela schmiss sich auf einen Stuhl.
»Mama, sie haben den netten Dr. Lehmann rausgeschmissen, und du glaubst ja überhaupt nicht, was sie dem nachsagen.« Sie blickte ihre Mutter an, und die sagte pflichtgemäß: »Du wirst es mir sagen.« Das war nämlich ebenfalls ein Ritual, bei dem sich sogar die Worte meistens wiederholten.
»Er soll was mit der Rautgundis gehabt haben«, Pamela hatte offensichtlich vergessen, dass sie sich doch vorgenommen hatte, ebenfalls nur Gundi zu sagen, wie es von dem toten Mädchen erwünscht gewesen war. »Mama, das glaube ich nie im Leben, er hat eine so nette Frau und ein ganz süßes Kind. Da fängt er niemals etwas mit einem Mädchen wie Rautgundis an. Sie war hinter ihm her wie der Teufel hinter der Seele. Es war schon peinlich mit anzusehen, wie sie ihn angeschmachtet und wie sie ihn verfolgt hat, wenn er auf dem Schulhof in den Pausen zu sehen war.«
Das deckte sich mit der Aussage, von der Henry Fangmann ihr erzählt hatte. Schade, dass Inge nicht darüber sprechen durfte.
Inge sagte zunächst einmal nichts, weil die Vergangenheit gezeigt hatte, dass Pamela ohnehin gleich von selbst weitersprechen würde. Und so geschah es auch.
»Mama, glaubst du, dass er sie ermordet hat, um sie loszuwerden?«, flüsterte Pamela und erschauderte bei ihren eigenen Worten.
Jetzt musste Inge eingreifen.
»Pamela, es war ein Unfall, und das stand als klitzigkleine Notiz auch in der Zeitung. Was glaubst du wohl, was los wäre, hätte sich herausgestellt, dass das Mädchen Opfer eines Verbrechens war? Das hätte Schlagzeilen gegeben, eine erste Seite, da hätten sich alle draufgestürzt. Ich glaube übrigens ebenfalls nicht, dass euer Lehrer etwas mit dem Mädchen«, sie mochte den Namen einfach nicht aussprechen, weil durch diese Person so viel Unheil angerichtet worden war, »eh etwas hatte. Ich bin mir sicher, dass die Polizei das herausfinden wird.«
Pamela starrte vor sich hin.
»Mama, man soll ja über Tote nicht schlecht reden, aber ich konnte Rautgundis nie leiden. Ich wollte, sie wäre noch am Leben, dann müsste sie nämlich zugeben, dass da zwischen ihr und Herrn Dr. Lehmann nichts war, dass nur sie sich an ihn herangemacht hat.«
Pamela sah ganz bekümmert aus, und Erziehungsmaßnahmen hin oder her, Inge konnte nicht anders, sie stand auf, und dann holte sie aus dem Schrank wenigstens einen Müsliriegel heraus und legte ihn stumm vor ihrer Tochter hin.
Die vergaß direkt ihren Kummer, strahlte ihre Mutter an, als habe die ihr gerade ein Goldstück hingelegt, dann bedankte sie sich, packte den Müsliriegel aus und begann ihn genüsslich zu speisen. Wie schön wäre es, könnte man all die vielen Probleme dieser Welt mit einem Müsliriegel oder einem Stückchen Schokolade oder einer anderen Süßigkeit lösen. Das wäre großartig!
Im Augenblick reichte es Inge, wenigstens ihre jüngste Tochter ein wenig beruhigt zu haben, und die begann dann auch, als habe es nichts gegeben, worüber sie sich maßlos aufgeregt hatte, über die Mathestunde zu sprechen und den neuen Lehrer, den sie als Ersatz für ihre vorherige Lehrerin bekommen hatten, die in Mutterschaftsurlaub gegangen war.
»Mama, der ist voll super. Du glaubst nicht, wie gut der erklären kann und wie spannend der Unterricht bei ihm ist, ganz anders als früher, wo man einschlafen konnte, weil es so langweilig war. Wenn das unser Lehrer bleibt, dann wähle ich auf jeden Fall Mathematik als Leistungskurs.«
Inge nickte ergeben. Was sollte sie sonst auch tun? Wenn man vier Kinder hatte, dann wiederholten sich solche und ähnliche Gespräche in schöner Regelmäßigkeit. Eigentlich war sie froh, mit den anderen durch zu sein und nur noch Pamela zu haben. Es war ganz schön anstrengend gewesen.
»Bekomme ich noch einen Müsliriegel, der war voll lecker, und eigentlich ist er auch gesund«, bettelte sie. Doch jetzt war Inge unerbittlich. »Die Gemüsesuppe, die wir gleich essen werden, die ist noch gesünder, mein Kind.«
Pamela verzog ihr Gesicht.
»Mein Kind, kein Wort mehr, ich möchte nämlich nicht, dass ich bereue, dir den Müsliriegel gegeben zu haben.«
Pamela kicherte.
»Mama, dich kann man wirklich nicht überlisten, aber einen Versuch war es wert. Soll ich schon mal den Tisch decken?«
»Das kannst du gern tun, Pamela, und dann kannst du auch den Papa rufen. Da kannst du gleich punkten, denn der hat sich nämlich die Gemüsesuppe gewünscht.«
»Wenn das so ist, dann wünsche ich mir direkt für morgen etwas, Spaghetti Bolognese mit ganz viel Parmesan, da könnte ich mich reinlegen.«
Inge lachte.
»Es gibt ganz schön viel, in das du dich hineinlegen könntest, mein Mädchen. Wenn du es tun müsstest, dann kämst du überhaupt nicht mehr dazu aufzustehen.«
Pamela fiel in das Lachen mit ein, weil diese Vorstellung auch zu komisch war.
Der Tisch war rasch gedeckt, dann lief Pamela hinaus, um ihren Vater zu holen. Inge blickte ihr nach. Es war herrlich, die noch zu Hause zu haben, war Pamela erst einmal mit der Schule fertig, dann würde es in der Auerbachschen Villa ganz schön einsam werden. Pamela sprach zwar immer davon, den Sonnenwinkel niemals verlassen zu wollen. Das waren Worte, nach dem Abitur würde es sie hinausziehen. Es ging ja auch überhaupt nicht anders. Im Sonnenwinkel lebte es sich zwar schön, und Inge konnte es sich überhaupt nicht vorstellen, noch einmal umzuziehen. Aber hier gab es keine Universität. Man sollte zwar niemals nie sagen, doch Inge war sich sicher, dass Pamela einmal studieren würde. Sie war eine sehr gute Schülerin, auch wenn sie nicht ganz an Hannes herankam. Und wenn der schon nicht die Erwartungshaltung seines Vaters erfüllte, dann konnte man nur hoffen, dass Pamela nach dem Abitur anfangen würde zu studieren. Es war Zeit, und man sollte sich nicht zu früh Gedanken machen. Inge war nicht mit allem einverstanden, was ihre Mutter sagte, doch einen ihrer Sätze würde sie voll unterschreiben, nämlich, dass man erst vor dem Fluss stehen musste, um sich Gedanken zu machen, wie man ans andere Ufer kam. So oder so ähnlich lautete der Satz. Inge hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Pamela kam zurück, im Schlepp ihren Vater, der in seiner beigen Cordhose und dem beigen Cashmerepulli richtig edel aussah. Er war schon ein cooler Typ, der Herr Professor. Und für Inge ging auch noch nach so vielen Jahren die Sonne auf, wenn sie ihren Werner sah. Klar hatten sie auch mal Krisen, sogar ernsthafte Kräche, doch wer hatte das nicht. Eines wussten sie auf jeden Fall ganz gewiss, dass sie sich auf einander verlassen konnten, vor allem, dass sie sich liebten. Und sie hatten es niemals bereut, sich für einen gemeinsamen Lebensweg entschieden zu haben.
»Wenn es so schmeckt, wie es duftet, mein Herz, dann hast du wieder mal gezaubert«, rief er, und Inge antwortete ein wenig trocken, aber doch recht liebevoll: »Deine Komplimente waren schon mal besser, mein Schatz. Du wiederholst dich.«
Er lachte, nahm sie in die Arme.
»Das liegt nur daran, dass mir nichts mehr einfällt, wenn ich dich sehe.«
Dazu musste Inge etwas sagen.
»Das kann man so oder so auffassen.«
Auch Pamela musste ihren Senf dazu geben.
»Ihr seid noch ganz schön ineinander verknallt«, kicherte sie.
Inge und Werner blickten sich liebevoll an. Dann sagten sie wie aus einem Munde: »Ja.«
*
Claire Müller konnte noch immer nicht so recht glauben, was da gerade in ihrem Leben geschah. Oftmals fragte man sich, warum etwas ausgerechnet einem passiere, obwohl man doch niemandem etwas getan habe, und die anderen, die genug Dreck am Stecken hatten, denen ging es gut. Claire konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie oft sie das gesagt und gedacht hatte. Und nun auf einmal schien es, als habe das Schicksal sich besonnen und ließ nur Gutes auf sie herabrieseln.
Sie hatte einen neuen Job, ach was, einen Traumjob, eine nicht weniger traumhafte Wohnung, und sie würde dort wohnen, wo andere Leute Urlaub machten.
Seit sie freiwillig ihren Job aufgegeben hatte und dem windigen Fabio Belani nach Rom gefolgt war, lief sie eigentlich neben der Spur, und nur ihr Stolz hatte sie daran gehindert, nicht nur Fabio, sondern auch Italien den Rücken zu kehren. Italien war ein wundervolles Land. Sie hatte sehr schnell festgestellt, dass es für sie herrlich war, dort ihren Urlaub zu verbringen, auf Dauer dort zu leben, das war nichts für sich. Trotz dieser Erkenntnisse hatte sie es lange da ausgehalten, nicht umsonst, sie wusste jetzt mehr über die Italiener, und vor allem sprach sie perfekt Italienisch. Das konnte nicht schaden.
Sie hatte ihre Wohnung aufgegeben, ihre Möbel damals in Deutschland eingelagert, als habe sie gewusst, dass sie mal wiederkommen würde. Bitter war für sie vor allem gewesen, wieder in ihr altes Kinderzimmer in ihrem Elternhaus einzuziehen. Was hätte sie sonst tun sollen?Die Alternative wäre gewesen, vorübergehend in ein Hotel zu gehen, das wäre zu teuer gewesen. Sie hatte zwar ein paar Rücklagen, doch die reichten nicht aus, verschwenderisch damit umzugehen.
Achim Hellenbrink hatte ihr versprochen, die restlichen Arbeiten an der Wohnung zügig vorzunehmen, und sie konnte schon mal den Lagerraum kündigen und den Möbelwagen bestellen. Sie würde in den Sonnenwinkel ziehen. Das war schön, doch es war nicht das, was sie so euphorisch machte. Sie würde wieder neben Roberta Steinfeld arbeiten! Das war mehr, als man sich wünschen konnte. Sie war selbst ebenfalls eine sehr gute Ärztin, doch Roberta bewunderte sie, und sie versuchte alles, ihr in beruflicher Hinsicht nachzueifern.
Sie war auf dem Weg in ein neues Leben, und weil das so war, kaufte sie ein, da war sie für ihre sonstigen Verhältnisse geradezu hemmungslos. Die Geschäftsleute konnten sich die Hände reiben, denn sie schlug überall zu, in Boutiquen, Schuhgeschäften, und da sie eine begeisterte Marathonläuferin war, suchte sie auch ein Sportgeschäft auf.
Nachdem sie das verlassen hatte, bekam sie ein schlechtes Gewissen, sie war richtig entfesselt gewesen, und sie wollte jetzt nicht nachrechnen, was sie ausgegeben hatte.
Einen Cappuccino würde sie sich aber noch gönnen, das musste jetzt sein. Sie wollte gerade das Café betreten, als sie Nikola Beck bemerkte, die Freundin ihrer Chefin.
»Hallo, Frau Beck!«, rief sie freudig. »Das ist aber schön, dass ich Sie treffe.«
Sie begrüßten einander, dann sagte Nicki lachend: »Frau Dr. Müller, Sie haben aber Ihre Scheckkarte glühen lassen: Meistens hat man ja einen Grund für euphorische Einkäufe. Gibt es den bei Ihnen?«
Claire begann zu strahlen.
»Und ob.«
Dann erzählte sie Nicki, was sich mittlerweile ereignet hatte. Die wusste von dem Zusammentreffen von Roberta und Claire, wusste ebenfalls, dass Roberta hoffte, dass Claire bei ihr als Ärztin anfangen würde zu arbeiten. Nun war es also in trockenen Tüchern. Warum freute sie sich nicht? Es würde für Roberta eine große Arbeitserleichterung sein, und sie und Frau Dr. Müller waren ein gutes Team.
Sie wusste, was sie störte, Claire Müller war ihr eine Spur zu enthusiastisch!
Neuer Job!
Neue Wohnung!
»Und stellen Sie sich vor, Frau Beck, mein Vermieter hat mich eindeutig angeflirtet.«
Das interessierte Nicki wenig, dennoch erkundigte sie sich: »Und Sie? Gefällt er Ihnen, ist das ein Mann, der auf dem Markt ist oder einer, der gern in fremden Gärten wildert?«
Warum fragte sie das jetzt?
Claire lachte.
»Es ist der Bruder von Frau Hellenbrink, Sie wissen schon, die Mitarbeiterin von Roberta.« Es störte Nicki, dass sie Roberta sagte, dabei wusste sie, dass die Frauen sich duzten, bereits geduzt hatten, als sie noch in der großen Praxis zusammengearbeitet hatten. Heute störte Nicki die Fliege an der Wand, das war es wohl.
»Ja, und Achim Hellenbrink ist geschieden, und ich«, plauderte Claire munter weiter, »ach, eigentlich schmeichelt es mir, dass er so unverhohlen zeigt, dass ich ihm gefalle. Welcher Frau gefällt das nicht. Ich habe auf jeden Fall in den Glückstopf gegriffen, Traumjob, Traumwohnung, und dann dieser malerische Sonnenwinkel. Dort lässt es sich aushalten. Aber sagen Sie mal, müssen wir hier herumstehen? Trinken wir zusammen einen Cappuccino?«
Normalerweise hätte Nicki zugestimmt, sie wusste selbst nicht, warum sie das jetzt mit einer sehr fadenscheinigen Begründung ablehnte.
»Schade«, rief Claire, »ein andermal kann ich jetzt nicht sagen, denn meine Tage hier sind gezählt. Aber im Sonnenwinkel, da werden wir uns auf jeden Fall sehen, sicherlich besuchen Sie Roberta oft. Sie haben ja im Doktorhaus sogar ein eigenes Zimmer, Roberta hat es mir gezeigt, als ich dort übernachtete.«
Auch das noch!
Es war ja kaum noch zu ertragen, sie verabschiedete sich so abrupt, dass Claire ihr ein wenig verdutzt nachblickte. Was war denn auf einmal mit der Frau Beck los? Hatte sie etwas Falsches gesagt?
Viele Gedanken machte Claire sich deswegen allerdings nicht, sie betrat das Café, und da war sie froh, dass gerade ein Ecktisch frei wurde, weil sie dann ihre vielen Einkaufstüten abstellen konnte, ohne dass jemand gestört wurde.
Als Nicki nach Hause lief, ärgerte sie sich. Warum hatte sie sich eigentlich so zickig verhalten? Sie mochte Claire Müller doch, und einen Cappuccino hätte sie auch gern getrunken.
Sie war nicht gut drauf. Eigentlich fehlte nur noch ein Griff, und man konnte sie wegwerfen.
Als sie die sanierte Papierfabrik betreten wollte, kam Jens Odenkirchen ihr entgegen.
»Hallo, Nicki«, rief er ihr zu, sie erwiderte seinen Gruß nicht, sondern blaffte ihn an: »Wo willst du denn hin?«
Er war erstaunt.
»Zur Uni, hast du vergessen, dass ich dort einen Job habe und dass dort eine Menge von Studenten auf mich wartet, denen ich was beibringen möchte?«
Natürlich wusste Nicki das, schließlich waren sie nicht nur Nachbarn, sondern auch ziemlich gute Freunde.
Sie sagte nichts, wirkte wie ein trotziges kleines Mädchen, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte.
Da sie sich so gut kannten, erkundigte er sich: »Nicki, was ist los? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen? Hast du Probleme, bei deren Lösung ich dir helfen kann?«
Es ärgerte sie maßlos, doch sie konnte einfach nichts dagegen tun, es war halt nicht ihr Tag. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, was er natürlich bemerkte.
»Nicki, so schlimm ist es?«, erkundigte er sich behutsam, sie flüchtete sich in seine Arme, er hielt sie ganz fest, streichelte ihren Rücken.
»Es tut mir so leid, dass ich jetzt wirklich zur Uni muss und sogar schon spät dran bin. Aber später, dann erzählst du mir alles, ja? Du weißt doch, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt, und die werden wir gemeinsam finden.«
Seine Nähe tat ihr gut, Nicki spürte, wie ihre Verkrampfung sich ein wenig löste. Sie machte sich aus seinen Armen frei.
»Lass deine Studenten nicht warten«, sagte sie, »wir sehen uns später.«
Er versprach, sich zu beeilen, lief zu seinem Auto, brauste davon. Er war wirklich in Eile, Nicki überlegte einen Augenblick, dann setzte auch sie sich in ihren Wagen und fuhr los.
Heute war Mittwoch, Roberta hatte am Nachmittag auf jeden Fall frei. Nicki hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, ihre Freundin zu sehen. Es war eine verrückte Idee, aber was sollte es, manchmal siegten halt die Gefühle über den Verstand.
Sie konnte jetzt nicht in ihre Wohnung gehen, so sehr sie die auch liebte.
Und auf Jens warten wollte sie ebenfalls nicht, ja, sie waren Freunde, aber alles erzählen konnte sie ihm auch nicht. Und es konnte ja sein, dass es überhaupt nichts mit Claire zu tun hatte, dass sie jetzt so unleidlich war.
*
Roberta staunte nicht schlecht, als plötzlich ihre Freundin Nicki vor der Tür stand. Roberta bemerkte direkt, dass mit Nicki etwas nicht stimmte. Wo war die Frau, die man kannte, die in der Regel gut drauf war? Sie war blass, es stimmte etwas nicht mit ihr. Roberta stellte deswegen auch keine Fragen, sie umarmte Nicki.
»Schön, dass du da bist. Komm rein.«
Das war genau die richtige Reaktion gewesen, wer weiß, wie Nicki sonst reagiert hätte. Sie konnte nämlich auch rasch sehr aufbrausend sein, vor allem, wenn sie durch den Wind war, und das war sie jetzt.
Alma wollte gerade das Haus verlassen, als sie Nicki sah, begann sie zu strahlen.
»Nicki, was für eine schöne Überraschung? Warum hast du dein Kommen nicht angekündigt? Ich hätte dann etwas für dich vorbereitet, vor allem hätte ich mich nicht verabredet. Nun muss ich los.« Es war Alma anzusehen, wie sehr sie das jetzt bedauerte.
»Alma, ich bin ganz spontan gekommen, und ich bleibe auch nicht lange, mach also dein Ding, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, verhungern werde ich hier gewiss nicht.«
»Und wirst du noch da sein, wenn ich zurückkomme?«, wollte Alma wissen.
»Eher nicht, Alma, aber mach dir wirklich keinen Kopf, alles ist gut.«
Weil Alma spät dran war, ging sie, Roberta und Nicki waren allein.
Roberta war verwirrt, mit Nicki stimmte etwas nicht.
War sie unglücklich verliebt?
Das kam schon mal vor, und wenn sie wollte, konnte Nicki eine richtige Dramaqueen sein.
»Möchtest du einen Kaffee trinken?«, wollte Roberta wissen, und sie atmete erleichtert auf, weil Nicki den tatsächlich haben wollte. Das war schon mal ein gutes Zeichen, denn dann aß sie dazu ein Stück Kuchen, Kekse, eine andere Süßigkeit.
Es kam so, und dann wagte Roberta endlich die Frage, die ihr die ganze Zeit über schon auf der Seele brannte.
