Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 12 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6

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Vor Ulrikes Haustür stand eine fremde Frau, die ungefähr in ihrem Alter sein mochte. Die Frau war sehr gut gekleidet, machte einen gepflegten Eindruck, kam seriös herüber, was normalerweise Vertrauen erweckte. Nicht bei Ulrike. Und es kam noch mehr, die Frau war hübsch, was in der Regel Wohlgefallen auslöste. In diesem Fall war es nicht so. Ulrike hatte keine Erklärung dafür, doch für sie hatte diese Frau etwas Lauerndes, Berechnendes, Kaltes an sich. In Ulrike war nichts als Abwehr, und das war eigentlich überhaupt nicht zu verstehen.

Die Frau taumelte Ulrike entgegen, versuchte, einen leidenden Eindruck zu machen, und das war es wohl, sie versuchte es, und Ulrike glaubte ihr nicht.

»Ich hatte gerade einen Schwächeanfall, haben Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich?«, bat die Frau mit ersterbend klingender Stimme.

Normalerweise bat man jemanden, der Hilfe brauchte, sofort ins Haus. In Ulrike war nichts weiter als Abwehr. Weil sie durchschaute, dass diese Szene nur gespielt war? Wie auch immer, sie konnte und wollte der Frau ihre Hilfe nicht verweigern, sie stellte sich rasch in den Weg, weil die Fremde Anstalten machte, ins Haus zu gehen.

»Warten Sie bitte, ich hole für Sie das Wasser, Sie können sich derweil da drüben auf das Mäuerchen setzen.«

Mit einer derartigen Antwort hatte die Fremde nicht gerechnet. Unwillen, Zorn machten sich auf dem eben noch so leidend wirkenden Gesicht breit. Und das verstärkte Ulrikes Unbehagen noch mehr.

Sie schob die Frau beiseite, sagte freundlich: »Ich bin gleich wieder da«, machte die Haustür zu, dann ging sie rasch in die Küche, um das erbetene Wasser zu holen. Das dauerte nicht mehr als ein paar Minuten, Ulrike beeilte sich, wieder zur Tür zu kommen, öffnete sie, wollte etwas sagen, was sie sich allerdings ersparen konnte. Die Fremde war verschwunden. Ulrike bekam gerade noch mit, wie sie auf den Beifahrersitz eines in der Nähe parkenden Sportwagens kletterte, der schnell davonbrauste.

Das war mehr als nur merkwürdig!

Die Szene war gespielt gewesen, die Frau hatte diesen scheinbaren Schwächeanfall nur als Vorwand benutzt, um ins Haus zu gelangen.

Warum?

Ulrike musste nicht lange überlegen, das lag doch auf der Hand, die Fremde hatte ins Haus gelangen wollen, um alles auszuspionieren, vielleicht sogar, um etwas zu stehlen, während sie in der Küche das Wasser geholt hätte. So etwas las und hörte man immer wieder. Und es gab sogar Fernsehsendungen, in denen die Maschen solcher Verbrecher publik gemacht wurden. Und dennoch fielen die Menschen immer wieder darauf herein, und es war nicht verwunderlich. Die Fremde hatte einen netten, seriösen, vertrauenerweckenden Eindruck gemacht. Warum waren eigentlich bei ihr direkt alle Alarmglocken angegangen? Ulrike konnte es nicht sagen, und es hatte auch nichts damit zu tun, dass sie als Psychologin einen geschärften Blick auf die Menschen hatte. Auch Psychologen fielen auf Verbrecher herein.

Was nun?

Zuerst einmal brachte Ulrike das Glas in die Küche zurück, schüttete das Wasser aus, kochte sich einen Kaffee, und mit dem ging sie danach in ihr Wohnzimmer zurück. Sie hätte diesen Zwischenfall jetzt beiseiteschieben können, denn es war ja nichts passiert. Doch so einfach ging es nicht. Es ließ sie nicht los. Was sollte sie jetzt tun? Die Polizei anrufen, den Zwischenfall melden? Nein, das ging überhaupt nicht, die Polizei brauchte Fakten, und sie konnte allenfalls ihre eigene Vermutung schildern.

Okay, das mit der Polizei war keine gute Idee, doch beiseiteschieben wollte sie es ebenfalls nicht. Und plötzlich wusste sie, was zu tun war.

Ulrike vergaß ihren Kaffee, erhob sich, ging zur Haustür, öffnete sie, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Türen und Fester geschlossen waren und sie die Alarmanlage aktiviert hatte, verließ sie das Haus.

Sie wusste, was jetzt zu tun war. Angela von Bergen hatte sie mit Rosmarie Rückert bekannt gemacht, die von Einbrechern heimgesucht worden war, und zu der wollte sie jetzt. Sie musste einfach herausfinden, ob der Verdacht, der ihr gekommen war, sich erhärtete.

Der Sonnenwinkel war nicht gerade klein, doch große Strecken musste man nicht laufen. Und so dauerte es nicht lange, und sie hatte das Haus der Rückerts erreicht, das sich von den meisten Häusern der preisgekrönten Siedlung unterschied, weil sie es baulich verändert und erweitert hatten. Das alles hatte sie von Angela erfahren, sie selbst hätte es nicht gewusst, weil sie noch nicht lange in der Siedlung wohnte und die auch wieder verlassen würde. Es war nur ein kurzes Intermezzo, doch darum ging es jetzt überhaupt nicht, doch merkwürdig war es schon, denn sie hatte sich auf einen längeren Aufenthalt, vielleicht sogar für immer eingerichtet.

Doch wie sagte man so schön? Unverhofft kommt oft. Das Schicksal hatte mit jedem Menschen so seine eigenen Pläne, in ihrem Fall allerdings hieß das Schicksal Nina Klemm, die ihre allerbeste Freundin war. Nina hatte ausfindig gemacht, dass die Mühle, seit der Kindheit Ulrikes Objekt der Begierde, zu vermieten war. Und da hatte sie einfach nicht widerstehen können, für sie würde sich mit der Mühle ein Traum erfüllen. Sie würde zurückkehren, nicht in ihr altes Leben, dafür war einfach zu vieles geschehen, was unerfreulich war. Doch sie würde wieder in ihrer Heimatstadt leben, mit ihren Freundinnen und Freunden, vor allem würde sie wieder mehr Zeit mit Nina verbringen, und das war einfach nur schön. Tja, so schnell konnte sich etwas verändern. Ulrike ging durch den Vorgarten, und gerade, als sie die Haustür erreicht hatte, wurde die geöffnet, eine Frau mittleren Alters kam heraus, musterte Ulrike. Rosmarie Rückert war es auf jeden Fall nicht, die kannte sie ja bereits, wenn auch nur flüchtig.

Sie stellte sich vor.

»Ich möchte gern zu Frau Rückert …, ich wohne hier ganz in der Nachbarschaft«, fügte sie rasch hinzu, doch das wäre nicht nötig gewesen, denn die Frau sagte: »Ich weiß, wer Sie sind, Sie schreiben doch diese psychologischen Bücher.«

Ulrike wurde rot, sie hatte nicht gewusst, dass das bereits bis in den Sonnenwinkel vorgedrungen war. Sie nickte, die Frau lächelte, sagte: »Bitte, warten Sie einen Augenblick, ich sage Frau Rückert rasch Bescheid.«

Sie bat Ulrike zwar nicht direkt ins Haus, dennoch war das Vertrauen zu ihr groß, denn sie ließ die Haustür offen. Ulrike war sich plötzlich nicht mehr ganz sicher, ob es klug gewesen war, herzukommen. Doch sie konnte sich darüber jetzt keine weiteren Gedanken machen, denn die Frau kam zurück und Rosmarie Rückert folgte ihr direkt und freute sich ganz offensichtlich, Ulrike zu sehen.

»Frau Dr. Scheibler, das ist aber eine schöne Überraschung, dass Sie mich besuchen.«

Von wegen Besuch!

Ulrikes Gefühl des Unbehagens verstärkte sich, und so sagte sie zunächst einmal nicht, weswegen sie eigentlich gekommen war. Sie ließ sich zum Tee einladen, und es gelang Ulrike sogar, ganz unverbindlich mit Rosmarie Rückert zu plaudern. Die war aber auch eine ausnehmend sympathische Frau. Irgendwann fasste Ulrike sich jedoch ein Herz und kam auf den Grund ihres Besuches zu sprechen.

»Frau Rückert, ist Ihnen eigentlich vor dem Einbruch in ihrem Haus etwas aufgefallen?« Als sie Rosmaries irritierten Blick bemerkte, fuhr sie fort: »Beispielsweise, dass jemand bei Ihnen an der Haustür war, den Sie nicht kannten, der …, nun, der um Hilfe bat oder so was in der Art.«

Rosmarie antwortete nicht sofort, weil sie nicht wusste, was das zu bedeuten hatte, und weil sie eigentlich über den Einbruch nicht mehr reden wollte. Sie wollte alles abhaken, vergessen. Doch weil die Stimme ihrer Besucherin so eindringlich geklungen hatte, erzählte sie von einer jungen sympathischen Frau, die um ein Glas Wasser gebeten hatte, weil es ihr nicht gutging.

Da hatte sie die Bestätigung!

Doch ehe Ulrike etwas sagen konnte, fuhr Rosmarie Rückert fort: »Aber diese junge Frau hatte mit nichts was zu tun, sie war sehr sympathisch, war elegant gekleidet, hatte gute Manieren, sie hat sich, als es ihr nach einer Weile besser ging und sie wieder gehen konnte, höflich bedankt.«

Das musste Ulrike erst einmal verdauen, ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht, ihre Abneigung gegen diese Frau war nicht umsonst gewesen.

Weil ihr das Schweigen ihrer Besucherin zu lange dauerte, wollte Rosmarie wissen: »Warum interessiert Sie das eigentlich, Frau Dr. Scheibler?«

Ulrike erzählte es ihr, und nun musste Rosmarie das erst einmal verdauen. Sie schwieg, und nach einer ganzen Weile bemerkte sie leise: »Und Sie glauben, dass der für mich so unbedeutende Zwischenfall mit dieser Dame im Zusammenhang mit dem Einbruch hier in unserem Haus steht?« Sie zögerte, dann fuhr sie fort: »Es könnte durchaus sein, denn, wenn ich es so recht überdenke, hat sie sich sehr interessiert umgesehen, und als ich mit dem Wasser aus der Küche kam, stand sie ganz in der Nähe eines Schrankes und trat rasch zurück, als sie mich sah.«

Das Bild rundete sich immer mehr ab.

»Und sie wollte unbedingt in mein Haus«, erzählte Ulrike, »was ich zu verhindern wusste, und als ich mit dem Wasser zur Tür kam, war sie einfach weg. Ich bekam gerade noch mit, wie sie in einen Sportwagen stieg, wo wohl ihr Komplize auf sie gewartet hatte. Das Auto raste dann davon, schade, sonst hätte ich mir das Kennzeichen gemerkt.« Sie trank etwas von ihrem Tee, stellte die hauchfeine Porzellantasse ab, dann sagte sie leise: »Zunächst einmal war ich mir nicht sicher, doch jetzt werde ich auf jeden Fall zur Polizei gehen und dort meine Beobachtungen schildern. Dazu bin ich geradezu verpflichtet. Und eines steht jetzt fest, nämlich, dass zu dieser Bande mindestens drei Personen gehören, die beiden Männer, die bei Ihnen eingebrochen sind, und die Frau, die alles vorher auskundschaftet und der man erst einmal nie auf die Schliche kommen würde. Es steckt eine Bande dahinter, die mit System arbeitet.«

Die Erinnerungen an den Einbruch kamen natürlich in Rosmarie sofort wieder hoch, die ausgestandene Angst, ihre Hilflosigkeit kamen zurück. Ulrike bemerkte es, nahm Rosmaries Hand, hielt sie fest und bemerkte ganz schuldbewusst: »Es tut mir ja so unendlich leid, Frau Rückert. Ich wollte Sie nicht aufregen, ich wollte mir, ohne darüber nachzudenken, meinen Verdacht bestätigen lassen, und jetzt wissen wir, dass ich mich nicht geirrt habe, und vor allem wissen wir, dass diese Verbrecher überhaupt nicht daran denken, hier im Sonnenwinkel aufzuhören, sie planen weitere Einbrüche, und irgendwie hatten sie mich ausgeguckt, aber das kann allerdings auch ein Zufall sein, doch darüber müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen, dafür ist die Polizei zuständig. Bitte entschuldigen Sie, Frau Rückert, es tut mir wirklich sehr leid, doch es muss schließlich auch in ihrem Interesse liegen, dass diesen Typen das Handwerk gelegt wird, nicht wahr?«

Darauf ging Rosmarie nicht ein, sie war mit etwas ganz anderem beschäftigt.

»Ich hätte diese Frau nicht ins Haus lassen dürfen, dann wäre vielleicht nichts passiert.«

Da widersprach Ulrike sofort.

»Frau Rückert, so dürfen Sie nicht denken, niemand kann da Rückschlüsse ziehen.«

»Aber ich war zu leichtgläubig, zu unvorsichtig. Sie haben diese Frau, ganz im Gegensatz zu mir, nicht ins Haus gelassen, nicht wahr?«

Diese Gedanken durften sich in Rosmarie Rückert gar nicht erst festsetzen, also versuchte Ulrike, sie ihr sofort auszureden.

»Frau Rückert, es macht doch überhaupt keinen Sinn, sich deswegen Gedanken oder gar Schuldgefühle zu machen. Wer einbrechen will, wer Schlechtes im Sinn hat, der bricht ein, ob mit Lockvogel oder ohne. Solche Menschen haben weder Skrupel noch Moral. Ihnen kann nur das Handwerk gelegt werden, indem man sie fasst. Und deswegen fahre ich jetzt gleich nach Hohenborn zur Polizei und teile dort meine Beobachtungen mit.«

Sofort war Rosmarie bei der Sache.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitkomme? Ich kann als eine Geschädigte auch zu etwas beitragen.«

Natürlich hatte Ulrike nichts dagegen, im Gegenteil, sie fand es gut, sie erzählte, dass sie auf jeden Fall eine Phantomzeichnung anfertigen lassen wollte.

»Ich habe die Frau sehr gut in­ Erinnerung. Sie ist mittelgroß, ungefähr Mitte Dreißig, schlank, sie hat ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, graue Augen, dunkelblondes Haar, und oberhalb der linken Braue eine Narbe.«

Rosmarie schluckte.

»Was Sie da beschreiben, Frau Dr. Scheibler, das klingt ganz nach der Frau, die ich ins Haus gelassen habe. An das Äußere erinnere ich mich so ganz genau, aber die von Ihnen beschriebene Narbe, die habe ich auch gesehen. Ich fragte mich nämlich unwillkürlich, ob diese Narbe diese wirklich sehr gut gekleidete Frau wohl stört, und ob sie sich diese wegmachen lassen wird. Für einen Schönheitschirurgen ist so etwas ein Klacks. Ich weiß, wovon ich rede, früher, und eigentlich muss ich das nicht gewesen sein, sondern eine andere Frau, habe ich ständig an mir herumschnippeln lassen. Zum Glück sind diese Zeiten vorbei.« Sie wurde aufgeregt. »Ich bin mir sicher, dass es diese Frau ist, kommen Sie, lassen wir uns fahren, wir können meinen Wagen nehmen, der steht direkt vor der Tür.«

Sie wollten gerade das Haus verlassen, als von irgendwoher Beauty und Missie angelaufen kamen, die beiden aus dem Tierheim geholten Hunde der Rückerts.

Und die mussten die Besucherin erst einmal ganz freundlich begrüßen, und dann kam Frauchen an die Reihe. Rosmarie und Heinz Rückert und die beiden Hündinnen hingen aneinander wie Kletten, und das war etwas, womit niemand gerechnet hatte.

Beauty und Missie waren freundlich, zutraulich, sie hatten glücklicherweise keinen Schock davongetragen, als einer dieser Einbrecher sie eiskalt betäubt hatte. Zum Glück hatte er die Tiere nicht erschossen, das wäre durchaus möglich gewesen, wenn man die Brutalität bedachte, mit der zumindest einer von ihnen vorgegangen war.

Während Ulrike die Tiere ­begrüßte, blickte Rosmarie an sich herunter. Sie war ganz leger in Freizeitkleidung angezogen, weil sie für diesen Tag nichts weiter hatte tun wollen, als mit den Hunden eine Runde zu drehen, und dafür musste man sich nicht aufbrezeln. Für die Rosmarie von früher wäre es unmöglich gewesen, so das Haus zu verlassen, der Rosmarie von heute machte es nichts aus, weil sie längst begriffen hatte, dass man auch in Lagerfeld, Chanel oder Dolce & Gabana keine andere Person wurde.

»So, meine Süßen, geht zu Meta, die hat bestimmt Leckerli für euch.«

Die Tiere spitzten die Ohren, zögerten, dann liefen sie davon, und Rosmarie und ihre Besucherin ergriffen die Gelegenheit, das Haus zu verlassen.

Auch wenn die Polizei der Freund und Helfer war, ging man nicht gern hin, und man hatte meist auch ein ungutes Gefühl, wenn man unterwegs von ihr angehalten wurde, weil das meistens teuer wurde. Aber jetzt war der Besuch unumgänglich.

Wenig später saßen sie in Rosmaries tollem Sportwagen und fuhren gen Hohenborn, was für ein Glück, dass sie sicher sein konnten, nicht kontrolliert zu werden, weil der Sonnenwinkel so etwas war wie polizeifreie Zone, sonst wäre jetzt ein Ticket fällig gewesen, weil Rosmarie viel zu schnell fuhr.

Das tat sie meistens, sie konnte sich jetzt nicht damit herausreden, zur Polizei zu müssen, um dort eine Meldung zu machen.

Es gab hinreichend andere Themen, über die sie sich unterhalten konnten, doch Rosmarie war in ihren Gedanken nur noch mit dem Einbruch beschäftigt, und deswegen sagte sie mit düsterer Stimme: »Der Sonnenwinkel war immer sicher, man lebte wie im Paradies, doch dann kam die Schlange, oder vielleicht waren es ja sogar auch Schlangen, die alles unterhalb der Felsenburg abgefackelt haben. Und dadurch sind wir in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, weil in allen Medien über diesen Großbrand berichtet wurde. Und so was erweckt natürlich Begehrlichkeiten, das ist ja klar. Schönheitsklinik, Hotel für die Reichen und Schönen, da setzt man automatisch voraus, dass auch im Ort selbst was zu holen ist.«

Es konnte durchaus sein, doch Ulrike wollte es so einfach nicht im Raum stehen lassen.

»Frau Rückert, glauben Sie, dass die Verbrecher sich vor den Fernseher setzen oder in die Zeitung schauen, ehe sie ihren nächsten Coup planen? Die Sache selbst finde ich ganz scheußlich, dass da jemand die Dreistigkeit besitzt, dieses Feuer zu legen, das alles zerstört hat.«

Rosmarie nickte.

»Sie haben recht, für den armen Herrn van Beveren ist es viel schlimmer, er hat etwas Großes schaffen wollen, und das hat man vernichtet, ehe es in Betrieb genommen werden konnte. Vor allem war das Unternehmen ja nicht dazu gedacht, sein Vermögen zu vergrößern, sondern er hat mit dem Gewinn Gutes tun wollen. Und dafür könnte ich den Leuten oder der Person, die das getan hat, den Hals umdrehen.«

Sie hatten zum Glück die Polizei erreicht, sodass das Thema nicht weiter vertieft werden musste. Ulrike war ganz froh deswegen, weil es überhaupt nichts brachte, sich jetzt deswegen noch zu ereifern.

Sie stiegen aus, gingen auf das Gebäude zu, und sie hatten es noch nicht ganz erreicht, als die Eingangstür geöffnet wurde, Inge Auerbach herauskam.

»Was machst du denn hier, Inge?«, erkundigte Rosmarie sich ganz verblüfft.

Inge lachte.

»Das könnte ich dich jetzt auch fragen. Hast du schon vergessen, dass ich mich für jugendliche Inhaftierte stark mache, und da hatte ich etwas mit Henry Fangmann zu besprechen. Aber du und Sie, Frau Dr. Scheibler, weswegen sind Sie hier?« Sie blickte Rosmarie an, »bist du dabei erwischt worden, zu schnell zu fahren oder falsch zu parken?«

Rosmarie lachte.

»Male bitte den Teufel nicht an die Wand, nein, es gibt einen anderen Grund, weswegen wir hier sind. Wir möchten eine Anzeige gegen Unbekannt erstatten.«

Sie erzählte Inge, was sich ereignet hatte, und die sagte ganz spontan: »Das ist gut, alle Menschen, denen etwas aufgefallen ist, sollten das der Polizei mitteilen. Leider sind die meisten Menschen zu bequem, lassen es schleifen.«

»Wir nicht, und Frau Dr. Scheibler kann sogar eine ganz gute Personenbeschreibung liefern. Aber sag mal, kannst du nicht auf uns warten, Inge? Lange wird es gewiss nicht dauern, und dann könnten wir zusammen noch einen Kaffee trinken gehen, und ich weiß schon wo, ins Wieder Café, und zur Belohnung genehmigen wir uns ein Stück Sachertorte, vielleicht auch zwei.«

Das war wirklich eine gute Idee, und es war Inge anzusehen, wie sehr sie es bedauerte, ablehnen zu müssen.

»Pamela hat sich eine Jacke gewünscht, die so ähnlich aussehen soll wie die von einer derzeit angesagten Sängerin. Ich will gleich versuchen, wenigstens einen ähnlichen Stoff zu bekommen, und dann muss die Jacke ja auch noch genäht werden.«

Rosmarie winkte ab.

»Was für dich ein Kinderspiel ist. Ich bewundere dich dafür, wie geschickt du bist, ich würde mir die Finger brechen, müsste ich so etwas zaubern, wie du es ständig anfertigst.«

Inge wurde verlegen, und sie war froh, dass sie dazu jetzt nichts sagen musste, weil Rosmarie etwas auf dem Herzen hatte, das für sie wichtiger war als ein Kleidungsstück, das Inge nähte.

»Wie fühlt es sich für dich denn an, dass Pamela nach Cornwall geht? Damit war ja eigentlich nicht zu rechnen.«

»Es schadet nicht, wenn Jugendliche ein Auslandsjahr machen«, wandte Ulrike ein, die natürlich von Angela, von wem auch sonst, die ganze Geschichte kannte, zumindest die, die für die Öffentlichkeit bestimmt war. »Das ist etwas fürs Leben und hat noch niemandem geschadet.«

Das bestätigte Inge, dann allerdings sagte sie leise: »Ein wenig wehmütig ist mir schon zumute. Pamela ist ein solcher Sonnenschein, sie wird mir …, äh …, sie wird uns fehlen.«

»Sie kommt ja wieder«, tröstete Rosmarie, »außerdem ist Cornwall nicht weit, wer hindert dich daran, dorthin zu fliegen, zumal ja auch Hannes dort lebt.«

Das Gespräch wurde unterbrochen, weil ein Mann aus dem Haus gestürmt war und ganz erleichtert rief: »Inge, was für ein Glück, dass ich dich noch antreffe, wir müssen unbedingt noch über Ole Bernsen reden.«

»Und wir müssen endlich unsere Aussage machen oder Anzeige, oder wie immer man es auch nennen mag.«

Henry Fangmann war Polizist, und auch wenn er dafür nicht zuständig war, glücklicherweise ging es diesmal nicht um Mord, konnte er den beiden Damen doch sagen, an wen sie sich wenden mussten. Sie verabschiedeten sich voneinander, Rosmarie und Ulrike gingen ins Polizeigebäude, und Inge und Henry Fangmann begannen eine lebhafte Unterhaltung.

*

Frau Dr. Roberta Steinfeld liebte all ihre Patientinnen und Patienten, das mehr oder weniger. Doch als jetzt Pamela Auerbach das Behandlungszimmer betrat, ging für Roberta die Sonne auf. Sie konnte überhaupt nicht beschreiben, wie gern sie das Mädchen hatte. ­Pamela sah wieder einmal ganz entzückend aus mit ihren ­wilden braunen Locken, den großen grauen Augen, die interessiert und klug aus ihrem schmal geschnittenen Gesicht blickten.

»Pamela, setz dich bitte«, sagte sie, nachdem sie das Mädchen begrüßt hatte, »und mach bitte kein so besorgtes Gesicht. Bei dir ist alles in Ordnung, alle Werte sind fantastisch, und auch dein Impfpass ist vollständig. Deiner Reise steht also nichts mehr im Wege. Ich habe für dich alle Arztberichte mit sämtlichen Werten kopiert, wenn du also in Cornwell zum Arzt musst, kann der sich sofort einen Überblick verschaffen, ansonsten kann ich jederzeit angerufen werden.«

»Ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird, Frau Doktor, und wenn da mal etwas sein sollte, dann bitte erst, wenn ich wieder daheim bin, ich zu Ihnen gehen kann, denn für mich sind Sie die allerbeste Ärztin von der ganzen Welt.«

Roberta blickte das Mädchen ganz gerührt an.

»Pamela, du kannst ganz unbesorgt sein, auch in Cornwell, nicht nur dort, sondern überall auf der ganzen Welt haben die Mediziner einen Eid geschworen, der für alle bindend ist und uns dazu verpflichtet, immer das Wohl aller Patientinnen und Patienten im Auge zu haben.«

»Mag ja sein, Frau Doktor, doch nicht alle Mediziner und Medizinerinnen sind gleich, und ich bleibe dabei, Sie sind ganz oben auf dem Olymp.«

Es war schmeichelhaft, doch das Mädchen war nicht hier, um ihr Komplimente zu machen, und deswegen wurde Roberta ernst und sprach mit Pamela alle Werte durch, nachdem das geschehen war, sie alle Fragen beantwortet hatte, blieb noch ein wenig Zeit für Privates, das musste sein, denn sie und Pamela hatten eine tiefe Verbindung, und das lag nicht daran, dass sie Pamela damals aufgegriffen hatte, nachdem die von daheim davongelaufen war, weil sie zufällig durch schwatzsüchtige Fremde erfahren hatte, dass sie überhaupt keine echte Auerbach war, für die sie sich immer gehalten hatte, sondern dass man sie adoptiert hatte. Es war für alle eine ganz schreckliche Zeit gewesen, an die niemand mehr gern erinnert werden wollte, und nun war schon lange alles wieder gut.

»Pamela, ich freue mich so sehr für dich, gewiss wird es für dich und Hannes wieder eine ganz aufregende Zeit werden, dass ihr es miteinander könnt, sehr gut sogar, habt ihr ja damals in Australien bewiesen. Und jetzt wirst du auch noch Pia treffen. Ach, hat Pia das Armband angefertigt, das du heute trägst, Pamela? Es sieht wunderschön aus, und es passt ganz hervorragend zu dir. Man würde jetzt sagen, wie für dich gemacht. Aber das trifft sogar zu, denn Pia hat es ja für dich angefertigt, nicht wahr?«

Das bestätigte Pamela.

»Sie macht dauernd etwas für mich, weil sie ständig etwas ausprobiert, und ich bin die Nutznießerin.«

»Nun, zumindest muss sie dir den Schmuck nicht mehr schicken, sie kann ihn dir direkt aushändigen, das spart Porto, und es ist immer angenehmer, sich sofort persönlich für ein Geschenk zu bedanken, nicht wahr?«

Pamela nickte, doch etwas an dem Gesichtsausdruck des Mädchens irritierte Roberta, und so erkundigte sie sich auch sofort: »Pamela, ist etwas nicht in Ordnung? Oder habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Sie doch nicht, Frau Doktor, das können Sie doch überhaupt nicht«, widersprach Pamela sofort.

»Was ist es dann?«

Pamela zögerte mit der Antwort.

»Ach wissen Sie, Frau Doktor, ich freue mich ja schon, nach Brenlarrick zu kommen …«

Weil sie diesen Satz nicht beendete, fuhr Roberta fort: »Aber …, ein Aber kommt doch jetzt, oder?«

Pamela blickte die Ärztin aus ihren großen schönen Augen an, dann nickte sie so heftig, dass die Locken nur so flogen.

»Am liebsten würde ich daheim bleiben, weil der Sonnenwinkel für mich der schönste Platz von der ganzen Welt ist.«

Nun verstand Roberta überhaupt nichts mehr, von Teresa von Roth, auch von Inge Auerbach wusste sie, dass es Pamelas Wunsch war, für ein Jahr zu ihrem Bruder Hannes zu gehen, an dem sie sehr hing, am meisten von ihren Geschwistern.

»Pamela, das verstehe ich jetzt nicht, warum gehst du denn dann, wenn du es eigentlich gar nicht willst? Das musst du mir bitte erklären.«

Pamela und die Frau Doktor mochten sich, sie waren ehrlich zueinander, und so zögerte Pamela jetzt auch nur ganz kurz, ehe sie kaum hörbar sagte: »Den Sonnenwinkel, den liebe ich noch immer über alles, obwohl es seit dem Brand lange nicht mehr so schön ist wie vorher, und auch die schwarze Felsenburg macht mich ganz traurig, aber …«, sie brach ab, und Roberta sagte sofort: »Pamela, wenn du nicht magst, musst du es mir nicht erzählen.«

Pamela riss sich zusammen.

»Doch, das möchte ich aber. Es ist nur so, dass es mir daheim nicht mehr richtig gefällt.«

Roberta hätte mit allem gerechnet, damit nicht, und sie wusste nicht, wie sie sich jetzt verhalten sollte. Sie wartete erst einmal ab, obwohl die nächsten Patienten warteten, manchmal ging es nicht anders. Sie spürte, dass die junge Pamela in Not war, und das war schließlich auch etwas, was behandelt werden musste, auch wenn sie keine Psychiaterin oder Psychologin war.

Und dann begann Pamela zu erzählen, dass ihr Vater wieder ständig unterwegs war, dass es ihre Mutter ganz traurig machte, und dass die Eltern, wenn sie mal beide daheim waren, kaum miteinander sprachen.

»Und wenn, dann tun sie das wie Nachbarn, die sich nicht richtig leiden können, aber dennoch gute Miene zum bösen Spiel machen, weil sie sich ja nicht aus dem Weg gehen können. Es ist überhaupt nicht mehr schön daheim, ich bin viel lieber bei den Großeltern, da ist die Welt in Ordnung, die Omi und der Opi reden und lachen miteinander, sie sind ein richtig gutes Team, und das sind die Eltern nicht …, sie sind …« Plötzlich sprang Pamela auf. »Ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten, im Wartezimmer ist es brechend voll, außerdem lässt sich eh nichts ändern. Vielleicht …«, ihr Gesichtsausdruck wurde düster, die Stimme immer leiser, »vielleicht lassen sie sich ja auch scheiden, und wenn ich nach Hause komme, ist der Papa ausgezogen, vielleicht auch die Mama. Ich bin froh, dass ich die Großeltern habe, den Hannes, und auf Pia freue ich mich auch. Die kann einem viel Kraft geben, und ich muss oft an sie denken und daran, dass man alles schaffen kann, wenn man es nur wirklich will, da kommt man sogar aus einem Leben auf der Straße. Gewiss wird Pia mal ganz berühmt, sie ist so zu beneiden, dass sie dieses Talent hat, ich bin gar nichts, na ja, gute Noten habe ich schon in der Schule, aber das ist nichts Besonderes.«

Sie rannte um den Schreibtisch herum, umarmte Roberta ganz heftig, die überhaupt nicht wusste, wie ihr geschah, und dann rannte Pamela zur Tür.

»Danke, Frau Doktor«, rief sie, und schon war sie draußen, und Roberta hatte einige Mühe, sich wieder zu sammeln, sie hätte mit allem gerechnet, mit einer solchen Eröffnung nicht, die Pamelas ganzes Elend offenbarte. Wie schade, dass sie jetzt keine Zeit für Pamela hatte. Aber sie würde auf jeden Fall noch einmal mit dem Mädchen reden, ehe die Abreise nach Cornwall erfolgte. Und sollte sie sich auch mal Inge Auerbach vornehmen?

Darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken, und Ursel Hellenbrink schickte ihr auch schon die nächste Patientin herein. War es ein Zufall, dass es sich ausgerechnet um Teresa von Roth handelte?

»Frau Doktor, Pamela ist ja gerade wie gehetzt aus der ­Praxis gelaufen. Hatten Sie schlechte Nachrichten für sie?«

Teresa wusste, dass Pamela zu einer gründlichen Untersuchung in die Praxis gekommen war, auch zu Auffrischungen ihrer Impfungen, deswegen war jetzt diese Frage nicht unberechtigt.

Roberta konnte Teresa beruhigen, doch sie kannte sie und wusste, dass die nun nicht lockerlassen würde, also erzählte sie ihr, obwohl eigentlich überhaupt keine Zeit dazu war, was sie gerade gehört hatte, und die Reaktion ihrer Patientin erstaunte sie jetzt, denn Teresa von Roth schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Das kommt davon, wenn die Probleme immer unter den Tisch gekehrt werden, wenn nichts richtig ausgesprochen wird. Nun leidet das arme Kind und weiß nicht, was in ihrem Elternhaus eigentlich los ist. Jetzt ist leider keine Zeit dazu, aber eines steht fest, ich werde mit meiner Tochter Tacheles reden, es ist unglaublich, was die Unfähigkeit meiner Tochter und meines Schwiegersohnes, aufrichtig und offen miteinander zu reden, mit Pamela macht. Es wird Inge schon erschüttern, wenn sie erfährt, dass sie und Werner es letztlich sind, die Pamela aus dem Haus treiben. Na ja, schaden wird es ihr nicht, sich anderswo mal den Wind um die Nase wehen zu lassen, und Hannes wird schon auf sie aufpassen, denn er liebt seine kleine Schwester über alles. Entschuldigen Sie, Frau Doktor, dass sie nun auch noch in die privaten Probleme der Auerbachs hineingezogen werden.«

»Frau von Roth, machen Sie sich bitte keine Gedanken, Sie und die ganze Familie sind für mich doch längst mehr als nur Patienten, und ich bin dankbar dafür, dass Pamela mich nicht nur als die Ärztin sieht. Ich werde noch einmal mit ihr reden, auf mich hört sie, und Sie …«

»Ich werde mir Inge noch mal vornehmen«, ergänzte Teresa den Satz. Sie war ganz schön sauer auf Inge.

»Eigentlich ist es nicht zu verstehen, dass der Professor und ihre Tochter nicht miteinander reden«, bemerkte Roberta, »beide sind klug, stehen mitten im Leben.«

»Das scheinen sie offensichtlich nicht zu sein, denn sonst würden sie sich nicht verhalten wie Pubertierende, die Angst davor haben, miteinander zu reden.«

Ursel kam herein, das Gespräch wurde unterbrochen. Sie brachte Teresas Laborwerte, die gerade gekommen waren. Roberta warf einen schnellen Blick darauf.

»Frau von Roth, es ist alles im grünen Bereich, der Verdacht auf einen Diabetes hat sich nicht bestätigt, die zweite kleine Baustelle, die Sie haben, ist die leichte Erhöhung ihres Blutdruckes, genau gesagt, des systolischen, also des oberen Wertes. Doch die bei Ihnen auftretenden Schwankungen sind nicht behandlungsrelevant. Das bekommen Sie auch so hin, Sie sollten sich vielleicht nicht so viel zumuten, etwas langsamer geht auch. Ich messe jetzt den Blutdruck nicht, weil Sie sich gerade ziemlich aufgeregt haben. Aber Sie müssen mir versprechen, vier Wochen lang, dreimal täglich, also morgens, mittags und abends, immer zur gleichen Zeit den Blutdruck zu messen und die Werte in das Blutdruckprotokoll einzutragen, das ich Ihnen jetzt mitgebe.«

Teresa versprach es.

»Es ist doch in meinem eigenen Interesse, dass alles bei mir in Ordnung ist, deswegen bewege ich mich, ernähre ich mich gesund, weil ich nämlich noch viele schöne, gemeinsame Jahre mit meinem Magnus verbringen möchte.«

Roberta lächelte.

»Und das sieht gut aus. Ihr Mann hat die Werte eines jungen Menschen, ich finde es so großartig, dass er immer wieder das goldene Sportabzeichen macht.«

»Davon lässt Magnus sich nicht abhalten, und ehrlich gesagt bin ich auch froh, dass er sein eigenes Ding macht, den Sport, das Schachspiel, sonst hätte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mich jetzt auf meine alten Tage beruflich verwirkliche.«

»Was zu bewundern ist, Frau von Roth, doch Sie dürfen nicht übertreiben. Von Claire weiß ich, dass Sie da eine ganze Menge auf die Beine stellen, Piet ist voller Bewunderung für Sie.« Teresa errötete wie ein junges Mädchen. Sie erhob sich.

»Piet ist auch ein großartiger Mensch, doch darüber unterhalten wir uns ein andermal, ich bin froh, dass ich keinen Diabetes habe, und das mit dem Blutdruck, das bekomme ich auch hin, ich habe keine Lust darauf, Tabletten wie bunte Smarties in mich hineinzustopfen, und zum Glück gehören Sie zu den Ärzten, die nicht direkt zum Rezeptblock greifen. Wir können alle so unendlich dankbar dafür sein, Sie hier als niedergelassene Ärztin zu haben, Sie sind ein Geschenk des Himmels, Frau Doktor, das muss einfach mal gesagt werden. So, und jetzt gehe ich. Am Anfang der Woche macht zum Glück der ›Seeblick‹ wieder auf, und ich denke, dass wir uns dort wiedersehen werden. Es wird allerhöchste Zeit, dass Frau Herzog und Herr Richter wieder zum Kochlöffel greifen, ich bin ja so gespannt darauf zu erfahren, wohin sie letztlich in den Urlaub gefahren sind. Das hat er ja organisiert, um sie zu überraschen. Sie sind ein so schönes Paar, sie passen hervorragend zueinander, sie würde ja gern, aber offensichtlich hat er Angst vor der Ehe.«

Teresa wusste Bescheid, Roberta war noch informierter, und so konnte sie sagen: »Das ist nicht der Grund, er möchte vielmehr nicht in den Verdacht geraten, sich ins gemachte Nest setzen zu wollen. Und was Julia da oben geschafft hat, ist bewundernswert. Wir alle wissen doch, wie sehr sie am Anfang kämpfen musste. Da ging es wirklich ums Überleben.«

Teresa nickte.

»Das stimmt, aber sie ist längst über den Berg, und mit ihm an ihrer Seite ist der ›Seeblick‹ noch besser geworden, sie sind ein wunderbares Team, und er sollte mal besser zugreifen, wehe ein anderer Mann kommt ihm zuvor, dann ist das Geschrei groß, Julia ist ja nicht nur eine begnadete Köchin, eine ganz hervorragende Geschäftsfrau, sondern sie ist auch ein sehr liebenswerter Mensch, mehr noch, sie sieht großartig aus und stellt in keiner Weise das dar, was man sich allgemein als Köchin vorstellt, rundlich, ein wenig massig.« Teresa lächelte. »Sie ist klein, schlank, und mit ihren kurzen braunen Haaren, den wachen braunen Augen ist sie der Gegentyp. So, und nun habe ich Sie wirklich lange genug aufgehalten. Ich weiß doch, dass es Ihnen unter den Fingernägeln brennt und dass ihr Tag die doppelte Anzahl von Stunden haben könnte. So sehr ich Piet und Claire ihr großes Glück auch gönne und mich mit ihnen freue, für die Praxis ist die andere Frau Doktor ein ganz großer Verlust.«

Nach diesen Worten ging Teresa, und Roberta konnte ihr, was die letzten Worte betrafen, nur zustimmen. Ja, Claire fehlte wirklich an allen Ecken, aber so war es nun mal, das Leben war kein Wunschkonzert, man musste es nehmen, wie es kam, und sie durfte jetzt wirklich nicht länger herumtrödeln, sondern musste etwas schneller arbeiten. Wohlgemerkt etwas, denn es durfte nicht zu Lasten ihrer Patientinnen und Patienten gehen …

*

Ulrike war auf dem Weg zu Angela von Bergen, sie wollte mit Angela noch viel Zeit verbringen, denn die beiden Frauen hatten sich angefreundet, und aus dem Sonnenwinkel wegzuziehen, das machte ihr nichts aus. Doch wegen Angela tat es ihr leid, auch wegen Achim Hellenbrink. Mit dem verstand sie sich sehr gut, und wer weiß, da hätte sich etwas Ernstes entwickeln können. Eigentlich schade, doch seinetwegen bleiben würde sie nicht, sie mochte ihn, sie mochte ihn mittlerweile sogar sehr, doch es war keine Liebe, das wusste sie. Und sie war keine Frau, die sich mit einem Mann zusammentat, um verheiratet zu sein oder um versorgt zu werden.

Wer weiß …

Sie waren sich zu früh begegnet, ihre Wunden waren noch nicht verheilt, und ihr Misstrauen Männern gegenüber war einfach noch zu groß. Sie war auf jeden Fall froh, dass Achim es mit Fassung getragen hatte, und sie nahm ihm ab, dass er es ernst meinte damit, dass sie auf jeden Fall in Verbindung bleiben sollten. Freundschaft war schließlich auch etwas Schönes.

Doch um Achim ging es jetzt nicht, sie würde Angela treffen, und darauf freute sie sich, und sie konnte Angela eine große Freude machen. Es war ihr doch tatsächlich gelungen, eines ihrer ersten Bücher, die längst vergriffen waren, für Angela aufzutreiben.

Wenn Sebastian wüsste, dass seine Sekretärin ihr das Buch besorgt hatte. Er würde vor Wut kochen. Mittlerweile hatte er es aufgegeben, sie zu belagern, und er hatte auch einsehen müssen, dass es auch in beruflicher Hinsicht keine Rückkehr gab. Und da hatte sich bei ihm alles gedreht. Frau Dr. Ulrike Scheibler, seine Starautorin, gewesene Starautorin, war jetzt seine erklärte Feindin Nummer Eins. Ulrike war schon klar, dass es in erster Linie nicht um sie als Frau ging, seine Gefühle ihr gegenüber waren eh nur gespielt gewesen. Nein, er hatte für seinen Verlag das Huhn, das goldene Eier legte, verloren. Ulrike hatte mit ihren Büchern viel Geld in seine Kasse gespielt. Hinzu kam natürlich auch der Image-Verlust. All ihre Bücher waren bislang in seinem Verlag veröffentlicht worden, sie hatte sogar schon für Sebastians Vorgänger geschrieben. Und wenn dann jemand wechselte, da machte man sich in der Branche schon seine Gedanken. Doch das sollte ihr egal sein, sie war froh, diesen Mann nicht mehr in ihrem Leben zu haben, und je weniger sie an ihn erinnert wurde, umso besser. Natürlich würde er schnell davon erfahren, dass sie zurückkommen und die Mühle bewohnen würde.

Die Mühle war auch sein Objekt der Begierde, eigentlich war jeder hingerissen von ihr, und Sebastian würde vor Wut in den Tisch beißen, wenn er erfuhr, dass sie das Rennen gemacht hatte.

Es war schon merkwürdig, sie hatte ihn mit jeder Faser ihres Herzens geliebt, hatte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen können, hatte sich die Zukunft mit ihm in den allerschönsten Farben ausgemalt. Seinetwegen war sie geflohen, anders konnte man es nicht bezeichnen, als sie von seinem Verrat ihr gegenüber erfahren hatte. Noch vor ein paar Wochen hätte sie sich nicht vorstellen können, wieder in die Stadt zu ziehen, in der er ebenfalls lebte. Mittlerweile machte es ihr nichts aus, und eigentlich wusste sie es insgeheim längst schon, dass sie da Leidenschaft mit Liebe verwechselt hatte.

Sie hatte das Haus der Damen von Roth erreicht, beschleunigte ihre Schritte.

Angela würde vielleicht Augen machen!

Sie sprang zur Haustür, drückte energisch auf den Klingelknopf, musste warten. Das war ein wenig ungewöhnlich, denn Angela kannte ihr Klingeln, war sofort an der Tür, um zu öffnen. Heute dauerte es.

Sollte sie es noch einmal versuchen? Hatte man das Klingeln überhört?

Gerade wollte sie diesen Gedanken in die Tat umsetzen, erneut klingeln, diesmal etwas ausdauernder, als die Haustür geöffnet wurde, nicht von Angela, wie erwartet, sondern von deren Mutter. Und nun war es erklärlich, dass es gedauert hatte, von Angela wusste sie, dass deren Mutter mit ganz viel Glück dem Tod von der Schippe gesprungen war und nach langer Krankheit wieder vollkommen genesen war, sie musste es nur langsam angehen lassen.

Ulrike war voller Bewunderung für diese feine Dame, und das nicht nur, weil sie all die Kraft aufgebracht hatte, um wieder dort zu sein, wo sie war. Nein, für Ulrike verkörperte Sophia von Bergen das, was man sich unter einer adeligen Dame aus bestem Hause, mit bestem Stammbaum, vorstellte.

Und wie großartig Sophia heute wieder aussah in ihrem grauen Outfit, zu dem sie nichts weiter trug als eine wunderschöne alte Brosche aus Familienbesitz. Sophia war Dame durch und durch, das verkörperte sie nicht nur durch ihre Kleidung, sondern durch ihr gesamtes Auftreten. Man hatte es, oder man hatte es nicht, keine Frage, Sophia hatte es.

»Frau Dr. Scheibler«, begrüßte sie Ulrike freundlich, »Angela lässt sich entschuldigen, sie wird sich etwas verspäten, denn sie ist in einen dicken Stau geraten, der sich gerade erst aufgelöst hat. Doch bitte, kommen Sie herein, nun kann es nicht mehr lange dauern. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«

»Bitte, machen Sie sich keine Umstände, Frau von Bergen, ich kann auch so warten, oder noch einfacher, ich komme gleich wieder, ich habe es ja nicht weit.«

Davon wollte Sophia allerdings nichts wissen.

»Oh, ich würde mich aber über ihre Gesellschaft freuen, Frau Dr. Scheibler, und das mit dem Tee, das macht keine Umstände, ich habe mir nämlich gerade erst einen gekocht, wir müssen also nur noch eine zweite Tasse auf den Tisch stellen.«

»Dann gern, Frau von Bergen.«

Gemeinsam gingen sie in das elegante Wohnzimmer der beiden Damen, und wenig später stand auch eine Tasse Tee vor Ulrike, und Sophia begann sofort zu plaudern: »Angela hat mir erzählt, dass Sie bei der Polizei waren, um eine Aussage zu machen, und dass es sich dabei um eine Frau handelt, die zuvor auch Rosmarie Rückert aufgesucht hat, um alles auszukundschaften. Schrecklich ein solcher Gedanke. Doch ich finde es großartig, dass Sie sofort gehandelt haben. Konnten Sie der Polizei helfen?«

»Nein, aber mit dem Phantombild, das sofort angefertigt wurde, hat man nun etwas in der Hand. Und hoffentlich schnappt man diese Verbrecher bald. Die arme Frau Rückert ist noch jetzt ganz durch den Wind, und das ist ja auch verständlich. Niemand rechnet damit, dass plötzlich Fremde vor seinem Bett stehen.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile darüber, Sophia wollte vor allem auch erfahren, ob es einem Menschen eigentlich in die Wiege gelegt wurde, welchen Weg er einschlagen wird. Das war ein Thema, zu dem man unendlich viel sagen konnte, und Ulrike war froh, dass just in diesem Augenblick Angela ins Haus gestürmt kam, ihre Mutter umarmte, Ulrike begrüßte.

»Es tut mir unendlich leid, dass du auf mich warten musstest, doch damit konnte niemand rechnen. Wenn Bauarbeiten und ein Aufprallunfall zusammenkommen, bleibt es nicht aus, dass rasch ein Stau entsteht.«

»Angela, entspann dich, ich habe mich mit deiner Mutter bestens unterhalten.« Und das war etwas, was Sophia nur bestätigen konnte.

»So, mein Kind, und du setzt dich erst einmal hin, atmest ganz tief durch, und ich hole dir noch eine Tasse, damit du ebenfalls einen Tee mit uns trinken kannst, und danach werde ich mich zurückziehen, denn ihr habt gewiss eine ganze Menge miteinander zu besprechen.«

Als Angela sich selbst eine Tasse holen wollte, wehrte Sophia ganz entschieden ab. »Du bleibst sitzen, ich werde dir die Tasse holen, schließlich bin ich nicht behindert, und du weißt doch, was die Frau Dr. Steinfeld immer sagt … Bewegung, Bewegung.«

Angela gab auf. Sie wusste, dass es überhaupt keinen Sinn machte, ihrer Mutter zu widersprechen. Sie verstanden sich blendend, hatten eine wundervolle Wohngemeinschaft, doch auch wenn sie längst schon erwachsen war, würde sie in den Augen ihrer Mutter immer das Kind bleiben, das zu gehorchen hatte. Was sollte es, das war etwas, was ihre Mutter niemals ausspielte.

Es dauerte ja auch nicht lange, denn der Tee musste nicht gekocht werden, der stand auf dem Tisch, so wie Inge Auerbach ihren Kaffee liebte und dafür sorgte, dass der niemals ausging, erging es Sophia mit ihrem Tee. Eine Marotte hatte jeder, und das war eine, mit der man leben konnte.

Wenig später stand der Tee vor Angela, und der war anzusehen, wie sie sich immer mehr entspannte, in erster Linie nicht wegen des Tees, sondern weil sie die Gesellschaft ihrer Mutter und ihrer neuen Freundin Ulrike genoss.

Und die ergriff alsbald die Gelegenheit, Angela ein hübsch verpacktes Päckchen zuzuschieben.

»Für mich?«, erkundigte Angela sich überrascht, »ich habe doch überhaupt keinen Geburtstag.«

Dann entfernte sie neugierig das Papier, holte das Buch hervor, warf einen Blick darauf, begann vor lauter Freude zu quietschen, ehe sie Ulrike um den Hals fiel.

»Ich glaube das jetzt nicht, du glaubst ja überhaupt nicht, wie ich mich bemüht habe, noch einmal an genau dieses Buch zu kommen. Man sollte nichts verleihen, denn ich besaß es, gab es jemandem zum lesen und sah es nie wieder.«

Sie sprang auf, fiel Ulrike um den Hals und bedankte sich aus vollem Herzen. Diese Freude war nicht gespielt, sie war echt, umso mehr freute es Ulrike, dass es ihr gelungen war, Angela diesen Herzenswunsch zu erfüllen.

»Dann verleih es diesmal nicht wieder«, wandte Sophia ein, »Glück soll man nicht herausfordern, ein zweites Mal könntest du kein Glück haben.«­

Sie erhob sich, und Ulrike erkundigte sich sofort: »Frau von Bergen, Sie wollen doch jetzt nicht gehen, oder? Wir können unsere Unterhaltung gern fortsetzen, und das ist ja auch ein Thema, das Angela interessiert.«

Sophia lächelte.

»Es gibt noch andere Themen, außerdem muss ich jetzt wirklich weg. Meine Freundin Teresa wartet auf mich, wir wollen nach Hohenborn in unser Büro fahren«, wie stolz sie das jetzt gesagt hatte, »es gilt noch Geld zu verteilen für wohltätige Zwecke, und da müssen wir es uns ganz genau überlegen, wen wir bedenken sollen. Piet van Beveren ist ein so großzügiger Mensch, und er spendet mit beiden Händen reichlich. Das hilft, doch es ist niemals genug. Es gibt einfach zu viel Elend auf dieser Welt, da müssen wir nur unser Tierheim in Hohenborn nehmen. Das ist ein Fass ohne Boden, und es wird nicht aufhören, solange es sich nicht in den Köpfen der Menschen festsetzt, dass Tiere keine Spielzeuge sind, keine Artikel, die man wieder in die Supermarktregale zurückstellen kann, weil man es sich überlegt hat, was anderes nehmen zu wollen. Und es muss in die Köpfe hinein, dass man eine Verantwortung übernimmt mit dem Kauf oder sonstigem Erwerb eines Tieres. Nicht nur das, man braucht auch viel Zeit, nicht zu vergessen, dass eine artgerechte Haltung …«

Angela hielt sich lachend die Ohren zu.

»Man spürt, dass Teresa deine Freundin ist, du sprichst ja schon wie sie, Mama.« Dann wandte sie sich an Ulrike. »Teresa ist eine militante Tierschützerin, und ginge es nach ihr, müssten die Leute, die sich ein Tier zulegen, so etwas wie einen Führerschein machen.«

»Ich bin auch dafür, und was Teresa immer auch tut, sie hat recht. Sie kann überzeugen, sie kommt in der Öffentlichkeit besser rüber als ich.«

»Aber dafür hast du die Finanzen im Griff und die Kontrolle, ach, Mama, ich finde es so großartig, was ihr da auf die Beine stellt. Teresa und du, ihr seid ein ganz wunderbares Team.«

Es war Sophia anzusehen, wie sehr sie sich über das Lob ihrer Tochter freute, und sie freute sich noch mehr, als Ulrike ihre Tasche aufnahm, ihr Portemonnaie herausholte, es öffnete, Geldscheine daraus hervorholte und voller Bedauern sagte: »Mehr habe ich leider nicht dabei, doch bitte, geben sie das Geld dem Tierheim, etwas Futter kann man auf jeden Fall dafür kaufen, und wenn Sie eine Kontonummer für mich haben, wohin ich ­regelmäßig Geld überweisen kann, dann geben Sie mir die bitte. Wir alle können etwas tun.«

Sophia war vollkommen überrascht, sie blickte auf die Scheine, die Ulrike ihr in die Hand gedrückt hatte.

»Dreihundert Euro, Frau Dr. Scheibler, dafür bekommt man eine ganze Menge Futter, ehe wir in unser Büro gehen, fahren wir kurz am Tierheim vorbei, um Frau Dr. Fischer, der Leiterin des Tierheims, das Geld abzuliefern. Die wird vor lauter Freude in die Luft springen, denn das Tierheim platzt aus allen Nähten, und jeden Monat kehrt die Angst zurück, das Haus schließen zu müssen, weil kein Geld mehr vorhanden ist. Tausend Dank, Sie bekommen natürlich auch eine Spendenbescheinigung, und das zusammen mit der Kontonummer.«

Nach diesen Worten ging sie, Angela und Ulrike waren allein, und die sagte: »Deine Mutter ist eine so großartige Frau, man spürt, dass alles, was sie tut, aus dem Herzen kommt.«

Das konnte Angela nur bestätigen, und sie fügte hinzu: »Das Tierheim liegt meiner Mutter und Teresa von Roth besonders am Herzen, die Rückerts haben sich bereits zwei Hunde aus dem Heim geholt, die Auerbachs ebenfalls. Und dort haben die Tiere es auch sehr gut. Meine Mutter und Teresa, ganz besonders die, verzweifeln daran, dass teure Rassetiere ins Tierheim gebracht werden, weil sie doch nicht das richtige Weihnachtsgeschenk oder Geburtstagsgeschenk waren, oder dass man geglaubt hatte, nicht so viel Arbeit mit einem Tier zu haben. Und da kann man noch froh sein, dass die Tiere ins Heim gebracht und nicht irgendwo ausgesetzt oder gar getötet werden. Doch komm, lass uns davon aufhören, wir können reden und reden und ändern doch nichts, man muss handeln, einen Grund in die Sache bringen.« Sie blickte Ulrike an. »Geht es mit deiner Mühle voran?«

Sofort vergaß Ulrike alles, denn das war ihr Herzensthema, sie zeigte sofort Fotos und begann begeistert zu sprechen, sie erzählte, dass alles nun doch viel schneller klappen würde als geplant.

»Das ist für dich auf jeden Fall eine gute Nachricht, denn normalerweise ist es umgekehrt«, sagte Angela, »für mich ist es weniger gut, denn das bedeutet, dass du den Sonnenwinkel schneller verlassen wirst. Und das bedaure ich sehr, du wirst mir fehlen, doch ich kann dich verstehen, und ich freue mich für dich. Diese Mühle ist wirklich etwas ganz Besonderes. Und sie passt zu dir. Du wirst dich dort gewiss sehr glücklich fühlen.«

»Du kannst es überprüfen, Angela, indem du mich hoffentlich öfters besuchen kommen wirst. Ich möchte dich sehr gern in meinem Leben behalten, und das ist nicht nur so dahergesagt. Dich zurückzulassen, macht mir das Herz ein wenig schwer, zwischen uns hat sich eine wunderschöne Freundschaft entwickelt.«

Angela errötete vor Freude, sie konnte das nur bestätigen, und eine Weile sprachen sie darüber, dass sie auf jeden Fall in Kontakt bleiben wollten, und dann erkundigte Angela sich leise: »Und wie nimmt Achim Hellenbrink es auf? Es ist nicht zu übersehen, wie sehr er von dir angetan ist, und dir gefällt er doch auch, oder?«

Ulrike nickte.