»Was ist los, Nicki?«
So direkt mit der Frage konfrontiert, zögerte Nicki, dann allerdings legte sie los, erzählte Roberta von dem Zusammentreffen mit Claire, deren Schwärmerei.
»Roberta, du hast sie sogar im Doktorhaus schlafen lassen, ist das für eine Angestellte, und das wird sie immerhin sein, nicht ein wenig übertrieben?«
Roberta blickte Nicki ganz verblüfft an. War ihre Freundin etwa auf Claire Müller eifersüchtig? Das war so absurd, dass Roberta am liebsten gelacht hätte, das verkniff sie sich angesichts des Aussehens ihrer Freundin.
»Nicki, ich weiß jetzt zwar nicht, warum dich das aufregt, doch Claire hat ein einziges Mal hier geschlafen. Sie kam ganz unverhofft in den Sonnenwinkel, um sich alles mal anzusehen, und wie der Zufall es wollte, hatte meine Ursel Hellenbrink sogar wieder einmal eine Idee, wo Claire wohnen könnte. Du weißt ja, Ursel kennt alles und jeden, und dass es dann auch noch ihr Bruder ist, der eine Wohnung zu vermieten hat, besser geht es nicht. Wie auch immer, sie hat sich die Wohnung angesehen, hat zugesagt, kam wieder vorbei, und da wir ebenfalls noch einiges zu besprechen kannten, schlug ich ihr vor, hier im Doktorhaus zu übernachten. Aber sag mal, warum erzähle ich dir das alles? Es sieht ja beinahe so aus, als müsse ich mich vor dir rechtfertigen.«
Nicki wurde puterrot, sagte zunächst einmal nichts, weil sie sich schämte. Ihr wurde gerade bewusst, was sie da veranstaltete.
»Nicki, ich …«
Nicki unterbrach sie.
»Roberta, tut mir leid, ich glaube, da ist bei mir gerade ein ziemlich blöder Film abgelaufen. Claire war so glücklich, so euphorisch. Sie kam aus der Schwärmerei überhaupt nicht mehr heraus, da hatte ich auf einmal das Gefühl …«
Sie brach ihren Satz ab, und es dauerte eine Weile, ehe sie den Faden wieder aufnahm.
»Es ist verrückt, aber auf einmal hatte ich das Gefühl, Claire Müller könnte sich zwischen uns schieben. Sie durfte bei dir übernachten, sie schwärmt für dich, für den Sonnenwinkel, in dem ich, wie du weißt, nicht einmal tot über dem Zaun hängen möchte …, ich bin einfach losgefahren, ohne zu überlegen. Es war töricht von mir.«
Insgeheim atmete Roberta erleichtert auf. Nickis plötzliches Auftauchen hatte ihr schon ein wenig Angst gemacht. Es war zum Glück nichts geschehen, was man nicht mit ein paar Worten aus der Welt schaffen konnte.
»Finde ich nicht, liebste Freundin. Ich freue mich, dass du da bist, und ich hoffe, du wirst auch noch etwas bleiben. Wie du weißt, habe ich heute Nachmittag frei, und wenn Claire erst einmal mit ihrer Arbeit angefangen hat, wird sich mit Leben sehr entschleunigen. Darauf freue ich mich, dann haben wir nämlich auch ein wenig mehr Zeit füreinander, können endlich all die Reisen unternehmen, die wir geplant haben, und ich kann auch mal wieder zu einem Ärztekongress fahren, was ich mir bislang verkniffen habe. Alles wird gut.«
Roberta nahm es so gelassen, dabei hatte sie sich wirklich mehr als dämlich verhalten. Doch ehe sie etwas sagen konnte, sie überlegte noch, wie sie es formulieren sollte, fuhr Roberta fort: »Nicki, wir müssen jetzt nicht hinterfragen, warum du so überreagiert hast. Du bist und bleibst meine allerbeste Freundin, mein Herzensmensch. Da kann nichts und niemand etwas daran ändern. Sieh mal, das war auch nicht der Fall, als Lars noch in meinem Leben war, nicht während der Episode mit Kay, und auch als ich mit Max noch verheiratet war, habe ich dich seinetwegen nicht vernachlässigt. Im Gegenteil, ich war froh, dass es dich in meinem Leben gab. Ohne dich hätte ich das alles überhaupt nicht geschafft … Nicki, ich bin so unendlich dankbar, dass es dich gibt. Eine Freundschaft, wie sie uns miteinander verbindet, die findet man nicht an jeder Ecke. Die ist sehr kostbar. Und was Claire betrifft: Die ist ein Glücksfall für mich.«
Es dauerte eine ganze Weile, ehe Nicki etwas sagen konnte. Sie wusste selbst nicht, was auf einmal in sie gefahren war.
»Roberta, ich glaube, für einen Augenblick dachte ich wirklich, Claire könnte sich zwischen uns drängen.«
»Was für ein verrückter Gedanke. Niemals, Nicki, verstehst du? Niemals! Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass dir keine Zweifel mehr kommen werden. Du bist und bleibst meine allerbeste Freundin, und ich bin überglücklich, dich in meinem Leben zu haben. Bitte, vergiss das niemals.«
Nicki sprang spontan auf, lief zu Roberta, umarmte die stürmisch, dann sagte sie im Brustton der Überzeugung: »Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen. Ich war ja so etwas von blöd.«
Lächelnd ging Roberta darauf ein.
»Das kann man wohl sagen.«
Nicki setzte sich wieder.
»Ich rede und rede über meine eigene Befindlichkeit. Wie egoistisch von mir. Wie geht es dir? Gelingt es dir mittlerweile ein wenig, die Dämonen zu vertreiben?«
Es fiel ein Schatten auf Robertas Gesicht. Weil sie absolut ehrlich zueinander waren, machte sie jetzt auch kein Läppchen darum, sondern sagte, wie es um sie stand, wie sie sich fühlte.
»Manchmal geht es ganz gut, ein andermal fällt es mir unglaublich schwer, damit klarzukommen, dass Lars nicht mehr in meinem Leben ist. Da könnte ich schreiend ums Haus rennen. Ich bin froh, meine Arbeit zu haben. Da muss ich mich zusammenreißen. Ich glaube, ohne die würde ich in eine tiefe Depression verfallen.«
»Roberta, man hat Lars noch nicht gefunden, auch nicht seine Begleiter, das bedeutet doch, dass …«
Roberta unterbrach sie.
»Nicki, sprich nicht weiter. Hätte es ein kleines Fünkchen Hoffnung gegeben, dann wären die Suchaktionen nicht abgebrochen worden. Ich muss versuchen, das zu akzeptieren, und es stimmt mich wehmutsvoll und glücklich zugleich, wenn ich an all das Wundervolle, das Einmalige denke, das ich mit ihm erleben durfte. Lars war meine Lebensliebe. Und es beruhigt mich auch, dass die vereinbarte Auszeit zwischen uns für ihn kein Grund war, über eine endgültige Trennung nachzudenken, sondern dass das Gegenteil der Fall war. Lars wollte mich heiraten, er wollte zu mir ziehen. Er wollte sein ganzes Leben für mich umkrempeln. Dass es dazu nicht gekommen ist, zerreißt mir beinahe das Herz. Wenn es ganz schlimm wird, dann lasse ich meiner Fantasie Flügel wachsen und steigere mich in ein Leben mit meinem Lebensmenschen, meiner Lebensliebe hinein, das es in Wahrheit vermutlich überhaupt nicht gegeben hätte.«
Als sie Nickis verschrecktes Gesicht bemerkte, sagte sie leise: »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin glücklich, dass ich es wenigstens für eine kurze Zeit erleben durfte, dieses unendliche Glück, von dem die meisten Menschen nur träumen.«
Vielleicht war es jetzt töricht, diese Frage zu stellen, doch Nicki fühlte sich ein wenig überfordert, weil sie so überhaupt nichts sagen konnte. Damals bei Max, da hatte sie eine Strategie entwickeln können, die Roberta half, diese grauenhafte Scheidung hinter sich zu bringen. Das war nun eine vollkommen andere Situation.
»Warst du noch mal am Haus am See?«, erkundigte sie sich, und bereute es sofort, diese Frage gestellt zu haben.
Zum Glück nahm Roberta es einigermaßen gelassen auf.
»Nein, bei meinem letzten Besuch hatte ich abgeschlossen, vermutlich sind bereits die Abbruchbagger im Einsatz. Weißt du, vielleicht ist es ja gut, dass dort alles verschwindet, die Erinnerungen werden bleiben, auch ohne Haus. Aber Fremde darin zu sehen, das hätte wehgetan. So nimmt die Natur sich zurück, was ihr eh gehört, und niemand muss mehr ein schlechtes Gewissen haben oder sich ärgern, dass aus welchem Grund auch immer, da eine Baugenehmigung erteilt worden war. Mitten im Naturschutzgebiet. Dafür wird jetzt das Nordufer touristisch erschlossen mit einem vergrößerten Bootshafen, einem Schwimmbad, Bootsverleih, einem Restaurant, und der Campingplatz soll ebenfalls erweitert werden, sogar einen Klettergarten soll es in der Nähe geben, eine Minigolfanlage. Es ist keine schlechte Idee, zumal die Zufahrt zum Nordufer sehr viel besser ist, und man hat jetzt schon einen großen Parkplatz.«
Nicki zuckte die Achseln.
»Vielleicht hat auch der neue Besitzer des Herrensitzes daran gedreht, der alles ein wenig exklusiv halten will. Da stören unter Umständen Otto Normalverbraucher und Familien, die mit Kühlbox und Grill angereist kommen.«
Jetzt musste Roberta herzhaft lachen, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. Nickis Fantasie ging wirklich manchmal mit ihr durch.
»Nicki, das war doch bislang auch nicht der Fall. Grillen war ja auch überhaupt nicht erlaubt. Und Piet van Beveren kann es ziemlich egal sein, was am See geschieht. Der baut da oben etwas so Exklusives hin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute, ob nun geliftet oder den Spabereich genießend, die viel Geld für ihren Aufenthalt ausgeben, herunter zum Sternsee kommen, um den zu umrunden. Die wollen unter sich bleiben, und sie haben ja auch alles, was ihr Herz begehrt.«
Nicki war über den Themenwechsel froh, denn nun konnte sie ordentlich über die Leute abziehen, die ein Vermögen dafür ausgaben, sich eine neue Nase, ein neues Kinn und viel mehr machen zu lassen. So etwas würde sie niemals verstehen. Glaubten die wirklich, dass aus ihnen ein anderer Mensch wurde, weil sie sich ein anderes Aussehen verpasst hatten?
Roberta ermüdete dieses Thema. Jeder hatte für alles seine Gründe, doch als Nicki über den Besitzer herziehen wollte, sagte sie rasch: »Ich glaube, wir haben von Piet van Beveren einen verkehrten Eindruck. Teresa von Roth, die ja nun wahrhaftig ein sehr kritischer Mensch ist, hat ihre Meinung über diesen Mann geändert. Sie hält große Stücke auf ihn. Wer weiß, wir kommen vielleicht auch noch mal dahinter, was sich hinter diesem Mann verbirgt.«
Nicki winkte ab.
»Ich muss das nicht wissen. Ich habe ihn zwar nur hier und da ganz kurz gesehen, doch er passt nicht in mein Beuteschema.«
Roberta verkniff sich eine Frage, denn sonst hätte sie sich gern erkundigt, wie es da mit dem Professor, ihrem Nachbarn, aussah.
Ehe Roberta sich erkundigen konnte, wie es mit dem Verlauf der weiteren Stunden aussah, kam ein Anruf, der Roberta zu einem Patienten rief. Und das nahm Nicki auch direkt zum Anlass, aufzubrechen.
»Ich habe noch eine Übersetzung zu machen, und ich kann ja jetzt ganz beruhigt aufbrechen, nachdem ich weiß …«, sie brach ihren Satz ab, lachte. »Wie heißt es so schön? Viel Lärm um nichts. Die Fahrt hierher hätte ich mir ersparen können.«
Sie umarmte Roberta.
»Danke für die Geduld, die du immer mit mir hast«, rief sie. »Aber darf ich die Kekse mitnehmen, die da noch auf dem Teller liegen?«
»Nicht nur die, meine liebe Nicki, ich glaube, Alma hat nichts dagegen, wenn wir jetzt ihre ganzen Vorräte plündern.«
Damit war Nicki sehr einverstanden. Und als Roberta ihrer Freundin auch noch vorschlug, doch auch mal im Kühlschrank nachzusehen, ob sich da nicht etwas befand, was deren Herz begehrte, zögerte Nicki nicht lange. Sie wusste schließlich um Almas Kochkünste.
Nicki fand so manches, und dann erkundigte sie sich: »Und was ist mit dem Nudelsalat? Der sieht ja köstlich aus.«
»Nimm ihn mit«, schlug Roberta vor, dann holte sie für all die Schätze, die Nicki hervorgekramt hatte, Dosen und anderes Verpackungsmaterial. Es waren schließlich zwei prall gefüllte Einkaufstüten, die Nicki mitnahm.
»Es hat sich ja für mich so richtig gelohnt herzukommen«, freute Nicki sich.
»Und ich dachte, dass du meinetwegen gekommen bist«, lachte Roberta.
Das bestätigte Nicki natürlich sofort, beteuerte, auch alles zurückzulassen, wenn sie sich entscheiden müsste.
Das musste sie zum Glück nicht, gemeinsam verließen sie das Doktorhaus, und draußen angekommen, verabschiedeten sie sich ganz herzlich voneinander. Sie waren schon ein gutes Team, die beiden eigentlich so unterschiedlichen Frauen.
Nicki stieg stolz mit ihren Errungenschaften in ihr Auto, Roberta vergewisserte sich, dass sie ihren Arztkoffer nicht vergessen hatte, dann fuhr auch sie los.
Im Grunde genommen war ihr Besuch bei dem Patienten unnötig. Er hätte direkt einen Notarztwagen rufen können, denn Roberta ahnte, dass sein Sturz im Garten nicht ohne Folgen geblieben war. Leider war es nicht der erste Sturz bei diesem Mann. Es war sehr schwer, ihm beizubringen, dass er nicht mehr so konnte wie früher, dass er manche Arbeiten delegieren musste. Er sah es nicht ein. Und in ein Krankenhaus ließ er sich ebenfalls erst einliefern, wenn sie ihr Okay dazu gegeben hatte. Von einem anderen Arzt ließ er sich nichts sagen, da war er sehr misstrauisch. Und Roberta hatte ihre Patienten einfach zu sehr verwöhnt. Bei den meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen kämen die Patienten mit ihren Sonderwünschen nicht durch. Roberta würde ihr Verhalten nicht ändern, sie war nicht umsonst in eine Praxis gegangen, zu der Hausbesuche gehörten. Allein aus diesem Grund war es gut, dass Verstärkung kam. Roberta freute sich sehr auf Claire. Wenn die Ärmste wüsste, was sie bei Nicki ausgelöst hatte. Nicki hatte manchmal wirklich ganz verrückte Ideen, dennoch war es schön gewesen, sie, wenn auch nur kurz, zu sehen.
*
Roberta hatte den Patienten ins Krankenhaus einliefern lassen, und dem hatte er sich auch gefügt. Was sie dem Mann allerdings verschwieg war, dass es ganz nach einem Oberschenkelhalsbruch aussah. Den zogen sich Menschen, die älter waren, leider sehr häufig zu. Einige ihrer Patienten waren deswegen bereits ins Krankenhaus gekommen.
Als Roberta wieder nach Hause fuhr, traf sie die Postbotin, die ihr aufgeregt zuwinkte. Das war so auffällig, dass Roberta den Wagen anhielt, die Scheibe herunterkurbelte.
Die Postbotin stieg vom Fahrrad ab.
»Frau Doktor Steinfeld, zu Ihnen muss ich auch noch, doch wenn ich Sie schon sehe, kann ich Ihnen den Brief direkt geben. Er sieht ziemlich ramponiert aus, und er scheint einen langen Weg hinter sich zu haben, aber die Briefmarke …«
Roberta unterbrach die Postbotin lachend.
»Die gefällt Ihnen, und die hätten Sie gern«, sie kannte das Spiel bereits. »Versprochen, die bekommen Sie wieder.«
Die Postbotin bedankte sich, und Roberta fragte sich, wer ihr einen langen Brief geschrieben haben könnte. Postkarten bekam sie viele von ihren Patienten aus dem Urlaub. Briefe nur selten, und wenn, dann kamen die nicht aus dem Ausland und trugen begehrenswerte Briefmarken, sondern waren in der Regel freigestempelt.
Ein wenig neugierig war Roberta schon. Die Frau kramte in ihrer auf dem Gepäckträger befindenden Tasche, dann schwenkte sie einen Umschlag, reichte ihn Roberta durch das Fenster, bedankte sich nochmals im Voraus für die Briefmarke, dann stieg sie auf ihr Fahrrad und radelte winkend davon. Sie musste sich sputen, sie hatte genug zu tun, und wenn auch noch Werbung zu verteilen war, schaffte sie ihre Arbeit nicht in der vorgegebenen Zeit.
Roberta war froh, dass die Postbotin weg war, denn die hätte sich jetzt sehr gewundert, warum die Ärztin blass geworden war und am ganzen Körper zitterte.
Roberta kannte die Schrift.
Sie gehörte Lars!
Doch wie konnte das sein? Lars war verschollen, oder hatte … Nein! Sie durfte jetzt keine Spekulationen anstellen, aber sie war auch nicht in der Lage, weiterzufahren als sei nichts geschehen. Der wirklich sehr mitgenommen aussehende Brief brannte wie Feuer in ihrer Hand. Einem Impuls folgend hätte sie ihn am liebsten sofort aufgerissen, um ihn zu lesen. Doch dann erinnerte sie sich daran, wo sie sich befand, nämlich in ihrem Auto, und hier konnte jeden Augenblick jemand vorbeikommen, sie grüßen, ansprechen, in ein Gespräch verwickeln.
Nein, das ging überhaupt nicht.
Sie legte den Brief auf den Beifahrersitz, und sie war so aufgeregt, dass sie den Wagen einige Male starten musste, ehe sie den wieder in Gang brachte. Welch ein Glück, dass das jetzt niemand mitbekommen hatte, denn das wäre mehr als peinlich gewesen. Die Frau Doktor fuhr Auto wie jemand, der gerade die erste Fahrstunde vor sich hatte.
Roberta hatte keine Ahnung, wie sie nach Hause gekommen war, wie sie drauf war, erkannte man allerdings daran, wie sie ihr Auto geparkt hatte. Einen Augenblick überlegte sie, sich noch einmal hineinzusetzen und richtig zu parken, dann ließ sie es bleiben. Sie war sich nicht sicher, ob ein zweiter Versuch mehr Erfolg zeigen würde.
Sie war auch kaum in der Lage, die Haustür aufzuschließen, so sehr zitterte ihre Hand. Endlich hatte sie es geschafft, warf ihre Tasche in eine Ecke, dann rannte sie mit dem Brief in der Hand in ihr Wohnzimmer, schmiss sich in einen Sessel.
Ihr Herz klopfte wie verrückt, und sie würde vermutlich ein Wunder erleben, wenn sie jetzt ihren Blutdruck maß. Roberta zwang sich zur Ruhe, versuchte, ruhig zu atmen, sie tat mit nur sehr geringem Erfolg all das, was sie ihren Patienten immer predigte.
Ihr Telefon klingelte, sie beachtete es nicht.
Der Brief …
Sie starrte auf die ihr so vertraute Handschrift, die Gedanken liefen in ihrem Kopf Amok, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie in der Lage war, den Umschlag mit zitternden Fingern zu öffnen.
Es war ein sehr emotionaler Augenblick, der ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Und insgeheim wünschte sie sich, der Brief wäre gekommen, als Nicki noch zu Besuch gewesen war.
Es war ganz komisch, auf der einen Seite platzte sie beinahe vor lauter Neugier, auf der anderen Seite hatte sie Hemmungen, den Brief auseinanderzufalten, um ihn endlich zu lesen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange es gedauert hatte, Roberta hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren.
Endlich raffte sie sich auf, faltete das Blatt auseinander, und schon verschwammen die Buchstaben vor lauter Tränen, die sie einfach nicht verhindern konnte.
Meine Liebste, die Sterne sind ganz nahe, ich sehe sie, denke an Dich, und ich frage mich, warum es noch keinen Stern gibt, der Deinen Namen trägt. Das holen wir nach. Unsere Technik ist zusammengebrochen, und ich habe keine Ahnung, wie und ob ich diesen Brief jemals an Dich abschicken kann. Ich muss ihn aber schreiben, jetzt, in diesem Augenblick, weil Du wissen musst, wie sehr ich Dich liebe, wie sehr ich Dich vermisse. Du hast mir die Lust am Alleinsein verdorben. Ein Leben an Deiner Seite ersetzt alle Abenteuer dieser Welt. Ich hätte es Dir ja gern persönlich gesagt, auch das kann nicht warten. Ich möchte Dich heiraten, ich möchte Kinder mit Dir haben. Es war dumm von mir, Angst davor zu haben. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als neben der Frau, die man liebt, einzuschlafen, neben ihr aufzuwachen. Danke, dass es Dich gibt, durch Dich hat mein Leben zu leuchten begonnen, Du bist in meinem Herzen, in meiner Seele. Und dort wirst Du auch für immer bleiben.
Ich liebe Dich, ich liebe Dich, ich liebe Dich.
Auf ewig, dein Lars.
Solveig hatte ihr von Lars’ Absichten erzählt, und sie hatte keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln, zumal sie ihr auch die Ringe gegeben hatte. Jetzt wusste sie es auch von ihm, gewissermaßen ein letztes Vermächtnis. Hatte er geahnt, dass sie sich niemals mehr sehen würden? Menschen hatten ja Vorahnungen.
Roberta machte sich deswegen keine Gedanken, in ihrem Kopf war überhaupt kein Platz dafür. Es hatte sie mit aller Gewalt wieder eingeholt, und sie wusste augenblicklich nicht, ob sie sich freuen oder ob sie ihren Schmerz laut herausschreien sollte.
Er hatte ihr geschrieben!
Er hatte ihr die Erfüllung all ihrer Wünsche in Aussicht gestellt, all das, weswegen sie sich mit ihm gestritten, weswegen sie an ihm gezweifelt hatte.
Lars hatte sie heiraten wollen. Die Dämmerung brach herein, Roberta merkte es nicht. Es wurde Abend, im Zimmer war es dunkel, sie bekam es nicht mit. Sie hielt den Brief ganz fest an sich gepresst, sie war glücklich, sie war traurig, und sie musste weinen.
Warum war das Schicksal so grausam zu ihr?
Warum spielte es ihr diesen Streich?
Es zeigte ihr, wie es war, im Himmel zu sein, um sie kurz darauf ohne Vorwarnung in die Hölle stürzen zu lassen.
Irgendwann ebbte der tiefe Schmerz ab, machte einer unendlichen Traurigkeit Platz. So fand Alma sie vor, als sie wieder nach Hause kam und erschrocken war, Roberta in der Dunkelheit vorzufinden. Sie machte Licht an. Roberta schloss für einen Moment geblendet die Augen.
Ein Blick genügte, und Alma wusste Bescheid. Sie hatte alles hautnah miterlebt und Antennen dafür entwickelt, ob und was über Lars Magnusson zu hören war.
Mit wenigen Schritten war sie bei Roberta, setzte sich neben sie, umfasste ihre Schultern. Es war sehr wohltuend für Roberta.
»Frau Doktor, was ist passiert? Ist …, hat man …«, stammelte sie. Sie war so aufgeregt, dass sie ihren Satz nicht beenden konnte.
Roberta ahnte, welche Frage Alma stellen wollte. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein …, es ist …«, auch ihr fiel es nicht leicht zu sprechen, sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um einen einigermaßen vernünftigen Satz auszusprechen. »Lars hat mir geschrieben, doch das war, bevor er … äh … ehe er … verschwand.«
Alma hinterfragte nichts, sie hielt Roberta nur ganz fest im Arm. In manchen Momenten konnten Worte sehr störend sein.
Roberta genoss für eine Weile Almas Nähe, spürte deren aufrichtiges Mitgefühl. Das tat sehr gut. Irgendwann befreite sie sich aus Almas Armen.
»Es hat mich aufgewühlt, doch ich denke, irgendwann werde ich dankbar sein, diesen Brief bekommen zu haben, ach nein, ich bin es doch schon jetzt. Dieser Brief ist wie ein kostbares Geschenk. Es tut nur so schrecklich weh, weil es mir bewusst macht, was ich verloren habe.«
Alma nickte, strich Roberta übers Haar, dann stand sie auf, verschwand in der Küche. Das Leben ging weiter, und eigentlich war sie hergekommen, um das Abendessen zuzubereiten. Es war jetzt sehr schwierig für sie, abzuschätzen, ob und was sie zubereiten sollte. Tat sie nichts, vernachlässigte sie ihre Pflichten, tat sie etwas, konnte ihre Chefin ihr das als Pietätlosigkeit auslegen, in einer solchen Situation ans Essen zu denken.
Alma war ein sehr gläubiger Mensch, und letztlich hatte ihr Glaube sie auch gerettet, als sie ganz unten war. Aber jetzt überkam sie ein richtiger Zorn. Was war das für ein Gott, der eine so wunderbare Frau derart quälte? Alma trank nicht viel Alkohol, gern zum Essen mal ein Glas Wein, doch jetzt holte sie sich einen Grappa aus dem Schrank, den sie mit einem einzigen Zug herunterkippte.
Dann entschloss Alma sich, Spaghetti mit Pfifferlingen zuzubereiten, das ging immer, schmeckte jedem. Und Nudeln sagte man nach, dass sie glücklich machten. Das verlangte Alma überhaupt nicht, aber ein wenig die Traurigkeit von ihrer Chefin nehmen, das sollten sie, das wäre schön.
Die Frau Doktor und dieser fesche Mann waren ein so schönes Paar gewesen. Sie waren füreinander bestimmt gewesen, und insgeheim tat Alma ein wenig Abbitte, weil sie manchmal schon ganz schön auf den Herrn Magnussen sauer gewesen war, weil er die Frau Doktor immer wieder allein gelassen hatte.
Niemand hatte ahnen können, dass er niemals mehr wiederkommen würde. Und so sehr sie es der Frau Doktor auch wünschte, sie war nicht blöd, er würde nicht mehr kommen. Man konnte ihm nur noch seinen Frieden wünschen, und ihr im Grunde genommen auch. Es war nicht mit anzusehen, wie sehr sie litt. Wenn sie das nächste Mal nach Hohenborn kam, dann würde sie wieder in die Kirche gehen und Kerzen anzünden. Diesmal nicht für seine gesunde Wiederkehr, das konnte sie sich ersparen. Nein, für seinen Frieden würde sie es tun. Sie würde darum bitten, dass seine Seele zur Ruhe kam. Und beten würde sie ebenfalls. Vor allem für die Frau Doktor, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war, seit das Schicksal, das Leben, wie immer man es auch nennen wollte, so grausam zugeschlagen hatte.
Alma holte einen Topf aus dem Schrank, in dem sie die Spaghetti kochen wollte, knallte ihn unsanft auf die Herdplatte.
Was da geschehen war, das war doch für überhaupt nichts gut!
Jetzt brauchte Alma einen zweiten Grappa. Ja, den brauchte sie jetzt wirklich, auch wenn sie wusste, dass Alkohol kein Heilmittel war, dass man sich so etwas nur einredete. Oftmals vermutlich auch, um ein Alibi für seine Trinksucht zu haben.
Sie seufzte bekümmert abgrundtief auf.
Alma war nicht neugierig, sie wollte überhaupt nicht wissen, was der Herr Magnusson ihrer Chefin geschrieben hatte. Doch dass der Inhalt dieses Briefes die Ärmste bis in ihre Grundfesten erschüttert hatte, das konnte sogar ein Blinder sehen.
Die arme, arme Frau Doktor! Es zerriss Alma beinahe, und es machte sie so hilflos, weil sie überhaupt nichts tun konnte.
Alma stellte rasch die Grappaflasche weg, ehe sie noch in Versuchung geriet, ein drittes Glas davon zu trinken. Es fehlte noch, dass sie zur Alkoholikerin wurde, ausgerechnet sie, die normalerweise mit Alkohol nichts anzufangen wusste und die Menschen verachtete, die dem reichlich zusprachen und hinterher nicht wussten, was sie taten.
Sie war ein gebranntes Kind, hatte qualvolle Jahre an der Seite eines Alkoholikers verbracht, der sie mit in den Abgrund gezogen hatte. Wenn die Frau Doktor nicht …
Stopp!
Es ging jetzt nicht um sie. Außerdem hielt sie nichts davon, in der Vergangenheit herumzukramen, weil man da eh nichts mehr ändern konnte.
Alma holte die Pfifferlinge aus dem Korb und begann sie zu putzen.
Lieber Gott, lass sie wenigstens etwas essen, betete sie. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob Gott dieses Gebet erhören würde. Schließlich wusste er, dass sie sauer auf ihn war.
Von allem ahnte Roberta nichts. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass Alma gegangen war, so sehr war sie in ihren Schmerz versunken. Dieser Brief hatte alles wieder zum Vorschein gebracht, hatte die mühsam aufgebaute Fassade mit einem Schlag zusammenstürzen lassen.
Lars …
Es war nicht auszuhalten, sie wankte in ihr Schlafzimmer, schaute auf das Bild an der Wand, von dem er sie anlächelte.
Sie griff nach seinem Pullover, den sie ständig in der Hand hatte, presste ihn an sich, vergrub ihr Gesicht in die weiche Wolle. Der Pullover roch längst nicht mehr nach ihm, aber Roberta fühlte sich Lars unendlich nahe mit dem Pulli in der Hand.
Mit der Fassade ihrer Selbstbeherrschung war es vorbei, sie brach wimmernd zusammen. Der Schmerz durchzuckte sie wie mit einem scharfen Messer. Sie hatte Lars verloren, und dabei hätte alles mit ihnen so herrlich werden können. Sie wäre am Ziel ihrer Wünsche angelangt, als Roberta Magnusson, die Frau an seiner Seite …
Sie konnte diesen Gedanken gar nicht weiterspinnen, ihre Schmerzgrenze war erreicht …
*
Inge Auerbach hatte sich sehr darauf gefreut, Jörg und Charlotte als frischgebackenes Ehepaar im Sonnenwinkel begrüßen zu können, und sie hatte sich bereits allerlei ausgedacht, womit sie den beiden eine Freude machen konnte.
Sie waren zwar mittlerweile verheiratet, und es hatte wundervolle Strandfotos gegeben. Jörg und Charlotte Hand in Hand im Licht der untergehenden Sonne, mit Palmen und Meer als Kulisse. Es war nicht zu überbieten, und Inge hätte alles verwettet und ihrem Sohn diesen Sinn für Romantik nicht zugetraut.
Sie waren jetzt ein glückliches, nein, ein überglückliches Paar, das war ihnen anzusehen. Wie gern hätte Inge ein wenig davon mitbekommen. Sie hatten ihre Pläne geändert, hatten einen anderen Rückflug gebucht. Jörg hatte zwar versprochen, dass sie eine Feier nachholen würden, das allerdings war bloß ein sehr schwacher Trost.
Ihre Mutter kam herein, um ihr Luna und Sam zurückzubringen, mit denen sie zusammen mit Magnus einen langen Spaziergang gemacht hatte.
Die Hunde freuten sich. Man konnte sich natürlich fragen, ob das geschah, weil sie glücklich waren, wieder daheim zu sein oder weil sie hofften, nun mit einer Handvoll Leckerli belohnt zu werden.
Inge streichelte ein wenig abwesend die Hunde, doch weil die Leckerli ausblieben, verzogen sie sich beleidigt.
Teresa setzte sich.
»Jetzt sag bloß nicht, dass du noch immer so jammervoll bist, weil Jörg und Charlotte nun nicht kommen werden.«
Ihre Mutter war ebenfalls enttäuscht, doch Inge wunderte sich immer wieder, wie schnell die Enttäuschungen wegstecken konnte.
Egal, was ihre Mutter dachte, beinahe trotzig sagte Inge: »Ja, das bin ich. Wenn jemand heiratet, dann ist das ein ganz besonderes Ereignis, und wenn es sich dann auch noch um den eigenen Sohn handelt …«
Teresa winkte ab.
»Inge, er hat uns teilhaben lassen, indem er uns all die wunderschönen Bilder geschickt hat, auf denen ihnen das Glück nur so aus den Augen strahlte. Was erwartest du noch? Du kennst Jörg, glaub bloß nicht, dass er dir in epischer Breite viel erzählt hätte. Vielleicht wurde dir eine Enttäuschung erspart.«
»Mama, was denkst du denn von mir?«
Teresa lächelte.
»Ich kenn dich, schließlich bin ich deine Mutter. Du warst schon als kleines Mädchen so. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hattest, dann musste das auch so durchgeführt werden, und wenn es nicht klappte, da brach für dich eine Welt zusammen. Freu dich mit unserem Jörg, er hat wieder eine Frau an seiner Seite, die viel besser zu ihm passt als Stella. Und da er jemand ist, der sein Wort hält, wird uns irgendwann eine Einladung ins Haus flattern. Und dann fliegen wir nach Stockholm. So einfach ist das.«
Inge seufzte.
Für sie war es längst nicht so einfach, aber sie sagte jetzt besser nichts mehr dazu, denn ihre Mutter, die sie wirklich über alles liebte, hatte von vielem eine ganz andere Meinung als sie. Inge hatte keine Lust darauf, jetzt unter Umständen zu hören, dass sie halt auf ihre Oma Henriette kam. Diese Vergleiche mit jemandem, den sie nicht einmal persönlich kannte, kamen ihr mittlerweile zu den Ohren heraus.
»Es ist wie es ist«, bemerkte sie nur, und das wurde von ihrer Mutter wohlwollend aufgenommen.
Und es gefiel Teresa ebenfalls, von ihrer Tochter zu einem Kaffee eingeladen zu werden. Sie wusste, dass es dabei nicht blieb, sondern dass Inge dann immer noch Kuchen oder Kekse hervorzauberte. Und dem konnte man nicht widerstehen. Teresa konnte stolz sein auf ihre Inge, denn die besaß viele gute Eigenschaften.
Inge war froh, dass sie nicht mehr über Jörg reden musste, ihre Gefühle in dieser Hinsicht verstand eh niemand. Also lenkte sie das Gespräch auf Berthold von Ahnefeld, der wieder abgereist war, nicht ohne sich ganz herzlich für die genossene Gastfreundschaft zu bedanken.
»Er ist jetzt mit Angela nach Afrika geflogen. Sie wollte an seiner Seite sein, wenn er seine dortigen traumatischen Ereignisse versucht zu verarbeiten. Ehrlich, ich könnte das nicht. Es ist doch klar, dass es Bert wieder einholen wird. Es grenzt doch beinahe schon an Masochismus, an den Ort zurückzukehren, an dem er seine Frau und seine Kinder auf einen Schlag verloren hat.«
Es wunderte Inge nicht, dass ihre Mutter das wieder ganz anders sah.
»Inge, Bert möchte mit Angela ein neues Leben beginnen. Sie kennenlernen zu dürfen, das ist wie ein Wunder, eine ganz große Chance für ihn. Das hat er erkannt. Er möchte frei sein von Altlasten. Bert ist ein so feiner Mensch, er würde es niemals von Angela verlangen. Sie hat es ihm angeboten, mit ihm zu fliegen, und ich finde es auch in Ordnung. Wenn man sich für jemanden entscheidet, dann bringt der auch eine Vergangenheit mit, die man nicht totschweigen kann. Irgendwann kommt so was wieder hoch. Nein, es ist richtig, alles zu verarbeiten, auch wenn es schmerzhaft ist. Er ist nicht allein, Angela ist an seiner Seite, und sie wird ihm helfen, die Last gemeinsam mit ihm zu tragen. Sie wird nicht daran zerbrechen.«
Inge trank etwas von ihrem Kaffee, dem Kuchen widerstand sie und sah beinahe leidvoll zu, wie genüsslich den ihre Mutter in sich hineinstopfte. Es war beneidenswert, wie ihre Mutter alles essen konnte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, während sie etwas nur ansehen musste, und schon hatte sie ein paar Gramm mehr auf den Hüften. Inge wusste, dass es so nicht war, sie war schon eher ein Genussmensch, und leider konnte sie nicht immer den Verlockungen widerstehen. Und sie war auch eher eine Couchpotatoe, während ihre Mutter eisern und diszipliniert ihre Spaziergänge machte. Sie war halt nicht wie ihre Mutter und konnte leider nichts dafür, dass sie wohl auch da auf Oma Henriette kam. Es war eine faule Ausrede, das wusste sie, und deswegen lenkte sie sich rasch von diesen Gedanken ab und sagte: »Ich freue mich für Angela, endlich einen Mann an ihrer Seite zu haben, der zu ihr passt. Bert ist ein ganz wundervoller Mensch, und hätte ich nicht meinen Werner, dann könnte er mir ebenfalls gefallen.«
Teresa lachte.
»Ach Gott, Kind, rede dir das bloß ein, nach Werner kann für dich überhaupt nichts kommen. Dieser Mann müsste erst noch gebacken werden. Zum Glück gibt es da nichts zu entscheiden, ich wünsche dir und Werner noch viele glückliche gemeinsame Jahre, dafür bete ich auch. Glück ist keine Selbstverständlichkeit, wir Menschen vergessen das immer wieder und nehmen es einfach hin.«
Sie schob sich ein Stückchen Kuchen in den Mund.
»Weil sowohl Angela als auch Berthold viel Leid hinter sich haben, er mehr als sie, haben sie erkannt, welch ein Geschenk eine neue Partnerschaft ist. Sie gehen ganz behutsam mit ihren Gefühlen um und haben keine Eile, und das finde ich sehr gut.«
Inge hatte plötzlich eine Idee.
»Mama, hast du eigentlich daran gedreht, dass Angela und Bert ein Paar wurden?«
Eine leichte Verlegenheit machte sich bei Teresa breit.
»Ich gebe zu, dass ich daran dachte, weil mir sofort bewusst war, dass Angela und Berthold perfekt zusammenpassen. Aber ich habe es gelassen, und das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Ich konnte es nicht, nachdem ich das ganze Elend von Berthold vor Augen hatte. Nein, sie sind sich ganz zufällig am See begegnet und wussten nichts voneinander, nicht einmal ihre Namen. Die erfuhren sie erst, als sie wieder bei Rosmaries Party aufeinandertrafen. Es musste so sein, das war kein Zufall.«
Inge verdrehte die Augen.
Ihre Mutter sollte jetzt bitte nicht mit Vorbestimmung oder so etwas anfangen. Das passte nicht zu ihr, und Inge war sich sicher, dass sie auch nicht daran glaubte. Sie warf manchmal nur gern mit Begriffen um sich. Doch im Fall Angela und Berthold …, wie sollte man das bezeichnen? Eine unglaubliche Geschichte war es schon, dass sie sich ausgerechnet im verträumten Sonnenwinkel treffen sollten, der so verträumt ja auch nicht mehr war. Und das brachte sie auf eine weitere Idee.
»Mama, hast du wieder mal deinen Freund van Beveren getroffen, oder warst du oben auf dem Herrensitz?«
Teresa richtete sich auf, sie wusste, dass Inge jetzt sehr gern etwas von ihr erfahren hätte. Doch sie würde sich eher die Zunge zerbeißen statt etwas zu verraten, was ihr anvertraut worden war. Das galt auch für ihre Tochter, von der Teresa wusste, dass sie zum Glück nicht klatschsüchtig war.