»Ich mag ihn sehr, und es ist so bedauerlich, dass ich ihn auch verlassen werde. Nein, das Wort ist nicht richtig, zwischen uns war ja noch nicht richtig was. Aber irgendwie hat er mit Frauen kein Glück. Seine Frau hat sich schnell scheiden lassen, weil sie eine Erbschaft nicht mit ihm teilen wollte, und du sagst ja, dass er auch ein Auge auf Frau Dr. Claire Müller geworfen hatte, die es vorgezogen hat, sich auf die Seite von Piet van Beveren zu schlagen. Und ich …, es tut mir wirklich sehr leid, dass ich auch nicht die Frau an seiner Seite sein kann.«

»Vielleicht guckt er sich immer die verkehrten Frauen aus, Ulrike. Und wenn er es wirklich wollte, müsste er auch mehr Initiative ergreifen. Meine Mutter sagt immer, dass irgendwann jeder Topf seinen Deckel findet, und so wird es auch bei Achim Hellenbrink sein, er ist Architekt, erfolgreich, sieht gut aus, hat ein ganz großes Herz, denn ich finde es bewundernswert, wie Achim sich um seine Ex-Schwiegermutter kümmert. Er lässt die Frau sogar in einem seiner Häuser wohnen, ist immer für sie da, ganz im Gegensatz zu seiner Exfrau, die taucht bei ihrer Mutter nur auf, wenn sie etwas von ihr will. Dabei besitzt sie doch bereits die meisten Vermögenswerte, hat sie ihrer Mutter aus dem Kreuz geleiert.«

Angela redete sich in Rage, und als sie endlich fertig war, erkundigte Ulrike sich: »Sag mal, ist Achim Hellenbrink denn nichts für dich?«

Eigentlich hatte Angela gerade etwas trinken wollen, doch sie stellte die Tasse erst einmal ab, blickte ihre Freundin ein wenig irritiert an. Wie war die denn drauf?

»Ulrike, wie kommst du denn darauf?«, erkundigte sie sich. Ulrike fand das, was sie gerade gesagt hatte, überhaupt nicht ungewöhnlich.

»So, wie du über Achim sprichst, kann man auf so was kommen. Jetzt mal ganz ehrlich, er ist allein, du bist allein, ihr wohnt beide hier, da wäre doch Zeit, herauszufinden, ob aus euch nicht ein Paar werden könnte.«

Jetzt musste Angela erst einmal etwas trinken, bedächtig stellte sie die Tasse ab, blickte ihre Freundin an.

»Du meinst es wirklich ernst, nicht wahr?«, wollte sie wissen.

Ulrike nickte. Angela schüttelte den Kopf.

»Weißt du, was du da sagst? Achim ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, kein Gegenstand, den man empfiehlt, weil er so gut funktioniert. Nein, er ist nichts für mich, und das hat nichts damit zu tun, dass mich an ihm etwas stört, im Gegenteil, ich unterhalte mich gern mit ihm, aber ich bin erst einmal, vielleicht überhaupt nicht mehr, an einem Mann interessiert. Da könnte der Prinz auf dem weißen Pferd kommen …«, sie zögerte, spielte mit dem Teelöffel, betrachtete ihn sinnend. »Ich liebe«, ihre Stimme wurde immer leiser, »noch immer Berthold von Ahnefeld, und daran wird sich so schnell auch nichts ändern. Er ist …, er wäre der ideale Mann für mich.«

Natürlich hatte Angela ihr von ihrer unglücklichen Liebe zu diesem Mann erzählt, sie hatte allerdings nicht erwähnt, wie sehr sie ihn liebte, und das offensichtlich noch immer.

»Und warum hast du dich dann von ihm getrennt?«, erkundigte Ulrike sich leise.

Erst einmal kam lange keine Antwort auf diese Frage, und als Angela sich endlich dazu aufraffte, hatte sie Tränen in den Augen, und ihre Stimme klang belegt.

»In seinem Herzen war kein Platz für mich, es war belegt, und in der Zeit, in der wir zusammen waren, hat sich daran auch nichts geändert. Berthold ist von seiner Vergangenheit gefangen, wir hätten …, keine Gegenwart miteinander gehabt. Glaub mir bitte, ich habe es mir nicht leicht gemacht. Ich habe versucht, ihn zu verstehen, habe versucht, sein Leben, auch seine Vergangenheit mit ihm zu teilen. Es ging nicht, weil Berthold nicht loslassen konnte. Er war bereit, mir ein Leben im Luxus zu ermöglichen, doch darauf kam es mir nicht an, deswegen habe ich auch nicht das Haus angenommen, das er mir schenken wollte. Wie wäre das denn gegangen, ein Haus, mit dem wir miteinander leben wollten, in dem ich ständig an ihn erinnert worden wäre …«, sie zögerte erneut. »Ich weiß, dass es richtig war, ihn zu verlassen, denn zu einer Partnerschaft gehören immer zwei Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen, und das war es bei uns nicht. Mir war es einfach zu wenig, was er bereit war zu geben …, es hat nicht sollen sein, und jetzt möchte ich eigentlich auch nicht mehr da­rüber sprechen, weil es so wehtut. Nur eines noch, warum zeigt einem das Schicksal, wie schön es im Paradies sein könnte, und verwehrt einem dann doch den Weg, wenn man es betreten will?«

Darauf hatte auch die Psychologin, die Bestsellerautorin, keine Antwort. Sie war froh, dass Angela auch keine erwartete, sondern dass sie rasch das Thema wechselte. Sie wollten, solange Ulrike noch im Sonnenwinkel wohnte, einiges unternehmen, und da hatte Angela bereits einen Plan, weil sie sich bestens hier und in der Umgebung auskannte.

*

Es war für Roberta zu einer schönen Gewohnheit geworden, den Bauernmarkt im Sonnenwinkel zu besuchen, und das tat sie auch, wenn sich die Gelegenheit dazu gerade bot. Heute wollte sie für Alma einen Blumenstrauß kaufen, weil sie wusste, wie sehr die sich immer darüber freute, auch wenn sie jedes Mal beteuerte, dass das doch nicht nötig sei.

Der Markt war wie immer gut besucht, es wurden aber auch wirklich erstklassige Waren aus der Region angeboten, und das wollte sich niemand entgegen lassen.

Roberta war froh, dass sie heute von ihren Patientinnen und Patienten nicht zu lange aufgehalten worden war, und dass die Zeit jetzt noch reichte, die Blumen zu kaufen, ehe abgebaut wurde. Sie rannte los und war so sehr in Eile, dass sie mit jemandem zusammenstieß. Sie drehte sich zur Seite, wollte sich entschuldigen, und da glaubte sie nicht, was sie da sah.

Sie war mit Julia Herzog zusammengestoßen, über die sie gerade noch mit einer Patientin gesprochen hatte, die Stammgast im ›Seeblick‹ war und es kaum erwarten konnte, dass der endlich wieder eröffnet wurde.

Julia sah fantastisch aus, sie strahlte, und es war nicht zu übersehen, dass sie mit ihrem Tim einen schönen Urlaub verbracht hatte. Aber der war auch nötig gewesen, kein Mensch konnte Tag für Tag rund um die Uhr arbeiten.

Sie begrüßten sich, und Roberta machte Julia sofort ein ganz großes Kompliment. »Man sieht, dass du einen schönen Urlaub hattest«, sprach sie das aus, was ihr gerade in den Sinn gekommen war. »Wohin hat Tim dich denn entführt?«

»Nach Las Vegas.«

Das konnte Roberta jetzt nicht glauben. Wenn man sich ein paar freie Tage abknappste, da konnte Las Vegas doch wirklich nicht das Reiseziel sein. Sie wusste nicht, was sie jetzt dazu sagen sollte, weil keine zehn Pferde sie selbst dorthin bringen würden.

Julia bemerkte es, lachte.

»Roberta, so ist es mir auch gegangen. Als ich am Flughafen erfuhr, wohin die Reise gehen sollte, wäre ich am liebsten umgekehrt, weil ein Urlaub auf der Terrasse vom ›Seeblick‹ erholsamer ist, als sich in das Getümmel dieser Spielerstadt zu stürzen. Ich habe nur gute Miene zum bösen Spiel gemacht, weil Tim mir den schönsten Urlaub meines Lebens versprochen hatte.« Sie strahlte noch mehr, obwohl das kaum noch möglich war, sie holte tief Luft, streckte Roberta ihre rechte Hand entgegen und sagte: »Wir haben in Las Vegas geheiratet, das war seine Überraschung, und ich muss sagen, er hat alles generalstabsmäßig vorbereitet, alles hat geklappt, und es war wirklich der allerschönste Urlaub meines Lebens, den ich je hatte, den ich je haben werde. Mein Traum ist wahr geworden, ich bin seine Frau, und das wäre ich auch irgendwo in einer Hütte, irgendwo in einer Ecke geworden. Aber so war es für uns ein unvergleichliches Erlebnis.«

Sie fiel Roberta um den Hals, ganz egal, ob sie da hier und da ein verwunderter Blick traf. »Ich bin die glücklichste Frau von der ganzen Welt.«

Roberta hätte mit allem gerechnet, damit nicht. Sie gratulierte Julia von ganzem Herzen, wusste sie doch, wie sehr die es sich gewünscht hatte, die Ehefrau an Tims Seite zu sein, und nun hatte sich dieser Traum erfüllt. Sie bewunderte den schlichten Goldring an Julias Ringfinger.

Julia begann zu erzählen, und erst als sie bemerkten, dass hier und da die Händler bereits begannen, ihre Stände abzubauen, erinnerten sie sich beide daran, dass sie nicht hergekommen waren, um einen Plausch miteinander zu halten.

Blumen wollten sie beide haben, Julia für das Restaurant, das sie morgen wieder eröffnen würde, und Roberta brauchte einen Strauß für Alma.

Sie kaufte immer das, was ihr gefiel, gleichgültig, was es kostete, doch jetzt freute sie sich, die Blumen zu einem sehr guten Preis zu bekommen, weil die Händlerin ebenfalls zusammenpacken wollte.

Und Julia würde gleich einen noch besseren Preis bekommen, den sie ohnehin bekam, weil sie Stammkundin war und stets mehr als nur einen Blumenstrauß kaufte. Die Händlerin freute sich sehr darüber, dass Julia ihre Blumen nicht auf dem Großmarkt kaufte, sondern zu ihr kam.

Ehe Roberta glücklich mit ihren Blumen davonzog, versprach sie, gleich morgen in den ›Seeblick‹ zu kommen.

»Und die Alma, die bringe ich direkt mit, die wird reinweg aus dem Häuschen sein. Ich darf es ihr doch erzählen, oder?«

Natürlich durfte sie. Es würde sich ohnehin in Windeseile im Sonnenwinkel herumsprechen, doch das war eine Neuigkeit, die, ging es nach Julia, in alle Welt hinausgetragen werden konnte.

Sie war am Ziel ihrer Wünsche.

Sie war die Ehefrau von Tim Richter, ihrer Liebe, ihrem Partner, nicht nur fürs Leben, fürs Herz, sondern auch in der Küche. Ja, sie waren wirklich ein gutes, ein erstklassiges Team, und jetzt waren sie auch noch Mann und Frau …

Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Julia das wirklich verinnerlicht hatte, und sie würde sich diese Reise ins Glück immer wieder vor Augen führen, angefangen vom Flughafen …

So, und jetzt musste sie sich aber darauf konzentrieren, welche Blumen sie kaufen wollte, sie winkte Roberta noch einmal zu, strahlte sie an, und dann war sie wieder die Geschäftsfrau, der man nichts vormachen konnte.

Während Julia sich um die Blumen kümmerte, lief Roberta ins Doktorhaus zurück. Diese Neuigkeit musste sie unbedingt loswerden.

Sie kam atemlos in der Küche an, wo Alma gerade mit den letzten Vorbereitungen für das gemeinsame Essen beschäftigt war, drückte ihr die Blumen in die Hand.

Prompt kam wieder ein: »Aber das ist doch nicht nötig, Frau Doktor«, dabei war Almas Freude nicht zu übersehen. Sie holte auch direkt eine passende Vase, stellte die Blumen hinein, bewunderte sie, und sie wirbelte erst herum, als Roberta sagte: »Alma, Julia Herzog und Tim Richter haben in Las Vegas geheiratet.«

Da musste Alma sich erst einmal hinsetzen, sie hatte gewusst, dass die beiden jungen Leute gemeinsam in den Urlaub gefahren waren, doch nach Las Vegas, um dort zu heiraten, das war beinahe so schön wie die Geschichte von dem Ritter auf dem weißen Pferd.

»Und sie hat nichts gewusst?«, erkundigte sie sich.

»Nein, sie hat nichts gewusst, es war eine Überraschung.« Alma bekam einen ganz verträumten Gesichtsausdruck.

»Wie schön für sie, und er muss sie sehr lieben, wenn er sich so was ausgedacht hat.«

Roberta sagte dazu nichts, Alma war auch eine Frau, und was Männer betraf, da hatte sie bislang kein Glück mit ihnen in ihrem Leben gehabt, zuerst ihr Ehemann, dessen Hartherzigkeit, dessen Skrupellosigkeit sie auf die Straße gebracht hatte, und dann dieser Mann aus Hohenborn, der eigentlich keine Frau wollte, sondern nur eine billige Arbeitskraft, die er herumkommandieren konnte.

»Alma, auf jeden Fall bleibt morgen unsere Küche kalt, weil wir gemeinsam in den ›Seeblick‹ gehen werden, dann können Sie sich das junge Glück ansehen und können auch gratulieren.«

Es war nicht zu übersehen, wie sehr Alma sich freute, obwohl es ihr sonst lieber war, wenn sie im Doktorhaus aßen. Sie brauchte keine Konkurrenz, doch das war jetzt eine Ausnahme, eine wunderschöne Ausnahme.

»Doch wir müssen ein Hochzeitsgeschenk mitnehmen«, sagte sie sofort, nachdem sich die erste Aufregung bei ihr gelegt hatte, doch da wehrte Roberta sofort ab. »Alma, es ist keine Einladung, und das ist es auch, was Julia und Tim wollten, keine große Feier, keine Geschenke, nur ein stilles Glück für sich allein. Und das finde ich gut. Auch wenn sie hier geheiratet hätten, dann hätte Julia sich keine Geschenke gewünscht, sondern um Spenden gebeten, besonders fürs Tierheim, das ihr sehr am Herzen liegt.«

Damit war Alma einverstanden, doch dann wollte sie einfach mehr wissen, wie Julia aussah, was sie gesagt hatte, ob sie einen Ehering trug.

Hochzeiten hatten etwas Romantisches, jeder wollte da­rüber sprechen, sich freuen, aber auch träumen, und Roberta ertappte sich nach einer ganzen Weile dabei, dass sie an Lars dachte, ihre große Liebe. Hätte das Schicksal nicht so grausam zugeschlagen, dann wäre sie jetzt seine Ehefrau. Es hatte nicht sollen sein. Sie wollte nicht in trübe Gedanken verfallen, denn das geschah immer wieder, wenn auch nicht mehr so oft wie anfangs, und sie war sehr froh, dass Alma das Mittagessen servierte. Es gab ein köstliches Ratatouille, und genau das hatte Roberta sich gewünscht.

Es blieb nicht aus, dass sie sich weiter über die Hochzeit in Las Vegas unterhielten, Alma konnte nicht genug davon bekommen, ganz tief in ihrem Inneren war sie halt eine schwärmerische Seele …

*

Natürlich hatte Teresa von Roth es nicht lassen können, ihrer Tochter Inge wieder einmal ins Gewissen zu reden, und Inge hatte das Gespräch mit ihrer Mutter sehr betroffen gemacht.

Sie hatte nicht einen Augenblick lang darüber nachgedacht, dass ihre Schwierigkeiten, die sie zweifelsohne mit ihrem Ehemann hatte, Pamela aus dem Haus treiben könnten. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass Pamela da etwas mitbekommen hatte, denn es hatte keine Kräche gegeben, kein Türenschlagen, Werner und sie hatten sich um Diskretion bemüht, eher noch hatten sie es vermieden, über ihre wahren Probleme zu sprechen. So war es eigentlich immer gewesen, in erster Linie auf ihrer Seite, weil sie einfach ihre Wünsche nicht artikulieren konnte, und Werner …, der machte sein Ding.

Pamela war mit den Großeltern übers Wochenende verreist, und Inge saß wie auf heißen Kohlen, weil Werner heute wieder nach Hause kommen würde von einer Reise nach New York, wo er unter Kollegen aus der Wissenschaft einen Vortrag gehalten hatte.

Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Sollte sie direkt mit der Tür ins Haus fallen, oder sollte sie ihn erst einmal ankommen lassen?

Zwischen ihr und Werner hatte sich eine ganze Menge verändert, doch Inge war sich nicht sicher, ob ihm das überhaupt aufgefallen war. Er sagte ihr, dass er sie liebe, nicht oft, aber er beteuerte es meistens, wenn sie eine Auseinandersetzung hatten, wenn sie sich darüber beklagte, dass er so wenig Zeit für sie hatte. Und das glaubte sie ihm auch, sie hatten aus Liebe geheiratet, und sie war immer stolz darauf gewesen, die starke Frau an seiner Seite zu sein. Er hatte Karriere gemacht, sie hatte den Haushalt in Schwung gehalten und die Kinder beinahe so wie eine alleinerziehende Mutter umsorgt, mit dem Unterschied allerdings, dass sie sich immer um die Kinder kümmern konnte und keine finanziellen Probleme hatte. Nein, an Geld hatte es ihnen nie gemangelt, Werner war immer großzügig gewesen, und für sie und die Kinder hatte er gern Geld ausgegeben, sie hatte es tun können, und er hatte nicht einmal gefragt, er tat es noch immer nicht, doch an einer schönen Villa, an viel Geld konnte man sich nicht wärmen, und Liebe füreinander durfte kein Lippenbekenntnis sein.

Inge erhob sich, goss sich einen neuen Kaffee ein, trat mit dem Becher an die Terrassentür, schaute hinaus in den großen, herrlichen Garten, in dem die beiden Hunde vergnügt miteinander tobten.

Wollte sie zu viel vom Leben?

Sie war verheiratet mit einem berühmten Professor, wohnte wie im Paradies, konnte sich alles leisten, sie hatte wunderbare Kinder, die alle ihren Weg gingen, und sie hatte entzückende Enkelkinder, die ihr Herz erfreuten.

Prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich die kleine Lena, Jörgs jüngstes Kind, noch immer nicht persönlich angeschaut hatte. Und Jörg war deswegen auch ziemlich sauer, weil sie ständig die gebuchten Flüge stornierte, er kam nicht mehr auf einen Sprung vorbei, wenn er sich gerade in Deutschland aufhielt.

Sie ärgerte sich, warum war sie bloß so inaktiv! Es hinderte sie nichts und niemand daran, endlich wieder mal nach Stockholm zu fliegen in dieses wunderschöne Haus, in dem sie jederzeit willkommen war. Mit Charlotte hatte sie eine neue Schwiegertochter bekommen, wie man sie sich nicht besser wünschen konnte. Nein, sie konnte wirklich nichts vorschieben, Werner war ständig unterwegs, der würde ihre Abwesenheit überhaupt nicht mitbekommen, und Pamela, die freute sich, wenn sie bei den Großeltern schlafen konnte, an denen sie sehr hing, was umgekehrt ebenfalls der Fall war.

Wenn Pamela nach Cornwall abgereist war, dann würde sie nach Stockholm zu ihren Lieben fliegen, und nichts und niemand würde sie mehr daran hindern. Und sie nahm sich ebenso ganz fest vor, mit niemandem darüber zu reden, sondern einfach zu buchen und zu fliegen. Mittlerweile war es schon peinlich, weil sie ihre Flüge immer stornierte, weil sie die Reise, die sie eigentlich machen wollte, ebenfalls unter fadenscheinigen Gründen nicht antrat. Wenn sie etwas in dieser Richtung sagte, hörte man ihr zu, doch es gab keine Kommentare, selbst Rosmarie hielt sich dezent zurück, wechselte rasch das Thema.

Es war alles ganz schön festgefahren in ihrem Leben, und sie konnte niemanden dafür verantwortlich machen.

Es musste sich etwas ändern!

Und wenn jemand das konnte, dann nur sie selbst!

Inge setzte sich wieder, trank rasch etwas von ihrem Kaffee. Was ihr da gerade durch den Kopf gegangen war, das war nicht neu, und wenn sie ganz ehrlich war, dann traute sie sich selbst nicht mehr.

Was war bloß los mit ihr?

Es war ja nicht so, dass sie zurückgezogen in einer Ecke saß, sie arbeitete ehrenamtlich im Jugendgefängnis, das war eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, und Inge wurde von den straffällig gewordenen Jugendlichen sehr geschätzt, und sie gab Nähkurse, das jetzt allerdings ein wenig eingeschränkt, weil sie die Arbeit mit den Strafgefangenen für wichtiger hielt. Sie nähte für Pamela, sie hielt nach wie vor den großen Haushalt in Ordnung, alles funktionierte wie am Schnürchen, und sie telefonierte mit ihren Kindern, schrieb ihnen. Das war zwar etwas, was heutzutage nicht zeitgemäß war, doch sie würde daran nichts ändern, auch wenn man sie für altmodisch hielt. Lieber altmodisch als Sklave von IPhone oder Smartphone zu sein.

Alles bestens, könnte man oberflächlich gesehen sagen. Sie konnte und durfte sich nichts mehr vormachen, nichts war in Ordnung, Werner und sie lebten aneinander vorbei, und Pamela war ein zu sensibler Mensch, um das nicht zu bemerken.

Ja, genau das war es!

Sie war so durch den Wind, seit ihre Mutter ihr schonungslos offen gesagt hatte, warum Pamela lieber bei ihrem Bruder Hannes sein wollte als in ihrem Elternhaus, in dem von ihr so geliebten Sonnenwinkel.

Inge zuckte zusammen, als sie von der Haustür her Geräusche vernahm, wenig später kam Werner in die Küche, in der­ sie sich am liebsten aufhielt, die der Lebensmittelpunkt der Auerbachs war, hereingepoltert. Er sah großartig aus in seinem grauen Businessanzug, der farblich dazu abgestimmten Seidenkrawatte und dem weißen Hemd.

»Hallo, da bin ich wieder«, rief er, und ihr wurde bewusst, dass Werner schon allein durch seine Persönlichkeit einen Raum ausfüllen konnte, er musste überhaupt nichts sagen. Er umarmte Inge, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, klopfte ihr auf dir Schulter und erkundigte sich: »Bekomme ich auch einen Kaffee? Danach ist mir jetzt.«

Inge erhob sich, um seinen Wunsch zu erfüllen, und als sie den Kaffee vor ihn hinstellte, fragte sie sich, ob es eigentlich so gewesen war, dass er sie wahrnahm wie einen liebgewonnenen Gegenstand. Immerhin war er beinahe zwei Wochen unterwegs gewesen, wäre da eine liebevolle Begrüßung nicht angebracht gewesen? Es war merkwürdig, solche Gedanken waren ihr zuvor niemals gekommen.

Werner trank seinen Kaffee, griff in die Keksschale, die sie vorsorglich dazugestellt hatte, dann begann er von seiner Reise zu erzählen, voller Begeisterung, Werner war absolut in seinem Element.

»Und stell dir vor, auch die New York Times hat auf der ersten Seite von unserer Veranstaltung berichtet. Wir sind mit unseren Erkenntnissen auf dem richtigen Weg, und so haben wir auch beschlossen, uns regelmäßig zu Arbeitsgemeinschaften zu treffen, sei es in London, Paris, natürlich wieder in New York oder anderswo. Es ist eine große Sache.«

Er redete und redete, und ihm fiel überhaupt nicht auf, dass seine Frau dazu überhaupt nichts sagte. Es interessierte ihn auch nicht, dem Professor Werner Auerbach reichte es vollkommen, sich noch einmal in dem Licht zu spiegeln, in dem er in New York gestanden hatte.

Irgendwann schob er seine Tasse beiseite, erhob sich und sagte: »So, und jetzt geh ich erst mal unter die Dusche und zieh mir danach etwas Bequemes an, und es wäre großartig, wenn du mir eine Kleinigkeit zu essen machen könntest. Du weißt schon, was ich mag. Im Flieger kann man einfach nicht mehr essen, egal, wofür du dich entscheidest, alles ist grottenschlecht.«

Er verließ die Küche, und Inge blieb für einen Augenblick wie gelähmt sitzen.

Was war das denn jetzt gewesen?

Werner hatte sich mit keiner einzigen Silbe nach ihr, nach Pamela, nach ihren Eltern, nach dem Rest der Familie erkundigt. Er hatte ohne Punkt und Komma nur über sich gesprochen, und nun wollte er auch noch ein Essen serviert haben.

Was sollte sie jetzt tun?

Einen wilden Streit anfangen, mit Tellern und Tassen um sich werfen? Das war nicht ihre Art. Sie fragte sich, ob es immer so gewesen war oder ob sie jetzt besonders sensibilisiert war, seit ihre Mutter ihr die Wahrheit gesagt hatte, schonungslos und ohne drum herumzureden.

Sie war nicht in Panik, in ihr war überhaupt nichts, als sie sich erhob und nicht nur die Küche, sondern auch das Haus verließ, mit Werners Stimme im Ohr, der fröhlich vor sich hinträllerte, während er sich duschte.

Ohne nachzudenken, schlug sie den Weg zu den Rückerts ein, und ohne zu zögern, klingelte sie und hatte Glück, dass Rosmarie daheim war und ihr selbst die Tür öffnete. Sie blickte Inge an, sah, wie blass die war, und erkundigte sich sofort besorgt: »Ist was passiert?«

Inge schüttelte den Kopf.

»Werner ist nach Hause gekommen, darf ich reinkommen?«

Ein wenig irritiert trat Rosmarie beiseite, ließ ihre Besucherin ins Haus. Wieso war Inge hier, obwohl Werner von seiner Reise zurückgekommen war? Sie würde es erfahren, erkundigte sich erst einmal, ob sie Inge etwas anbieten könne, Meta sei mit den Hunden unterwegs, und Heinz könne sich wieder mal nicht von seiner Kanzlei lösen.

Inge winkte ab.

»Mach dir keine Umstände, Rosmarie, ein Wasser reicht mir vollkommen, ich trinke eh viel zu viel Kaffee.«

Inge setzte sich, sie waren so vertraut miteinander, dass sie sich nicht erst einmal höflich einen Platz anbieten mussten, und Rosmarie beeilte sich, das Wasser zu holen und Gläser.

Sie hatte Herzklopfen, denn Inge verhielt sich anders als sonst. Wenn sie daran dachte, wie sie voller Bewunderung für die Auerbachs und deren scheinbare heile Welt gewesen war. Davon war eine ganze Menge abgebröckelt, und wenn sie ehrlich war, dann fühlte sie sich mit ihrem Heinz mittlerweile wohler als Inge mit ihrem Professor. Natürlich hatte Rosmarie längst mitbekommen, dass Werner ein ziemlicher Egoist war, der gnadenlos sein Ding machte. Kürzertreten, wie er es Inge irgendwann einmal versprochen hatte, davon war längst keine Rede mehr. Werner brauchte die Bewunderung wie Fische das Wasser. Und Inge? Rosmarie blickte sie bedauernd und bekümmert zugleich an, diese wundervolle Frau blieb auf der Strecke. Da konnte sie sich noch so sehr bemühen, den Anschein aufrechtzuerhalten.

Sie hatte so viele Fragen, doch Rosmarie zwang sich, die nicht zu stellen, Inge würde schon anfangen zu reden, sie waren längst, auch wenn niemand damit gerechnet hätte, Freundinnen geworden, und die Konstellationen zwischen ihnen hatten sich verschoben. Früher war sie bei jeder Gelegenheit zu Inge gefahren, um sich auszuweinen, heute war es umgekehrt. Doch deswegen triumphierte Rosmarie überhaupt nicht, ihr würde es sehr viel besser gefallen, wenn es die heile Welt der Auerbachs wirklich gäbe.