»Piet ist noch geschäftlich unterwegs, und ich habe keine Lust, während seiner Abwesenheit hinaufzugehen. Meine Neugier wurde befriedigt, und ich kann immer wieder nur sagen, dass alle Menschen von Piet van Beveren einen falschen Eindruck haben. Er ist großartig, und er hat übrigens auch dem Hohenborner Tierheim einen dicken Batzen geschenkt. Wir alle sollten uns freuen, dass dort oben etwas geschieht. Und Arbeitsplätze schaffen wird er auf jeden Fall. Und dass er es ernst meint, das erkennst du daran, dass er alles Material aus der Region bekommt.«
Inge wüsste nur zu gern, was da oben geschehen war. Ihre Mutter war eine eifrige Verfechterin gegen das Projekt gewesen, sie hatte Unterschriften gesammelt, Kampagnen geleitet, und auf einmal hatte sie ihre Meinung geändert. Bei jedem anderen Menschen würde Inge jetzt sagen, dass er umgekippt sei, vielleicht sogar gekauft. Das traf auf ihre Mutter nicht zu. Nicht für alles Gold der Welt würde sie sich vor einen Karren spannen lassen. An dem Piet van Beveren musste etwas dran sein, was sie alle noch nicht erkannt hatten. Aber das interessierte Inge nicht wirklich. Sie hatte da noch etwas auf ihrem Herzen.
»Hat Hannes sich bei euch gemeldet, Mama?«, wollte sie wissen.
Teresa nickte.
»Ja, das tut er jetzt wieder regelmäßig, und er schickt auch Bilder. Cornwall muss wirklich wunderschön sein. Er hat sich schon ganz gut in Brenlarrick eingewöhnt. Und du weißt ja, wie Hannes ist, er kennt bereits eine ganze Menge Leute. Und was besonders wichtig ist, seine Arbeit macht ihm unglaublich viel Spaß. Er scheint angekommen zu sein, und das macht mich sehr glücklich, Magnus übrigens auch, der ernsthaft überlegt, seiner Einladung bald zu folgen und ihn in Brenlarrick zu besuchen.«
Natürlich freute Inge sich, dass es ihrem Jüngsten gut ging, doch es versetzte ihr auch einen Stich ins Herz, dass er sich ihnen gegenüber weiterhin in Schweigen hüllte.
»Er könnte sich auch bei uns mal melden«, sagte sie aus diesen Gedanken heraus, »wir sind schließlich seine Eltern.«
Teresa ließ sich Zeit mit einer Antwort, sie trank Kaffee, aß etwas Kuchen. Das nahm Inge zum Anlass noch etwas hinzuzufügen: »Als er auf der Weltreise war, später auch aus Australien, haben wir andauernd von ihm gehört. Und das waren wahrhaftig schwierige Umstände.«
»Da konnte er euch auch bunte Bilder schicken, von seinen Eindrücken reden. Jetzt steht er an einem Neuanfang, von dem er weiß, dass er euch, insbesondere Werner, nicht gefällt. Was soll er da schreiben? Dass er Bretter hobeln kann? Eine Arbeit, die Werner zuwider ist, der Hannes am liebsten auf einer Uni sehen würde.«
Dem konnte Inge nicht einmal widersprechen. Werner war aus allen Wolken gefallen, als er von Hannes’ Berufswunsch gehört hatte, und wenn sie ehrlich war, war das Tischlerhandwerk für sie auch nicht die erste Wahl für Hannes.
»Na ja, Mama, ganz unrecht hat Werner ja auch nicht. Mit diesem Abitur hätten ihm alle Möglichkeiten offen gestanden. Und wie du weißt, hatte er sogar ein Stipendium an der Columbia in New York.«
Teresa stellte die Tasse so heftig ab, dass es klirrte. »Du liebe Güte, wie lange willst du eigentlich noch darauf herumhacken? Das mit dem Stipendium war direkt nach dem Abi, danach ging Hannes auf Weltreise, hatte sein Leben in Australien.
Und er hat mehr als nur einmal ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass er eure Erwartungshaltung nicht erfüllen will. Magnus und ich glauben an Hannes, er wird seinen Weg gehen. Und vielleicht wird irgendwann auch mal Werner auf diesen wundervollen jungen Mann stolz sein.«
Professor Werner Auerbach war unbemerkt in den Raum getreten.
»Ich habe da gerade meinen Namen gehört«, sagte er, nachdem er die beste aller Schwiegermutter begrüßt hatte, denn sie verstanden sich sehr gut, Werner und Teresa.
»Wir haben gerade über Hannes gesprochen«, sagte Inge.
»Ach, hat er endlich etwas von sich hören lassen?«, erkundigte Werner sich interessiert.
»Er scheint mit allen in Kontakt zu sein«, sagte Inge ganz traurig, »nur mit uns nicht.«
Das verstand der Professor nun überhaupt nicht.
»Warum das denn nicht?«, wollte er wissen.
Teresa erhob sich, schob Teller und Tasse beiseite.
»Erzähl du es ihm, Inge«, bat sie, »ich muss auch mal wieder nach Hause. Magnus wundert sich gewiss schon, wo ich so lange bleibe, ich wollte nur die Hunde herbringen.«
Die hörten nur Hunde und kamen auf einmal angewieselt.
»Euch nehme ich nicht wieder mit«, lachte Teresa, »ihr seid genug gelaufen und wisst überhaupt nicht, wie gut es euch eigentlich geht.«
Sie verabschiedete sich rasch von Inge und Werner, streichelte noch einmal die beiden Hunde, dann ging sie. Sie hatte jetzt keine Lust auf weitere Diskussionen. Die hatte es oft genug gegeben, und die waren ergebnislos verlaufen. Werner war ein sehr netter Mann, aber er würde wohl nie aus seinem Kopf herausbekommen, aus Hannes einen Akademiker machen zu wollen. Darauf war der gute Werner richtig fixiert. Und da Hannes das jedoch partout nicht wollte, war es eine unendliche Geschichte, auf die Teresa einfach keine Lust mehr hatte, weil es ja auch überhaupt nichts brachte. Außerdem wartete ihr Magnus wirklich auf sie. Er ließ ihr alle Freiheiten dieser Welt, doch er freute sich jedes Mal wie ein Kind, wenn sie wieder zu ihm kam, weil er sie liebte, weil er sich ohne sie an seiner Seite nicht vollständig fühlte. Ihr ging es nicht anders. Sie brauchte Magnus, wollte nicht ohne ihn sein. Und weil das so war, eilte sie jetzt ganz rasch nach Hause. Eine stolze, vitale, für ihr Alter noch sehr gut aussehende Frau …
*
Roberta wusste nicht, was sie ohne ihre Arbeit machen würde, die sie ablenkte und die sie zwang, sich nicht in ein tiefes Loch fallen zu lassen. Nach ihrem letzten Zusammenbruch war sie in ihre Arbeit regelrecht geflüchtet, bürdete sich mehr auf als notwendig, nur um nicht denken zu müssen, was da gerade in ihrem privaten Leben geschah. Es war der reinste Horrortrip! Es war sehr mühsam, eine Fassade aufzubauen, die überall bröckelte, wenn jemand auch nur eine unbedachte Bemerkung machte.
Es war gut, dass neben ihrer Arbeit auch noch der Arbeitsplatz für Claire hergerichtet werden musste, die darauf brannte, so schnell wie möglich in der Praxis anzufangen.
Roberta war sehr froh, Ursel Hellenbrink als tatkräftige Hilfe an ihrer Seite zu haben. Das, was Alma in ihrem Privatbereich war, das war Ursel in der Praxis. Auf beide Frauen konnte sie sich hundertprozentig verlassen, sie standen treu an ihrer Seite, und ihr war klar, dass sie ohne Alma und Ursel alles nicht schaffen würde. Das zu wissen, das tat sehr gut.
Es lag wieder ein sehr arbeitsreicher Tag hinter ihnen, und ehe sie sich voneinander verabschiedeten, sagte Ursel: »Und gleich trete ich meinem Bruder auf die Füße, damit die Wohnung für Frau Dr. Müller bezugsfertig wird.«
»Oh, ich glaube, dass er da ordentlich Dampf macht«, bemerkte Roberta, »zumindest hat Claire mir das gesagt. Ihr Bruder hat ihr versprochen, die letzten Arbeiten zügig durchführen zu lassen.«
Ursel nickte und lachte. Als Roberta sie ein wenig verwundert anblickte, sagte Ursel: »Achim wird sich daran halten. Ich glaube, er hat sich ein wenig in Frau Dr. Müller verguckt. Er schwärmt richtig von ihr, sie wollen sogar, wenn sie erst einmal hier wohnt, zusammen Marathon laufen. So ist das mit den Vorsätzen, mein Bruder hatte sich nach dem Scheitern seiner Ehe nämlich vorgenommen, um die Frauen erst einmal einen ganz großen Bogen zu machen.«
Roberta kannte Achim Hellenbrink nur flüchtig, doch sie fand ihn sehr sympathisch.
»Claire hat zwar keine Scheidung hinter sich, aber eine sehr unangenehme Trennung. Ich weiß, dass sie eine begeisterte Marathonläuferin ist. Sie hat sogar schon beim New York Marathon teilgenommen, und wenn Ihr Bruder diese Leidenschaft teilt …, wer weiß, vielleicht finden die beiden ein neues Glück.«
»Also Achim soll erst einmal die ganzen Scherben zusammenkehren, die überall noch herumliegen, damit eine neue Frau an seiner Seite da nicht hineintritt. Dass Doris ihn verlassen hat, das hat ihn kalt erwischt. Achim ist treu, zuverlässig, und eine Ehe ist für ihn eigentlich unantastbar. Für Doris war es wohl mehr oder weniger ein Übergangszustand.«
»Und wahrscheinlich hat es böses Blut gegeben«, meinte Roberta, die an ihren Scheidungskrieg erinnert wurde, in der Max sich als eine gierige Krake erwiesen hatte.
Das verneinte Ursel zu Robertas Erstaunen.
»Als sie heirateten, war Achim ein armer Student, sie hatte im Hintergrund wohlhabende Eltern und die Aussicht nach deren Ableben auf ein großes Haus. Das wollte sie nicht teilen und hat auf eine gesetzliche Gütertrennung bestanden. Sie konnte nicht damit rechnen, dass aus Achim ein sehr erfolgreicher Architekt werden würde, der eine Menge Geld verdient. Auf das alles hatte sie natürlich keinen Anspruch. Doch nach dem Tod ihres Vaters hat sie ihre Mutter beschwatzt, ihr schon mal alles zu überschreiben. Und nachdem das geschehen war, hat sie sich, wie man so schön sagt, vom Acker gemacht. Da Achim ein gutmütiger Mensch ist, kümmert er sich weiterhin um seine Ex-Schwiegermutter und lässt sie sogar in das neue Haus einziehen.«
Das sprach wirklich für den Mann, das sagte Roberta Ursel auch.
»Ja, gutmütig ist Achim. Ich hätte ihm halt nur gewünscht, dass er mit seiner Ehe nicht so krachend gegen die Wand fährt. Ich würde ja mit jemandem, der mir so etwas antut, kein einziges Wort mehr reden. Er ist nicht sauer auf seine Ex, er hilft ihr sogar noch, wenn sie mal was braucht. Also, ich könnte das nicht. Man kann eine ganze Menge mit mir machen, doch wenn es aus ist, dann ist es auch vorbei. Ich weiß schon, warum ich niemals geheiratet habe. Auch ohne Trauschein lebt es sich gut miteinander.
Mein Lebensgefährte und ich praktizieren das seit einer gefühlten Ewigkeit.«
Als sie Robertas erstaunten Blick bemerkte, weil die überhaupt keine Ahnung davon hatte, dass Ursel liiert war, dass sie so viele Stunden freiwillig in der Praxis verbringen konnte, ohne mit ihrem Partner Ärger zu bekommen, erklärte Ursel: »Frank und ich sehen uns nicht so oft. Er arbeitet als Ingenieur auf Bohrinseln, weltweit, und er wird überall dorthin gerufen, wo Not am Manne ist, wo es brennt, im wahrsten Sinne des Wortes.«
Ehe Roberta sich von dieser Überraschung erholen konnte, fuhr Ursel fort: »Ach, da fällt mir noch etwas ein, die Krankenschwester, die ich als Zweitkraft für unsere Praxis vorgeschlagen hatte, die hat abgesagt.«
Das erstaunte Roberta.
»Ich denke, die Frau möchte so gern in einer Privatpraxis arbeiten?«
Wieder nickte Ursel.
»Ja, sie schon, aber ihr Mann hat es sich anders überlegt, er möchte doch, dass sie in der Klinik bleibt. Und sie hat sich ihm gefügt … Ich weiß schon, warum ich nicht verheiratet bin«, wiederholte Ursel. »Aber ich weiß da noch jemanden. Sie ist eine ausgebildete MTA, arbeitet derzeit bei einem Internisten in Hohenborn, aber sie wohnt hier im Sonnenwinkel mit ihrer Mutter, und sie muss niemanden fragen, sie ist unverheiratet. Wenn Sie möchten, dann rede ich mit Leni Wendler, so heißt sie.«
»Tun Sie das, Ursel. Ich verlasse mich da vollkommen auf Sie. Aber ich finde, jetzt sollten Sie Feierabend machen, ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen.«
Ursel winkte ab.
»Ich habe alle Zeit der Welt, und Sie haben mich nicht gezwungen, Ihnen Geschichten aus meinem Leben zu erzählen.«
»Es war interessant, und ich danke Ihnen dafür. Wir arbeiten so eng miteinander und wissen nur so wenig voneinander.«
Ursel winkte ab. »Und das ist gut so. Für mich ist es wichtig zu wissen, dass Sie die beste Chefin der Welt sind, dass ich mit Begeisterung in der Praxis meiner Arbeit nachgehe. Und ich weiß, dass Sie jederzeit für mich da wären, wenn ich Hilfe bräuchte. Das ist so gut zu wissen. Und nun gehe ich wirklich, denn auch Sie haben Feierabend, und bitte, Frau Doktor. Tun Sie mir einen Gefallen, nehmen Sie keine Akten mit in Ihre Wohnung.«
Roberta versprach es, sie verabschiedeten sich endgültig voneinander, Ursel verließ die Praxis, und Roberta ging in ihre Wohnung. Sie war berührt, Privates aus Ursels und des Lebens ihres Bruders erfahren zu haben. Das hatte sie ein wenig abgelenkt, doch jetzt fielen ihre Gedanken sie wieder wie böse Geister an, die sich alle um Lars drehten.
Hörte der Schmerz denn niemals auf?
Sie wusste selbst nicht, was sie da tat, als sie zu der Schublade rannte, in der sie die beiden Ringe aufbewahrte, die Lars für den großen Tag bereits besorgt hatte. Sie knotete das Lederband auf, zog den für sie bestimmten Ring ab und steckte ihn an den linken Ringfinger, auf dem rechten Ringfinger trug sie den Ring, den Lars ihr einmal gekauft hatte. Sie zitterte am ganzen Körper, doch es fühlte sich richtig an. Sie wusste es von Solveig, und in dem Brief, der so zerknittert war, dass man ihn kaum noch lesen konnte, hatte Lars ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ohne diesen hätte sie es nicht gewagt, doch auf einmal fühlte es sich gut, selbstverständlich an. Es war verrückt, mit dem Ring an ihrem Finger ging es ihr besser, sie war seine Frau, wenn auch nicht auf dem Standesamt und in der Kirche. Sie würde mit niemandem darüber reden, aber ja, mit Nicki, aber sie war sich nicht sicher, ob die das verstehen würde. Oder vielleicht doch, denn Nicki hatte eine romantische Ader.
Sie setzte sich, starrte auf ihre linke Hand, fühlte sich glücklich und traurig zugleich. Als ihr Magen sich meldete, wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Alma war mit ihrem Gospelchor unterwegs, hatte natürlich alles für sie vorbereitet, doch Roberta hatte nichts davon angerührt. Jetzt ging sie in die Küche, machte den Kühlschrank auf und war ganz gerührt. Alma war wirklich unglaublich, sie hatte nicht nur für die zwei Tage, in denen sie wegbleiben würde, alles vorbereitet, sondern ihr, wie in einem Restaurant, Gerichte zur Auswahl bereit gestellt. Dabei hätte es Roberta überhaupt nichts ausgemacht, zu Julia Herzog in den ›Seeblick‹ zu gehen.
Roberta entschied sich für einen Salat mit kaltem Hühnchen, da musste sie nichts aufwärmen, was sie, oh Wunder, mittlerweile sogar konnte.
Dazu trank sie einen trockenen Weißwein, und während sie aß, blickte sie unentwegt auf ihre linke Hand und dachte an Lars, die Liebe ihres Lebens …
*
Teresa von Roth wollte gerade ihre Freundin Sophia besuchen, als sie bemerkte, wie ihre Enkelin Pamela aus dem Schulbus stieg, und Teresa erkannte sofort, dass sie nicht gut drauf war. In Pamelas Gesicht konnte man lesen wie in einem Buch.
»Hallo, mein Mädchen, was machst du für ein Gesicht bei diesem herrlichen Sonnenschein? Hast du eine schlechte Note bekommen, dich über einen Lehrer oder eine Lehrerin geärgert?«
Pamela überlegte einen kurzen Augenblick, dann warf sie sich so heftig in die Arme ihrer Großmutter, dass die Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben.
»Ach, Omi, es ist alles so schrecklich.«
Pamela war ein sehr emotionales Mädchen, und wenn sie so drauf war wie jetzt, dann hatte sie etwas bis tief in ihre Grundfeste erschüttert.
Teresa strich ihr über das Haar, streichelte ihren Rücken und sagte: »Ich glaube, wir zwei gehen jetzt zurück in mein Haus, und bei einer heißen Schokolade mit ganz viel Sahne erzählst du mir, was passiert ist, ja?«
Damit war Pamela sofort einverstanden.
»Omi, du bist das Allerbeste, was es auf der ganzen Welt gibt.«
Arm in Arm gingen sie zusammen ins Haus. Teresa war froh, dass Magnus sich mit einem Bekannten getroffen hatte, um mit dem Schach zu spielen. So konnte sie sich jetzt ungestört um Pamela kümmern.
Während Teresa die heiße Schokolade zubereitete, die für Pamela in allen Lebenslagen die Rettung war, schob sie ihrer Enkelin die Pralinenschachtel zu, in die Pamela sofort hineingriff und für einen Moment alles vergaß, was sie betrübte.
Als die heiße Schokolade vor Pamela stand, auf die sie sich auch sofort geradezu gierig stürzte, erkundigte Teresa sich: »Und nun, mein Liebes, erzähl mir bitte, was dich so sehr bekümmert.«
Irgendwann wandte Pamela sich ihrer Großmutter zu, ihr Mund trug deutliche Spuren von Kakao und Sahne, doch Teresa wies ihre Enkelin nicht darauf hin, sie wollte endlich wissen was los war.
»Heute war in der Schule in der Aula eine Gedenkstunde für Rautgundis …, weißt du, Omi, ich finde wirklich ganz schlimm, dass sie jetzt tot ist. Aber sie hat es sich selbst zuzuschreiben, sie hat diesen armen Mann gestalkt, und sie hat eine ihrer Freundinnen, die für Geld alles tun, damit beauftragt, diese Kussfotos zu machen, mit denen sie ihren Lehrer erpressen wollte. Das ist mittlerweile in der ganzen Schule bekannt, weil manche ihre Klappe nicht halten konnten und alles herausposaunen mussten. Rautgundis war ein Luder, und ich konnte sie noch nie leiden, schon vorher nicht. Als sie dann tot war, tat sie mir so leid, dass ich es sogar zutiefst bedauert habe, sie nicht Gundi genannt zu haben, wie sie das immer wollte. Aber jetzt, nachdem alles herausgekommen ist, nachdem der Lehrer von der Schule geflogen ist, da kann ich nicht so tun, als sei Rautgundis ein Engel gewesen. Es wurden Reden auf sie gehalten, was für ein wunderbarer Mensch sie doch war. Die Frau Krämer, unsere Kunstlehrerin hatte mal einen Weinkrampf, weil sie von Rautgundis so provoziert wurde. Und die stellt sich hin und sagt, wie sehr sie Rautgundis vermissen wird, dabei kann man fast körperlich fühlen, dass sie froh ist, diesen Störenfried nicht mehr sehen zu müssen.« Sie blickte ihre Oma an. »Omi, ich kann damit nicht umgehen. Ich konnte mir nicht ein paar Tränen abquetschen, wie manche es getan haben, die ständig mit Rautgundis Krach hatten. Omi, bin ich ein schlechter, herzloser Mensch?«
»Nein, das bist du nicht, und du musst dir auch überhaupt keine Vorwürfe machen. Gefühle müssen echt sein, die darf man nicht heucheln, weil das unaufrichtig ist. Um den Tod des Mädchens kursieren mittlerweile die wildesten Gerüchte, aber eines hat sich bis zu uns in den Sonnenwinkel herumgesprochen, dieses Mädchen war wirklich kein Engel, sondern sehr egoistisch, hat sich über alles hinweggesetzt, um den eigenen Willen zu bekommen. Ich will jetzt nicht sagen, dass sie ihre Strafe bekommen hat. So etwas zu behaupten, das wäre vermessen und ginge entschieden zu weit. Es war ein tragischer Unfall, und warum der geschehen ist, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen. Und du, mein Mädchen, hast alles richtig gemacht. Du kannst sehr stolz auf dich sein, dass du aufrichtig bist, aus deinem Herzen keine Mördergrube machst, niemandem etwas vorgaukelst. Ich bin ähnlich gestrickt wie du, und ich denke, jetzt hör auf, Rautgundis möge jetzt ihre Ruhe finden.«
Die letzten Worte hatte Inge mitbekommen, die unbemerkt in den Raum getreten war, was nicht erstaunlich war, schließlich hatte sie einen Schlüssel für das Haus ihrer Eltern, wie es umgekehrt ebenfalls der Fall war.
»Womit soll Pamela aufhören?«, wollte Inge wissen.
Nachdem Teresa und Pamela sich davon erholt hatten, dass Inge plötzlich da war, sagte Teresa: »In der Schule war eine Trauerstunde für das tote Mädchen, und Pamela ist ein wenig durcheinander, weil sie keine Trauer empfinden konnte.«
Dann erzählte Teresa ihrer Tochter, was sie gerade von Pamela erfahren hatte, und Inge zerfloss natürlich direkt vor lauter Mitleid. Es zerriss sie immer beinahe, wenn eines ihrer Kinder ein Problem hatte.
Und da Teresa ihre Tochter kannte, solche Situationen immer hautnah mitbekam, sagte sie rasch: »Inge, du musst das jetzt nicht weiter thematisieren. Unsere Pamela weiß jetzt, dass sie sich richtig verhalten hat, dass sie sich keine Vorwürfe machen muss, weil sie keine Trauer heucheln konnte.«
Inge war noch unschlüssig.
»Mami, es ist alles gut, die Omi hat mir eine heiße Schokolade mit ganz viel Sahne gekocht, und …«
Inge ergänzte den Satz. »Und Pralinen hat sie ebenfalls vor dich hingestellt, und das vor dem Mittagessen.« Inge warf ihrer Mutter einen missbilligenden Blick zu.
»Manche Situationen erfordern halt außergewöhnliche Maßnahmen. Wenn du Pamela gesehen hättest, wie sie aus dem Bus stieg, wie ein kleines, aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Ich weiß nicht, was du da gemacht hättest, meine liebe Inge.«
Inge sagte nichts mehr dazu, weil sie vermutlich ähnlich gehandelt hätte wie ihre Mutter. Sie wollte jetzt das Thema Rautgundis nicht mehr aufgreifen, doch sie wunderte sich sehr, dass das, was der Kriminalhauptkommissar ihr anvertraut hatte, mittlerweile zum Gesprächsthema in der Schule geworden war. Sie konnte Pamela verstehen. Sie selbst hatte auch viel mehr Mitleid mit den armen Eltern, die auf so tragische Weise ihre Tochter verloren hatten. Obwohl die sich natürlich gegenüber dem armen Lehrer unmöglich benommen hatten. Ein für sie unvorstellbarer Gedanke sich vorzustellen, was sie machen würde, wäre sie in einer derartigen Situation, dass ihrer geliebten Pamela das zugestoßen wäre.
So etwas konnte man sich nicht vorstellen. Sie blickte automatisch Pamela an, dieses wunderschöne Mädchen mit den wilden braunen Locken, den großen grauen Augen. Wenn sie an der Stelle …
Nein!
An so etwas wollte sie nicht denken, Unheil konnte man auch heraufbeschwören. Jetzt sah Pamela wirklich mitgenommen aus. Sie hatte das auffällige Fahrrad des toten Mädchens gefunden, sie und Pamela hatten sich zunächst auf die Suche gemacht, ehe sie die Polizei eingeschaltet hatten. Sie hatten zuerst von dem Leichenfund erfahren, hatten eine bange Zeit verbracht, ehe herausgekommen war, dass es sich um einen Unfall und kein Tötungsdelikt handelte. So etwas zerrte an den Nerven, und schon da hatte Pamela sich Vorwürfe gemacht, weil sie und Rautgundis nicht gerade allerbeste Freundinnen gewesen waren. Und da war es um etwas sehr Banales gegangen. Rautgundis wollte Gundi genannt werden, und das hatte Pamela nicht getan, weil sie wusste, dass sich das Mädchen darüber ärgerte. Kinderkram. Aber wenn man ein so empathischer Mensch war wie Pamela, zog man sich das an. Pamela war vor lauter Mitleid beinahe zerflossen. Sie war noch zu jung, um zu wissen, dass man nicht in kollektive Trauer verfallen konnte. Jetzt war sie durcheinander, fühlte sich schlecht. Hoffentlich war über die ganze Sache, die so viel Unruhe in den Sonnenwinkel gebracht hatte, bald Gras gewachsen. Dann hörte nämlich auch ringsum das Gerede auf.
Eigentlich hatte Inge sich für ihre Jüngste eine Überraschung aufheben wollen, jetzt konnte sie das nicht mehr für sich behalten.
»Pamela, mein Kind, ich habe etwas für dich, was dich sehr freuen wird.«
Neugierig blickte Pamela ihre Mutter an. Sie hatte einen Herzenswunsch. Hatte den ihre Mutter vielleicht erfüllt?
»Mama, hast du …«, sie wagte kaum es auszusprechen, doch ihr ging es augenblicklich besser, weil sie abgelenkt war von ihren Gedanken.
Inge nickte und freute sich insgeheim, dass sie die Bluse, die Pamela sich so sehr gewünscht hatte, bereits genäht hatte und dass es ihr tatsächlich gelungen war, sie so hinzukriegen wie Pamelas Idol sie auf einem Foto getragen hatte. Pamela war in einem Alter, in dem sich auf der Suche nach seiner eigenen Identität befand, in dem man irgendwelchen Vorbildern nacheiferte. Für Pamela war es derzeit das größte Glück auf Erden, zumindest ähnlich gekleidet zu sein wie ihr Idol, eine bei den Teenies angesagte Sängerin, deren Geschrei, wie Inge es empfand, in der Auerbachschen Villa von früh bis spät durchs Haus schallte.
Pamela sprang so heftig auf, dass der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, beinahe umgefallen wäre.
»Mami, ich glaube es nicht«, quietschte sie und fiel ihrer Mutter um den Hals. »Du hast die Bluse für mich genäht?«
Inge bestätigte es, und Teresa atmete insgeheim auf, um das Seelenheil ihrer Enkelin musste sie sich erst einmal keine Sorgen mehr machen. Gewiss würde es sie hier und da noch einmal einholen, aber es würde nicht mehr schmerzlich sein, und irgendwann würde Rautgundis eine immer mehr verblassende Erinnerung sein.
Pamela ließ ihre Mutter los, wirbelte herum. »Omi, hast du das gehört? Die Mami hat für mich die Bluse genäht, die ich mir so sehr gewünscht habe, sie werden alle platzen vor lauter Neid, und wenn Rautgundis …«
Sie brach ihren Satz ab, das war ihr gerade jetzt unbedacht herausgerutscht. Rautgundis konnte ja überhaupt nicht mehr ganz grün werden vor lauter Neid. Die war ja tot. Aber wäre sie noch am Leben, dann würde sie sich wirklich ärgern, sie hatte nämlich keine Mutter, die all die wunderbaren Sachen nähen konnte. Und es gab eben Dinge, die sich für alles Geld der Welt nicht kaufen ließen.
»Tut mir leid«, murmelte sie, »aber Rautgundis hat sich immer am meisten geärgert, wenn sie all die schönen Sachen sah, die nur ich an der ganzen Schule hatte.«
Pamela sah aus wie das personifizierte schlechte Gewissen, und das musste sie jetzt wirklich nicht haben. Es war so schwer, nicht ungerecht gegenüber dem armen verstorbenen Mädchen zu sein.
»Pamela, du hast nichts als die Wahrheit gesagt, sogar ich weiß, dass es so war. Du hast dich immer wieder darüber beklagt, dass dieses Mädchen so missgünstig war und sich nicht mit anderen Mädchen freuen konnte. Schwamm darüber, mein Mädchen, und ich denke, jetzt solltest du ganz schnell mit deiner Mama nach Hause laufen und die neue Bluse anprobieren, nicht wahr?«
»Ach, Omi, du findest immer die richtigen Worte, ich bin so stolz darauf, dich als Omi zu haben.« Sie rannte auf Teresa zu, umarmte die nun stürmisch, und Teresa war sehr froh, zu sitzen, denn diesmal hätte Pamela sie umgerannt. »Danke für die heiße Schokolade, für die Pralinen. Danke vor allem für deine lieben Worte, du weißt immer, was zu sagen ist. Ich bin so froh, dich zu haben.«
Nach diesen Worten küsste Pamela ihre Großmutter, dann richtete sie sich auf, blickte ihre Mutter an.
»Mami, können wir?« Sprach es und lief direkt los, Inge folgte ihr langsamer, und deswegen bekam sie auch noch mit, was ihre Mutter da gerade gesagt hatte: »Inge, das war eine ganz großartige Idee.«
Ja, das fand Inge jetzt ebenfalls. Jetzt konnte sie sich nur noch wünschen, dass Pamelas Erwartungshaltung erfüllt wurde, doch das hatte bislang immer geklappt, weil Inge in der Chefin des kleinen Stoffladens in Hohenborn mittlerweile eine Verbündete hatte.
*
Es war gut, dass Roberta sich nicht in ihren Schmerz verlieren konnte, ein wenig trug auch Claire Müller dazu bei. Die brannte richtig darauf, ihre Stelle in der Praxis antreten zu können. Auch die neue Mitarbeiterin hatte dank Ursel Hellenbrink zugesagt. Leni Wendler war eine äußerst sympathische Frau mit kurzen braunen Haaren, die umsichtig ihre Arbeit machte und nicht viel redete. Sie hatte schon mal stundenweise neben Ursel an ihrem neuen Arbeitsplatz Zeit verbracht, und das hatte ganz wunderbar geklappt. Ursel und Leni verstanden sich, und die Patienten waren ebenfalls zufrieden und fremdelten nicht, weil da plötzlich neben der ihnen vertrauten Ursel Hellenbrink eine andere Person war.
Alles war gut …
Claire war mit dem für sie eingerichteten Behandlungszimmer sehr zufrieden, mehr noch, sie war begeistert, und sie scharrte schon mit den Hufen, um endlich anfangen zu können.
Im Doktorhaus war alles bereit, jetzt musste nur noch die Wohnung bezugsfertig werden, denn sie hatten beschlossen, dass Claire erst den Umzug hinter sich bringen und dann in der Praxis anfangen sollte. Roberta erinnerte sich daran, wie chaotisch es bei ihr gewesen war, sie hatte angefangen zu arbeiten, in der Privatwohnung hatten die Kartons herumgestanden, kein einziges Möbelstück hatte seinen richtigen Platz gefunden, und da hatte sie ihre Alma noch nicht gehabt. Es war wirklich Stress pur gewesen, und so etwas wollte sie Claire nicht zumuten.
Die war heute in den Sonnenwinkel gekommen, hatte sich begeistert alles angesehen, und nun war sie auf dem Weg zu ihrer neuen Wohnung, da war sie mit Achim Hellenbrink verabredet und hoffte sehr, von ihm die heiß begehrten Wohnungsschlüssel zu bekommen.
Claire konnte ihr Glück noch immer nicht fassen, wieder mit Roberta Steinfeld arbeiten zu dürfen, damit erfüllten sich all ihre Träume. Und dass sie auch gleich eine so schöne Wohnung gefunden hatte auf diesem herrlichen Fleckchen Erde. Auch das war ein ganz großes Glück. Der Sonnenwinkel hatte ihr von Anfang an gefallen, und dass sie nicht direkt in der Siedlung wohnte, das machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, das Haus, in dem sie fortan ihr Leben verbringen würde, gefiel ihr noch viel besser, weil es individueller war, älter. Sie mochte alte Häuser, weil die eine Geschichte zu erzählen hatten, und wenn sie dann drinnen auch noch mit allem Komfort ausgestattet waren, was wollte man mehr.
Sie fuhr langsam, um alles in sich aufzunehmen, es zu genießen, und das konnte sie auch, denn außer ihr befand sich niemand auf der Straße. Es gab keinen nervösen Autofahrer, der hinter ihr auf die Hupe drückte, weil er es eilig hatte, vor ihr war kein Stau. Es hatte schon etwas für sich, hier ganz entschleunigt leben zu dürfen.
Sie befand sich eindeutig auf einer Vorfahrtsstraße, für die die Rechts-vor-links-Regelung nicht galt. Wäre sie nicht so langsam gewesen und hätte nicht geistesgegenwärtig auf die Bremse getreten, dann hätte es einen ziemlich schlimmen Crash gegeben, und das hier im beschaulichen Sonnenwinkel, denn aus einer Seitenstraße war mit überhöhtem Tempo ein grauer Geländewagen auf die Hauptstraße eingebogen. Den Zusammenprall hätte ihr kleines Auto nicht so gut überstanden, und Personenschäden hätte es ebenfalls gegeben.
Ihr Auto stand beinahe quer, und auch der SUV hatte eine Schräglage, aus dem jetzt ein Mann ausstieg, auf sie zu gelaufen kam.
Mit zitternden Gliedern stieg Claire ebenfalls aus.
»Was haben Sie sich dabei gedacht?«, herrschte sie den anderen Autofahrer an. »Das ist keine Rennstrecke, und von Vorfahrtsregeln haben Sie wohl auch keine Ahnung, oder?«
Er wurde verlegen, und beinahe tat er ihr jetzt schon leid, es war ja nichts passiert, zum Glück, konnte man sagen, und er wirkte eigentlich sehr sympathisch, und er sah auf jeden Fall sehr zerknirscht aus.
»Tut mir leid, ich habe wirklich einen Moment lang gepennt und war abgelenkt. Außerdem habe ich es eilig.«
»Das ist kein Grund, einen anderen Menschen zu gefährden«, sagte sie.
Er nickte.
»Sie haben recht, und ich kann mich nur noch einmal bei Ihnen entschuldigen. Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich verletzt? Ich frage Sie das, weil ich Arzt bin.«
Ein Arzt im Sonnenwinkel? Es hatte doch nur Roberta eine Arztpraxis hier!
»Es ist alles okay«, sagte sie, und als sie seinen zweifelnden Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Ich kann das entscheiden, ich bin selber Ärztin.«
Das erstaunte ihn, und er stellte sich wohl gerade eine ähnliche Frage, wie Claire es gerade getan hatte.
»Und Sie wohnen und arbeiten im Sonnenwinkel?«, erkundigte er sich.
»Noch nicht«, antwortete sie, und dann erzählte sie ihm ganz stolz, dass sie in Kürze in der Praxis von Frau Dr. Steinfeld als Ärztin anfangen würde zu arbeiten.«
Er hatte es zur Kenntnis genommen, doch warum huschte jetzt ein Schatten über sein Gesicht?
Claire Müller gehörte zu den Menschen, die direkt einer Sache nachgingen. »Stört Sie das? Kollegin Steinfeld ist nicht nur ein ganz großartiger Mensch, sondern die beste Diagnostikerin, die man sich vorstellen kann. Ich kenne keine bessere Ärztin als sie.«
Sie blickte ihn beinahe herausfordernd an, denn auf Roberta ließ sie wirklich nichts kommen.
»Ich kann das beurteilen«, fügte sie hinzu, »denn ich habe jahrelang für sie gearbeitet, als sie noch die große Stadtpraxis hatte.«
»Ich finde Frau Steinfeld doch auch großartig, ich kann es ebenfalls beurteilen, denn ich habe sie im Krankenhaus schon mehr als nur einmal um ihre Meinung gebeten, wenn ich mir bei einer Diagnose oder Behandlungsweise nicht ganz sicher war.
Nein, es ist nur so …«, er zögerte. »Was soll es, Sie werden es vermutlich eh erfahren oder wissen es sogar bereits …, ich bin Mark Anders«, stellte er sich vor, »und ich bin der Depp, der nicht mit beiden Händen sofort zugegriffen hat, als sich mir die Chance bot, neben Frau Steinfeld zu arbeiten.«
Roberta hatte ihr natürlich davon erzählt. Sie schaute den Mann an, der sein Glück mit Füßen getreten hatte. Er war immer noch sympathisch.
»Das war mein Glück«, sagte Claire, ehe sie sich ebenfalls vorstellte. Zum Glück machte er wegen ihres Namens – Claire Müller – keine dumme Bemerkung, aber es konnte ja auch durchaus sein, dass es nur in ihrem Kopf existierte, weil sie Claire im Zusammenhang mit Müller hasste.
Er reichte ihr die Hand.
»Ich wünsche mir, dass wir uns das nächste Mal unter erfreulicheren Umständen treffen. Darf ich Ihnen wenigstens einen Blumenstrauß schicken?«
»Das Angebot hätte ich gern angenommen, doch im Augenblick ist es so etwas wie Perlen vor die Säue geworfen. An meinem alten Wohnort sitze ich praktisch auf gepackten Koffern, und hier bin ich noch nicht angekommen, doch wenn …«
Sie brach ihren Satz ab, blickte auf ihre Armbanduhr.
»Verflixt noch mal, ich muss los. Mein neuer Vermieter wartet auf mich.«
»Aber fahren Sie langsam«, ermahnte er sie grinsend. Sie verabschiedeten sich voneinander, und Claire gab ihm mit auf den Weg, das selbst zu beherzigen.
Er war nett, der Herr Dr. Mark Anders, sympathisch, und er war ganz schön dämlich, das Jobangebot nicht sofort angenommen zu haben. Doch weil es ihr Glück gewesen war, dachte sie nicht weiter darüber nach, und außerdem interessierte er sie als Mann nicht. Wenn man bei ihr überhaupt von so etwas sprechen konnte, passte er nicht in ihr Beuteschema. Was da allerdings wirklich hineinpasste, wusste sie nicht. Da ging es ihr ein wenig wie ihrer Chefin, auch für sie war der Beruf stets vorrangig gewesen, und dann hatte sie einen Fehlgriff getan.
Doch Achim Hellenbrink, der gefiel ihr schon. Sie dachte noch nicht daran, ob sich zwischen ihnen vielleicht irgendwann einmal etwas entwickeln würde. Aber Marathon laufen würde sie mit ihm auf jeden Fall. Sie lief gern mit jemandem zusammen, anstatt einsam ihres Weges zu laufen.
Mark Anders bewegten ganz andere Gedanken. Er hätte sich noch immer irgendwohin beißen können, diese Chance nicht sofort ergriffen zu haben. In einer Privatpraxis zu arbeiten, das war immer sein Wunsch gewesen. Welcher Teufel hatte ihn da geritten, dem Job im Krankenhaus den Vorzug zu geben?
Tja, nun war nichts mehr zu machen. Er kannte diese Frau Dr. Claire Müller zwar nicht, aber sie gefiel ihm. Und hätte er nicht seine Lilli, die er über alles liebte und die er niemals betrügen würde, dann würde er schon ein Auge auf seine Kollegin werfen, die ein Glückspilz war, ja, das war sie.
*
Achim Hellenbrink wartete bereits auf seine neue Mieterin, und für ihn ging die Sonne auf, als er die sympathische Ärztin aus ihrem Auto aussteigen sah.