Inge schwieg, starrte vor sich hin, rührte nicht einmal ihr Glas mit dem Wasser an.

Rosmarie dauerte das Schwei­gen zu lange.

»Möchtest du reden, Inge?«, erkundigte sie sich schließlich leise.

Inge zuckte zusammen, warf Rosmarie einen Blick zu, atmete tief durch, dann sprudelte es nur so aus ihr heraus, und sie war dabei schonungslos offen. Sie begann mit den Vorhaltungen, die ihre Mutter ihr gemacht hatte, mit der bitteren Erkenntnis, dass Pamela ins Ausland ging, weil es ihr daheim nicht mehr gefiel, und dann, nach einer Pause, in der sie doch etwas getrunken hatte, erzählte sie von Werners Heimkehr, dem, was er von sich gegeben hatte.

»Rosmarie, er hat sich mit keiner Silbe danach erkundigt, wie es mir, dem Rest der Familie während seiner Abwesenheit ergangen ist. Er hat nur von sich erzählt.«

Rosmarie schluckte.

»Und was hast du gesagt?«

Inge zögerte mit der Antwort, sollte sie es sagen oder nicht? Es war immerhin peinlich, oder nicht?

Nun, feige war es auf jeden Fall, und da war sie wieder einmal ihrem Verhaltensmuster gefolgt, das sie bereits über viele Jahre hinweg begleitete. Auch wenn sie keine Glanzrolle gespielt hatte, sie durfte sich nicht herausreden, also antwortete sie, auch wenn es ihr sehr schwerfiel: »Nichts.«

Nun war es an Rosmarie, erst einmal sprachlos zu sein. Nach allem, was sie gerade von Inge erfahren hatte, ging es doch nicht, dass sie dazu nichts sagte. Doch durfte sie sich jetzt einmischen? Schließlich war es etwas, was nur Inge und Werner anging. Stopp! Sie mischte sich doch nicht ein, wenn sie ihre subjektive Meinung äußerte, und das tat Rosmarie dann auch.

»Inge, so wird Werner sein Verhalten niemals verändern, und wenn du nicht weiterhin still vor dich hinleiden möchtest, dann haue mal mit der Faust auf den Tisch, oder sage ihm zumindest klipp und klar, dass er dir keine Einmann-Show bieten soll, sondern dass er in erster Linie Ehemann und Vater ist und sich, verdammte Hacke noch mal, auch so verhalten muss.«

Inge war Rosmarie dankbar, dass die sofort so sehr ihre Partei ergriff, doch sie wusste, dass alles nichts bringen würde, sondern dass sich von Grund auf etwas ändern musste. Auch nach all den Jahren war Werner ihr nicht gleichgültig geworden, sie liebte ihn, und sie war sich eigentlich auch sicher, dass er sie ebenfalls liebte. Er war an seiner Wissenschaft interessiert, an seinen Auftritten, der Bewunderung, die ihm entgegengebracht wurde. Da war keine andere Frau im Spiel. Ihr stockte der Atem. Oder doch? Sie wusste nicht, was er tat, wenn er unterwegs war, schließlich tagte man nicht rund um die Uhr. Nein! Inge bekam Angst bei einem solchen Gedanken, und in diese Richtung wollte sie auch überhaupt nicht denken.

»Wenn Pamela weg ist …, vielleicht begleite ich Werner dann einfach hier und da auf seine Reisen. Es gibt interessante Orte, die ich noch nicht kenne oder an denen ich gern wieder einmal weilen möchte.«

Das fand Rosmarie eine gute Idee, doch sie fügte hinzu: »Aber das sollte dich nicht daran hindern, mit Werner zu reden, intensiv. Mach ihm endlich klar, was deine Bedürfnisse sind. Ich glaube, du bist wirklich der Meinung, dass er das doch selbst sehen und herausfinden muss. Inge, Inge, da kannst du ewig warten. Ich habe ja zu meinem Heinz jetzt wirklich ein schönes, ein herzliches Verhältnis, und wir haben uns noch niemals zuvor so gut verstanden. Aber glaub mir, wenn ich keine Ansage mache, da geschieht nichts. Männer sind irgendwie vollkommen anders gestrickt, und bei deinem Werner kommt halt hinzu, dass sie ihn alle hofieren, das verführt leicht dazu, abzuheben.«

Inge wurde verlegen.

»Rosmarie, es tut mir leid, dass ich dich mit meinen Problemen zumülle, du hast noch an den Folgen dieses schrecklichen Überfalls zu leiden, und statt dich aufzurichten, dir zu helfen, belaste ich dich.«

Davon wollte Rosmarie überhaupt nichts wissen.

»Hör bitte auf damit, Inge, es stimmt ja überhaupt nicht. Du bist immer für mich da, wenn ich dich brauche, und nach dem Überfall hast du dich ganz wundervoll verhalten. Außerdem ist das vorbei. Ich muss es vergessen, nicht immer wieder hervorholen. Ich kann dem lieben Gott danken, dass mir und den Tieren nichts geschehen ist. Es hätte alles viel schlimmer ausgehen können.«

»Aber die ausgestandene Angst, die kannst du nicht einfach beiseiteschieben, und vergiss bitte auch nicht, dass nicht alles, was gestohlen wurde, von der Versicherung bezahlt wird. Außerdem, Erinnerungswerte, die ersetzt dir niemand, die sind ja gar nicht zu ersetzen.«

Das bestätigte Rosmarie.

»Aber Fabian, der hat sich sehr liebevoll um mich gekümmert, und er war sehr besorgt. Durch die Sorgen, die er meinetwegen hatte, sind wir uns nähergekommen, und das ist schön, dafür bin ich dankbar. Und Ricky, die ist ein so warmherziger Mensch, sie ruft jetzt noch immer an, schickt mir Fotos von den Kindern, erkundigt sich, ob sie was für mich tun kann. Und das sagt sie nicht nur so daher, nein, es kommt von Herzen. Sie ist eine großartige Schwiegertochter, die beste, die man sich wünschen kann.« Ein Schatten flog über ihr Gesicht, und Inge kannte dafür auch den Grund.

»Und von Stella und den Kindern habt ihr noch immer nichts gehört, nicht wahr?«

Rosmaries Stimme klang traurig, als sie das bestätigte.

»Niemand weiß etwas, sie hat, aus welchem Grund auch immer, ebenfalls mit Fabian gebrochen, dabei waren die beiden früher doch ein Herz und eine Seele. Ich weiß nicht, was da geschehen ist, aber traurig macht es mich schon, vor allem muss ich weinen, wenn ich an die Kinder denke.«

»Rosmarie, das muss ich auch, und ich tröste mich immer damit, dass man Stella alles zwar mögliche vorwerfen kann, jedoch eines nicht: Sie liebt die Kinder und ist eine gute Mutter, und daran wird auch kein Mann etwas ändern, sollte sie sich nach dem letzten Partner, für den sie Jörg verlassen hat und von dem sie nun auch gegangen ist, wieder jemandem zuwenden. Trennungen sind für alle Beteiligten schlimm, besonders, wenn Kinder im Spiel sind.«

»Das stimmt, für Jörg freue ich mich so sehr, dass er jetzt seine Charlotte hat, diese großartige Handchirurgin, und die kleine Lena wird ihm auch helfen, den Verlust seiner anderen Kinder irgendwie zu ertragen.«

Inge schüttelte den Kopf.

»Rosmarie, ich glaube, das geht nicht. Eigentlich können wir doch jetzt nur hoffen, dass die kleine Lena nicht noch das Verlustgefühl verstärken wird. Ach, Rosmarie, das Leben kann manchmal ganz schön kompliziert sein, findest du nicht auch?«

Rosmarie bestätigte es, fügte aber rasch hinzu: »Ich will nicht undankbar sein, ich kann mich derzeit nicht beklagen. Mit Heinz und mir stimmt die Chemie, Fabian gibt seinen Widerstand gegen uns immer mehr auf, ich liebe Cecile wie meine eigene Tochter, zum Glück kommen Heinz und sie sich auch immer näher, und ich freue mich so sehr auf den gemeinsamen Urlaub mit Fabian und Familie, die Großfamilie mit Wohnmobilen unterwegs. Das wird eine großartige Erfahrung für uns werden.« Sie warf Inge einen vorsichtigen Blick zu. »Du bist doch deswegen wirklich nicht sauer, oder?«

»Nein, Rosmarie, gewiss nicht. Diese Art zu reisen wäre für Werner eine Horrorvision, und ich kann mir, ehrlich gesagt, auch nicht vorstellen, spartanisch in einem Wohnmobil meinen Urlaub zu verbringen.«

Rosmarie lachte, und das löste die ein wenig angespannte Stimmung, die zwischen ihnen herrschte, nicht wegen des Urlaubs, sondern wegen des Einbruchs, der Missstimmung zwischen Inge und Werner.

»So kann nur jemand reden, der so etwas noch nicht erlebt hat. Es gibt nichts Schöneres, als mitten in der Natur zu sein, atemberaubende Sonnenuntergänge zu erleben, eine Stille zu spüren, die unter die Haut geht.«

Inge fiel in das Lachen mit ein, und ein Teil ihrer inneren Anspannung löste sich.

»Du willst mir doch nicht sagen, dass man das auf einem Campingplatz erleben kann, auf dem es von Menschen nur so wimmelt. Campingurlaub ist gerade en vogue, immer mehr Menschen sind unterwegs, ich hab irgendwo gelesen, dass es jährlich mehr als eine Million sind. Und das stell dir vor, und dann sag mir bitte, wie du Seite an Seite mit wildfremden Menschen so einen Sonnenuntergang erleben willst.«

»Inge, es gibt auch kleine, feine Plätze, und dann besteht auch noch die Möglichkeit fernab von den Menschenmassen seinen Wagen abzustellen. Ich spreche aus Erfahrung, Heinz und ich haben es erlebt, Fabian und Familie sind ebenfalls auf diesem Gebiet sehr erfahren, und wir können alle ganz beruhigt sein, denn Ricky hat unseren Urlaub geplant, und auf die ist Verlass, wer eine Großfamilie managen kann, der schafft auch so einen Urlaub mit links.«

Inge war froh, dass sie nicht mehr auf das Thema zurückkamen, weswegen sie eigentlich gekommen war, und sie entspannte sich ein wenig, weil sie über die gemeinsamen Enkelkinder von Fabian und Ricky sprachen, diese wonnigen Geschöpfe, die ihre Kinder ihnen beschert hatten.

Irgendwann kam Meta, die treue Haushälterin der Rückerts, mit den Hunden zurück, und Missie und Beauty stürzten sich erst einmal auf die Besucherin, um sie stürmisch zu begrüßen. Ja, die beiden Hundedamen waren wieder vollkommen in Ordnung, hatten den Überfall zum Glück überstanden, ohne Blessuren davongetragen zu haben, sie waren fit, und es waren zwei allerliebste Tiere, bei denen es nicht zu übersehen war, wie glücklich sie bei den Rückerts waren, umgekehrt war es nicht anders.

Nachdem sie sich eine Weile mit den beiden Hunden beschäftigt hatte, erhob Inge sich. Jetzt hatte sie doch ein schlechtes Gewissen, weil sie einfach gegangen war. Das war ihr wohl anzusehen, denn als sie sich von Rosmarie verabschiedete, sagte die: »Inge, nun mach dir bloß keinen Kopf, weil du jetzt bei mir warst, Werner wird es schon überleben, außerdem ist er tage- oder wochenlang weg, ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie es dir geht. Rede mit ihm, denn sonst wird das nichts mit euch. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer das ist, doch mittlerweile rede ich mit Heinz über alles, auch das, besonders das, was mir nicht passt. Und er akzeptiert das. Kopf hoch, Inge.«

Inge umarmte ihre Freundin, Rosmarie hatte ja recht.

»Danke, dass du mir zugehört hast.«

Nach diesen Worten ging sie, es war schön gewesen, mit Rosmarie zu reden, doch das Gespräch mit Werner stand ihr noch bevor. Sie wusste nicht, wie sie es beginnen sollte. Einfach mit der Tür ins Haus fallen? Ging das? Schließlich war er doch gerade erst gekommen.

Sie erinnerte sich daran, dass er sie kaum begrüßt und nur über sich gesprochen hatte. Ja, es ging. Vor allem durfte sie nicht länger den Kopf in den Sand stecken oder alles unter den Tisch kehren. Sie durfte überhaupt nicht darüber nachdenken, was sich da wohl bereits an Müll angesammelt hatte.

Je näher sie der Villa der Auerbachs kam, die es bereits gegeben hatte, ehe die Siedlung gebaut worden war, umso langsamer wurden ihre Schritte. Unbehagen machte sich in ihr breit, nicht, weil sie sich vor Werner fürchtete. Oh nein, ein solcher Gedanke war absurd. Sie hatte nur einfach eine Scheu vor Auseinandersetzungen, denen ging sie am liebsten aus dem Weg. Doch manchmal ging es einfach nicht mehr, und ein solcher Zeitpunkt war jetzt gekommen.

*

Ehe Inge ins Haus ging, zögerte sie kurz, atmete tief durch, dann betrat sie die Villa.

Zunächst war es still, das bedeutete, dass Werner die Hunde noch nicht ins Haus gelassen hatte, sonst wäre sie von denen stürmisch und laut bellend begrüßt worden.

Sie legte ihren Schlüssel beiseite, und dann kam Werner aus seinem Arbeitszimmer. Er trug jetzt eine legere camelfarbene Cordhose, dazu ein im Farbton genau dazu passendes Shirt, und er sah wieder einmal umwerfend aus. Für einen Augenblick vergaß sie ihren Groll gegen ihn, in ihrem Herz war nichts weiter als Liebe. Ja, sie liebte ihren Mann, und daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert. Werner war einfach die Liebe ihres Lebens.

»Wo warst du?«, beschwerte er sich. »Als ich aus der Dusche kam, warst du einfach verschwunden, und ich musste mir selbst etwas zu essen machen. Also, ehrlich mal, Inge, meine Heimkehr, die hatte ich mir anders vorgestellt.«

Das war das Stichwort!

»Werner, ich auch.«

Nun verstand Werner überhaupt nichts mehr, blickte seine Frau sehr irritiert an.

»Inge, kannst du mir mal verraten, was das soll?«

Wenn nicht jetzt, wann dann …

»Werner, wir müssen miteinander reden, und ich denke, dafür ist die Diele nicht der geeignete Platz.«

Inge ging an ihm vorbei in die gemütliche Wohnküche, und das war nicht nur für sie ganz selbstverständlich, Werner folgte ihr sofort, wenn auch ein wenig beleidigt. Die Wohnküche war von Anfang an der Lebensmittelpunkt der Auerbachs gewesen. An dem wunderschönen großen und sehr alten Holztisch konnte man nicht nur essen, sondern auch, früher war das auf jeden Fall häufig der Fall gewesen, miteinander spielen. Fast schon legendär zu nennende, endlose, hitzige Diskussionen in der Familie waren hier geführt worden. Dieser Tisch hatte wahrhaftig schon eine ganze Menge erlebt und gehört. Lang, lang war es her, die Familie hatte sich zerstreut, kam nicht mehr so oft zusammen, doch den Küchentisch liebten sie noch immer alle.

Inge setzte sich, Werner tat es ihr gleich. Er war noch immer beleidigt, dabei hatte er wahrhaftig überhaupt keinen Grund dazu. Aber klar, seit er wieder voll im Geschehen war, erlebte er beruflich ständig Bewunderung und Hochachtung, und das erwartete er, vielleicht sogar unbewusst, auch daheim. Und deswegen schmollte er, weil es nun überhaupt nicht angemessen war, dass Inge einfach gegangen war, ohne ihm etwas zu sagen. Außerdem ging das nun gar nicht, da er wieder daheim war und seine Gemütlichkeit brauchte.

»Willst du mir nicht etwas zu trinken anbieten?«, erkundigte er sich, und Inge, so angespannt sie auch war, hätte jetzt am liebsten angefangen zu lachen. Es war eine absurde Situation.

»Werner, was soll das? Du befindest dich nicht in einem Lokal, in dem die Bedienung sich nach den Wünschen des Gastes erkundigt, du bist daheim und weißt, wo du alles finden kannst. Aber meinetwegen, was möchtest du trinken? Hast du sonst noch Wünsche?«

Die hatte er nicht, er wollte nur Mineralwasser haben, und obwohl Inge jetzt am liebsten Kaffee gewesen wäre, ihr Retter in allen Lebenslagen, entschied sie sich gleichfalls für Wasser.

Wenig später stand das Gewünschte vor ihnen, und Inge wusste, dass es nun an der Zeit war, ihm das zu sagen, was sie störte, was sich ändern musste. Derartige Diskussionen waren nicht neu, aber keine von ihnen hatte bislang etwas gebracht. Sie hatte geweint, war außer sich gewesen, und sie war sogar schon mal in ein Hotel gegangen, um dort die Nacht zu verbringen. Sie wusste auf einmal, dass sie Emotionen aus dem Spiel lassen musste, denn wenn man sich ereiferte, zog man immer den Kürzeren, weil man dann nicht klar war, sondern emotional erregt.

Sie entschloss sich, es Werner gleich zu tun, die Ruhe zu bewahren, auch wenn ihr das sehr schwerfiel.

Sie beschwerte sich, und dabei wunderte sie sich, wie ruhig ihre Stimme klang, dass er sie kaum begrüßt und danach nur über sich gesprochen hatte.

Er verstand sie nicht.

»Aber Inge, meine Liebe, ich dachte, dass es dich interessiert, was sich ereignet hat.«

»Und ich dachte, dass es dich interessiert, was sich hier ereignet hat, Werner, immerhin lebt hier deine Ehefrau zusammen mit der jüngsten Tochter, die Schwiegereltern von dir sind nicht weit. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Jörg, Ricky und Hannes dir mitteilen, was in deren Leben gerade geschieht.«

Werner schluckte, um Zeit zu gewinnen, trank er erst einmal etwas von seinem Wasser. Er hasste Auseinandersetzungen, und wenn er sich selbst gegenüber ganz ehrlich war, dann musste er zugeben, dass er sich auf Kosten von Inge und seiner Familie ganz schön profilierte. Doch war es nicht immer so gewesen?

»Inge, es war doch niemals anders. Ich bin nun mal international gefragt und sitze nicht irgendwo in einem Amt oder Büro meine acht Stunden täglich ab. Außerdem, früher wäre es eher angebracht gewesen, etwas zu sagen, denn da warst du mit den Kindern allein, aber jetzt …, du kannst tun und lassen, was du willst, und nun wird auch Pamela bald aus dem Haus sein, auch wenn ich es nicht wirklich akzeptiere, dass sie ausgerechnet zu Hannes geht, der setzt ihr doch nur Flausen in den Kopf.«

So einfach machte Werner es sich immer, er drehte es so, dass es für ihn passte. Inge war einfach zu müde, um jetzt deswegen aufzubegehren. Aber so einfach schlucken konnte sie es auch nicht, sie fing bei Pamela und Hannes an, erzählte ihm, weswegen Pamela wirklich ging.

»Unseretwegen, weil sie ein zu sensibler Mensch ist und darunter leidet, dass es zwischen uns längst nicht mehr stimmt, Werner, wir sind allenfalls ein funktionierender Zweckverband, für dessen Aufrechterhaltung ich sorge. Und ja, es ist richtig, dass es immer so gelaufen ist, doch im Alter wollten wir vieles gemeinsam unternehmen, vor allem unser Leben miteinander teilen. Du hast doch alles erreicht, was man erreichen kann, du bist längst oben auf dem Olymp angekommen, und höher geht nicht. Du hast es mit einem Leben mit mir im Sonnenwinkel nur ganz kurz ausgehalten, bist herumgelaufen wie Falschgeld.«

Er bestätigte es.

»Und deswegen bin ich dir ja auch so unendlich dankbar dafür, dass du damit einverstanden warst, dass ich in mein altes Leben zurückkehre. Und es hat sich gelohnt, ich bin gefragter denn je. Auf das, was ich zu sagen habe, kann niemand verzichten.«

Was sollte sie dazu noch sagen?

Es war ganz schrecklich, dass es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Werner war ein Egoist, der nur sich sah und sich selbst um sich drehte. Wie alles sonst in ihrem Leben hatte sie es einfach verdrängt, und nun holte es sie mit aller Wucht ein.

Was nun?

Er merkte, dass etwas anders war als sonst, und er beteuerte sofort, wie dankbar er dafür war, dass sie ihm immer den Rücken freigehalten hatte, dass er ohne sie niemals seine Ziele erreicht hätte. Und sie dachte bitter, dass er wieder nur sich sah, und so konnte sie es ihm auch nicht glauben, dass er beteuerte, wie sehr er sie doch liebe, dass er sie vom ersten Augenblick an geliebt hatte.

Sie müsste jetzt etwas sagen, Konsequenzen ziehen, aber sie hatte einfach dazu nicht die Kraft, oder vielleicht war sie ganz einfach nur zu feige.

Worte konnten gewaltig sein, und sie fielen auf einen zurück, wenn man nicht klar in dem war, was man wirklich wollte.

Sich von Werner zu trennen, endlich ein eigenes Leben anzufangen, das wäre jetzt die richtige Konsequenz, doch da standen ihr ihre Gefühle im Weg. Sie liebte ihn, sie hatten gemeinsame Kinder und Enkelkinder, und da waren all die vielen Jahre. So etwas warf man doch nicht einfach weg, oder?

Sie blickte zu ihm hinüber, er sah rein optisch fantastisch aus, und um die Zufriedenheit, Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, war er zu beneiden.

Was sollte sie jetzt tun?

Inge kam sich vor, als habe jemand alle Energie, alle Kraft aus ihrem Körper herausgelassen, und ihr wurde klar, dass sie das hier allein nicht lösen konnte. Dafür war die Situation viel zu verfahren. Sie beide hatten es nicht gelernt, miteinander zu reden, ihre Probleme beim Schopf zu fassen.

»Werner, es muss sich etwas ändern, und allein schaffen wir es nicht. Wenn du wirklich möchtest, dass unsere Ehe Bestand behält, dann weigere dich nicht länger, sondern stimme zu, dass wir in eine Eheberatung gehen.«

Er wollte etwas sagen, doch sie ließ es nicht dazu kommen. »Werner, fang jetzt nicht wieder damit an, dass du so etwas nicht nötig hast, dass du dir von irgendeinem Greenhorn, das du in die Tasche stecken kannst, nichts sagen lassen möchtest. Werner, komm herunter, du bist kein Psychologe, und den brauchen wir jetzt, weil bei uns etwas ganz gründlich aus dem Ruder geraten ist. Pamela flieht vor uns, ich stehe kurz davor, ebenfalls zu gehen, weil das, was ich hier habe, kein Leben ist. Ich habe genug davon, in all den Jahren hatte ich niemals das Gefühl, die Frau an deiner Seite zu sein, sondern ich kam mir immer vor wie eine ledige Mutter mit vier Kindern.« Das war jetzt übertrieben, doch sie war augenblicklich nicht in der Verfassung, gewissenhaft über ihre Worte, die sie aussprach, nachzudenken, deswegen verstummte sie auch, stand auf, öffnete die Terrassentür und rief die Hunde herein, die auch sofort angehechelt kamen. Sie freuten sich, Inge zu sehen, und das nicht nur, weil sie von ihr immer die begehrten Leckerli bekamen, sondern weil Frauchen ständig da war, Herrchen nicht, und wenn, dann war er nicht sonderlich an den Tieren interessiert.

Inge streichelte Sam und Luna, sie bekamen ihre Leckerli, und weil nicht davon auszugehen war, dass dem noch mehr folgen würde, rannten die Tiere wieder hinaus, rannten über den Rasen, und Luna versuchte, einen Schmetterling zu fangen. Zum Glück gab es davon noch welche im Sonnenwinkel.

Sie hatten Werner nicht begrüßt, sie hatten ihn nicht einmal wahrgenommen, und das erschütterte Inge schon. An den Tieren, an deren Reaktion, merkte Inge, dass Werner sein eigenes Universum hatte.

Weil er nichts sagte, begann sie noch einmal mit dem Thema Eheberatung. Eigentlich hätte sie seine Reaktion voraussehen können, Werner stand einfach auf und rannte aus dem Raum, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.

Inge blieb ratlos zurück, sie hätte jetzt am liebsten angefangen zu weinen, doch noch nicht einmal dazu besaß sie die Kraft.

Was war es bloß, was sich da bei ihnen eingeschlichen hatte.

Oder war es schon immer dagewesen, sie hatte es bloß nicht bemerkt, weil sie mit Kindern und Haushalt genug zu tun hatte, oder sie hatte es einfach bloß nicht wahrhaben wollen, so nach dem Motto, was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß.

Sie blieb sitzen, starrte vor sich hin, war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch irgendwann wusste sie, dass sie es jetzt nicht einfach auf sich beruhen lassen durfte.

Müde und wie zerschlagen erhob sie sich und ging in sein Arbeitszimmer, in das er sich zurückgezogen hatte. Das war schon immer so gewesen, bei dem kleinsten Konflikt, bei der kleinsten Missstimmung floh er in sein Allerheiligstes, das niemand einfach so betreten konnte. Schließlich durfte der Herr Professor bei der Arbeit nicht gestört werden. Als die Kinder noch im Haus gewesen waren, hatten sie sich alle ganz still verhalten, um ja nur den Papa, der arbeiten musste, nicht zu stören. Irgendwie hatte Inge es nicht ernst genommen, sondern immer lachend gesagt, bei den Auerbachs ginge es so zu wie bei den Manns, denn da durfte sich im Haus auch niemand regen, wenn der große Thomas Mann arbeitete.

Wieder einmal wurde ihr bewusst, dass Werner wirklich immer die Person gewesen war, um die sich alles zu drehen hatte. Und sie hatten sich alle daran gehalten, sie hatte versucht, ihre Arbeit so leise wie nur möglich zu verrichten, saugte dann halt keinen Staub, wenn Werner in seinem Arbeitszimmer war, und die Kinder verlegten ihre Aktivitäten nach draußen. Wenn Inge jetzt alles aufschreiben würde, was ihr gerade durch den Kopf ging, das gäbe eine unendlich lange Liste. Und es war ihr niemals bewusst geworden. Wenn sie es so recht bedachte, dann waren die Kinder eigentlich immer froh gewesen, wenn ihr Vater wieder das Haus verließ, um irgendwo in der Welt herumzukurven und sich beklatschen zu lassen. Sie mochten Werner, klar, das war keine Frage, doch das Verhältnis zu ihrem Vater war eigentlich immer ein wenig distanziert gewesen, im Gegensatz zu ihr, sie und die Kinder gingen herzlich miteinander um, und sie hatten sich immer bei ihr ausgeweint, sie hatten mit ihr alle Freuden und Kümmernisse geteilt, nicht mit ihrem Vater.

Was hatte sie sich in all den Jahren eigentlich eingebildet? Wie hatte sie an eine heile Welt der Familie Auerbach glauben können? Die hatte es niemals wirklich gegeben, sie hatte es so haben wollen. Und da war sie mit ihren Wünschen und Vorstellungen ganz schön an der Realität vorbeigeschrappt.

Dennoch …

Bei allen Unzulänglichkeiten, die sie nicht ausradieren konnte, durfte sie nicht alles negativ sehen. Wenn sie zunächst einmal sich selbst betrachtete, Werner war die Liebe ihres Lebens, und das würde er immer bleiben, und auch wenn er seinen Kindern nicht die Zuwendung, vor allem auch das Beisammensein gegeben hatte, das man sich für seine Kinder wünschte. Er liebte auf seine Weise die Kinder, und er hatte schließlich auch dafür gesorgt, dass sie, vor allem, was eine Aus- und Fortbildung betraf, alles bekamen. Klavierspiel, Gitarrenunterricht, Tennis, was immer sie auch wollten, es wurde von dem Geld bezahlt, das Werner verdiente.

Finanziell war alles bestens gewesen, das war es noch immer. Doch seit Ricky und Jörg längst aus dem Haus waren, ihre eigenen Familien hatten, seit Hannes seinen Weg ging, und nun würde auch Pamela sie verlassen …

Jetzt wurde Inge bewusst, dass man das, was das eigentliche Leben ausmachte, nicht mit Ruhm und Geld bezahlen konnte. Doch das durfte sie Werner auch nicht anlasten, das wäre ungerecht. Sie hatte es immer genossen, die Ehefrau des berühmten Professors Werner Auerbach zu sein, wenn sie ehrlich war, gefiel es ihr noch immer. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie mittlerweile, dass es nicht ausreichte, sich in einem äußeren Glanz zu sonnen. Es hatte sich vieles verändert, und ihr wurde immer bewusster, dass sie ein Leben neben einem anderen Leben gelebt hatte. Eine derartige Erkenntnis war sehr bitter. Sie befand sich noch nicht am Ende ihres Lebens, obgleich man nicht sicher sein konnte, wann es der Fall sein würde. Aber jetzt träumte sie einfach von sehr viel Gemeinsamkeit, viel Miteinander, viel Füreinander. Und das nicht einseitig, sondern von beiden. Vielleicht hatte sich ja bei ihr auch etwas verändert, seit sie hautnah miterlebte, wie nett Rosmarie und Heinz Rückert mittlerweile miteinander umgingen. Aus einem funktionierenden Zweckverband war ein Miteinander geworden, das einen richtig neidisch machen konnte. Dabei war der dröge Notar Heinz Rückert nun wirklich kein Mann, der charmant war, das traf eher auf Werner zu, der konnte einen Charme entwickeln, der einen vom Hocker holte. Doch darum ging es nicht, er sollte keine Gesellschaft erobern, mitreißen, sondern er sollte nett zu ihr sein, vor allem gemeinsam mit ihr sein, etwas mit ihr unternehmen. Das musste weiß Gott nicht eine Urlaubsreise in einem Camper sein, was die Rückerts für sich entdeckt hatten. In so ein Gefährt würde sie Werner eh nicht hineinbekommen, das musste ja auch überhaupt nicht sein. Ihr würde es schon reichen, mit ihm gemeinsam mal ins Kino zu gehen, in die Oper, in eine Ausstellung. Eine kurze Wochenendreise würde ihr Herz erfreuen, miteinander mit ihm wollte sie Zeit verbringen, nicht neben ihm, wenn er mal daheim war.

Inge seufzte.

An diesem Punkt waren sie schon mehr als nur einmal gewesen, und wenn es hart auf hart gekommen war, dann hatte Werner Versprechungen gemacht, die er niemals gehalten hatte. Lag es an ihr?

War sie für ihn inzwischen so wenig attraktiv? Sie hatte sich nicht verändert, nun ja, sie hatte schon ein paar Pfündchen zugelegt, aber Werner hatte ihr immer wieder beteuert, dass ihn das nicht störte, im Gegenteil, dass er jedes Pfund an ihr liebte.

Und sie war in keiner Weise eingebildet, doch wenn sie unterwegs war, dann bekam sie schon mit, dass Männer ihr hier und da interessierte Blicke zuwarfen, und wenn sie es darauf anlegen würde, käme hier und da mehr als nur ein Kaffeetrinken zustande, und das, obwohl sie nicht zu den Frauen gehörte, die sich aufbrezelten, um den Männern zu gefallen. Sie war schon ein Typ von Frau, der ankam. Sogar unter den jugendlichen Insassen des Gefängnisses hatte sie eine Fangemeinde, weil man sich mit ihr unterhalten konnte, weil sie zuhörte, weil sie glaubwürdig war, weil man ihr abnahm, dass sie authentisch war. Und Henry Fangman war ihr größter Fan. Er bewunderte sie, und seine Bewunderung gefiel ihr, die genoss sie, weil nicht dahintersteckte, dass er sie irgendwann mal ins Bett bringen wollte. Davon war überhaupt keine Rede. Er war glücklich verheiratet, sie kannte seine Frau, und sie mochten sich. Wenn man bewundert wurde von jemandem, dann musste das nichts mit Erotik zu tun haben. Das beste Beispiel war doch ihre Mutter. Seit sie für Piet van Beveren im Internat, für seine Spendenaktivitäten so etwas wie die Grande Dame war, lag man ihr beinahe zu Füßen. An ihre Mutter wollte sie allerdings jetzt nicht denken, denn dann müsste sie ihre Gedanken fortspinnen hin zu ihrem Vater und dessen gemeinsames Leben mit seiner Frau, ihrer Mutter. Ihre Eltern waren das Musterbeispiel für die ideale Ehe, und denen wollte sie eigentlich auch immer nacheifern. Es war nicht so, dass bei ihnen stets eitel Sonnenschein herrschte, nein, so etwas Wohltemperiertes wäre überhaupt nichts für ihre Mutter. Natürlich flogen bei ihren Eltern hier und da auch mal die Funken, doch das war nicht von langer Dauer, und man konnte sagen, dass Gewitter die Luft reinigten.

Das gute Beispiel hatte sie also schon, doch leider hatte sie nichts daraus gemacht, und das konnte sie jetzt wirklich nicht der Großmutter Henriette anlasten, der Mutter ihres Vaters, auf die sie angeblich total kommen sollte.

Sie verzettelte sich, so löste man keine Probleme. Was also sollte sie jetzt tun?

Eines wusste sie, sie wollte sich mit Werner versöhnen, und ein wenig ein schlechtes Gewissen hatte sie ebenfalls. Sie hätte nicht direkt nach seiner Rückkehr mit der Tür ins Haus fallen sollen. Das war psychologisch nicht klug gewesen.

Inge atmete tief durch, dann ging sie zu seinem Arbeitszimmer, klopfte an, nichts geschah. Daraufhin drückte sie die Türklinke herunter. Es war abgeschlossen. Das allerdings war ungewöhnlich.

»Werner, bitte mach auf.«

Wieder nichts.

Inge klopfte erneut, ihre Stimme wurde energischer.

»Werner, das ist doch kindisch, bitte öffne, wir müssen miteinander reden.«

Als wieder nichts geschah, wurde Inge wütend.

»Dann eben nicht, du weißt schon, dass das jetzt ziemlich kindisch ist, und deine Kollegen, deine Bewunderer, die könnten jetzt gewiss nicht verstehen, dass du dich gerade benimmst wie ein trotziger kleiner Junge.«

Ein Stuhl wurde zurückgeschoben, Schritte erklangen, die Tür wurde aufgeschlossen.

»Wer sich kindisch benommen hat, das bist du, meine liebe Inge. Ich komme von einer langen Reise zurück, freue mich auf dich. Und was tust du? Du rennst weg, vermutlich hast du dich bei Rosmarie bitter über mich beklagt. Aber die soll mal ganz schön still sein, sie war es doch, die sich immer bei dir ausgeheult hat, und jetzt, wo es mit Heinz einigermaßen läuft, gibt sie gute Ratschläge.«

Er stand vor ihr, und jetzt fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte. Inge fühlte sich wirklich ganz elend, doch sie konnte nicht anders, sie musste jetzt einfach lachen. Und das war gut so, denn das löste die Spannung, Werner fiel in das Lachen mit ein. Und dann nahm er sie einfach in seine Arme.

»Inge-Maus, ich weiß auch, dass es augenblicklich zwischen uns nicht rund läuft, und ich habe auch ein schlechtes Gewissen, weil ich deine Großzügigkeit überstrapaziere. Wir müssen eine Lösung finden, und das werden wir auch. Aber zu einem dieser Seelenklempner bekommst du mich nicht hin. Ich lass mir doch nicht von so jemandem sagen, was ich zu tun und zu lassen habe.«

Sie wollte etwas antworten, doch dazu kam Inge nicht, denn Werner beugte sich zu ihr herunter, und nachdem er sie ganz fest in seine Arme geschlossen hatte, so fest wie schon lange nicht mehr, küsste er sie.

Und da war sie wieder, diese Magie, die allen Groll schwinden ließ, und alles, was sie bedrückte, was negativ war, verschwand erst einmal. Morgen war ein neuer Tag, dann würde sie erneut mit ihm reden, aber heute …

Es war unendlich schön, seine Nähe zu spüren, das Glück überschwappen zu lassen, und wenn er sie küsste, ihr zärtliche Worte ins Ohr flüsterte, dann war es beinahe wieder so wie früher, als sie gemeinsam auf Wolke Sieben schwebten …

*

Der Tag ihres Auszugs stand zwar noch nicht fest, doch ihre Freundin Nina wollte sie so schnell wie möglich wieder in ihrer Nähe haben und machte deswegen bei den Handwerkern ganz gehörig Druck. Und Nina gehörte zu den Menschen, die schafften, was eigentlich unmöglich schien. Die Handwerker waren ganz zahm, arbeiteten schneller als gewöhnlich, blieben auf der Baustelle über die Zeit hinaus und freuten sich ein Bein ab, wenn die attraktive rothaarige Frau zu ihnen auf die Baustelle kam, ihnen etwas zu essen und zu trinken brachte und mit ihnen flirtete.

Ulrike sollte es nur recht sein, auch wenn sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge gehen würde. Mit der Mühle war natürlich überhaupt nichts zu vergleichen, doch schlecht war es im Sonnenwinkel auch nicht. Das lag in erster Linie wohl draran, dass sie mit Angela von Bergen und Achim Hellenbrink zwei Menschen kennengelernt hatte, mit denen sie sich ausnehmend gut verstand. Und wer weiß, auch wenn es derzeit noch nicht so aussah, hätte es mit Achim vielleicht doch noch etwas werden können. Es wäre nicht die leidenschaftliche Liebe gewesen wie die, die sie mit Sebastian erlebt hatte. Aber was hatte es ihr gebracht? Nichts als Kummer und eine riesige Enttäuschung. So etwas wäre ihr mit Achim nicht passiert, würde es auch nicht. Doch Schwamm darüber. Sie würde gehen, sie freute sich auf die Mühle. Und was die Zukunft ihr bringen würde? Keine Ahnung! Doch von einem konnte man ausgehen, war die Gegenwart schön, würde es auch die Zukunft werden.

Ulrike packte auf jeden Fall zwischendurch schon mal Umzugskartons, um nicht alles hinterher auf einmal packen zu müssen, und es war wirklich unbegreiflich, was sich in der kurzen Zeit bereits wieder zusätzlich angesammelt hatte.

Einiges, was sie sich neu gekauft hatte, seit sie hier lebte, war so unnötig wie ein Kropf, und Ulrike war fest entschlossen, nichts davon mitzunehmen in ihr neues Leben, weil es nicht in die Mühle passte. Sie würde mit Angela reden, gewiss gab es eine soziale Einrichtung, die sich darüber freuen würde. Und so hatte sie dann wenigstens etwas Gutes getan. Sie hielt eine Vase in der Hand, überlegte, ob sie die mitnehmen sollte. Und noch während sie darüber nachdachte, klingelte es an ihrer Haustür.

Manche Menschen konnte man an der Art, wie sie klingelten, erkennen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie stellte die Vase beiseite und lief zur Tür. So klingelte nur Achim Hellenbrink. Mit ihm hätte sie nicht gerechnet, denn sie waren nicht verabredet. Und es kam zwar mal vor, dass Achim auf einen Kaffee vorbeikam, wenn er von einer Baustelle zur nächsten fahren musste. Doch dafür war es jetzt eindeutig zu spät.

Sie riss die Haustür auf.

»Achim, das ist eine schöne Überraschung, komm rein, doch bitte entschuldige, wie es hier aussieht und wie ich aussehe. Ich bin dabei, schon mal was zusammenzupacken, beziehungs­weise auszusortieren. Was darf ich dir anbieten?«

Er ging auf ihren launigen Ton nicht ein, und das irritierte Ulrike ein wenig.

»Ist was passiert?«, erkundigte sie sich auch sofort.

»Das kann man wohl sagen.«

Er setzte sich, wartete, bis sie ihm das gewünschte alkoholfreie Bier brachte, weil er noch mit seinem Auto fahren musste, und sie sich gesetzt hatte. Ulrike hatte sich für ein Glas Rotwein entschieden. Sie blickte ihn erwartungsvoll an.

»Ulrike, ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden«, sagte er mit ernster Stimme, und sie wandte sofort ein: »Aber ich ziehe doch überhaupt noch nicht aus, ich packe bloß schon mal ein bisschen.«

»Aber ich fliege morgen nach Dubai.«

Eigentlich hatte sie etwas trinken wollen, doch jetzt setzte Ulrike erst einmal ihr Glas ab, starrte ihn an, als habe er gerade nicht klar und deutlich in deutscher Sprache, sondern in Suaheli gesprochen. Vor allem hatte er eine Urlaubsreise nach Dubai mit keiner Silbe erwähnt.

»Hast du eine Urlaubsreise bei einem Preisausschreiben gewonnen, die du sofort antreten musst, Achim«, wollte sie wissen, »oder hast du einfach nur vergessen, mir von einer solchen Reise zu erzählen.«

»Urlaub, schön wäre es, wobei ich mir für einen Urlaub einen anderen Ort aussuchen würde. Dubai wäre niemals meine erste Wahl. Nein, ich vertrete einen Freund und Kollegen, der in Dubai ein großes Bauprojekt betreut, was augenblicklich für die nächsten Wochen für ihn aus persönlichen Gründen nicht möglich sein wird. Ich springe für ihn ein.«

Nun verstand Ulrike überhaupt nichts mehr. Er hatte von einem großen Bauprojekt in Dubai gesprochen, und auch wenn er selbst ein ganz hervorragender Architekt war, da sprang man nicht einfach für jemanden ein. Das ging vielleicht, wenn man eine Suppe kochen musste. Mit der verdarb niemand etwas, und hier kam es auch nicht darauf an, wie die Suppe schmeckte. Aber ein großes Bauprojekt …

Das sagte sie ihm auch, und das brachte ihn dazu, herzhaft zu lachen.

»Stimmt schon, Ulrike, das wäre natürlich so einfach nicht machbar, aber in diesem Fall ist es kein Problem, denn mein Freund Holger und ich haben das Projekt gemeinsam ausgearbeitet, uns gemeinsam beworben und den Zuschlag erhalten. Doch ich bekam danach kalte Füße, weil ich einfach viel lieber hier vor Ort arbeite. Hier ist genug für mich zu tun, ich bin weder vom Ehrgeiz geplagt, noch muss ich das große Geld verdienen. Ich komme auch so gut zurecht.«

Das war etwas, was sie ihm aufs Wort glaubte. »Auf jeden Fall muss ich einspringen, Holger würde es auch für mich tun, und da ich mit allem vertraut bin, wird es auch keine Schwierigkeiten geben.«

»Das finde ich sehr nett von dir, Achim«, sagte sie.

Dieses Kompliment machte ihn verlegen, und deswegen hatte er es sehr eilig zu sagen: »Ich möchte mich von dir verabschieden, denn nach meiner Rückkehr werde ich dich hier nicht mehr vorfinden.« Es lag viel Bedauern in seiner Stimme, und Ulrike hätte ihn jetzt am liebsten umarmt, doch das verkniff sie sich, sie wollte zum Schluss nicht alles komplizierter machen. Sie waren sich schon mal ziemlich nahegekommen, und sie hatte danach darauf geachtet, dass es sich nicht wiederholen würde. Nicht ihretwegen, sie hätte es genossen. Aber sie wollte ihn nicht verletzen. Er war einfach ein zu wertvoller Mensch.

Sie bedankte sich, ließ sich mehr über Dubai und das Projekt erzählen, später kochten sie gemeinsam Spaghetti mit Tomatensauce, und Ulrike musste wirklich an sich halten, jetzt ihre Gefühle nicht überbrodeln zu lassen. Sie musste vernünftig sein, sein Lebensmittelpunkt war hier, ihrer lag woanders.

Manchmal gerieten Gefühle außer Kontrolle, doch bei einem so ernsthaften Menschen wie Achim durfte man das nicht zulassen. Eigentlich waren sie beide nicht geschaffen für eine unverbindliche Liebelei.

»Und was machst du mit deinen Projekten hier, Achim?«, lenkte sie rasch ab.

»Oh, das ist kein Problem. Ich habe in meinem Büro zwei sehr tüchtige junge Mitarbeiter sitzen, ich glaube, die sind ganz froh, etwas machen zu können, ohne dass ich ihnen da hineinrede.«

Ulrike hätte es eigentlich gern bei einem unverbindlichen Thema gelassen, Achim nicht.

»Ulrike, ich bedaure es wirklich sehr, dich nach meiner Rückkehr hier nicht mehr vorzufinden. Es war immer schön, mit dir Zeit zu verbringen, mit dir zu reden.«

»Achim, ich bin nicht aus der Welt, ich wünsche mir sehr, dass wir in Verbindung bleiben, in dir und Angela von Bergen habe ich Freunde gewonnen, und die findet man nicht an jeder Ecke.«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und sie ärgerte sich insgeheim, dass sie das jetzt erwähnt hatte. Als Psychologin hätte sie eigentlich andere Worte wählen müssen. Aber so war es halt, auch Psychologen waren Menschen, keine Maschinen, die Vorgefertigtes herausspuckten.

Er blickte sie ernst an. »Du weißt schon, dass ich dir sehr gern mehr als nur ein Freund wäre, nicht wahr, Ulrike?«

Sie erwiderte seinen Blick. »Ich weiß, Achim. Man soll ja niemals nie sagen, doch ich glaube, dass es irgendwie nicht sein soll, unsere Lebenspläne sind einfach zu verschieden, und wir sind beide aus dem Alter heraus, in dem man glaubt, sich seine Welt zurechtbiegen zu können, und wir haben beide schmerzliche Erfahrungen hinter uns, die wir nicht noch einmal erleben wollen, nicht wahr?«

Er sagte nichts dazu, trank erst einmal etwas. Sie war sich nicht sicher, ob er jetzt sauer war. Doch sie konnte erleichtert aufatmen, denn Achim sagte: »Du hast recht, Ulrike. Aber ein wenig träumen kann man schon, wie es wohl gewesen wäre, wenn …, doch du musst jetzt kein schlechtes Gewissen haben. Ich bin unendlich dankbar dafür, dir begegnet zu sein, und ja, ich würde dich auch gern in meinem Leben behalten …, als Freundin, und das ist nicht nur so dahergesagt. Ich wünsche dir auf jeden Fall, dass sich mit dieser Mühle ein Traum für dich erfüllt. Sie ist wunderschön, und ich finde, sie passt sehr gut zu dir.«

Insgeheim atmete Ulrike erleichtert auf, denn nun sprachen sie über die Mühle, und da konnte sie sich in Begeisterung reden.

Es war schon recht spät, als sie sich voneinander trennten, und sie war es, die ihn zum Schluss umarmte, ihn auf die Wangen küsste.

»Danke, dass du gekommen bist, Achim. Ich wünsche dir, dass die Arbeit in Dubai für dich nicht zu stressig wird. Lass mal von dir hören, wenn du Zeit hast.«

Er blickte sie an.

»Willst du das wirklich, Ulrike?«

Wieder erwiderte sie einen Blick.

»Achim, sonst hätte ich es nicht gesagt.«

Er lächelte.

»Ich weiß, und das schätze ich übrigens auch sehr an dir, dass du ein so ehrlicher Mensch bist. An dir ist nichts Hinterhältiges. Viel Glück, Ulrike.«

Er überlegte, fast hatte es den Anschein, als wolle er sie noch einmal in seine Arme nehmen. Dann besann er sich, drehte sie abrupt um, ging.

Sie blieb in der Haustür stehen, und sie war unendlich erleichtert, dass er sich, ehe er in sein Auto stieg, noch einmal umdrehte, ihr zuwinkte, ihr eine Kusshand zuwarf und lächelte.

Er war nicht sauer auf sie, sie blieb an der Tür stehen, bis nichts mehr von ihm zu sehen war, dann ging sie ins Haus zurück, schloss ordentlich ab, denn die Verbrecher waren noch immer nicht gefangen. Und ein Einbruch vor ihrer Abreise, das fehlte ihr gerade noch. Sie aktivierte die Alarmanlage, dann setzte sie sich, trank den Rest ihres Weins aus. Es war wirklich schön, dass Achim gekommen war, um sich von ihr zu verabschieden.

Er war ein sehr guter, ein ­aufrichtiger, ein dazu noch sehr gut aussehender, intelligenter Mann. Er war viel wertvoller als beispielsweise Sebastian. Und dennoch fiel man auf solche Schaumschläger schneller herein, weil sie eine Charmeoffensive starteten und man als Frau auch so gern so etwas hören wollte, und deswegen logen sie das Blaue vom Himmel herunter.

Hätte sie jetzt bloß nicht an Sebastian gedacht, denn sofort durchzuckte sie ein wilder Schmerz, und das sagte ihr, dass ihr Verstand mit ihm abgeschlossen hatte, dass ihr Herz leider noch immer unter seinem Betrug, all seinen Lügen, litt. Vermutlich würde es auch noch eine Weile andauern, mochte es sie nun ärgern oder nicht.

Nein!

Sie wollte nicht mehr an Sebastian denken, sie griff nach ihrem Handy und schickte Achim ganz spontan eine Nachricht. Noch mal danke, dass du gekommen bist. Es war schön, mit dir zu reden, bitte, pass auf dich auf. Deine Freundin Ulrike.

Nachdem die Nachricht weg war, bekam sie Bedenken, doch nein, die musste sie nicht haben. Es war richtig gewesen, und jedes Wort war so gemeint.

Jetzt war es zu spät, um noch zu packen, aber für sie zu früh, um schon ins Bett zu gehen, dazu war sie einfach viel zu aufgewühlt. Man konnte sein Leben planen, glaubte, alles im Griff zu haben, und dann ging das Schicksal doch seine eigenen Wege. Ihr Weg würde sie aus dem Sonnenwinkel wegführen in ein neues Leben, auf das sie sich auch wirklich freute, doch ein Tröpfchen Wehmut war schon in ihr. Tja, man konnte halt nicht alles haben. Und sie musste sich auch keine Gedanken darüber machen, wofür ihr Abstecher hierher gut gewesen war. Sie schenkte sich noch ein kleines Gläschen Wein ein, und danach setzte sie sich vor den Fernseher, um sich mit etwas berieseln zu lassen, das sie hoffentlich ein wenig ablenken würde.

*

Julia verschlief normalerweise niemals, und jetzt das. Doch am Vorabend waren die letzten Gäste sehr spät gegangen. Und nach vielen anstrengenden Stunden war es nicht so einfach, direkt herunterzukommen. Früher hatte sie sich allein hingesetzt, um den Tag Revue passieren zu lassen. Jetzt hatte sie Tim an ihrer Seite. So war es bereits vor ihrer Reise nach Las Vegas gewesen, doch jetzt war es anders. Jetzt war es ganz wundervoll, ganz unglaublich, denn nun war sie die Frau an seiner Seite, und das nicht einfach nur so, sondern ganz legal, mit dem goldenen Ring an ihrem Finger, den sich alle Frauen dieser Welt sehnlichst wünschten. Tim war zwar nicht auf einem weißen Pferd angeritten gekommen, um ihre Hand anzuhalten. Doch die Überraschungsreise nach Las Vegas, die war auch etwas Besonderes gewesen, so heiratete nicht jeder. Für Julia hatte sich ein Traum erfüllt, und sie war manchmal drauf und dran, sich in den Arm zu kneifen, um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich wahr war, dass Tim Richter ihr angetrauter Ehemann war.

Doch jetzt war nicht die Zeit, um in süße Gedanken zu versinken, sie musste erst einmal richtig wach werden. So zu verschlafen, das war mehr als nur ärgerlich, denn im Grunde genommen war ihr Tag jetzt gelaufen. Sie hatte zum Großmarkt fahren wollen, während Tim vom Flughafen die schottischen Lachse abholen sollte, die sie zwischendurch auf der Karte hatten und dafür regelmäßig einfliegen ließen. Das war etwas, was bei ihren Gästen sehr gut ankam. Es hatte schon was, echte Lachse aus Schottland, frisch oder geräuchert. Da waren die Gäste gern bereit, tiefer in die Tasche zu greifen.

Darum musste sie sich allerdings jetzt nicht den Kopf zerbrechen, sondern sich vielmehr Gedanken darüber machen, was sie nun machen sollte. Den Großmarkt konnte sie für heute knicken, da brauchte sie gar nicht erst hinzufahren, um eventuelle Reste einzusammeln. Wie ärgerlich!

Noch während sie mit sich haderte, roch sie als erstes Kaffee, oder bildete sie sich das nur ein, weil sie das dringende Bedürfnis verspürte, welchen zu trinken? Nein, es war wirklich Kaffee, und der stand auf einem Tablett, das Tim vorsichtig hereinbalancierte und rief: »Bleib im Bett, Liebes, ich hatte mir für heute vorgenommen, dir das Frühstück am Bett zu servieren, und davon lasse ich mich auch nicht abbringen.«

So verlockend es auch wäre, jetzt das Frühstück im Bett zu genießen. Beim besten Willen ging das nicht, sie musste jetzt, weil sie nicht im Großmarkt gewesen war, umdenken, improvisieren.

Es war vertrackt, sie war wütend auf sich selbst, und deswegen klang ihre Stimme auch ziemlich schroff, als sie sagte: »Tim, wie stellst du dir das vor? Ich habe verschlafen, ich hätte auf dem Großmarkt sein müssen. Nun ist der ganze Tag im Eimer. Warum hast du mich denn nicht geweckt?«, erkundigte sie sich anklagend, obwohl das jetzt alles ziemlich ungerecht war, denn Tim konnte nichts dafür, er hatte nicht verschlafen, und sie konnte davon ausgehen, dass er seinen Part erfüllt hatte und auf dem Flughafen gewesen war.

Tim war nicht aus der Ruhe zu bringen, im Gegenteil, er schien sogar ziemlich belustigt zu sein.

»Julia, mein Herz, entspann dich bitte, alles ist gut.« Er stellte das Tablett ab. »Ich habe dir nicht nur Kaffee gebracht, sondern auch diese köstlichen Croissants, die du so gern magst. Und stell dir vor, heute war wieder diese unvergleichliche Himbeermarmelade aus dem Elsass zu bekommen. Ich habe beinahe alle Bestände aufgekauft.«

Moment mal!

»Tim, die gibt es doch nur auf dem Großmarkt, und das auch nicht immer.«

Er nickte, noch immer lächelnd.

»Weiß ich doch, deswegen habe ich doch so viel gekauft.« Ihre Gedanken ratterten.

Himbeermarmelade aus dem Elsass … Großmarkt …, aber …

»Du warst doch auf dem Flughafen, Tim.«

Wieder nickte er.

»Da war ich auch, Julia, bitte entspann dich, und trinke endlich von dem mit sehr viel Liebe zubereiteten Kaffee, ehe der kalt wird, genieß die Croissants.«

»Ja aber …«

»Kein aber«, er küsste sie einfach, um auf diese Weise zu verhindern, dass Julia ihren Satz beendete, und das ließ sie erst einmal willig geschehen. Mehr noch, sie genoss seinen Kuss und merkte, wie sie sich entspannte, und dann erfuhr sie, dass Tim es nicht übers Herz gebracht hatte, sie aufzuwecken, und dass er deswegen früher losgefahren war, um sowohl den Flughafen als auch den Großmarkt zu schaffen.

»Alles ist gut, Liebste, und du siehst, ich bin früh genug zurückgekommen, um nicht nur alle Einkäufe ordnungsgemäß zu verstauen, sondern um auch noch das Frühstück für dich zuzubereiten und es dir zu servieren. Also bitte, genieße es.«

Julia war überwältigt. Und jetzt trank sie zunächst einmal von ihrem Kaffee, und dann konnte sie nicht anders, sie musste von dem Croissant probieren, und vor allem genoss sie die Himbeermarmelade, die so köstlich war, dass sie sich am liebsten hineingelegt hätte.

»Tim, du bist ein Schatz, nein, du bist der Größte«, sie lächelte, als sie sah, wie er sich stolz aufrichtete, das konnte er auch, und dann fügte sie leise hinzu: »Du glaubst überhaupt nicht, wie sehr ich dich liebe und wie glücklich es mich macht, mit dir verheiratet zu sein.«

Er schob das Tablett ein wenig zur Seite, um näher an sie heranzukommen, dann umfasste er zärtlich ihre Schultern, blickte ihr ganz tief in die Augen und erwiderte: »Frag mich mal, ich kann mein Glück überhaupt noch nicht fassen, dass du mich überhaupt genommen hast.«

Sie hätte dazu etwas sagen können, denn schließlich war es ein langer Weg gewesen, ehe er aus seinem Kopf bekommen hatte, man könne ihn für einen Mitgiftjäger halten. Es war vorbei, er hatte sich besonnen, sie war endlich, endlich seine Ehefrau, und sie war sich ganz sicher, der allerglücklichste Mensch von der ganzen Welt zu sein. Sie und Tim, sie passten zusammen wie der berühmte Topf mit dem Deckel, und gäbe es die Wolke Sieben nicht, dann müsste man sie jetzt für sie erfinden. Sie lebten ihren Traum, und sie passten nicht nur äußerlich von ihrer Lebenseinstellung her zusammen, sondern hinzu kam, dass sie beide Köche aus Leidenschaft waren, die in ihrem Beruf aufgingen. Sie arbeiteten miteinander, nebeneinander, und wenn einer von ihnen ganz besonders von seiner Leidenschaft gepackt wurde und etwas ausprobieren wollte, hinderte der andere ihn nicht daran. Sie zogen wirklich an einem Strang, und bei allem umschloss sie ihre Liebe wie ein warmer Mantel. Und die Liebe wurde von Tag zu Tag größer, obwohl das eigentlich doch überhaupt nicht möglich war. Doch so war es.