»Tut mir leid, Herr Hellenbrink, dass ich zu spät bin«, entschuldigte Claire sich sofort, »es hätte beinahe einen Zusammenstoß mit einem anderen Autofahrer gegeben, der es eilig hatte und die Vekehrsregeln missachtete.«
»Auf Sie würde ich immer warten, Frau Doktor«, sagte er galant. »Sollen wir hinauf in die Wohnung gehen?« Sie benutzten nicht den Fahrstuhl, nahmen die Treppe, oben angekommen, blieb er kurz stehen, warf ihr einen undefinierbaren Blick zu, ehe er die Tür aufschloss, sie eintreten ließ.
Claire blieb überwältigt stehen.
Alle Arbeiten waren abgeschlossen, das sah sie auf den ersten Blick, denn es stand nichts mehr herum, und sie entdeckte noch etwas. Alles war blitzsauber. Sie konnte es nicht fassen, lief von Zimmer zu Zimmer, überall bot sich ihr das gleiche Bild.
Sie konnte einziehen!
Das war der Gedanke, der sie durchschoss, und in ihrer unendlichen Freude umarmte sie ihn spontan, drückte und küsste ihn, bis ihr bewusst wurde, was sie da gerade im Überschwang ihrer Gefühle getan hatte. Sie wurde feuerrot, ließ von ihm ab und wagte kaum, ihn anzusehen, als sie murmelte: »Das ist mir jetzt aber so was von peinlich …, ich habe mich nur so gefreut.«
»Und ich habe nichts dagegen, wenn Sie fortfahren, Frau Doktor«, sagte er.
Sie musste diesen Augenblick überbrücken, murmelte: »Nennen Sie mich einfach Claire.«
Das freute ihn.
»Prima, dann bin ich der Achim.«
Sie nickte, dann lief sie noch einmal durch alle Räume.
Was war bloß in sie gefahren? Was musste er jetzt von ihr denken, dass sie ihn anmachen wollte?
Sie atmete tief durch, versuchte sich zu sammeln, und als sie wieder zu ihm zurückkehrte, war ihr das auch einigermaßen gelungen: »Ich muss mich noch einmal entschuldigen, es ist überhaupt nicht meine Art, mich Männern spontan an den Hals zu werfen.«
»Es ist nichts passiert«, beruhigte er sie, »und ich habe das auch nicht als Anmache ausgelegt, du hast dich halt gefreut, und es freut mich wiederum, dass mir die Überraschung gelungen ist. Je eher du hier einziehst, umso früher können wir unser Marathontrainig aufnehmen. Im nächsten Monat ist der Hohenborn-Marathon, wenn du magst, dann melde ich uns direkt an. Dieser Marathon ist unter den Läufern sehr beliebt, und es haben sich auch schon einige der großen Läufer angemeldet, gegen die wir natürlich keine Chancen haben.«
Sie war froh, dass er sich einem unverfänglichen Thema zugewandt hatte.
»Ich laufe nicht, um als Siegerin durchs Ziel zu gehen, diese Ambition hatte ich noch nie. Ich laufe Marathon, weil es mir Spaß macht, weil es immer wieder eine Herausforderung ist, bis an seine Grenzen zu gehen, manchmal sogar darüber hinaus.«
Er nickte, bestätigte, dass er es ähnlich sah.
»Und ab jetzt bin ich ein Glückspilz«, rief er, »ich laufe an der Seite einer Ärztin, da kann mir überhaupt nichts mehr passieren.«
Jetzt hatten sie ein Thema.
Sie sprachen über den Marathon, und es wäre vermutlich noch eine ganze Weile so weiter gegangen, hätte nicht sein Handy geklingelt. Man verlangte ihn auf einer Baustelle, was er sehr bedauerte.
Er überreichte Claire die Wohnungsschlüssel, den Vertrag hatte sie ja längst unterschrieben, erklärte ihr rasch noch einiges, dann verabschiedete er sich von ihr.
Er hielt ihre Hand fest, was sehr angenehm war, blickte ihr in die Augen, was sie verlegen machte, dann sagte er mit rauer Stimme: »Ich bin sehr froh, dass du hier einziehst, Claire.«
Dann verabschiedete er sich, ehe sie etwas dazu sagen konnte. Sie war allein in ihrer neuen Wohnung, und das fühlte sich ganz unglaublich an.
Nachdem er gegangen war, lief sie noch einmal beinahe ganz andächtig durch die Räume, blieb bewundernd in dem komfortablen Badezimmer stehen, setzte sich auf den Wannenrand, das musste jetzt sein, weil sie ziemlich überwältigt war.
Wenn sie an die Zeit dachte, die hinter ihr lag, hatte sie das Gefühl, sich in den Arm kneifen zu müssen, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht träumte.
Sie hatte einen Traumjob!
Sie hatte eine Traumwohnung!
Und ihr Vermieter …, jetzt wollte Claire sich nicht in etwas verlieren, was vielleicht nicht gut für sie war. Sie war ein gebranntes Kind und wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich am Feuer verbrannte.
Er war nett, sie würden Marathon miteinander laufen, basta.
Sie stand auf, und dann begann sie mit ihrer Runde noch einmal, stellte sich vor, was sie wohin stellen würde. Claire hatte keine Ahnung, wann sie sich zum letzten Male so glücklich gefühlt hatte. Für ihre Eltern hätte es so weitergehen können, sie wieder daheim, im Kinderzimmer.
Nein!
Als Übergangslösung war es ja ganz in Ordnung gewesen, doch wirklich nur als Übergangslösung. Wenn man das Elternhaus einmal verlassen hatte, fühlte es sich einfach nicht gut an, als erwachsener Mensch dorthin zurückzukehren. Das fühlte sich ganz verdammt nach scheitern an, doch wenn sie ehrlich war, das war sie ja auch.
Vergangenheit!
Daran wollte sie nicht zurückdenken, denn das würde ja ihr Glück nur schmälern, das sie jetzt empfand.
Als sie ihren Rundgang noch einmal wiederholen wollte, rief sie sich selbst zu Ordnung. Sie hatte noch eine ganze Menge zu tun, doch davor war ihr nicht bange. Und eines konnte sie jetzt schon tun, als erste Handlung in ihrer eigenen Wohnung. Sie rief den Spediteur an und sagte ihm, dass der Möbelwagen sich in Bewegung setzen konnte. Und das Glück war wirklich auf ihrer Seite. Da sich bei einem seiner Kunden etwas verzögert hatte, konnte der Spediteur ihr den Transport bereits für morgen ankündigen. Die Adresse und alle sonstigen nötigen Angaben hatte er. Die Möbel waren bei ihm eingelagert. Besser ging es wirklich nicht.
Nachdem sie sich bedankt und das Gespräch beendet hatte, wurde ihr bewusst, was das zu bedeuten hatte.
Sie würde, wenn alles gut ging, und das musste es einfach, bereits morgen in ihrer neuen Wohnung die erste Nacht verbringen.
So, und das bedeutete, sich schleunigst auf die Heimfahrt zu begeben, doch vorher musste sie noch etwas tun. Sie fuhr nach Hohenborn, kaufte dort im Blumenladen einen wunderschönen Blumenstrauß, und dann fuhr sie in den Sonnenwinkel zurück.
Sie fand Ursel Hellenbrink allein vor, weil die Nachmittagssprechstunde noch nicht begonnen hatte.
»Frau Dr. Steinfeld ist nicht da«, sagte sie bedauernd, »sie macht Hausbesuche.«
»Ich möchte auch nicht zu Frau Dr. Steinfeld«, rief Claire, »sondern ich möchte zu Ihnen und mich bei Ihnen bedanken, und die Blumen, die sind für Sie.«
Ursel wurde rot, blickte entzückt auf den wirklich ausnehmend schönen Blumenstrauß.
»Die Blumen sind herrlich, aber womit habe ich die denn verdient?«, wollte Ursel wissen.
»Das fragen Sie noch? Weil ich Ihnen die schönste Wohnung zu verdanken habe, die ich je hatte.«
Dann erzählte sie Ursel, dass die Wohnung nicht nur fertig war, sondern auch geputzt, dass sie den Möbelwagen bestellt hatte und morgen einziehen würde.
»Und dann ist es mir egal, wie es in der Wohnung aussieht, die Hauptsache, ich habe ein Bett aufgestellt, in dem ich schlafen kann. Kaffee kochen kann ich auf jeden Fall, weil die Küche ja eingerichtet ist. Und dann stehe ich übermorgen in der Frühe auf der Matte und freue mich auf meinen ersten Patienten oder meine erste Patientin …, ist das alles nicht wundervoll? Und dass es so reibungslos verläuft, das habe ich nur Ihnen zu verdanken, Frau Hellenbrink. An so eine Wohnung wäre ich doch normalerweise niemals gekommen.«
Claire redete wie ein Wasserfall und ließ Ursel überhaupt nicht zu Wort kommen, und dann war es zu spät mehr zu sagen als nur noch einmal danke, denn der erste Patient kam. Es war der Herr Schmidt, der es sich einfach nicht angewöhnen konnte, erst zu kommen, wenn die Sprechstunde begann.
»Aber ich möchte, dass die Frau Doktor mich jetzt sofort abhört, ich glaube, mit meinem Herzen ist etwas nicht in Ordnung, und mit meinem Blutdruck stimmt auch etwas nicht.«
Herr Schmidt war jemand, der gern in die Praxis kam, mit seinem Herzen stimmte alles, und auch an seinem Blutdruck war nichts auszusetzen, auch nicht an allem, was er sonst vorbrachte. Er war ein einsamer alter Mann und brauchte hin und wieder Ansprache. Es waren nicht nur Frauen, die sich einsam und allein fühlten.
»Herr Schmidt, dann müssen Sie warten, die Frau Doktor ist noch unterwegs. Sie macht Krankenbesuche.« Als sie sein enttäuschtes Gesicht bemerkte, hatte sie eine Idee: »Wenn Sie allerdings möchten, dass Frau Dr. Müller Sie untersucht, das kann sofort geschehen. Frau Dr. Müller ist eine neue Ärztin bei uns, weil Frau Dr. Steinfeld nicht alles schaffen kann.«
Herr Schmidt blickte Claire argwöhnisch an.
»Und warum hat sie eine Jacke an?«, wollte er wissen.
Wieder war es Ursel, die die Situation rettete, Claire fühlte sich im Moment ein wenig überrumpelt.
»Weil sie gerade erst gekommen ist, Sie sind zu früh. Doch sie kann ihre Jacke ausziehen, und Sie werden dann sogar der erste Patient sein, den sie in ihrem Sprechzimmer untersucht.«
Er war noch immer ein wenig verunsichert.
»Und Sie sind wirklich Ärztin?«, erkundigte er sich voller Misstrauen.
»Ja, Herr Schmidt. Ich bin Ärztin für Innere Krankheiten. Und ich würde mich freuen, Sie als meinen ersten Patienten untersuchen zu dürfen.«
Irgendwie gefiel das Herrn Schmidt.
»Und ziehen Sie einen weißen Kittel an?«, wollte er wissen.
Wieder ergriff Ursel das Wort.
»Nein, Herr Schmidt, das wird die Frau Dr. Müller nicht tun. Das ist bei uns nicht üblich. Oder haben Sie Frau Dr. Steinfeld schon mal in einem weißen Kittel gesehen?«
Herr Schmidt schüttelte den Kopf.
Ursel bat den Patienten, sich noch einmal kurz ins Wartezimmer zu setzen, dann führte sie die noch immer ein wenig verwirrte Claire in das für sie hergerichtete Behandlungszimmer, sie brachte auch gleich die Patientenakte mit, stellte für Claire den Computer an, dann klärte sie Claire über den Patienten auf.
Claire war eine erfahrene Ärztin, und deswegen kam allmählich Freude bei ihr auf. Sie würde ihren ersten Patienten haben!
Sie konnte nicht anders, sie musste Ursel einfach umarmen, die Hellenbrinks schienen wirklich etwas Besonderes zu sein.
Eines waren sie auf jeden Fall, unglaublich hilfsbereit.
Claire atmete noch einmal ganz tief durch, strahlte Ursel an und bat sie, ihr den Patienten zu schicken.
Und als Herr Schmidt das Behandlungszimmer betrat, da war sie nicht mehr die aufgeregte junge Frau, für die gerade ein neues Leben anfing, sondern die routinierte Ärztin, die wusste, was sie zu tun hatte.
»So, Herr Schmidt, und nun schildern Sie mir bitte einmal Ihre Beschwerden.«
Ehe Herr Schmidt das tat, erkundigte er sich vorsichtshalber noch einmal, ob sie wirklich eine richtige Ärztin war, und als Claire das bestätigte, gab er sich zufrieden und erzählte ihr in epischer Breite, was ihn beunruhigte, und Claire hörte geduldig zu. Sie wusste aus Erfahrung, dass man für Patienten wie Herrn Schmidt in erster Linie etwas brauchte, und das war Geduld. Und weil sie bereits lange für Roberta gearbeitet hatte, wusste sie, dass die sich für ihre Patienten die Zeit nahm, die sie brauchten, und das hatte sie auch von ihren angestellten Ärzten erwartet.
Claire hätte die ganze Welt umarmen können. Sie hatte nicht nur diese wunderschöne Wohnung, in die sie morgen einziehen würde, nein, sie hatte schon heute ihren ersten Patienten. Sie war ja so dankbar, und Roberta würde staunen.
Claire war geduldig, sie untersuchte Herrn Schmidt, beantwortete seine Fragen, sie war die Ruhe selbst, und das gefiel dem alten Herrn. Als er ging, sagte er etwas, worauf Claire sich was einbilden konnte.
»Sie sind in Ordnung, Sie machen das beinahe so gut wie die Frau Dr. Steinfeld. Wenn ich wieder was habe, dann komme ich direkt zu Ihnen.«
Das war ein Kompliment, über das Claire sich sehr freute.
»Es würde mich freuen, Herr Schmidt, doch jetzt können Sie erst einmal beruhigt wieder nach Hause gehen, und von den Tropfen, die ich Ihnen mitgegeben habe, nehmen Sie bitte abends zehn, und wenn sie Ihnen bekommen, dann schreibe ich Ihnen eine größere Packung auf. Doch ich denke, diese Probepackung wird ausreichen.«
Auch sie hatte in einem Schrank Probepackungen, die Pharmareferenten verschiedener Arzneimittelhersteller immer in Arztpraxen abgaben. Auch das war nicht neu für Claire, das hatten sie auch in der großen Praxis so gehandhabt. Sie hatte Herrn Schmidt ein harmloses pflanzliches Präparat mitgegeben, das eine beruhigende Wirkung hatte. Claire war sich sicher, dass er ohne ein Medikament unzufrieden gewesen wäre.
Nachdem er weg war, machte sie ihre Eintragungen, und sie bedauerte es sehr, ihren Computer wieder ausstellen zu müssen, am liebsten hätte sie gern weitere Patienten gehabt. Doch sie musste vernünftig sein, sie hatte viel Arbeit vor sich, die sich nicht von selbst machte, und auf eventuelle Heinzelmännchen, die ihr alles abnahmen, vertraute sie besser nicht.
Als sie nach draußen kam, lachte Ursel ihr entgegen. »Frau Doktor, was haben Sie mit Herrn Schmidt gemacht? Der ist ja vollkommen hingerissen von Ihnen.«
Das freute Claire, sie bedankte sich bei Ursel für deren spontane Idee, auf die sie von selbst nicht gekommen wäre.
Roberta war mittlerweile da, doch sie behandelte gerade eine sehr schwierige Patientin, und das würde dauern, deswegen ließ Claire ihre Chefin nur grüßen, dann verabschiedete sie sich.
Sie fühlte sich leicht und froh. Was für eine Fügung, wenn das kein Zeichen dafür war, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Als sie in ihr Auto stieg, machte sie das Radio an und trällerte das Lied mit, das gerade gespielt wurde.
Das Leben war schön!
Diese Strecke würde sie morgen noch einmal fahren, doch dann in die andere Richtung, und ansonsten nur noch, wenn sie ihren Eltern einen Besuch abstattete.
Sie machte das Radio wieder aus, weil sie viel lieber darüber nachdenken wollte, was da gerade in ihrem Leben passierte.
Es war unglaublich!
Welch wunderbare Fügung!
»Danke, lieber Gott«, sagte sie vollkommen überwältigt, denn das war das Mindeste, was sie tun konnte, sich bedanken.
*
Inge und ihre Mutter tranken miteinander Kaffee, hatten es sich gerade gemütlich gemacht, als eine ziemlich aufgelöste Rosmarie sich zu ihnen gesellte. Mit der Gemütlichkeit war es natürlich sofort vorbei, doch das machte nichts, sie mochten Rosmarie.
»Warum bist du so neben der Spur?«, wollte Teresa wissen. »Du hast doch ein schönes Leben, es mangelt dir an nichts. Also sei zufrieden.«
»Das bin ich auch, Teresa, aber ich war seit sechs Uhr in der Frühe auf der Baustelle, um Dampf zu machen. Wenn Piet van Beveren wieder zurück ist, möchte er, dass wir zeitnah die Villa verlassen, weil er alles umbauen will.«
Sie wandte sich an Inge.
»Ich habe noch nicht gefrühstückt. Bekomme ich bei dir auch ein Brot, und natürlich Kaffee, der erweckt vielleicht meine Lebensgeister.«
Inge stand auf, und es dauerte nicht lange, da hatte Rosmarie nicht nur ihren Kaffee, sondern auch ein Rührei und ein Schinkenbrot, das sie direkt gierig in sich hineinstopfte.
Und nachdem auch das Rührei gegessen war, sagte Inge: »So, liebe Rosmarie, da wir nun nicht mehr Gefahr laufen, dass du vor lauter Hunger zusammenbrichst, kannst du uns erzählen, was dir solch einen Stress macht. Ich denke, ihr könnt euch Zeit lassen, warum also dann jetzt diese Eile.«
»Weil er überhaupt nicht in die Villa einziehen wird«, erklärte Rosmarie, »die wird vollkommen umgebaut als so eine Art von Internat für sozial benachteiligte oder psychisch gestörte Jugendliche. Er hat auch schon ein Abkommen mit der Schule, in die die Kinder gehen sollen, und er zahlt dafür sogar die Gehälter für die Lehrer, die zusätzlich eingestellt werden müssen.«
Inge kam aus dem Staunen überhaupt nicht heraus. Das waren vielleicht Neuigkeiten, und das hätte sie von diesem neuen Besitzer des Anwesens da oben auch überhaupt nicht gedacht. Wie passte das denn zusammen, dass jemand, der beim Besitz unterhalb der Felsenburg so klotzte und protzte, eine so soziale Ader hatte.
Warum berührte ihre Mutter das nicht?
»Mama, hast du gerade gehört, was Rosmarie da gesagt hat?«, erkundigte sie sich.
Teresa trank erst einmal genüsslich einen Schluck ihres Kaffees, stellte die Tasse ab, dann sagte sie: »Ja, ja, ich habe es gehört, doch das sind keine Neuigkeiten für mich. Das ist mir längst bekannt.«
Nun starrten Inge und Rosmarie die alte Dame an.
»Das wusstest du?«, riefen sie beinahe wie aus einem Munde, denn nicht einmal Rosmarie als Miteigentümerin der Villa hatte davon eine Ahnung gehabt, weil Piet van Beveren die Villa zwar gekauft, aber nichts dazu gesagt hatte.
»Woher?«, fügte Inge hinzu.
Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, antwortete Teresa: »Na von Piet, von wem denn sonst.«
Warum wunderte Inge das jetzt eigentlich nicht? Irgendwie bekam ihre Mutter immer vor allen anderen Leuten etwas heraus.
»Und warum hast du mir nichts davon erzählt? Das ist doch etwas, worüber es sich zu reden lohnt.«
Teresa richtete sich jetzt ein wenig auf, und jetzt war sie ganz die adelige Dame aus einem alten, stolzen Adelsgeschlecht.