»Noch einen Kaffee?«, wollte Tim wissen, und Julia nickte.

Jetzt konnte sie alles genießen, und sie musste sich auch nicht mehr ärgern, sie musste kein schlechtes Gewissen haben, weil sie verschlafen hatte. Dank Tim war alles in bester Ordnung.

»Und die Lachse, hast du sie dir mal angesehen?«, wollte Julia wissen, spätestens nach dem Kaffee hellwach und wieder ganz Geschäftsfrau, »und hast du im Großmarkt auch alles bekommen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du kannst es einfach nicht lassen, aber wenn es dich beruhigt, die Lachse sind fantastisch, und auf dem Großmarkt habe ich keine Champignons mitgenommen, unser Händler hatte keine, und anderswo gefielen sie mir nicht so. Aber ich habe Fenchel gekauft, und ich finde den als Beilage sogar noch besser, ich habe mir nämlich überlegt, dass wir …«

Nun begann er begeistert zu erzählen, was er sich da so vorgestellt hatte, und Julia konnte nicht anders. Sie lehnte sich bequem in ihre Kissen zurück und hörte ihm zu. Es war so überaus angenehm, nicht allein verantwortlich dafür zu sein, dass der Laden lief. Sie konnte sich auf jemanden verlassen, und das war dann auch noch ihr Ehemann. Sie hatte ziemliche berufliche Ambitionen, und sie war auch sehr ehrgeizig und griff nach dem nächsten Stern für ihr Restaurant. Aber nein, ganz so war es nicht mehr, den konnte auch Tim erkochen. Es war so was von egal, ob er oder sie es nun waren, Hauptsache, sie erkochten den Stern, und wenn nicht …

Verträumt schloss Julia die Augen. Sie waren ja gerade noch ganz frisch verheiratet, doch sie konnte sich sehr gut vorstellen, ihm mehr und mehr die Küche zu überlassen und irgendwann Mutter zu werden. Auch hier zogen sie an einem Strang, sie wünschten sich beide Kinder, die nun mal zu einer Familie gehörten, und davon konnten es ruhig mehrere sein.

Irgendwann erkundigte er sich: »Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?«

Sie zuckte zusammen, öffnete die Augen und sagte ganz schuldbewusst: »Nein, ich war mit meinen Gedanken bei etwas, was schöner ist als der ›Seeblick‹.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich dir nicht, Julia, der ›Seeblick‹ ist doch dein Baby.«

Nun war sie es, die den Kopf schüttelte.

»Nein, Tim, so ist es nicht mehr, seit ich deine Ehefrau bin, da haben sich die Prioritäten ganz gehörig verschoben.«

Erstaunt blickte er sie an, denn es war in der Vergangenheit wirklich so gewesen, dass bei Julia zuerst der ›Seeblick‹ gekommen war und dann ganz lange nichts. »Darf ich erfahren, in welche Richtung?«

Sie schob sich näher an ihn heran, ließ vertrauensvoll ihren Kopf an seine Brust sinken. »Ist das so schwer, es zu erraten? Natürlich bist du die No. One in meinem Leben, du bist für mich das ganz große Los, und ich dachte gerade daran, wie schön es erst einmal sein wird, wenn wir irgendwann einmal gemeinsame Kinder haben werden und sich unser Traum von einer glücklichen Familie erfüllen wird. Die Voraussetzungen hier oben sind ideal, und Platz genug haben wir auch.«

Sie wusste nicht, wie er darauf reagieren würde, Frauen tickten in dieser Hinsicht ganz anders als Männer. Die hatten es nicht sofort so sehr mit dem Nestbau, die begannen es eigentlich erst zu begreifen und sich zu freuen, wenn das Nest gebaut war. Sie wollte ihn auf keinen Fall überfordern, also ließ sie ihn los, schob sich jetzt an ihm vorbei, sprang aus dem Bett. »Doch das ist Zukunftsmusik, jetzt gehe ich erst einmal unter die Dusche, danach ziehe ich mich an, und dann treffen wir uns unten in der Küche, ja?« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Danke noch mal für das Frühstück, es war lecker, und mit dem Kaffee hast du mir das Leben gerettet.«

Er wollte etwas sagen, doch sie ließ es nicht dazu kommen. Es war alles gesagt worden, für den Augenblick zumindest, und manches konnte man auch zerreden. Und das wollte sie auf keinen Fall.

Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, als sie im Badezimmer verschwand, und sie wurde überflutet von einer Welle von Glück und Zärtlichkeit.

Julia Richter, das hörte sich verdammt gut an, und sie konnte ihren neuen Familiennamen auch schon ganz fließend schreiben. Er musste ja nicht erfahren, dass sie das vorher bereits oftmals geübt hatte, schon, als noch nicht davon auszugehen gewesen war, dass sich ihr Traum, seine Frau zu werden, überhaupt einmal erfüllen würde.

Er hatte sich erfüllt, war wahr geworden, und so konnte sie jetzt davon träumen, dass sie irgendwann auch ihre Wunschkinder haben würden.

Sie schlüpfte aus ihrem Schlafanzug, sprang unter die Dusche, drehte sie auf. Doch zuerst einmal musste sie sich Gedanken machen, wie der heutige Tag verlaufen würde, auf jeden Fall ohne Stress, weil sich das Problem Großmarkt dank Tim gelöst hatte.

Es war so schön, verheiratet zu sein …

*

Für Roberta war es ein freier Nachmittag, den sie zu ihrer freien Verfügung hatte, und das kam nur äußerst selten vor, es kam immer etwas dazwischen, was alle Pläne über den Haufen warf. Heute allerdings war davon auszugehen, dass nichts dazwischenkommen würde. Es standen nur wenige Hausbesuche an, bei Patienten, die sie persönlich betreuen musste, war morgens bereits vor der Sprechstunde gewesen, und den Rest konnte Leni Wendler übernehmen. Es hatte sich ganz hervorragend eingependelt, Leni ging in ihrem Job auf, und sie wurde von den Patientinnen und Patienten geliebt, weil sie eine so freundliche Art hatte. Und Notdienst hatte heute ein anderer Kollege aus dem Umkreis.

Roberta hatte sich vorgenommen, nach Hohenborn zu fahren und sich neue Bücher zu kaufen, aber sie wollte sich auch nach Schuhen umsehen, und wenn sie in einem der Schaufenster etwas sah, was ihr ins Auge stach, würde sie in den Laden gehen und es sich kaufen, wenn es in ihrer Größe vorrätig war. Meistens hatte sie Glück, Roberta hatte eine schlanke Figur, und die meisten Ausstellungsstücke waren in ihrer Größe. Und wenn nicht, dann war es auch kein Beinbruch. Sie war eine Frau, und natürlich machte sie sich auch gern hübsch, doch sich neue Outfits zu kaufen, stand auf ihrer Prioritätenliste ganz weit hinten. Als sie noch mit Lars zusammen war, da hatte sie sich öfters mal etwas Neues gekauft, um ihm zu gefallen. Dabei war es ihm darauf wirklich nicht angekommen.

Ach, Lars …

Sie vermisste ihn noch immer, der Schmerz, ihn verloren zu haben, würde wohl niemals vergehen. Doch seit diesem Augenblick, in dem sie geglaubt hatte, ihn zu spüren, hatte sich etwas verändert, weil sie sich ganz sicher war, dass er gekommen war, um sich zu verabschieden, und ebenso sicher war sie sich, dass er nicht wollte, dass sie sich seinetwegen grämte, seinetwegen weinte. Es war eh nicht zu ändern, er war aus ihrem Leben verschwunden, hatte eine riesengroße Lücke hinterlassen. Doch sie musste glücklich sein, die Zeit mit ihm gehabt zu haben. Lars war ihre große Liebe gewesen, ihr Herzensmensch, und in ihrem Herzen würde es immer etwas geben, wozu niemand Zutritt hatte. Und sie hatte all die wunderbaren Erinnerungen, die er ihr hinterlassen hatte, das Buch, mit dem er ihr seine Seele offenbart hatte, und dann gab es ja auch noch ihren gemeinsamen Stern, der bis in alle Ewigkeit ihrer beider Namen trug.

Roberta spürte, wie sich doch wieder Trauer in ihr breitmachte, und der musste sie auf jeden Fall entfliehen. Alma war wieder einmal mit ihrem Gospelchor unterwegs, die würde erst morgen wieder im Doktorhaus sein, und allein wollte sie kein Trübsal blasen.

Eigentlich hatte sie erst später nach Hohenborn fahren wollen und wäre dann auch gleich dort geblieben, um irgendwo eine Kleinigkeit zu essen. Es ging nicht, es musste eine Planänderung geben. Man überlebte auch, wenn man abends nur ein Butterbrot aß. Essen wurde eh überbewertet.

Beinahe panisch griff Roberta nach ihrer Handtasche, wollte das Haus verlassen, riss die Haustür auf und blieb verblüfft stehen. Sie hätte ganz gewiss mit allem gerechnet, allerdings nicht damit, unvermittelt ihre Freundin Nicky zu sehen. Sie hatten doch gerade erst gestern lange miteinander telefoniert, und während dieses Gesprächs hatte Nicki mit keiner Silbe erwähnt, sie im Sonnenwinkel besuchen zu wollen. Nicki konnte sich leider für den Sonnenwinkel überhaupt nicht erwärmen, was Roberta nun gar nicht verstehen konnte. Zum Glück erzählte Nicki nicht jedem, der es hören oder nicht hören wollte, dass sie im Sonnenwinkel nicht tot überm Zaun hängen wollte. Das hatte sich mittlerweile gelegt.

»Nicki, das ist eine Überraschung. Doch du hättest mir von deinem Kommen erzählen sollen, Alma ist nicht da, und ich war gerade dabei, das Haus zu verlassen. Du hättest vor verschlossener Tür gestanden, denn ich gehe nicht davon aus, dass du den Hausschlüssel für das Doktorhaus dabei hast.«

Nicki wühlte in ihrer Handtasche herum, holte einen Schlüssel hervor, hielt ihn Roberta triumphierend entgegen und sagte: »Hab ich.« Dann beschwerte sie sich sofort. »Was ist das eigentlich für eine Begrüßung. Freust du dich denn nicht, mich zu sehen, liebste Freundin?«

Typisch Nicki!

Roberta nahm ihre Freundin in die Arme und rief: »Natürlich freue ich mich, und jetzt bleibe ich natürlich daheim. Ich wäre ohnehin bloß nach Hohenborn gefahren, um dort das zu tun, was warten kann und vollkommen unwichtig ist. Komm rein, es ist so schön, dich zu sehen. Doch sag mal, warum hast du mir gestern während unseres Gesprächs nichts davon gesagt?«

Nicki zuckte die Achseln.

»Weil ich es da noch nicht wusste.«

So etwas kam bei Nicki häufiger vor, doch meistens war das kein gutes Zeichen. Nicki war sehr emotional, und daher war vieles von dem, was sie so machte, in keiner Weise nachvollziehbar. Das machte allerdings nichts, Nicki war ein ganz wunderbarer Mensch, auf den man sich in allen Lebenslagen verlassen konnte, und sie war die allerbeste Freundin von der ganzen Welt.

»Komm rein. Möchtest du etwas trinken? Essen?«

Gemeinsam betraten sie das gemütliche Doktorhaus, in dem Roberta so gern wohnte, und das außerdem auch noch sehr praktisch war, weil sich die Praxis direkt nebenan befand. Und Alma hatte ihre kleine, feine private Wohnung, die einen separaten Eingang besaß, aber auch einen Zugang zu Robertas Wohnung hatte. Es war alles perfekt.

Sie betraten das Wohnzimmer, Nicki warf achtlos ihre Tasche zur Seite, sich selbst schmiss sie in einen Sessel und zog sofort ihre Schuhe aus.

Sie wollte keinen Kaffee oder Tee trinken, sagte: »Ein Gläschen Wein vielleicht«, besann sich, nachdem sie auf die Uhr gesehen hatte. »Es ist dafür wohl noch ein bisschen früh, ganz besonders, wenn man so schlecht drauf ist wie ich jetzt. Da ist Alkohol keine Lösung. Aber weißt du was, lass uns doch in die Küche gehen, an diesem hübschen Tisch ist es überaus gemütlich, und da haben wir die Getränke gleich in der Nähe.«

Oh, oh, das hörte sich nicht gut an.

Roberta kannte ihre Freundin lange und intensiv genug, um sofort ihre Stimmungen zu erkennen. Hoffentlich hatte Nicki sich da nicht wieder in etwas hineingeritten. Nicki war klug, intelligent, schön, doch leider hatte sie den Hang dazu, immer wieder etwas zu tun, womit sie sich selbst schadete, was nicht gut für sie war. Doch daran würde sich wohl niemals etwas ändern, und Roberta hatte es längst aufgegeben, Nicki ins Gewissen zu reden. Nicki war erwachsen, sie musste wissen, was sie tat. Außerdem ließ sie sich selbst ja auch nicht in ihr Leben hineinreden.

Nicki ließ Tasche und Schuhe im Wohnzimmer stehen, und als sie die Küche erreicht hatten, lief sie erst einmal zum Spülbecken, drehte den Wasserhahn auf, beugte sich herunter und trank von dem fließenden Wasser, richtete sich wieder auf, fuhr sich über den Mund und rief lachend: »Ich weiß, das tut man nicht, doch es musste sein. Jetzt kannst du mir ein Mineralwasser geben, das ich ordentlich aus einem Glas trinken werde.«

Nicki war angespannt, und Roberta wusste, dass sie sich jetzt höllisch zusammenreißen musste. Ein falsches Wort, und Nicki würde explodieren wie eine Bombe. Es war wirklich gut, wenn man sich so genau kannte.

Roberta stellte Gläser und das Mineralwasser auf den Tisch, für Nicki noch eine Schale mit von Alma gebackenen Keksen, von denen sie wusste, wie gern Nicki diese mochte. Doch entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit griff Nicki nicht direkt in die Schale, sondern ließ sie unbeachtet stehen.

»Nicki, was ist los?«, erkundigte Roberta sich, die die Spannung nicht länger aushalten konnte. »Es stimmt doch etwas nicht. Hast du Ärger mit Auftraggebern? Gibt es einen Mann in deinem Leben, der doch nicht deinen Vorstellungen entspricht, und von dem du nun enttäuscht bist?«

Nicki winkte ab. »Falsch geraten, Frau Doktor.«

Nun war Roberta ein wenig ratlos. »Was ist es dann?«, erkundigte sie sich vorsichtig, weil Nicki bei solchen Fragen hin und wieder auch mal ungehalten werden konnte.

Diesmal ging Nicki allerdings auf die Frage ihrer Freundin sofort ein.

»Ich bin so was von sauer auf Jens«, rief sie, »du glaubst überhaupt nicht, wie sauer.«

Das allerdings verblüffte Roberta jetzt, denn Nicki und ihr Nachbar, der Herr Professor Jens Odenkirchen, waren ein Herz und eine Seele.

Sie verbrachten sehr viel Zeit miteinander, aßen zusammen, trösteten sich über geplatzte Liebschaften hinweg, und Jens hatte sich seinerzeit rührend um Nicki gekümmert, als die von diesem Straßenmusikanten schwanger gewesen war. Und das hatte er ebenfalls für das Baby tun wollen. Das allerdings hatte sich ja leider erledigt, weil Nicki das Baby verloren hatte.

»Was hat er denn getan?«, wollte Roberta wissen. Diese Frage stellte sie allerdings nicht, weil es sie sonderlich interessierte.

Diesmal antwortete Nicki nicht sofort, trank erst einmal beinahe das ganze Glas Wasser mit einem großen Schluck leer, und dann griff sie doch noch in die Keksschale, angelte sich direkt zwei Kekse auf einmal heraus, kaute genüsslich, schenkte sich noch einmal Wasser ein. Roberta war sich nicht ganz sicher, ob das jetzt geschah, weil Nicki erst einmal Zeit gewinnen wollte. Endlich sagte sie: »Er hat …, nun ja, es gibt da wieder mal eine neue Frau in seinem Leben.«

Was sollte das denn jetzt? Es gab immer wieder Frauen in seinem Leben, wie es auch Kurzzeitpartner bei Nicki gab. Und auch darüber sprachen die beiden doch. Und nun tat Nicki so, als sei da etwas Weltbewegendes geschehen, über das sie sich aufregen musste, und das tat sie ganz offensichtlich.

»Na und?«

Mehr konnte Roberta dazu nichts sagen, und das waren offensichtlich nicht die richtigen Worte gewesen, denn Nicki explodierte, erzählte Roberta in epischer Breite, wie grässlich sie diese Person fand, eine ganz furchtbare Frau sei das, die sich in das Leben von Jens geschlichen hatte.

So ging es eine ganze Weile, bis Roberta einschritt.

»Moment mal, Nicki, ich verstehe überhaupt nicht, weswegen du dich jetzt so aufregst. Er hat seine Amouren, du hast deine, ihr redet offen darüber. Was ist denn diesmal anders?«

Nicki aß erst mal noch ein paar Kekse, und das in atemberaubender Geschwindigkeit.

»Ich glaube, die sucht einen Mann, der sie versorgt, und dafür hat sie sich Jens ausgeguckt.«

»Nicki, auch wenn es so sein sollte, geht es dich nichts an, es ist seine Entscheidung, ob er sich auf so etwas einlässt.«

»Aber ich will es nicht«, ereiferte Nicki sich, »dafür ist mir Jens zu schade.« Und schon redete sie wieder ohne Punkt und Komma, und das so schnell, dass Roberta ihrer Freundin kaum zuhören konnte.

Als Nicki endlich aufhörte, konnte Roberta sich eine Bemerkung nicht verkneifen, gleichgültig, ob Nicki explodieren würde oder nicht.

»Ist dir vielleicht schon mal in den Sinn gekommen, dass du eifersüchtig auf diese Frau bist, die …«

Sie wurde von Nicki unterbrochen.

»Roberta, ich bitte dich. Wie kommst du denn auf einen derartigen Unsinn?«

Roberta blieb ganz ruhig.

»Nicki, es ist kein Unsinn. So wie du gerade, gebärdet sich jemand nur, wenn Gefühle im Spiel sind.«

Nicki wollte dazwischenfahren, doch Roberta ließ sich nicht unterbrechen. Was gesagt werden musste, das musste ausgesprochen werden.

»Nicki, geh doch nicht gleich an die Decke, sondern gebrauche deinen Verstand. Bei keiner seiner Freundinnen, Lebensabschnittsgefährtinnen, oder wie immer man die Damen auch nennen mag, hat es dir etwas ausgemacht, und auf einmal drehst du durch, weil es da offensichtlich in seinem Leben jetzt eine Frau gibt, mit der es mehr sein könnte als ein kurzes Intermezzo … Nicki, gesteh es dir doch ein, dass er dir mehr bedeutet als ein guter Nachbar. Ich habe eh nicht verstanden, dass ihr wie zwei Katzen umeinander herumgeschlichen seid. Es ist so viel zwischen euch, ein Blinder kann daran fühlen, dass da mehr ist als nur gute Nachbarschaft. Und wenn du mich fragst, dann ist von seiner Seite auch eine ganze Menge von Gefühl. Ihr traut euch bloß nicht, das zuzugeben.«

Nach dieser Ansage war es sehr still, Nicki war ganz ruhig, und Roberta bekam beinahe schon ein schlechtes Gewissen. Es ging sie nichts an, und auch wenn Nicki ihre allerbeste Freundin war, bedeutete das nicht, dass sie sich in deren Leben hineinhängen durfte, ungefragt wohlgemerkt. Wenn etwas an sie herangetragen wurde, konnte sie agieren. Schon wollte sie etwas sagen. Dazu kam sie allerdings nicht, weil Nicki zu sprechen begann.

Zunächst einmal erkundigte sie sich ein wenig schnippisch: »Bist du fertig?« Dann fuhr sie leicht ironisch fort: »Es ist schon ganz erstaunlich, dass ausgerechnet du so etwas sagst, Roberta, eine Frau, die die beste Ärztin der Welt ist, die aber in Liebesdingen nicht gerade ihre Kompetenz bewiesen hat, und der es auch an Erfahrung fehlt, um mitreden zu können. Du erkennst auf den ersten Blick …, äh …, meinetwegen eine Mandelentzündung oder so was …, aber bei Gefühlen, bei dem Blick dafür, ob da irgendwo etwas ist oder nicht …, davon hast du doch überhaupt keine Ahnung.«

Unvermittelt sprang sie auf.

»So, und jetzt brauche ich frische Luft. Ich hatte mir unser Treffen irgendwie anders vorgestellt. Ich lauf mal um den Block …, allein.«

Als sie Robertas besorgten Blick bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Keine Sorge, ich tue mir nichts an, ich reise auch nicht ab. Ich brauche lediglich ein paar Minuten für mich …, einverstanden?«

Nicki reagierte manchmal nicht nachvollziehbar, das, was sie jetzt tun wollte, war neu. Aber Roberta war klug genug, sie jetzt nicht zurückzuhalten. So, wie Nicki gerade drauf war, war eh nicht mit ihr zu reden.

Roberta zuckte die Achseln, Nicki war irritiert, weil sie mehr erwartet hatte. Sie zögerte kurz, dann rannte sie los und rief, ehe sie das Haus verließ: »Bis bald.«

Die Haustür wurde mit Schwung zugeknallt, Roberta zuckte zusammen. Auch sie stand auf, räumte die Gläser in den Geschirrspüler, die Schale ebenfalls, nachdem sie die darauf noch vorhandenen Krümel entsorgt hatte. Nicki hatte alle Kekse in sich hineingestopft.

Roberta und Nicki waren schon viel zu lange und viel zu eng befreundet, sie waren gemeinsam durch Höhen und Tiefen gegangen. Aus diesem Grunde war Roberta jetzt auch in keiner Weise besorgt oder gar verärgert. Im Gegenteil, sie fühlte sich in dem, was sie gesagt hatte, bestätigt. Nicki war auf diese andere Frau eifersüchtig, deswegen war sie auch so durch den Wind. Man konnte nur hoffen, dass es bei Jens Odenkirchen diesmal ebenfalls nur eine Affäre war, und dass danach er und Nicki endlich einsahen, dass sie das perfekte Paar waren. Doch das war Zukunftsmusik. Erst einmal musste Nicki sich wieder beruhigen.

Nun war alles anders gekommen als gedacht. Natürlich freute sie sich über Nickis Besuch, und nach Hohenborn konnte sie immer fahren. Aber untätig herumsitzen wollte sie jetzt auch nicht. Arbeit gab es immer, auch welche, die sie aus der Praxis mit hinüber in ihre Wohnung nahm, und so griff Roberta nach einer Krankenakte einer Patientin, die ihr einige Sorgen machte und für die sie unbedingt einen geeigneten Reha-Platz herausfinden musste, und das bedeutete erst einmal Ärger mit der Krankenkasse und ellenlange, genau spezifizierte Berichte, die ihren Wunsch nach einem ganz bestimmten Platz unterstrichen. Es gehörte nicht zu ihrem Aufgabenbereich, doch Roberta konnte nicht anders. All ihre Patienten und Patientinnen lagen ihr am Herzen, und sie beschäftigte sich auch mit ihnen, wenn die längst die Praxis verlassen hatten. Dafür wurde sie nicht bezahlt, nicht mit Geld, doch sehr oft mit einem dankbaren Lächeln und mehr, und so etwas erfreute das Herz …

Roberta hatte sich noch nicht einmal richtig in die Krankenakte vertieft, als Nicki zurückkam. Diesmal klingelte sie nicht Sturm, sondern sie benutzte den Hausschlüssel, den Roberta ihr sofort gegeben hatte, als sie in das Doktorhaus im Sonnenwinkel gezogen war. Der allerdings lag meistens irgendwo bei Nicki daheim herum, oder sie war zu bequem, den aus ihrer Tasche hervorzukramen. Ein wenig wunderte Roberta sich.

»Ich habe vorsichtshalber den Hausschlüssel mitgenommen, weil ich nicht wusste, ob du mir die Tür öffnen würdest, nachdem ich mich so dämlich benommen habe. Wegzulaufen, das ist keine Lösung, sagst du doch immer.«

Sie ging auf Roberta zu, umarmte sie heftig und rief: »Es tut mir ja so unendlich leid, ich habe mich benommen wie ein trotziges kleines Mädchen. Aber vielleicht bin ich das ja irgendwo auch noch immer, denn sonst würde in meinem Leben nicht immerzu eine ganze Menge aus den Fugen geraten …, und was ich da über dich gesagt habe, das war ausgesprochen dumm. Dafür, dass dein Exmann Max ein solcher Fremdgänger, ein solcher Schmarotzer war, dafür kannst du nichts, und das mit Lars …, dass der irgendwo im Ewigen Eis verschollen ist, dafür kannst du ebenfalls nichts, und dass du Konstantin von Cleven nicht wolltest, das kann ich irgendwo verstehen. Der ist zwar ein Professor, von feinstem Adel, er sieht gut aus …, aber wenn man den mit Lars vergleicht, dann sieht Konstantin doch recht blass aus, da kann er keinen Blumenpott gewinnen, und wenn …«

Roberta hielt sich die Ohren zu.

»Hör auf, Nicki, bitte hör auf, du musst dich für überhaupt nichts rechtfertigen. Alles ist gut. Ich bin auch nicht böse auf dich, schön, dass du wieder da bist, denn umgekehrt kann ich ja auch sagen, dass ich das wegen Jens nicht hätte sagen dürfen. Jeder hat sein eigenes Leben, für das er verantwortlich ist und in das kein anderer Mensch sich ungefragt einmischen darf.«

Sie klappte ihre Krankenakte zu, steckte sie in eine Schublade, blickte Nicki an, die allerdings immer noch einen ziemlich bedröppelten Eindruck machte. Etwas stimmte mit ihr nicht, man musste keine erfahrene Ärztin sein, um das zu erkennen.

Nicki setzte sich.

»Bekomme ich jetzt von dir vielleicht etwas Alkoholisches?«, wollte sie wissen. »Ich habe das Gefühl, dass ich das jetzt brauche, nicht, um mich zu betrinken, sondern, um daran zu nippen.« Sie stand wieder auf. »Lass mal, ich kümmere mich selbst darum.«

Ach ja, so war Nicki, dachte Roberta, goss sich noch etwas Mineralwasser in ihr Glas, das sie sich mittlerweile geholt hatte, und es dauerte auch nicht lange, da kam Nicki zurück.

»Ich hab mir einen Gin Tonic gemacht, und dagegen ist nichts einzuwenden, wie aus den bunten Blätter bekannt ist, war es das Lieblingsgetränk von Queen Mum, und die ist mit dem regelmäßigen Genuss von Gin schließlich steinalt geworden. Vielleicht gerade deswegen.«

Nicki machte es sich gemütlich, trank genüsslich etwas von ihrem Gin Tonic, blickte Roberta an und sagte leise: »Was du da gesagt hast …, von wegen eifersüchtig oder so, Roberta, das stimmt nicht. Und wahrscheinlich hat es auch überhaupt nichts mit Jens und seiner Tussi zu tun, ich stehe gerade vor den Scherben meines Lebens. Und ich frage mich, warum ich alles falsch gemacht habe, obwohl ich doch eigentlich nicht blöd bin.«

Roberta lehnte sich zurück, sie war nicht erstaunt, denn zwischendurch kam Nicki zu solchen Erkenntnissen, um kurz darauf erneut etwas zu tun, was niemand verstehen konnte.

Nicki erwartete auch keine Antwort, sie trank ein kleines Schlückchen, lehnte sich wieder zurück, sinnierte: »Ich weiß nicht, was in meinem Leben nicht stimmt. Ich hatte schon so viele Chancen und habe keine davon genutzt, ich habe gute Männer vor den Kopf gestoßen.«

Jetzt konnte Roberta nicht anders, jetzt musste sie einhaken: »Du bist aber auch schon von schlechten Männern vor den Kopf gestoßen worden, mehr noch, sie haben dich ausgenutzt, belogen und betrogen. Nicki, was soll das jetzt, warum holst du das gerade hervor? Es ist längst vorbei, und zwischendurch hast du doch daran überhaupt nicht mehr gedacht, was einmal war. Warum gerade jetzt?« Sie verkniff sich, zu sagen, dass es doch mit Jens und dieser Frau zusammenhing, und welch ein Glück, dass sie den Mund gehalten hatte. Das hätte bloß erneut zu einer unnötigen Eskalation geführt. Nicki sagte plötzlich mit ersterbend klingender Stimme: »Ich habe bei mir das erste graue Haar entdeckt, und das in meinem Alter.«

Am liebsten hätte Roberta jetzt angefangen zu lachen, doch sie zwang sich natürlich, dass nicht zu tun, Nicki wäre tödlich beleidigt. Und sie war doch froh, dass sie wieder ganz normal miteinander umgehen konnten. Sie bemerkte nur: »Nicki, deswegen musst du dich wirklich nicht grämen. Du glaubst überhaupt nicht, wie viel graue Haare ich bereits an mir entdeckt habe, und ich bin auch nicht älter als du. Den einen trifft es früher, den anderen später. Und entweder man akzeptiert es und lebt damit, oder man beginnt, seine Haare zu färben.«

»Ja, Roberta, doch im Gegensatz zu mir hast du etwas erreicht im Leben, du bist eine großartige Ärztin mit einer großen Praxis …«

Roberta ließ sie nicht weitersprechen.

»Und du bist Dolmetscherin und Übersetzerin, sprichst mehrere Fremdsprachen fließen, darunter unter anderem auch Japanisch. Du bist gefragt, kennst die halbe Welt. Soll ich noch mehr aufzählen? Nicki, wenn du dich nur wegen des grauen Haares grämst und daraus einen Film drehst über Versagen, Versäumnisse, dann hör bitte davon auf. Wir sehen uns viel zu selten, und ich finde, da gibt es wahrlich andere Themen, über die wir uns unterhalten können.«

»Oder wir können uns einen richtigen Herz-Schmerz-Film ansehen, meinetwegen auch zwei, ganz so, wie in alten Zeiten, mit einem leckeren Getränk, ein, zwei Tüten Chips …, einer großen Packung Taschentücher …«, sie blickte Roberta an, »wie findest du das?«

»Es ist eine ausgezeichnete Idee«, bemerkte Roberta, das wäre zwar jetzt nicht unbedingt ihre erste Wahl für die Gestaltung des Tages, aber warum eigentlich nicht? Sie fügte aber hinzu: »Doch sollten wir uns das nicht für später aufheben? Es ist doch noch ziemlich früh …, vielleicht nach dem Essen?«

Das sah Nicki nicht so eng.

»Ach, was soll es, essen können wir doch zwischen zwei Filmen. Ach, Roberta, ich bin ja so unendlich froh darüber, dass es dich in meinem Leben gibt. Ich war wirklich ziemlich mies drauf, sonst wäre ich nicht so ganz spontan gekommen, und wenn ich daran denke …«

Nicht das wieder! Nicki neigte manchmal leider auch dazu, alles immer wieder zu wiederholen, und so sagte Roberta rasch: »Och, das ist ja interessant, und ich dachte, du bist meinetwegen hier.«

Da sprang Nicki ganz spontan auf, lief zu Roberta, umarmte sie und sagte voller Inbrunst: »Das muss ich ja wohl nicht extra erwähnen, natürlich komme ich in erster Linie deinetwegen, du bist für mich der allerwichtigste Mensch von der ganzen Welt. Und daran wird sich auch niemals etwas ändern, und zwischen das, was uns verbindet, kann sich auch niemand drängen, zwischen uns passt kein Blatt Papier, und selbst wenn dieser Prinz aus …, äh … Dingenskirchen käme, hätte er keine Chance.«

»Zamunda, Nicki, der Prinz aus Zamunda.«

Nicki saß wieder, und eigentlich hatte sie jetzt etwas trinken wollen, doch das ließ sie erst einmal bleiben und sagte: »Aber klar, der Prinz aus Zamunda. Doch sag mal, woher weißt du das eigentlich, Roberta?«

Die musste erst einmal herzhaft lachen, ehe sie antworten konnte: »Weil du mir vor gefühlten Ewigkeiten diesen Film aufs Auge gedrückt hast, schon vergessen?«

Nicki erinnerte sich, fiel in das Lachen ein.

»Das waren schöne Zeiten, Roberta, da war unser beider Welt noch in Ordnung, doch …«

»Heutzutage ist unsere Welt auf andere Weise in Ordnung, doch sie ist immer noch schön.«

Als sie Nickis zweifelnden Blick bemerkte, ergänzte Roberta: »Wir sind gesund, haben keine finanziellen Sorgen, das ist ein großes Privileg, und vor allem die Gesundheit ist das allerwichtigste Gut, denn die kann man mit keinem Geld der Welt bezahlen.«

Nicki nickte.

»Das ist wahr, Roberta, und es ist gut, dass du das jetzt erwähnst, weil man dafür wirklich dankbar sein muss. Leider nimmt jeder Mensch es zunächst einmal als eine Selbstverständlichkeit hin. Erst wenn man krank ist, wird es einem bewusst. Und dann kann man nur froh sein, eine allerbeste Freundin zu haben, die dann auch noch die allerbeste Ärztin von der ganzen Welt ist.«

Es sollte ein Kompliment sein, doch Roberta ging darauf nicht ein. Ihre Stimme klang ernst, als sie sagte: »Doch auch die allerbesten Ärzte von der ganzen Welt können gewisse Krankheiten nicht heilen, sind machtlos.«

Nicki hielt sich die Ohren zu.

»Ich habe zwar davon angefangen, doch bitte lass uns aufhören, ich möchte jetzt nicht über Krankheiten sprechen, auch über nichts Negatives, ich möchte mich daran erfreuen, hier bei dir zu sein, und ich möchte, ganz wie in alten Zeiten, jetzt einen Film sehen, der uns von allem Negativen ablenkt, bei dem wir träumen können, wenigstens für die Dauer des Filmes, denn das, was uns da vorgegaukelt wird, gibt es im wahren Leben eh nicht. Bloß gut, dass man sich nicht wie in früheren Zeiten Kassetten besorgen muss, sondern sich die Filme einfach herunterladen kann. Alles ist nicht gut an all dem Neuen, aber manches schon. So, du, liebste Freundin, sorgst für die Getränke, nicht zu vergessen, für die Chips, und ich suche den Film heraus, nein, vorsichtshalber zwei.«

Sprach es, machte sich sogleich ans Werk, und Roberta besorgte alles, was zu einem solchen Mädelsabend, nein, es war erst Spätnachmittag, dazugehörte …

Ja, es war wirklich schön, dass Nicki da war, ihre chaotische und doch so liebenswerte Freundin mit einem Herzen aus Gold …

*

Inge und Rosmarie trafen sich zufällig auf dem Bauernmarkt, was Inge ein wenig erstaunte. Sie kaufte regelmäßig hier ein, doch bei Rosmarie war die vortreffliche Haushälterin für so etwas zuständig, ohne die Rosmarie, wie sie selbst immer wieder betonte, vollkommen aufgeschmissen wäre.

Sie begrüßten sich, und Inge erkundigte sich: »Was treibt dich hierher?«

»Inge, ich bitte dich, du tust ja geradezu so, als würde ich um den Bauernmarkt einen großen Bogen machen. Zugegeben, es würde mir keinen Spaß machen, mich um Mohrrüben, Kartoffeln oder so was in der Art zu kümmern, das macht Meta. Aber ich laufe gern über den Markt, und vor allem kaufe ich hier gern meine Blumen. Es ist unglaublich, welche Auswahl man auf diesem Stand vorfindet, vor allem auch Sorten, die man in den meisten Blumenläden überhaupt nicht mehr sieht. Und hast du schon vergessen, dass wir in dem Zeltcafé auch mehr als nur einmal gesessen und Kaffee getrunken haben, ohne den du ja nicht leben kannst.«

Inge lachte.

»Schon gut, schon gut, Rosmarie, Asche über mein Haupt, ich freue mich doch immer, dich zu sehen, und warum nicht hier. Das mit dem Kaffee ist übrigens eine gute Idee, zumal der in dem mobilen Café auch ganz ausgezeichnet schmeckt. Es war wirklich eine ganz hervorragende Idee, mit so etwas in unserem verträumten Sonnenwinkel zu starten.«

»Nun, der wird vermutlich nicht mehr lange verträumt bleiben«, wandte Rosmarie ein. Und das ließ Inge aufhorchen. »Wie kommst du denn darauf? Erlenried, unser Sonnenwinkel, ist zugebaut, da gibt es für nichts mehr einen Platz, und das ist auch gut so.«

»Weißt du, Inge, für mich wäre es ebenfalls okay. Ich liebe und lebe mittlerweile sehr gern in dieser Beschaulichkeit, trotz dieses dreisten Überfalls, den werde ich wohl niemals vergessen, so was bleibt einem in den Knochen sitzen. Doch darüber müssen wir nicht mehr reden. Ich wünsche mir nur sehr, dass man diese Verbrecher bald schnappt. Aber …«

Rosmarie beendete ihren Satz nicht, weil gerade eine Mitbewohnerin des Sonnenwinkels vorüberging, die überall als Klatschbase verschrien war. Diese Frau hatte ihre Ohren wirklich überall und trug genüsslich jede Neuigkeit, die sie aufgeschnappt hatte, herum. Sowohl Inge als auch Rosmarie konnten solche Frauen nicht ausstehen, und sie wollten von denen auch nicht informiert werden.

Rosmarie zog Inge ein wenig beiseite, dann sagte sie mit deutlich leiserer Stimme, obwohl die Frau längst vorüber war: »Inge, ich weiß nichts Bestimmtes, doch ich habe Gesprächsfetzen eines Telefonats aufgeschnappt, das Heinz mit jemandem führte, und da ging es um das Grundstück unterhalb der Felsenburg, und da fielen auch die Worte Verkauf und bedeutende Geldsummen. Natürlich habe ich Heinz sofort danach gefragt, doch der hielt sich bedeckt.

Nun ja, das muss er auch, schließlich ist er als Notar zur Schweigepflicht verdonnert, da kriegt man aus ihm nie was heraus, da ist er verschlossen wie eine Auster. Aber du kannst mir sagen, was du willst, da ist etwas im Busch.«

Inge schüttelte den Kopf. »Rosmarie, das kann nicht sein. Gäbe es da tatsächlich etwas, dann wüsste ich es. Wie dir bekannt ist, sind meine Mutter und Piet van Beveren, der Besitzer des Grundstücks, miteinander befreundet. Und deswegen hätte er ihr längst etwas gesagt, gäbe es da etwas. Und meine Mutter hätte es wiederum mir erzählt, denn wir haben keine Geheimnisse voreinander, auch wenn es manchmal Differenzen zwischen uns gibt, weil Mama nicht alles nachvollziehen kann, was ich tue.«

»Ihr seid halt grundverschieden, Inge. Doch wenn Piet Teresa gebeten hat, darüber Stillschweigen zu bewahren?«, wandte Rosmarie ein.

Um dazu etwas zu sagen, musste Inge nicht lange überlegen.

»Dann allerdings würde Mama schweigen wie ein Grab, da käme kein einziges Wort über ihre Lippen, und noch nicht einmal Papa wüsste etwas davon.«

»Da hast du es, Inge. Doch wir müssen uns jetzt darüber nun wirklich nicht die Köpfe heißreden. Bist du in Eile, oder hast du Zeit für einen Kaffee?«

Viel Zeit hatte sie eigentlich nicht, doch die musste jetzt sein, und, wie gesagt, mit Kaffee konnte man sie immer locken. »Gut, einverstanden, aber nicht lange.«

Die beiden Frauen liefen zu dem mobilen Café, bei dem sich die Betreiber wirklich sehr viel Mühe gaben, es ansprechend aussehen zu lassen.

Sie setzten sich an einen etwas entfernter stehenden Tisch, bestellten ihren Kaffee, und nachdem der serviert worden war, erkundigte Rosmarie sich, nicht aus Neugier, sondern weil es sie interessierte, mehr noch, berührte: »Und wie läuft es mit Werner und dir? Habt ihr euch ausgesprochen?«

Inge antwortete nicht sofort, weil es ihr mittlerweile bereits peinlich war, dass Rosmarie von dem ganzen Hickhack immer alles mitbekam. Aber mit jemandem musste man doch über seine Probleme reden können, und da bot Rosmarie sich an. Nicht, weil sie familiär miteinander verbandelt waren, sondern weil sie inzwischen eine schöne Freundschaft verband.

Inge seufzte.

»Ach, weißt du, Rosmarie, das mit mir und Werner ist so was wie die unendliche Geschichte. Wir kriegen es einfach nicht gebacken, aber wir …, wir haben wenigstens Burgfrieden miteinander geschlossen.«

»Und wieder mal die eigentlichen Probleme unter den Tisch gekehrt«, fügte Rosmarie hinzu.

Inge fühlte sich ertappt, und deswegen reagierte sie auf diese Worte ein wenig unwirsch. »Rosmarie, du redest wie meine Mutter. Hast du dich mit ihr abgesprochen?«

Rosmarie blieb ruhig.

»Nein, natürlich nicht, Teresa würde niemals über Dritte sprechen, schon gar nicht über die Familie. Da hält sie sich vollkommen heraus. Ich schließe das aus all den Gesprächen, die wir miteinander geführt haben und die sich immer wieder nur um diese eine Sache drehen, um Werner und dich und dass zwischen euch eine Ungleichheit besteht. Weißt du, Inge, irgendwie kann ich es einfach nicht verstehen, warum du den Stier nicht bei den Hörnern packst. Von dir habe ich doch, dass man Probleme nicht nur aussprechen, sondern sie auch lösen soll. Ich habe es verinnerlicht, mich an deine Worte gehalten, und jetzt stehe ich mit Heinz gut da. Zugegeben, es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein, doch zwischen uns hat sich grundlegend etwas geändert, wir sind nicht mehr diese Zweckgemeinschaft, die wir leider früher waren, sondern unser Miteinander wird immer besser, und es sind Gefühle im Spiel, und auch das ist etwas, was es früher bei uns nicht gab. Es ist auf jeden Fall wunderschön, aber entschuldige bitte, es ist nicht angebracht, jetzt über Heinz und mich zu reden, es geht um dich und Werner. Ich will dir jetzt nicht zu nahe treten, doch kann ich es so verstehen, dass ihr so tut, als sei die Welt wieder in Ordnung?«

Es war Inge peinlich, doch das musste sie leider zugeben. Sie entschuldigte sich sofort: »Was soll ich denn machen? Mich von Werner trennen? Ihn zwingen, seine Reisetätigkeit aufzugeben? Er hat es ja versucht, und du hast ebenfalls mitbekommen, welch katastrophale Folgen das für uns hatte. Mit Werner war nichts mehr anzufangen, und deswegen schlug ich ihm ja vor, wieder in sein altes Leben einzutauchen.« Sie machte eine kurze Pause, trank etwas. »Freilich dachte ich an Reisen hin und wieder, nicht, dass er voll in sein altes Leben eintauchen würde.«

Rosmarie bestellte sich noch einen Kaffee, dann wandte sie sich an Inge. »Du hast ihm einen kleinen Finger gereicht, doch der gute Werner nahm die ganze Hand, nein, mehr noch«, korrigierte sie sich sofort. »Er nahm beide Hände.«

Es hörte sich schlimm an, doch so war es nun mal, sie konnte Rosmarie nicht widersprechen, die in dieser Hinsicht sehr Inges Mutter ähnelte, die sprach auch das aus, was ihr am Herzen lag.

Inge war unglaublich froh, als Rosmarie unvermittelt das Thema wechselte. »Sag mal, Inge, kennst du die Frau da drüben? Die starrt dich schon eine ganze Weile an wie ein hypnotisiertes Kaninchen.«

Inge blickte vorsichtig in die angedeutete Richtung. Da stand tatsächlich eine junge Frau, die unverwandt zu ihr blickte und auch nicht auswich, als ihr bewusst werden musste, dass über sie geredet wurde.

Die Frau war jung, mochte vielleicht in Rickys Alter sein, sie war eine attraktive Erscheinung mit ihrem kinnlangen blonden Haar, der schlanken Figur und dem für die sonstige Erscheinung doch recht üppigen Dekolletee. Inge konnte nicht erklären, warum sie beim Anblick dieser Frau ein Gefühl des Unbehagens beschlich. Das war so groß, dass sie ihren Blick abwandte, rasch etwas trank und murmelte: »Nein, ich kenne diese Frau nicht, ich habe sie auch noch nicht gesehen.«

Damit gab Rosmarie sich zufrieden.

»Kann ja sein, dass sie neu in den Sonnenwinkel gezogen ist, hier und da werden ja Häuser frei und dann entweder verkauft oder vermietet. Vielleicht hat sie dich ja auch überhaupt nicht angesehen, und ich habe mir da was eingebildet.«

Hatte sie nicht, Inge entschloss sich dennoch, das jetzt nicht zu bestätigen. Das unangenehme Gefühl blieb, und so dauerte es auch nicht lange, bis Inge sich von Rosmarie verabschiedete mit den Worten, nun unbedingt einkaufen zu müssen.

»Solange Pamela noch bei uns ist, will ich sie verwöhnen und all ihre Lieblingsgerichte kochen.«

Rosmarie lachte.

»Du weißt schon, dass das Bestechung ist, nicht wahr?« Sie hätte jetzt am liebsten gefragt, warum sie nicht Werners Lieblingsgerichte kochte, doch das ging zu weit, das ging sie nichts an. Ein Satz fiel ihr ein, hatte sie ihn von Teresa gehört oder gar von Inge? Es spielte überhaupt keine Rolle, doch er traf zu, und deswegen gefiel er ihr so sehr – jeder hat für alles seine Gründe.

Sie riefen die freundliche junge Bedienung, gewiss eine Studentin, die nebenbei etwas verdienen wollte. Rosmarie bestand darauf zu bezahlen, also bedankte Inge sich, und sie bekam mit, dass Rosmarie ein großzügiges Trinkgeld gab. Die junge Frau freute sich, und daraus konnte man erkennen, dass sie so reichlich normalerweise nicht bedacht wurde. Rosmarie schmiss mit dem Geld zwar längst nicht mehr so herum wie früher, doch sie ging noch immer recht großzügig damit um, allerdings das in erster Linie für soziale Zwecke, und besonders das Hohenborner Tierheim wurde reichlich bedacht. Und das war auch überhaupt kein Wunder, stammten doch ihre beiden geliebten Vierbeiner Beauty und Missie, die eigentlich Miss Marple hieß, von eben diesem Tierheim.

Sie traten aus dem umrandeten Platz, als Inge einen vorsichtigen Blick in die Richtung warf, wo die Frau gestanden hatte, aber von der war nichts mehr zu sehen. Das erleichterte sie, warum auch immer, ein wenig.

Die beiden Frauen umarmten sich, verabschiedeten sich voneinander, und während Inge sich daranmachte, ihre Einkaufsliste abzuarbeiten, ging Rosmarie zum Blumenstand.

Es ging sie ja wirklich nichts an, doch irgendwie verstand sie Inge nicht, die war doch sonst so tough, warum konnte sie sich ihrem Ehemann gegenüber nicht durchsetzen und eine klare Ansage machen? Werner war ein toller Mann, gewiss, doch der konnte sich glücklich schätzen, eine Frau wie Inge zu haben. Ohne die wäre er niemals das geworden, was er jetzt darstellte.

»Was darf es sein?«, wurde sie von einer freundlichen Stimme aus ihren Gedanken gerissen.

Tja, was sollte es sein. Ursprünglich hatte sie gedacht, sich Rosen zu kaufen. Doch warum eigentlich? Die blühten üppig in ihrem Garten.

Hinter ihr standen weitere Leute, die ebenfalls Blumen kaufen wollten, ebenso welche rechts und links. Da konnte sie nicht lange überlegen, das hätte sie vorher tun sollen. Sie machte es sich einfach.

»Ach, wissen Sie was? Das überlasse ich Ihnen, stellen Sie mir einfach etwas zusammen, woran ich mich erfreuen kann. Schöne und auch ausgefallene Blumen haben Sie schließlich genug, eine schöner als die andere.«

So etwas hörte die Floristin gern, es war zufällig auch die Chefin, die Rosmarie gerade bediente. Es gab noch zwei weitere Mitarbeiterinnen, und alle hatten sie die Hände voll zu tun. Sofort machte sich die junge Frau ans Werk, und da sie Rosmarie auch bereits mehr als nur einmal bedient hatte, kannte sie deswegen mittlerweile deren Geschmack. Und es dauerte nicht lange, da überreichte sie Rosmarie einen Blumenstrauß, der unglaublich schön war und den sie selbst sich niemals so zusammengestellt hätte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, der Floristin zu überlassen, welche Blumen sie da zusammenband. Sie bedankte sich, bezahlte, und dann ging sie, bewaffnet mit ihren Blumen, rasch über den Marktplatz, um nach Hause zu kommen. Dort erwartete sie zwar niemand, denn Heinz konnte es nicht lassen, täglich nach Hohenborn in sein Notariat zu gehen. Dabei hatte auch er versprochen, dort nicht mehr so oft aufzutauchen. Aber es war wohl so, dass Männer ohne ihre Arbeit nicht leben konnten, glaubten, unentbehrlich zu sein. Sie hatte Glück, dass der Arbeitsplatz ihres Mannes in Hohenborn war, dass er nicht durch die ganze Welt kurvte wie Werner. Sie wollte sich gerade wieder in solche Gedanken vertiefen, als sie Teresa von Roth entdeckte, die auf den Markt gekommen war, um für sich und ihren Magnus etwas Obst zu kaufen.

Das war für beide Frauen wirklich eine freudige Überraschung. Teresa hatte längst eine ganz andere Meinung von Rosmarie, und das hatte nichts mit den sozialen Projekten zu tun, an denen sie hier und da Hand in Hand arbeiteten, sondern damit, dass Rosmarie sich so sehr zu ihrem Vorteil verändert hatte. Und Rosmarie bewunderte die feine Dame über alles.

»Ist das ein wunderschöner Blumenstrauß, Rosmarie«, rief Teresa entzückt, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Der ist ja wie gemalt.«

Rosmarie war ein spontaner Mensch, sie drückte der verblüfften Teresa den Blumenstrauß in die Hand und sagte: »Weißt du was, Teresa, ich schenk ihn dir. Du bist eine so tolle Frau, du engagierst dich auf so großartige Weise, dich müsste man täglich nicht nur mit Blumen beschenken.«

»Ja, aber du hast die Blumen doch für dich gekauft.«

»Teresa, kein Aber, dann hole ich mir eben aus dem Garten ein paar Rosen für die Vase, die wollte ich ursprünglich eh kaufen.« Und das war nicht einmal gelogen. Eines hatten Teresa von Roth und Rosmarie Rückert gemeinsam, sie redeten beide nicht um den Brei herum, und sie zierten sich nicht.

Teresa begann zu strahlen und sagte: »Ja, dann bedanke ich mich bei dir von ganzem Herzen, Rosmarie, du hast mir eine ganz große Freude gemacht, und jetzt laufe ich hier auch nicht länger herum, sondern eile nach Hause, um die Blumen in eine Vase zu stellen. Magnus wird staunen.«

Das war auch etwas, was Rosmarie immer auffiel, Teresa schloss ihren Ehemann immer mit ein, egal, was geschah, und das war fantastisch, doch Magnus von Roth war auch ein ganz besonderer Mann, nein, nicht nur er, besondere Menschen waren sie doch beide, korrigierte Rosmarie sich sofort.

»Ich freue mich, dass ich dir eine Freude machen konnte, Teresa. Wir sehen uns ja morgen im Tierheim, ich würde Sophia und dich ja mitnehmen, doch ich habe vorher noch einen anderen Termin.«

Teresa winkte ab.

»Mach dir mal um uns keine Sorgen, Rosmarie, noch bin ich fit genug, um mit dem Auto zu fahren, und seit Piet van Beveren mir diesen kleinen, heißen Flitzer zur Verfügung gestellt hat, bin ich auch von Magnus unabhängig, muss nicht unser Auto nehmen, was für ihn allerdings kein Problem wäre. Und wir sind nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, was wiederum ebenfalls kein Drama wäre. Alles ist gut.«

Sie kicherte plötzlich. »Ich glaube, Claire hat da ein wenig mitgemischt, denn sie kannte schon vorher mein Faible für diesen Wagen.«

»Teresa, das glaube ich dir sofort. Frau Dr. Müller, ach nein, jetzt heißt sie ja van Beveren, ist eine tolle Frau, er hat bei ihr schon in die Glückskiste gegriffen.«

Teresa mochte Claire sehr, aber Piet noch mehr, und deswegen rief sie auch sofort: »Rosmarie, da muss ich widersprechen, sie hat das große Los gezogen«, sie winkte ab, »aber, was soll das eigentlich, Claire und Piet sind zwei Menschen, die sich lieben, die glücklich miteinander sind. Und wir alle müssen uns daran erfreuen, denn eine so große, eine so ehrliche Liebe, die sieht man nicht alle Tage. Für Piet freut es mich besonders, dass Claire die Frau an seiner Seite ist, denn auch wenn er für die Außenwelt den coolen Geschäftsmann spielt, der er ja auch ist: Es hat ihn sehr, sehr getroffen, dass dieser Brandstifter, den man leider noch immer nicht gefasst hat, vielleicht auch niemals fassen wird, alles zerstört hat, die ›Sunlight-Klinik‹, das ›Sunlight-Hotel‹ mit Spa, Tennis- und Golfplätzen, mit …« Sie hörte auf. »Es macht keinen Sinn, alles aufzuführen, was in diesem Feuer zerstört wurde.«

Doch für Rosmarie war das jetzt ein Stichwort, das zu hinterfragen, was sie bei diesem Telefongespräch ihres Mannes aufgeschnappt hatte. Sie erkundigte sich einfach, ob da unterhalb der Felsenburg etwas im Gange sei.

Teresa von Roth wurde nicht umsonst überall als die Grande Dame bezeichnet, sie richtete sich auf unnachahmliche Weise ein wenig auf, ihr feines, aristokratisches Gesicht bekam einen noch stolzeren Ausdruck, als sie sagte: »Rosmarie, du weißt doch, dass ich niemals über etwas rede, was mich nichts angeht.«

So, jetzt hatte sie ihr Fett weg. Eigentlich hätte sie es sich auch denken können, dass Teresa so reagieren würde. Rosmarie errötete, entschuldigte sich.

»Du musst dich nicht entschuldigen, Fragen sind erlaubt, man muss sie bloß nicht alle beantworten.«

Das konnte alles und nichts bedeuten, Teresa beugte sich nach diesen Worten ein wenig vor, umarmte Rosmarie, bedankte sich noch einmal für die wunderschönen Blumen. Sie sagte zum Glück nicht das, was die meisten Menschen in solchen Fällen hinzufügten …, es sei doch nicht nötig gewesen.

»Dann bis morgen, Rosmarie«, waren Teresas letzte Worte, ehe sie über den Marktplatz ging, auf dem es vor Menschen nur so wuselte. Doch Teresa stach aus allen heraus, sie war schon etwas Besonderes. Bewundernd blickte Rosmarie ihr nach, dann seufzte sie, Inge war um eine solche Mutter wirklich zu beneiden. Wusste sie eigentlich, wie einzigartig Teresa war?

Das war eine Frage, die sie Inge nun nicht stellen konnte, als von Teresa nichts mehr zu sehen war, machte sie sich ebenfalls auf den Heimweg. Irgendwie fühlte es sich so richtig gut an, Teresa diese unverhoffte, spontane Freude gemacht zu haben. Es gehörte wirklich nicht viel dazu, jemanden glücklich zu machen.