»Weil Piet es mir anvertraut hat, und mit so etwas geht man dann auch nicht hausieren.« Und weil sie bemerkte, dass Inge dazu etwas sagen wollte, fügte sie rasch hinzu: »Manches erzählt man einfach nicht weiter, auch nicht seinen Kindern. Aber ich finde es ganz großartig, was Piet da tut. Er gibt jungen Menschen eine Chance, die am Rande der Gesellschaft stehen und die man am liebsten dort auch lassen würde, am besten noch mit einem Deckel drauf. Etwas kann ich noch sagen, ohne Genaueres zu erzählen. Piet hat viele soziale Projekte, und er ist ein großartiger Mann, und wenn ihr jetzt fragt, warum man davon nichts merkt, dann kann ich nur sagen, dass er dafür seine Gründe hat. So, genug über Piet van Beveren geredet, wie sieht es denn auf der Baustelle aus, Rosmarie? Allmählich muss der Umbau doch geschafft sein. Wann immer ich da vorbeikomme, wird eifrig gewerkelt.«
»Ja, es geht dem Ende entgegen«, gab sie zu. Teresa konnte sich eine Frage nicht verkneifen: »Und weswegen regst du dich dann so auf?«
Inge verdrehte die Augen, doch Rosmarie nahm die Frage nicht krumm, sie war ja berechtigt.
»Weil ich vor dem Umzug gern mit Heinz noch einmal eine kleine Tour mit dem Camper machen wollte. Das ist so großartig, danach wird man süchtig.«
»Aber nicht so sehr, dass man nicht warten kann. Dann fahrt ihr eben nach dem Umzug mit dem Camper los. Ich habe mir mal angesehen, was auf der Baustelle geschieht, man erkennt das Haus nicht mehr wieder. Und ich muss zugeben, dass es sehr durchdacht ist, was ihr da macht. Oder sagen wir mal so, es ist deine Idee, und Heinz hat es nur abgenickt, nicht wahr?«
Das bestätigte Rosmarie, und es ging ihr herunter wie Öl, von Teresa gelobt zu werden. Sie bewunderte Inges Mutter über alles und war richtig glücklich, mit ihr jetzt ein so tolles Verhältnis zu haben.
Sie erzählte, was sie sich zum Schluss ausgedacht hatte, wurde aber unterbrochen, weil es an der Haustür Sturm klingelte. Inge war froh, dass die Hunde draußen im Garten herumtollten, denn das wäre für sie eine Aufforderung gewesen, bellend zur Tür zu rennen.
Inge stand auf, sie erwartete keinen Besuch, und der Briefträger klingelte, wenn überhaupt, ganz dezent, ansonsten warf er die Post in den Briefkasten.
Sie hätte mit allem gerechnet, aber nicht mit ihrer Tochter Ricky.
Ricky begrüßte ihre Mutter, rannte an der vorbei, weil sie einen Kaffee trinken wollte, den es bei den Auerbachs zum Glück immer gab. In der Küche angekommen, blieb sie erst einmal verblüfft stehen, als sie auch noch ihre Großmutter und ihre Schwiegermutter bemerkte.
»Was ist das denn?«, erkundigte sie sich lachend. »Bin ich in eine konspirative Versammlung hineingeplatzt? Heckt ihr schon wieder etwas aus?«
Alle mochten Ricky, die immer gute Laune hatte, auch Rosmarie, denn die würde nie vergessen, dass Ricky immer versucht hatte, die Wogen zu glätten, als Fabian mit seinen Eltern, also auch mit ihr, noch ein sehr gestörtes Verhältnis hatte, was ja zum Glück mittlerweile anders geworden war.
Ricky begrüßte alle, dann setzte sie sich. Sie sah so unglaublich jung aus. Ihr würde wirklich niemand ihren so zahlreichen Kindersegen ansehen.
Sie packte aus einer mitgebrachten Tasche selbst gemachte Marmelade aus.
»Rosmarie, du bekommst natürlich ebenfalls welche, hätte ich gewusst, dass du hier bist, hätte ich sie mitgebracht. Aber Mama kann ja erst einmal mit dir teilen, und so machen wir es auch mit den Gläsern, die für dich bereitstehen.«
Damit war Rosmarie sofort einverstanden, denn die Marmeladen, die Ricky kochte, schmeckten köstlich.
Und da Ricky immer in Eile war, was niemanden verwunderte, ein großes Haus, ein Mann und ihre süßen Kinder machten Arbeit, kam sie auch direkt auf den Grund, weswegen sie hier war.
»Ich habe ein Attentat auf euch vor, und die Marmelade soll keine Bestechung sein. Das Wetter ist gerade so schön, und da möchten wir mit den Kindern für ein verlängertes Wochenende mal wieder mit unserem Camper losfahren. Der ist zwar nicht so komfortabel wie eurer«, wandte sie sich an Rosmarie, »aber die Kinder finden es cool. Tja, doch wir finden, dass Teresa noch zu klein ist. Oma Holper würde sie zwar sofort nehmen, doch Fabian und ich würden die Kleine lieber bei euch parken. Wäre das okay?«
»Wie kannst du das fragen«, rief Inge sofort, und auch Teresa, die Ältere, freute sich, sie liebte ihr jüngstes Urenkelkind über alles, und das nicht nur, weil die Kleine ihren Namen trug. Nein, es lag einfach daran, weil sie die Kleinste war und die größte Aufmerksamkeit brauchte. Die größeren, älteren Kinder machten immer mehr ihr Ding, und die waren an anderen Dingen mehr interessiert, als mit Oma und Uroma heiteitei zu machen.
Ricky wandte sich an ihre Schwiegermutter.
»Rosmarie, ich hoffe, du fühlst dich jetzt nicht übergangen, aber du hast mit dem Umbau zu tun, und kleine Kinder …«, sie zögerte, und das nahm Rosmarie zum Anlass, den Satz für Ricky zu beenden: »Mit denen können Heinz und ich nichts anfangen. Das stimmt ja. Ich denke, die Kleine ist in deinem Elternhaus gut aufgehoben, aber ich werde auf jeden Fall vorbeikommen, wenn sie hier ist.«
Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Früher wäre das vielleicht ein Thema gewesen, aber mittlerweile gingen sie alle offen miteinander um und verstanden sich gut.
Ricky trank rasch ihren Kaffee.
»Ehe du gehst, meine Liebe«, sagte Teresa, »dann möchte ich neue Bilder von den Kindern sehen.«
Ricky blickte ihre Großmutter ganz schuldbewusst an.
»Omi, damit kann ich leider nicht dienen. Alles, was es an Fotos gibt, das hast du. Ich hatte keine Zeit, meine Rangen zu fotografieren, und der arme Fabian weiß überhaupt nicht, wo ihm der Kopf steht. Er bräuchte dringend mehr Lehrpersonal, doch das bekommt er nicht, dabei drängen die Lehrer sich danach, an seiner Schule arbeiten zu dürfen. Es gibt eben nicht genug.«
Rosmarie konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
»Bereust du in solchen Situationen manchmal nicht, das angefangene Studium nicht abgeschlossen zu haben? Ich denke, du wärst eine ganz großartige Lehrerin geworden.«
Teresa warf Rosmarie einen missbilligenden Blick zu. Diese Bemerkung war jetzt so unnötig gewesen wie ein Kropf. Das war ein wunder Punkt bei Ricky, die direkt nach dem Abitur ihren Fabian geheiratet hatte, ihre große Liebe. Und dann war sie damit beschäftigt gewesen, Kinder zu bekommen. Es war eine sehr verrückte Idee gewesen, trotz ihrer süßen Kinderschar mit einem Studium anzufangen. Sie hatten sie alle unterstützt, besonders Teresa und Magnus. Und das Studium Deutsch und Biologie auf Lehramt hatte Ricky auch unendlich viel Spaß gemacht. Aber sie war eine verantwortungsvolle Mutter und hatte leider irgendwann feststellen müssen, dass sich alles nicht miteinander vereinen ließ. Die Kinder und Fabian wären zu kurz gekommen, auf der Strecke geblieben. Und so hatte Ricky schweren Herzens das Studium wieder aufgegeben. Und jetzt erübrigte es sich eh, denn nun gab es auch noch die kleine Teresa. Das erste nicht geplante Kind der Rückerts. Sie hatte einfach kommen wollen. Doch das hatte niemand bereut, dieser kleine Sonnenschein wurde von allen geliebt.
»Bereut würde ich jetzt nicht sagen«, beantwortete Ricky die Frage ihrer Schwiegermutter. »Doch es wäre schon schön gewesen, Lehrerin zu sein, es hätte mir Spaß gemacht. Aber man kann nicht alles haben. Und vor die Alternative gestellt, würde ich mich immer für die Kinder und Fabian entscheiden, sie sind mein Leben, meine Familie, meine Welt. Ich liebe sie über alles und bin glücklich.«
Das nahm man ihr sofort ab.
»Ricky, es war blöd von mir, dich das eben zu fragen«, bemerkte Rosmarie.
»Nein, Rosmarie, mach dir deswegen keinen Kopf. Ich denke auch manchmal daran, wie es gewesen wäre wenn, aber es zerreißt mich nicht. Ich wurde zu dem Leben, das ich führe, nicht gezwungen, ich habe es mir selber ausgesucht, und wie gesagt, würde ich es immer wieder tun. Fabian ist der Traummann meines Lebens, es war Liebe auf den ersten Blick. Und seit wir zusammen sind, ziehen wir an einem Strang. Besser geht es nicht.«
Nach diesen Worten sprang Ricky auf. »Ich würde gern noch bleiben, doch ich habe noch eine ganze Menge zu erledigen, ehe meine Rasselbande wieder nach Hause kommt.« Sie wandte sich an ihre Mutter. »Kann ich vielleicht bei dir ein paar Kekse und hoffentlich auch Kuchen für meine Lieben daheim abstauben?«
Sie konnte. Darum ließ Inge sich nicht zweimal bitten. Und da es bei den Auerbachs auch immer Vorräte gab, weil sie alle gern Kekse und Kuchen mochten und Inge zudem eine begeisterte Bäckerin war, konnte Ricky ziemlich bepackt abziehen. Sie verabschiedete sich und zog zufrieden davon. Sie konnte zufrieden sein, mit den Keksen und Kuchen konnte sie Fabian und die Rangen glücklich machen, und der Wochenendausflug war ebenfalls gesichert. Die kleine Teresa konnte sie ihren Eltern und Großeltern unbesorgt anvertrauen, sie würden sie hüten wie ihren Augapfel, aber auch hemmungslos verwöhnen. Da war Ricky sich sicher.
Wenig später hörte man einen Motor aufheulen, und Ricky brauste davon.
Rosmarie ergriff zuerst das Wort, denn es lag ihr am Herzen, etwas auszusprechen. »Fabian hat mit eurer Ricky wirklich in den Glückstopf gegriffen, sie sind das perfekte Paar, und alle Kinder sind wohlgeraten. Es ist eine wahre Freude. Wenn ich da daran denke, was Stella dem Jörg angetan hat.«
Inge und Teresa wussten, wie sehr Rosmarie noch immer darunter litt, dass Stella, ausgerechnet Stella, sich nicht nur einem anderen Mann zugewandt hatte, sondern auch die Kinder mitgenommen hatte. Und dass sie es nicht für nötig gehalten hatte, ihre Eltern über diesen schwerwiegenden Schritt zu informieren, das nagte ebenfalls an Rosmarie und Heinz. Ein solches Verhalten hatten sie auch nicht verdient.
»Rosmarie, du bist dafür nicht verantwortlich«, sagte Teresa, »Ehen scheitern. Und für Jörg ist es doch gut ausgegangen, er hat eine neue Partnerin an seiner Seite, mit der er glücklich ist.«
»Aber Stella hat ihm die Kinder entzogen«, begehrte Rosmarie auf, »und darunter leidet er, auch wenn er sich das nicht anmerken lässt. Er war für die Kinder ein wundervoller Vater.«
»Er wird darüber hinwegkommen, und wenn die Kinder groß sind, dann können sie sich entscheiden. Jörg versucht alles, um den Kontakt nicht abbrechen zu lassen. Aber es ist natürlich schwer, die Kinder sind in Brasilien in ihrem neuen Leben angekommen. Und das ist schon mal positiv.«
Es war ein immer wiederkehrendes Thema, Rosmarie konnte einem leidtun, aber sich immerfort Schuldgefühle zu machen, das brachte auch nichts. Weil Inge wusste, was nun kommen würde, kam sie Rosmarie zuvor. »Und jetzt fang bitte nicht wieder damit an, dass ihr keine guten Eltern wart. Verflixt noch mal, das ist Schnee von gestern. Und mit Fabian funktioniert es doch mittlerweile gut, und die Kinder lieben euch. Bitte, Rosmarie, lass die ollen Kamellen.«
Rosmarie seufzte.
»Ich kann so gut verstehen, dass es euch mittlerweile zu den Ohren herauskommt. Und es ist ja wahr, nichts lässt sich zurückholen. Ich bin ja nur froh, dass Heinz und ich unser Verhältnis zueinander geklärt haben. Mit uns wird es immer schöner, und wenn Eheleute sich in einer Krise befinden oder wenn sie, wie bei uns, in all den gemeinsamen Jahren ihre Gefühle füreinander noch nicht entdeckt haben, dann rate ich ihnen, auf engstem Raum eine gewisse Zeit miteinander zu verbringen. Für Heinz und mich war es nicht nur heilsam, sondern wir haben auch eine neue Art entdeckt, wie man den Urlaub verbringen kann.«
Teresa lachte.
»Für euch war es ein Segen, liebe Rosmarie, doch eine solche Reise ist ein Vabanquespiel, das kann gehörig ins Auge gehen, und man kommt total zerstritten zurück und trennt sich. Es ist nicht einfach, mit jemandem das Leben zu verbringen.«
Dazu musste Rosmarie jetzt aber etwas sagen.
»Teresa, was soll das jetzt? Fishing for compliments? Magnus und du, ihr seid ja wohl das Bilderbuchpaar schlechthin. Ihr wisst vielleicht, wie man das Wort Krise schreibt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr schon mal eine erlebt habt.«
Teresa antwortete nicht sofort, und als sie es tat, da klang ihre Stimme sehr ernst: »Doch, das haben wir, mehr als nur einmal, und hier und da sind auch gehörig die Fetzen geflogen. Das gehört zum Leben, entscheidend ist, dass man keine Grenzen überschreitet, indem man den anderen verletzt. Das haben wir nie, und wichtig ist zudem, dass ein Krach den Tag nicht überdauern darf. Auch das haben wir geschafft …, doch das liegt alles lange zurück. Mit dem Alter wird man weise, und da ist man nur noch froh, dass man den anderen hat. Ich könnte mir ein Leben ohne meinen Magnus nicht vorstellen, doch auf meine Wünsche nimmt niemand Rücksicht. Also müssen wir dankbar für jeden Tag sein, den wir gemeinsam miteinander verbringen dürfen.«
Nach diesen Worten war es still zwischen den drei Frauen, so still, dass man nur das Ticken der Uhr hörte, die an der Wand hing, ein altes Erbstück, das Inge über alles liebte.
Wieder war es Rosmarie, die etwas sagte: »Ach, Teresa, wenn man so etwas hört, ist das Gänsehaut pur. Wir alle sollten dich und Magnus zum Vorbild nehmen. Heinz und ich sind von einer solchen Harmonie weit entfernt. Bei uns gibt es weniger Kräche, sondern eher Schweigen, und das kann tödlich sein. Aber wenn wir erst einmal im Sonnenwinkel wohnen werden, färbt hoffentlich euer guter Einfluss ein wenig auf uns ab. Ich freue mich auf jeden Fall jetzt und habe überhaupt keine Zweifel mehr, etwas falsch gemacht zu haben. Aus dieser großen Villa ausziehen zu dürfen, für diesen Kasten tatsächlich einen Käufer gefunden zu haben, das ist ein Glücksfall.«
Das konnten Inge und Teresa nur bestätigen, und dann kamen Luna und Sam auf die Terrasse gelaufen, bellten, begehrten Einlass, mit der Ruhe war es vorbei, und das nahm Rosmarie zum Anlass, sich, nachdem sie die beiden Labradore gebührend begrüßt hatte, schnell zu verabschieden. Sie hatte daheim schließlich auch noch ihre Beauty und Missie, und mit denen würde sie gleich einen langen Spaziergang machen, diese Zeit musste sein.
Rosmarie war glücklich, Inge und Teresa in ihrem Leben zu haben.
Sie hatten sich nicht nur eine ganze Menge zu sagen. Rosmarie freute sich vor allem darauf, wieder mit Inge in der französischen Sprache ihre Lektionen zu üben. Sie hatte zwar auch mit anderen Fremdsprachen angefangen, doch Französisch war ihre erste Wahl, allein schon wegen Cecile, und schließlich hatten Heinz und sie jetzt auch ein zweites Zuhause in Paris.
Rosmarie beschloss, niemals mehr undankbar zu sein. Das Leben hatte es ganz schön gut mit ihr gemeint, nun ja, bis auf das, was mit ihrer Tochter Stella geschehen war. Sie durfte nicht mehr herumjammern und nicht mehr daran denken. Sie war schließlich kein Einzelfall, man hörte immer wieder, dass Eltern und Kinder nicht mehr miteinander redeten, dass sie sich sogar erbitterte Kämpfe vor den Gerichten lieferten. Es war nun mal so, dass es in jeder Familie die berühmten schwarzen Schafe gab. Ja, so musste sie es sehen. Und dann nahm Rosmarie sich auch direkt noch etwas vor. Sie würde noch liebevoller zu ihrem Heinz sein, er war ein gutmütiger Mensch, der noch immer nicht richtig mit seinen Gefühlen umgehen konnte. Er war auf einem guten Weg, und sie konnte ihm helfen, auf den bestmöglichen Weg zu kommen. Teresa hatte vorhin so recht gehabt. Man hatte für nichts eine Garantie, es konnte jeden Tag vorbei sein. Sie musste ihm noch deutlicher zeigen, wie gern sie mit ihm zusammen war, weil er ein wertvoller Mensch war. Und schließlich hatte sie ihm ihr schönes, sorgenfreies Leben zu verdanken. Ja, es war ein großes Glück, mit dem Notar Dr. Heinz Rückert verheiratet zu sein …
*
Julia Herzog hatte ihren freien Tag, und den wollte sie ganz entspannt genießen. In der letzten Zeit hatte sie sich manchmal selbst in der Kurve überholt, so hektisch war alles gewesen, und sie konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, mal sieben, acht Stunden geschlafen zu haben. Wenn man so wollte, hatte Julia Raubbau mit ihrer Gesundheit getrieben, und das musste aufhören.
Wenn sie ehrlich war, dann war es ihr sogar recht gewesen, einfach nur zu funktionieren, nicht nachdenken zu müssen, denn dann wären ihre Gedanken unweigerlich zu Daniel gewandert, dessen unvermittelter Weggang noch immer schmerzte. Der ›Seeblick‹ lief immer besser, vor allem kamen, seit sie den Stern bekommen hatte, die Gäste auch von weither, um einmal bei ihr zu essen. So etwas konnte schon stolz machen. Finanzielle Probleme hatte Julia zum Glück keine mehr, und sie wollte auch nicht mehr an die Anfangszeiten erinnert werden, an dem sie jeden Tag den wirtschaftlichen Zusammenbruch vor Augen gehabt hatte. Es war Vergangenheit, doch welchen Preis hatte sie dafür bezahlt!
Sie machte sich noch immer große Vorwürfe, all die Signale übersehen zu haben, die es zweifelsohne gegeben hatte. Vielleicht war sie zu sorglos gewesen, hatte geglaubt, eine so große Liebe wie die von ihr und Daniel könne überhaupt nicht zerbrechen. Sie war sich seiner so sicher gewesen, dabei hätte sie wissen müssen, dass sich selbst ganz große Gefühle nicht konservieren ließen. Diese Erkenntnis war zu spät gekommen. Sie musste sich endlich damit abfinden, dass Daniel einen Schlussstrich gezogen hatte, denn sonst hätte er auf einen ihrer zahlreichen Versuche reagiert, wieder mit ihm in Verbindung zu treten. Er hatte auf überhaupt nichts reagiert.