Warum kam einem eigentlich das nur so selten in den Sinn? Warum wartete man auf Geburtstage, Namenstage, andere Festlichkeiten, auf Einladungen und mehr?

Das war eine berechtigte Frage, doch Rosmarie kam nicht dazu, länger darüber nachzugrübeln, denn plötzlich stand Meta vor ihr, mit Beauty und Missie an der Leine, die sie erst einmal freudig begrüßten.

»Ich habe die Hunde mitgenommen, weil ich nicht wusste, wann Sie wieder nach Hause kommen würden. Und ich kann mit meinen Einkäufen nicht zu lange warten, dann sind die besten Sachen weg, gerade beim Fischhändler.«

Rosmarie richtete sich auf.

»Tut mir leid, Meta, ich habe mich ein wenig verplaudert.« Meta wusste, weswegen Rosmarie auf den Markt wollte und erkundigte sich: »Und wo sind die Blumen?«

Rosmarie lachte.

»Meta, das ist eine lange Geschichte, aber ich nehme die Hunde mit nach Hause, dann haben Sie für die Einkäufe mehr Bewegungsfreiheit.«

Damit war Meta sofort einverstanden, und wie es schien, hatten Beauty und Missie auch überhaupt nichts dagegen, den Rückweg anzutreten, dabei waren sie mit Meta gern unterwegs, und sie mochten auch den Wochenmarkt, weil man da so herrlich herumschnüffeln konnte.

Dafür gab es nur eine Erklärung.

»Ja, ja, ihr kennt mich«, lachte sie, »ihr wisst natürlich ganz genau, dass ihr von mir gleich ein paar Leckerli bekommen werdet.«

Rosmarie hatte ins Schwarze getroffen, denn Missie und Beauty hatten es auf einmal nicht nur sehr eilig, nein, sie begannen mit dem Schwanz zu wedeln und in freudiger Erwartung zu winseln.

Sie zerrten an ihren Leinen, und Rosmarie hatte Mühe, ihnen zu folgen, ein wenig kam sie sich wie Flying Dutchman vor, der fliegende Holländer …

*

Manchmal passierten im Leben die seltsamsten Geschichten, und die waren so schräg, dass man sie sich nicht ausdenken konnte. Und das geschah gerade Ulrike, die sinnend durch das Haus lief, überlegte, wie sie alles am besten zusammenpacken sollte, und dabei kam ihr in den Sinn, dass sie einen Großteil ihrer Möbel am liebsten überhaupt nicht mitnehmen wollte. Sie gefielen ihr nach wie vor, hier in diesem Haus, und sie hatten auch in ihre frühere Wohnung gepasst, die sie fluchtartig verlassen hatte wegen eines Mannes, der es nicht verdient hatte, dass man sich auch nur an seinen Namen erinnerte. Doch für die Mühle, da stellte sie sich eigentlich etwas anderes vor. Aber die Möbel waren teuer gewesen, und auch wenn sie eine Menge Geld verdiente, so war sie doch keine Verschwenderin. Sie würde es halt passend machen müssen. Sie hatte es gern, wenn man alte Möbel mit modernen kombinierte, und alles, was antik war, das würde sie niemals auswechseln, ihre Bilder, die an den Wänden hingen, ebenfalls nicht.

Mitten in ihre Überlegungen hinein klingelte es an der Haustür. Seit diesem Zwischenfall mit dieser merkwürdigen Frau öffnete sie nicht mehr so unbefangen, sondern eher vorsichtig, und sie stellte sich auch so hin, dass man nicht an ihr vorbeistürmen konnte. Es war ein Konzept, wenn jemand ihr wirklich Böses wollte, der würde sie beiseiteschieben, zusammenschlagen, und schon war er im Haus. Vor der Haustür stand eine Fremde, ausnehmend gut gekleidet, sie trug, das bemerkte Ulrike auf einen Blick, erlesenen Schmuck, und in der Einfahrt zum Haus stand ein italienischer Sportwagen, der ein jedes Männerherz höherschlagen ließ.

Das war eine Überraschung, von der Ulrike sich erst einmal erholen musste, sie kannte die Frau nicht, auch niemanden, der praktisch eine mittlere Eigentumswohnung in bester Lage als Auto durch die Straßen fuhr.

Die Fremde lächelte.

»Frau Dr. Scheibler?«, erkundigte sie sich mit sehr angenehm klingender Stimme, und als Ulrike das bestätigte, stellte die Frau sich als Maja Greifenfeld vor, und bei dem Namen Greifenfeld klingelte es bei Ulrike, doch nachdenken konnte sie nicht darüber, denn die Frau erklärte ihr, sie sei von der Vermieterin geschickt worden und ob sie sich vielleicht unangemeldet die Wohnung ansehen dürfe, an deren Mietung sie sehr interessiert sei.

Ulrike hatte nichts dagegen, ließ die Frau herein, führte sie durchs Haus, alles gefiel ihr, doch als sie angesichts verschiedener Möbel in Entzückensschreie ausbrach, wagte Ulrike einzuwenden, dass das Haus unmöbliert zu vermieten sei.

»Ich weiß«, bekam sie zur Antwort, »aber genau wie diese Einrichtung stelle ich mir das Haus, in dem ich leben möchte, vor, nun ja, diese alten Möbel ausgeklammert, und Bilder an den Wänden möchte ich auch nicht haben. Ich liebe es pur.«

Sie ging zu einem der Designersofas, streichelte beinahe andächtig darüber, plötzlich drehte sie sich um und erkundigte sich: »Könnten Sie sich vielleicht vorstellen, mir alles zu verkaufen, natürlich bis auf die Antiquitäten und Bilder? Der Rest ist genau mein Stil, ich würde nicht einmal die Möbel umstellen.«

Ulrike sagte nichts, sie, die sich mit der Psyche von Menschen eigentlich bestens auskannte, fühlte sich ein wenig überfordert. Die Frau fuhr fort: »Ich meine es ernst, und am besten wäre es natürlich, ich könnte bereits am Wochenende einziehen.« Jetzt musste Ulrike aber doch eine Äußerung machen.

»Das ist in drei Tagen«, ächzte sie, was allerdings dieser Maja nichts ausmachte. »Ich weiß, aber es ist alles eine Frage der Organisation, ich könnte Ihnen Personal bereitstellen, und ach ja, natürlich komme ich auch für die Kosten auf, die Sie haben werden, wenn Sie übergangsweise in ein Hotel ziehen müssen. Für mich ist es wichtig, so schnell wie möglich einzuziehen, und dass mir hier alles so gut gefällt, das ist natürlich ein Glückstreffer, nicht nur für mich, ich werde Sie fürstlich entlohnen.«

Diese Frau schmiss mit dem Geld nur so um sich, dass es Ulrike richtig unheimlich wurde. Sie bot der Frau erst einmal einen Platz und etwas zu trinken an, was auch dankend angenommen wurde, doch dann ging es mit der Euphorie weiter, diese Frau wollte alles, war bereit, viel dafür zu bezahlen. Jetzt konnte Ulrike sich wirklich nicht mehr des Eindrucks erwehren, dass es sich hier um eine Person mit einer bipolaren Störung handelte, die sich gerade in ihrer manischen Phase befand, und in der war man wie entfesselt.

War die Frau eine Gedankenleserin?

Unvermittelt sagte sie: »Ich bin nicht verrückt, ich weiß schon, was ich tue. Bislang war ich die Chefin der Entwicklungsabteilung in der elterlichen Firma.«

Und da fiel es Ulrike wie Schuppen von den Augen.

Natürlich, deswegen war ihr der Name so bekannt vorgekommen. Der Name Greifenfeld war durch alle Medien gegangen, als bekannt geworden war, dass dieser traditionsreiche Familienbetrieb verkauft werden sollte. Und es war auch bekannt geworden, dass die Geschwister als einzige Erben Differenzen miteinander hatten.

Darauf ging Maja Greifenfeld jetzt auch ein.

»Mein Bruder kommt ganz auf meinen verstorbenen Vater. Er hatte vor, mich auszubooten und mit Almosen abzuspeisen, auf die Weise, wie Papa es mit unserer verstorbenen Mutter gemacht hat. Aber nicht mit mir, er ist war älter als ich, doch ich bin klüger. Ich durchschaute sofort seine Intrige, habe mich an den Käufer der Firma gewandt, meine Bedingungen ausgehandelt, und da saß ich zum Glück am längeren Hebelarm, weil nämlich alle Patente, die den eigentlichen Wert der Firma darstellten, durch meine Hände gingen, ich darüber Bescheid wusste. Ich war in einer guten Position und habe den Spieß umgedreht, siebzig Prozent des Kaufpreises gingen an mich, dreißig Prozent an meinen Bruder. Darauf ist man eingegangen, und mein Bruder hatte keine andere Wahl, er musste ebenfalls zustimmen, wollte er den Deal nicht platzen lassen. Er brauchte das Geld für seinen kostspieligen Lebensstil.«

Ulrike sagte nichts dazu. Manche würden den Coup vielleicht clever nennen, Ulrike fand allerdings, dass diese Frau ihrem Bruder in nichts nachstand. Doch es dauerte nicht lange, da musste sie ihre Meinung revidieren, denn Maja Greifenfeld fuhr fort: »Für mich möchte ich keinen einzigen Cent mehr haben als mein Bruder. Mit dem, was ich ausgehandelt habe, können die Angestellten und Arbeiter bezahlt und abgefunden werden. Das wollte mein Bruder nicht, er lebt nach der Devise, nach mir die Sintflut, und was gehen mich die anderen an. Mit dem Löwenanteil an mich war er, wenn auch, wie gesagt, zähneknirschend, einverstanden. Er hätte alles platzen lassen, weil Fremde nichts bekommen sollten, so blieb es wenigstens in der Familie, und gewiss hatte er auch im Hinterkopf, mir vieles wieder abschwatzen zu können. Es ist alles geregelt, niemand bleibt auf der Strecke, und der Rest, der noch übrig bleibt, sollte es der Fall sein, der fließt einer Stiftung für Menschen mit dem Downsyndrom zu.«

Als sie Ulrikes erstaunten Blick bemerkte, erklärte sie, dass sie einen kleinen Bruder mit diesem genetisch bedingten Defekt hatte, und der war von ihrem Vater vollkommen abgelehnt und abgegrenzt worden, weil man vorzeigbar sein musste.

»Und wo ist dieser Bruder jetzt?«, erkundigte Ulrike sich, denn es war in den Medien immer nur von diesem Geschwisterpaar die Rede gewesen.

»Er ist tot«, antwortete Maja traurig, »in einem Augenblick der Unachtsamkeit ist er als kleiner Junge in den Pool gefallen und ertrunken, und ich glaube, mein Vater war froh darum.«

Das war eine schwere Anschuldigung, auf die Ulrike nicht eingehen wollte, es ging sie ja auch nichts an. Und so wechselte sie rasch das Thema. »Und weswegen möchten Sie ausgerechnet in den Sonnenwinkel, Frau Greifenfeld?«

Jetzt hatte Maja Tränen in den Augen.

»Weil ich hier an diesem See die schönste Zeit meines Lebens verbracht habe, zusammen mit meiner Mutter und meinen beiden Brüdern. Damals gab es allerdings noch nicht diese Siedlung hier. Doch der See, der übte schon damals eine ganz große Anziehungskraft auf mich aus. Ich möchte zur Ruhe kommen, mein Leben neu überdenken. Ich denke, dass ich es hier tun kann mit all den schönen Erinnerungen. Alles ist so friedlich, und über allem wacht diese beeindruckende Felsenburg, die mich bereits früher so sehr faszinierte, die habe ich allerdings strahlender, nicht so düster in Erinnerung. Doch es macht nichts, sie ist halt eine in die Jahre gekommene alte Dame. Das Gelände unterhalb der Felsenburg sah allerdings ebenfalls anders aus.«

Ulrike erzählte ihr von dem Brand, bei dem alles zerstört worden war, und dem die Felsenburg auch zu verdanken hatte, dass sie so geschwärzt war.

Doch das hielt Maja nicht ab, im Gegenteil, sie freute sich, dass die Felsenburg das Feuer überstanden hatte und sah es als ein gutes Zeichen. Und das wiederum veranlasste sie, erneut in Verhandlungen mit Ulrike zu treten, und der wurde ganz schwindelig, als Maja eine Summe in den Raum warf, die sie sofort veranlasste zu sagen: »Frau Greifenfeld, wir müssen uns, wenn überhaupt, auf einen realistischen Betrag einigen. Wenn, dann verkaufe ich Ihnen kein Gold, sondern gebrauchte Möbel.«

»Von denen beispielsweise das Sofa eine Rarität ist«, wandte Maja ein. »Es wurde nur in einer ganz begrenzten Anzahl hergestellt, bekam alle Designpreise, die man nur bekommen kann. Und man kann sich bis heute ein Bein ausreißen, um an ein solches Sofa heranzukommen, keine Chance.«

Es traf zu, was Maja sagte. Sie hatte damals gerade ein fettes Honorar überwiesen bekommen, und deswegen hatte sie sich dieses Sofa gegönnt, das in der Anschaffung wirklich sehr teuer gewesen war. Doch wenn sie ehrlich war, dann war die Vorfreude, sich das Sofa zu kaufen, größer gewesen als die Freude danach, als es in ihrer Wohnung stand. Aber so war es ja meistens, dass die Euphorie meistens verflog, hatte man das Objekt seiner Begierde erst einmal in seinem Besitz.

Irgendwann wurde Ulrike klar, dass diese Maja Greifenfeld es wirklich ernst meinte, geradezu besessen davon war, in dieses Haus einzuziehen, das Inventar zu erwerben. Ein bisschen schräg war das schon.

»Frau Greifenfeld, haben Sie denn keine eigenen Möbel, die sie mitnehmen wollen? Schließlich leben Sie doch jetzt auch in einer Wohnung.«

Maja lachte.

»Nicht nur in einer. Ich wohne, auch wenn es für mich allein eigentlich viel zu groß ist, in unserem Elternhaus. Doch zöge ich dort aus, würde mein Bruder es sofort veräußern, und das möchte ich nicht. Es ist seit Generationen im Familienbesitz, so etwas gibt man ohne Not nicht her. Außerdem besitze ich Appartements in New York, in Paris, ein Haus auf Lanzarote, weil ich diese Insel ganz besonders mag. Und auch hier möchte ich nicht ständig wohnen, es soll ein Zufluchtsort sein, an dem ich mich hin und wieder aufhalten werde, an dem ich mich wohlfühle, an dem mir alles vertraut ist, an dem ich sofort ankommen kann. Und dass ich die wirklich schönen antiken Möbel und die Bilder nicht haben möchte, liegt ganz einfach daran, dass mein Elternhaus vollgestopft davon ist. Das ist wundervoll, doch das muss ich nicht überall haben.« Sie blickte Ulrike an. »Werden wir uns handelseinig? Es würde viele Probleme lösen, ich müsste das Haus nicht neu einrichten. Es ist so perfekt für mich.«

Es war eine ganz unglaubliche Geschichte, vor allem war sie verrückt, denn vor Majas Besuch hatte sie ja selbst daran gedacht, dass eigentlich nur all das in die Mühle passte, was Maja nun nicht haben wollte. War es eine Fügung des Schicksals, oder war es nur ein Zufall?

Es war nicht der Augenblick, jetzt darüber zu philosophieren. Es wurde eine Entscheidung von ihr erwartet.

Maja spürte, dass Ulrike mit sich kämpfte, sie war clever genug, die jetzt nicht zu überfordern.

»Frau Dr. Scheibler, ich mache Ihnen einen Vorschlag, weil ich auch nicht möchte, dass Sie sich bedrängt fühlen. Sie überschlafen es, und ich komme morgen in aller Frühe zurück. Ich hatte eh nicht damit gerechnet, gleich etwas zu finden und habe mir in Hohenborn ein Hotelzimmer genommen. Und von der Summe, die ich Ihnen genannt habe, lasse ich mich nicht abbringen, es ist es mir wert. Und ich habe so viel Geld, dass ich es eh in diesem Leben nicht mehr ausgeben kann.« Sie erhob sich. »Können wir uns vielleicht schon um …, sagen wir mal, neun Uhr treffen? Das Haus nehme ich so oder so, und das werde ich der Vermieterin auch gleich noch sagen, ehe es mir ein anderer Interessent wegschnappt. Der Sonnenwinkel ist schließlich begehrt. Und kann ich auch sagen, dass ich unter Umständen schon vorher einziehen werde?«

Ulrike nickte, Maja freute sich, und da nun alles gesagt war, wollte sie rasch zu der Vermieterin gehen. Hier war heute eh nichts mehr zu machen.

Ulrike begleitete ihre Besucherin zur Tür, blieb stehen, weil sie bemerkte, dass Angela von Bergen gerade zu ihr kommen wollte. Sie bekamen beide mit, wie Maja Greifenfeld mit ihrem heißen Geschoss und dröhnendem Motor davonschoss.

Angela hatte Ulrike erreicht, die noch immer ziemlich verdattert war, begrüßte sie und erkundigte sich: »Sag mal, Ulrike, was war das denn? Ich wusste ja überhaupt nicht, dass du in solchen Kreisen verkehrst, in denen man sich derartige Spielzeuge erlaubt.«

»Tue ich doch überhaupt nicht, Angela, doch bitte, tue mir jetzt einen Gefallen. Bitte, kneife mich mal, damit ich weiß, dass das, was ich gerade erlebte, wahr ist, das war nämlich außerirdisch.«

Jetzt machte Ulrike es aber spannend, und Angela war ein wenig verwundert, weil sie ihre neue Freundin so überhaupt nicht kannte.

Sie kniff sie, zuerst sanft, dann, nach Aufforderung, fester, Ulrike schrie: »Autsch«, dann bat sie ihre Besucherin ins Haus. Es war gut, dass Angela gekommen war, die brachte Normalität mit sich.

Als sie saßen, bemerkte Angela: »Nun sag endlich, was los ist, Ulrike, was es mit dieser Besucherin in einem Auto, das ich zuvor allenfalls auf einem Foto gesehen habe, auf sich hat. Die hat dich ja vollkommen durcheinander gebracht, ehrlich mal, so kenne ich dich nicht. Du bist vollkommen durch den Wind.«

»Das wärst du an meiner Stelle ebenfalls, wetten?« Dann erzählte Ulrike der staunenden Angela, was sich gerade ereignet hatte. Und danach war es erst einmal still.

Zur Bekräftigung erwähnte Ulrike noch einmal: »Und kaum zu glauben ist, dass sie gerade das nicht haben möchte, was ich auf jeden Fall behalten will. Ist das nicht verrückt?«

Es war so. »Du hast doch hoffentlich sofort zugestimmt, denn ein solches Angebot bekommt man nicht ein zweites Mal im Leben. Der liebe Gott hat ein schlechtes Gewissen, weil er dir diesen Sebastian auf den Weg geschickt hat, und deswegen bekommst du die Mühle, und als Zugabe hat er dir diese Frau geschickt, damit du wirklich neu anfangen kannst.«

Sie hätte mit einer derartigen Reaktion von Angela nicht gerechnet. Da konnte man wieder einmal sehen, wie sehr man sich irren konnte, auch wenn man mit der menschlichen Seele bewandert war.

»Du hättest zugegriffen?«, wollte sie wissen, und Angela bestätigte es sofort: »Aber ja, sogar mit beiden Händen. Sag bloß, dass du das nicht getan hast.«

Ulrike erzählte ihr von dem vereinbarten Treffen, und jetzt erwähnte sie auch, dass Maja schon am Wochenende einziehen wollte. Jetzt war Angela allerdings verwundert. »Weswegen diese Eile? Ist sie auf der Flucht?«

»Nein, sie möchte zur Ruhe kommen.« Ulrike erzählte ihr, was sie erfahren hatte, dann sinnierte sie: »Ich frage mich bloß, was den Sonnenwinkel so anziehend macht. Mich hat es hergezogen, nachdem ich erfahren hatte, wie schändlich ich von Sebastian betrogen worden war. Maja möchte sich in eine glückliche Kindheit zurückversetzen.«

Angela war überhaupt nicht verwundert.

»Und meine Mutter und ich kamen her nach deren schwerem Unfall, als erst einmal nicht damit zu rechnen gewesen war, dass sie jemals wieder ohne Rollstuhl sein würde. Und sieh sie dir an. Auch die Frau Dr. Steinfeld, unsere Ärztin, kam her nach ihrer Scheidung, sie hat ihrem damaligen Mann eine große Praxis in der Stadt überlassen, hat hier neu angefangen. Und frag sie mal, sie würde den Sonnenwinkel niemals mehr verlassen, nicht für alles Geld der Welt. Es lebt sich wirklich sehr gut hier, und es sind Menschen, die auch ganz besonders sind, guck dir mal die Auerbachs an, Teresa und Magnus von Roth, die Rückerts, die Besitzer vom ›Seeblick‹, die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.«

Angela war richtig euphorisch, aber dennoch konnte Ulrike es so nicht im Raum stehen lassen, es war nicht alles schön und makellos im Sonnenwinkel.

»Angela, jetzt muss ich dir aber widersprechen. Du siehst es zu sehr durch die rosarote Brille, hast du den Brand vergessen, bei dem jemand gnadenlos alles, was unterhalb der Felsenburg gebaut worden war, abgefackelt hat, weil es ihm nicht in den Kram passte?«

Ein Schatten huschte über Angelas Gesicht.

»Du hast recht, das war eine ganz schreckliche Geschichte, und das hat hier auch etwas verändert. Die Menschen gehen nicht mehr so unbefangen miteinander um, denn es könnte jeder gewesen sein.«

Ulrike hatte jetzt keine Lust, weiter darüber zu diskutieren, es brachte eh nichts, und sie hatten es in vielen Stunden auch beinahe schon zerredet.

»Angela, du bist eine gescheite, vernünftige Frau. Du meinst also, dass ich mich darauf einlassen soll?«

Angela blickte ihr Gegenüber an.

»Da fragst du noch? Besser geht es nicht, das ist wie ein Hauptgewinn im Lotto, und übrigens, wegen der dir angebotenen Summe musst du dir überhaupt keine Gedanken machen. Wenn du glaubst, zu viel bekommen zu haben, dann spende doch einfach den Betrag, der dein Gewissen belastet. Ich kann dir sofort ein paar Adressen geben von Einrichtungen, in denen Geld ganz dringend gebraucht wird und wo man dankbar für jeden Cent ist. Übrigens, wenn du auch Bekleidungsstücke, Geschirr oder was auch immer, halt alles, was man für den täglichen Gebrauch benötigt, nicht mit in dein neues Leben nehmen müsstest, dann habe ich eine Adresse, wo man dir alles aus der Hand reißen wird.«

»Und wo und was ist das?«

»Ein Frauenhaus, dorthin flüchten Frauen oftmals aus Angst und Panik, weil sie es bei ihren brutalen Ehemännern nicht mehr aushalten können, oftmals nur mit dem, was sie am Leibe tragen.«

»Viele Frauen kehren aber leider wieder zu ihren Ehemännern zurück, von denen sie geschlagen und gedemütigt werden, dennoch, das mit dem Frauenhaus ist eine gute Idee, das kann ich auch nicht nur mit Sachspenden und Geldspenden beglücken, und natürlich auch das Hohenborner Tierheim, weil ich die Leiterin, Frau Dr. Fischer, für ihren unermüdlichen Einsatz bewundere. Sie könnte es mit einer florierenden Tierarztpraxis weiß Gott einfacher haben. Dein Vorschlag ist wirklich gut, und am liebsten würde ich sofort damit anfangen, Sachen auszusortieren.«

»Und warum tust du es nicht?«, wollte Angela wissen.

Welche Frage!

»Natürlich, weil du hier bist und ich mich darüber sehr freue. Es geht mir schon sehr viel besser, du hast mich heruntergeholt. Und ja, ich werde es tun, denn besser geht es nicht.«

Angela nickte.

»Das gefällt mir, und wenn ich schon mal hier bin, dann kann ich dir auch helfen. Meine Mutter ist nicht daheim, sie ist mit Teresa auf irgendeiner Veranstaltung, bei der die beiden Mädels hoffen, etwas für ihre sozialen Einrichtungen ergattern zu können, die sie regelmäßig bedenken. Piet van Beveren ist zwar sehr großzügig, doch Mama und Teresa wollen auch selbst etwas tun und nicht immer nur in den Fond greifen, der ihnen zur Verfügung steht. Ehrlich mal, ich hätte nicht gedacht, dass die beiden Damen sich so sehr ins Zeug legen würden, sie sind erfolgreich, werden bewundert und haben auch noch viel Spaß dabei. Um noch einmal auf den Sonnenwinkel zurückzukommen: Es war wirklich eine glückliche Fügung, dass wir hier unsere Zelte aufgeschlagen haben. Nirgendwo sonst hätte Mama all die liebenswerten, hilfsbereiten Menschen um sich herum gehabt, und nirgendwo sonst könnte sie dieses erfüllte, glückliche Leben führen. Sie wird gebraucht, bekommt Anerkennung, und das in einem Alter, in dem man meistens doch längst aussortiert ist, kaum noch in den Statistiken vorkommt. Es geht wirklich nichts über den Sonnenwinkel. Es ist sehr schade, dass du diesen herrlichen Ort wieder verlässt, ehe dir bewusst wird, was für ein Privileg es ist, hier leben zu dürfen. Ich bin übrigens auch überzeugt davon, dass es irgendwann mit dir und Achim noch etwas geworden wäre, ihr seid beide ganz wertvolle, besondere Menschen, und es ist schön, euch zu kennen. Aber wer weiß, was noch auf deinen Weg kommen wird, Ulrike, wenn du erst einmal in deinem Traumhaus, der Mühle, leben wirst. Ich werde dich auf jeden Fall sehr vermissen.«

Ulrike war ganz gerührt, und sie konnte wiedergeben, dass auch sie Angela vermissen würde, dann jedoch musste sie hinzufügen, dass man das Leben im Sonnenwinkel nicht idealisieren sollte, denn es gab keinen Platz auf der Welt, in dem alles eitel Sonnenschein war, und den Brand durfte man nicht vergessen, und sie, Angela, habe in Berthold von Ahnefeld ihre Liebe gefunden, und dennoch sei die im Schmerz zu Ende gegangen.

»Das stimmt, Ulrike, du hast recht, und was dich betrifft, dann kann man es auch als ein Zeichen dafür sehen, dass du nicht hierher gehörst, dass dir eine anderer Welt vorbestimmt ist, denn sonst wäre diese Frau nicht mit diesem unglaublichen Angebot gekommen. So, genug geredet, fangen wir an zu packen? Denk dran, dass du zum Wochenende hier raus sein musst.«

Ulrike umarmte Angela ganz spontan und rief: »Was für ein Glück, dass ich dich habe. Ja, machen wir uns an die Arbeit, und wenn da etwas dabei sein sollte, was dir gefällt, es sei dir von Herzen gegönnt.«

Ulrike spürte, wie Freude in ihr aufkam, doch so ganz richtig konnte sie noch immer nicht begreifen, was da geschehen war.

*

Teresa von Roth, betrachtete sich kritisch im Spiegel, ja, so konnte sie bleiben. Sie gefiel sich in dem grauen Kostüm und der grauen Seidenbluse. Es kam zwar nicht darauf an, was sie trug, sondern was sie zu sagen hatte.

Doch sie war eine Frau, und als solche legte sie nun mal Wert auf die richtige Kleidung. Es war nicht zu glauben, welche Karriere sie mittlerweile gemacht hatte. Sie war längst nicht mehr nur die Grande Dame, die alles ein bisschen beaufsichtigen sollte, sondern sie wurde in alles mit einbezogen, und ihre Ratschläge waren sehr gefragt. Es war ein schönes Gefühl. Heute ging es um eine geplante Veränderung in der Schule, und mit der hatte sie nun wirklich nichts zu tun, und dennoch wollte man sie auch hier dabeihaben.

An der Haustür wurde heftig geklingelt. Wer immer es auch war, den würde sie schnell abwimmeln. Sie eilte zur Tür, öffnete, eine junge Frau stand davor, stammelte: »Bitte entschuldigen Sie die Störung, doch ich fühle mich gerade nicht wohl, haben Sie für mich vielleicht ein Glas Wasser?«

Teresa musterte die Frau, dann sagte sie: »Selbstverständlich, kommen Sie doch bitte herein.«

Der neue Sonnenwinkel Box 12 – Familienroman

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