Sie hatte den Stern für ihr Restaurant, den sie um jeden Preis haben wollte, ihre Geldsorgen waren Vergangenheit. Dafür hatte sie alles getan, und Daniel …
Julia zwang sich, nicht mehr an ihn zu denken. Sie war kein Einzelfall, wenn sie daran dachte, was Roberta ihr anvertraut hatte, das war viel schlimmer, wenn sich so etwas überhaupt miteinander vergleichen ließ. Sie und dieser fabelhafte Lars Magnusson hatten heiraten wollen, eine Familie gründen, und ehe es dazu gekommen war, hatte sich von einem auf den anderen Tag alles verändert. Sie wusste nicht einmal, wo er war, es gab kein Grab, an dem sie mit ihm Zwiesprache halten konnte, es gab nichts, nur Gedanken, die gewiss manchmal mörderisch waren. Und wie tapfer Roberta ihr Schicksal trug. Es musste unendlich viel Kraft kosten, so zu tun als sei nichts geschehen, und die Menschen die zu ihr kamen, die waren nicht mit einem leckeren Essen zufrieden wie bei ihr, nein, die beanspruchten Robertas volle Aufmerksamkeit.
Daran musste sie denken, wenn ihr ganzes Elend sie wieder einmal überkam, sie musste sich Roberta zum Vorbild nehmen.
Julia hatte eine alte Jeans an, einen viel zu großen Pullover, trug olle Schlappen an den Füßen, und sie hatte sich nicht einmal richtig gekämmt, ihre kurzen braunen Haare standen in alle Richtungen.
So ganz ohne Arbeit ging es auch an ihren freien Tagen nicht. Sie hatte sich gerade einen Kaffee gekocht, saß im Restaurant und überlegte, wie man die Tische umstellen konnte, um für ein paar weitere Tische Platz zu schaffen, ohne dass man das Gefühl bekam, seinem Nachbarn etwas vom Teller klauben zu können, weil man so eng beieinander saß. Das ging überhaupt nicht.
Aber eine Möglichkeit musste es doch geben, oder?
Noch während sie überlegte, wurde heftig an die Eingangstür gedonnert. Zuerst einmal rührte Julia sich nicht, doch weil das nicht aufhörte, erhob sie sich, ging zur Tür und öffnete, und sie glaubte nicht, was sie da sah.
Vor der Tür stand Piet van Beveren!
»Sie wissen schon, dass heute das Restaurant geschlossen ist und dass ich keine Ausnahmen machen. Das hatten wir schon einmal, haben Sie das vergessen?«
Er machte einen ganz zerknirschten Eindruck, was Julia ziemlich erstaunte, weil sie diesen Mann ganz anders in Erinnerung hatte.
»Habe ich nicht, und ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Doch ich bin nur für einen Tag hier, muss morgen wieder weg. Und für mich hat sich ein Problem ergeben, das ich nicht auf die lange Bank schieben möchte.«
Das waren ja ganz neue Worte.
»Kommen Sie rein«, sagte Julia versöhnlich, der Bitte folgte er sofort, und er nahm auch gern das Angebot an, mit ihr einen Kaffee zu trinken.
Als der Kaffee vor ihm stand, begann er zu erzählen, was ihn bedrückte, und sie konnte nicht genug staunen. Piet van Beveren war ja überhaupt nicht arrogant.
Er erzählte ihr von ihrem Projekt in Hohenborn, von dem Internat für Kinder und Jugendliche, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Er sprach darüber, dass er eigentlich jemanden für die Versorgung der Jugendlichen hatte, doch der war abgesprungen, weil er keine Lust darauf hatte, sich bei dem Essen auf Bioprodukte zu beschränken.
»Er wollte einfach den großen Reibach machen, und das auf Kosten junger Menschen, für die es besonders wichtig ist, sich gesund zu ernähren. Ich habe mit Teresa von Roth darüber gesprochen, die eine sehr kluge, ganz wundervolle Frau ist, die ich sehr bewundere. Und die gab mir den Rat, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Das hätte ich, ehrlich gesagt, vorher überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt. Sie haben ein Sternerestaurant, das gut besucht ist. Doch Teresa hat Sie in den allerhöchsten Tönen gelobt und gesagt, dass Sie eine große soziale Ader haben, und dass Ihnen ganz gewiss etwas einfallen wird, die Kids ordentlich zu ernähren. Hat Teresa recht?« Er blickte sie an, und Julia wurde unter diesem Blick ganz verlegen. Auch sie fand Teresa von Roth ganz großartig, und das, was sie gerade gehört hatte, ging ihr natürlich herunter wie Öl. Und da gab es noch etwas. Sie war eine Verfechterin der gesunden Ernährung, die schon früh anfangen musste. Es gruselte sie jedes Mal, wenn sie sah, was sich in der Nähe von Schulen abspielte, da wurden Pizza gegessen, Pommes mit Majo, zuckerhaltige Softdrinks getrunken, beim Bäcker standen die Kids Schlange, um sich zuckerhaltiges Gebäck zu kaufen. Und das alles nach der Schule, wo sie eigentlich ein ordentliches Mittagessen zu sich nehmen sollten.
Was er da plante, hätte sie niemals von ihm geglaubt, und natürlich war sie sofort auf seiner Seite.
»Ich weiß zwar noch nicht, wie ich es machen werde, denn es soll ja Hand und Fuß haben, doch ich bin an Ihrer Seite, weil ich super finde, was Sie da planen, Herr van Beveren.«
Er freute sich sichtlich.
»Ach, und bei Ihren Kalkulationen achten Sie bitte nicht auf den Preis, setzen Sie nur auf Nachhaltigkeit. Gesunde Ernährung, gesunde Kinder soll die Devise sein.«
Er blickte sie erneut an, und es war jetzt nicht so, dass Julia sich als Frau begehrt fühlte. Nein, es gefiel ihr ganz einfach, dass die Arroganz von ihm abgefallen war und er sich als ein mitfühlender, mitdenkender Mensch zeigte, also von einer ganz anderen Seite, und das gefiel ihr.
Es blieb nicht nur bei dieser einen Tasse Kaffee, sie tranken mehrere davon, und dann gab er ihr auch noch seine ganz private Telefonnummer, die kaum jemand von ihm bekam, damit er jederzeit für sie erreichbar war.
»Es muss ja noch alles umgebaut werden, und natürlich gibt es auch eine Küche. Ich lasse Ihnen die Pläne zukommen, denn ich glaube, eine Fachfrau sieht einen solchen Raum mit ganz anderen Augen. Ich habe nichts dagegen, wenn in der Villa direkt für die Kids gekocht wird. Nur wenn, dann muss es unter Ihrer Aufsicht geschehen, mit von Ihnen ausgewähltem Personal. Wenn Sie es lieber als so eine Art Catering gestalten wollen, dann haben Sie ebenfalls mein Okay … Ich freue mich unglaublich.« Er reichte ihr die Hand, die sie ergriff, und sie bemerkte, dass er einen zupackenden Griff hatte. »Ich freue mich, Frau Herzog, und ich bin Ihnen unendlich dankbar, denn das, was mir besonders am Herzen lag, kann ich jetzt abhaken und mich anderen Dingen zuwenden. Und ich entschuldige mich noch mal, Sie an Ihrem freien Tag behelligt zu haben.«
Julia winkte ab.
»Das war keine Belästigung. Es macht mich stolz, dass Sie mir zutrauen, dieser schönen, verantwortungsvollen Aufgabe gerecht zu werden.«
Er nickte.
»Ehrlich gesagt, wäre ich von selbst nicht direkt darauf gekommen«, gab er wahrheitsgemäß zu, »aber ich vertraue Teresa und deren Urteilskraft blind.«
Sie lächelte.
»Dann muss ich Frau von Roth also einen Blumenstrauß bringen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, lassen Sie mich das tun, und nicht nur Teresa soll die Blumen bekommen, ich finde, die stehen Ihnen ebenfalls zu.«
Julia wurde rot.
Sie sagte jetzt nicht, was man in solchen Fällen sagte, eigentlich nicht so meinte, Sätze wie »Das ist doch nicht nötig.« Nein, sie sagte: »Das würde mich freuen.«
Das gefiel ihm, sie unterhielten sich dann doch noch eine ganze Weile, dann wollte er sich verabschieden.
»Jetzt habe ich Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen, genießen Sie jetzt den Rest Ihres freien Tages.«
»Zuerst muss ich ein Problem lösen. Sie wissen doch, wenn man etwas im Kopf hat, bekommt man es einfach nicht heraus.«
»Ein Problem?«, erkundigte er sich. »Es gibt keine Probleme, es gibt nur Lösungen. Kann ich Ihnen vielleicht helfen? Es würde mir Freude machen, auch was für Sie zu tun.«
Sie glaubte zwar nicht, dass Piet van Beveren hilfreich sein könnte, doch sie wollte ihn nicht vor den Kopf schlagen, nachdem sich das Verhältnis zwischen ihnen gerade so verbessert hatte, sie erzählte ihm, was sie sich vorstellte. Er hörte aufmerksam zu, sagte zunächst nichts, blickte sich um. Insgeheim war sich Julia sicher, dass ihn das auch überforderte. Er hatte kein Restaurant, wusste nicht, worauf es da ankam, und wenn es ein solches später oben für seine Gäste geben würde, da hatte er seine Berater.
Er stand auf, lief durch das Restaurant. Julia wollte ihn schon auffordern, sich keine weitere Mühe zu machen, als er unvermittelt vor ihr stehen blieb.
»Ich habe es«, sagte er, doch Julia war skeptisch, konnte seine Begeisterung nicht teilen. Höflich sagte sie jedoch: »Und was haben Sie?«
Dann allerdings musste sie staunen. Er hatte Ideen, auf die sie niemals gekommen wäre, dabei war sie es doch, die vom Fach war, jeden Tag mit den Gästen zu tun hatte.
»Es ist großartig«, rief sie, und die Begeisterung, die in ihrer Stimme lag, die musste sie nicht heucheln, die war echt.
Und dann geschah noch etwas Unglaubliches, womit Julia bei diesem Mann niemals gerechnet hätte.
»Sollen wir meine Idee gleich mal in die Tat umsetzen, oder ist es zu schwer für Sie?«
Er hatte keine Ahnung, mit welchen Lasten sie sich abzuschleppen hatte, wenn sie vom Großmarkt kam.
»Wenn Sie Zeit haben, Herr van Beveren, ich bin dabei«, rief sie, und konnte es kaum abwarten. Sie besaß genug Fantasie, um sich seine Idee vorstellen zu können. Und natürlich brannte sie jetzt darauf, die umzusetzen. Allein schaffen konnte sie es nicht, aber gemeinsam mit ihm …
Er war einverstanden, und dann legten sie los. Und sie waren beide sehr erstaunt, weil keiner dem anderen das zugetraut hätte, was jetzt geschah. Es war harte Arbeit, doch sie schafften es. Und hinterher konnten sie mit dem Resultat zufrieden sein, die Tische standen so, dass Platz genug zwischen ihnen war und dass die Gäste sich nicht eingeengt fühlten, und es war genügend Platz für weitere Tische.
Julia bedankte sich überschwänglich bei ihm, und er freute sich.
»Ich bin froh, dass ich Ihnen helfen konnte, Frau Herzog.«
»Nennen Sie mich einfach Julia«, rief sie im Überschwang ihrer Gefühle. Das freute ihn offensichtlich ebenfalls.
»Danke, dann nennen Sie mich bitte Piet.«
Dagegen hatte sie nichts, sie waren sich nahe gekommen, weil sie gegenseitig Hochachtung voreinander hatten, doch das hatte überhaupt nichts mit aufkeimender Liebe zu tun, mit Freundschaft schon.
Sie umarmten sich in aller Freundschaft, und das fühlte sich unglaublich gut an. Julia war noch immer ganz durcheinander, weil sie sich so sehr in ihm getäuscht hatte. Er war ein richtig guter Kumpel!
Sie konnte nicht anders, sie musste sich wieder bei ihm bedanken, er winkte ab. »Julia, ich bin froh, etwas für dich tun zu können. Du glaubst überhaupt nicht, wie wichtig mir das Projekt in der Villa in Hohenborn ist. Jetzt weiß ich es in guten Händen. Sag mal, kann ich vielleicht noch etwas für dich tun? Tischerücken ist ein bisschen wenig.«
Julia zögerte. Natürlich gab es da noch etwas, doch sie wollte ihn auch nicht überstrapazieren. Er hatte genug für sie getan, und es sah jetzt im Restaurant so schön aus. Allein hätte sie das niemals geschafft.
»Heraus mit der Sprache«, munterte er sie auf, weil er ihr Zögern bemerkte.
Sie seufzte.
»Ich habe ja jetzt mehr Platz als erhofft, doch ich habe keine Tische und Stühle dafür. Dummerweise hat der Fabrikant, von dem ich die Einrichtung gekauft habe, Konkurs gemacht. Jetzt muss ich mich erst einmal auf die Suche machen nach wenigstens ähnlichen Tischen und Stühlen.«
Er sagte nichts, lief zu dem freien Raum, begann zu messen, sie wusste nicht, was er damit bezweckte. Schon wollte sie eine Bemerkung machen, als er zurückkam.
»Da ist jetzt Platz für zehn weitere Tische, und die stehen weit genug auseinander.«
Was sollte das denn?
»Das ist schön, Piet, aber es hilft mir nicht weiter, das jetzt zu wissen.«
»Ich denke schon, liebe Julia. Wir scheinen den gleichen Geschmack zu haben. Die Tische und Stühle, die ich bereits für mein künftiges Restaurant beim Hotelprojekt eingelagert haben, ähneln sehr stark deinen. Und selbst wenn es kleine Abweichungen geben sollte, so macht das nichts aus, denn diese zehn Tische stehen dann ja praktisch in einem kleinen Separee. Doch ich könnte darauf wetten, dass niemand es merken würde. Die Leute kommen schließlich in den ›Seeblick‹, um gut zu essen, nicht, um Möbel zu besichtigen.«
Da hatte er recht.
»Und du würdest mir die Möbel überlassen?«, erkundigte sie sich, weil das nämlich auch noch ein großes Problem von ihr lösen würde.
Sie erwartete eine große Gesellschaft und war bereits seit Tagen dabei, sich die Karten zu legen, wie sie die ganzen Leute unterbringen sollte.
»Aber klar, ein Anruf genügt, und die Tische und Stühle werden dir gebracht. Sie sind bereits oben in einem Container eingelagert. Ich muss leider weg, doch die Männer werden dir alles nicht nur bringen, sondern auch aufstellen. Einverstanden.«
»Und sind die Möbel teuer?«, wollte sie wissen. Diese Frage war nicht unberechtigt, schließlich wusste Julia, was für ein Objekt der Superlative dort oben unterhalb der Felsenburg geschaffen wurde.
Er winkte ab.
»Betrachte sie als ein Geschenk des Hauses.«
Das wollte Julia nicht, schon allein damit, dass er ihr half, zeigte er Größe.
Er ließ sich noch einen Kaffee geben, dann sagte er: »Sieh einmal, Julia, ich arbeite für all meine Projekte mit diesem Möbelhersteller zusammen, und das sind weiß Gott viele. Von den Preisen, die ich bekomme, kannst du nur träumen. Also, lass es gut sein, nimm das Geschenk an …, bitte.«
Sie kannte die Preise, und auch wenn er Sonderpreise bekam, geschenkt bekam er die Möbel auch nicht. Doch sie wusste, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn sie jetzt ablenkte.
»Dann danke, Piet, aber dann bist du, wann immer du auch in den ›Seeblick‹ kommen wirst, mein Gast. Und dann serviere ich dir nicht was von der Karte, sondern lass dich überraschen. So wie ich dich nämlich kennengelernt habe, vermute ich, dass du dir das billigste Gericht bestellen würdest. Und das geht gar nicht … Piet, du hast mich gerettet«, gab sie zu, dann erzählte sie ihm von der Gesellschaft, die sie erwartete, und die sie nun dank seiner Hilfe alle unterbringen konnte.
Sein Handy klingelte, er hatte es auf einmal eilig, doch sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Er würde sein Versprechen unbedingt halten.
Sie brachte ihn noch bis zur Tür, sie umarmten sich, als sie sich voneinander verabschiedeten, und Julia blickte ihm noch nach und winkte, bis von seinem teuren Auto nichts mehr zu sehen war.
Was war da gerade geschehen?
Sie kam sich vor wie ein beschenktes kleines Mädchen an Weihnachten.
Sie hatte einen Auftrag bekommen, nach dem sich so mancher ihrer Kollegen die Finger ablecken würde, und dass sie den angenommen hatte, wurde sie auch noch belohnt.
Piet van Beveren war unglaublich!
Und eines nahm Julia sich vor, wer immer noch einmal abfällig über ihn sprechen würde, den würde sie in seine Schranken verweisen. Die Leute hatten ja überhaupt keine Ahnung. Doch jemand hatte es erkannt, und das war die kluge Teresa von Roth gewesen. Die musste sie sofort anrufen und sich bei ihr bedanken. Teresa war verantwortlich für das Wunder, das gerade in ihrem Leben geschehen war.
Sie griff zum Telefonhörer, und dann gab es ein sehr langes Telefonat, das gewiss noch angedauert hätte, wären die Männer mit den Möbeln nicht gekommen.
Auch wenn sie sich wiederholte, Piet van Beveren war wirklich unglaublich …
*
Claire war umgezogen, und es war unglaublich, am Abend war beinahe alles fertig.
Wenn Roberta daran dachte, wie es bei ihr gewesen war, als sie in den Sonnenwinkel gezogen war …, sie hatte wochenlang improvisieren müssen, und es wäre auch noch eine ganze Weile so weitergegangen, wäre ihr nicht der Engel namens Alma über den Weg gelaufen. Ab dann hatte ihr Leben Formen angenommen.
Und da Alma es in die Hand genommen hatte, Claire zu helfen, wunderte Roberta nichts mehr. Sie hatte Leute besorgt, die tatkräftig zupacken konnte, hatte die Männer versorgt, die die Möbel gebracht hatten. Die waren glücklich davongezogen, weil sie es überhaupt nicht gewohnt waren, so verwöhnt zu werden.
Und Alma hatte auch dafür gesorgt, Roberta Brot und Salz zu besorgen, das die Claire am Abend nach der Sprechstunde und den Hausbesuchen gebracht hatte.
Alma dachte wirklich an alles. Und Roberta war nicht nur unendlich froh, sie zu haben, sondern sie war auch glücklich, Claire an ihrer Seite zu haben. Sie hatten früher immer gut miteinander gearbeitet, und das, was sich da mit Herrn Schmidt ereignet hatte, zeigte Roberta, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es hatte sich wunderbar gefügt, und sie konnte es kaum erwarten, dass Claire, da nun alles sehr viel schneller gegangen war als gedacht, bereits in zwei Tagen ihre Arbeit in der Praxis aufnehmen würde.
Im Grunde genommen war Roberta keine Einzelkämpferin, sondern arbeitete lieber im Team, und mit Claire funktionierte das reibungslos. Sie würde mehr Zeit für die Sorgenkinder unter ihren Patienten haben, und sie würde auch wieder mal zu einem der Ärztekongresse fahren können. Alles interessierte sie nicht, doch sie hatte schon einige Male bedauert, nicht die Zeit für Kongresse zu haben, bei denen es um Themen ging, die sie interessierten.
Sie wäre noch gern bei Claire geblieben, doch sie hatten alle Verständnis dafür gehabt, als sie sich beizeiten verabschiedete. Sie war einfach nur müde und freute sich auf ihr Bett. Am Wochenende würde sie Claire noch einmal in ihrer neuen Wohnung, die wirklich sehr schön war, besuchen und alles gebührend bewundern, und Alma würde eine besondere Umarmung bekommen, die war wirklich ein Schatz, und wie selbstlos sie immer einsprang, egal, wer Hilfe brauchte. Alma war zur Stelle.
Roberta fuhr ihren Wagen nicht in die Garage, sondern parkte einfach vor dem Haus, und noch während sie durch den Vorgarten lief, zog sie ihre Jacke aus. Jetzt nur noch ins Bett.
Sie schloss die Haustür auf, wunderte sich, dass Licht brannten, und dann konnte sie nur noch staunen …