Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 13 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6

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Wenn Maja Greifenfeld etwas nicht beeindruckte, dann waren das teure Autos. Die waren in ihrem Leben eine Selbstverständlichkeit, ihre Eltern hatten welche besessen, und der Wagen, den sie gerade fuhr, hatte auch mehr als nur eine Kleinigkeit gekostet.

Doch das jetzt …

Nachdem sie so stark gebremst hatte, dass ihr Auto fast aus der Spur geraten wäre, legte sie den Rückwärtsgang ein, setzte zurück und blieb ein wenig entfernt hinter dem Wagen stehen, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Das nicht ohne Grund. Sie kannte nur zwei Männer, die diesen Wagen im Werte eines Einfamilienhauses oder einer Penthouse-Wohnung fuhren, und das war einmal ihr Bruder Georg, für den auffallen alles war, und den zweiten Wagen fuhr ein Mann, der, genau wie ihr Bruder, Testosteron gesteuert war.

Sie kannte dessen Autonummer nicht, doch das Fahrzeug war in ihrer Heimatstadt zugelassen worden, musste also dem zweiten Mann gehören.

Doch was sollte der ausgerechnet hier im verträumten Sonnenwinkel machen? Das passte überhaupt nicht zu ihm, nicht zu jemandem, der die Öffentlichkeit suchte, der publicitygeil war.

Es irritierte sie sehr, und Maja gehörte nicht zu den Menschen, die es auf sich beruhen ließen, sondern die einer Sache auf den Grund gingen.

Es war schon ein Zufall, dass sie nicht, wie ursprünglich geplant war, zum See gegangen war, sondern sich für eine Erkundung des Sonnenwinkels und der Umgebung entschlossen hatte. Und dass sie dabei ausgerechnet dieses Erlebnis der besonderen Art hatte, weckte irgendwie ihre Neugier. Sie hatte keine Eile, und sie saß gemütlich in ihrem Auto. Sie konnte warten. Ihre Geduld wurde allerdings auf eine harte Probe gestellt, schon überlegte Maja, ob sie ihren Weg nicht fortsetzen sollte, denn was hatte sie eigentlich davon, ihn zu sehen? Vielleicht ein paar belanglose Worte mit ihm zu sprechen, die über das Wetter nicht hinausgingen. Im Grunde genommen konnte sie sich das ersparen. Sie kannte ihn zwar, doch sie mochte ihn nicht. Das lag keineswegs daran, dass er nicht in ihr Beuteschema passte. Er hatte etwas an sich, was ihr missfiel, er war ihr zu glatt, zu beflissen. Sie fand sein Verhalten aufgesetzt. Ihr Bruder Georg allerdings fuhr voll auf ihn ab, war auch ein sehr guter Kunde dieses Mannes. Privat begegneten sie sich an den Orten, wo sich die Reichen und Schönen tummelten. Anfangs hatte es eine gewisse Irritation gegeben, weil sie beide den gleichen Wagen der Superlative fuhren, doch das hatte sich dann gelegt, sie sogar noch immer miteinander verbunden. Sie tickten halt in jeder Hinsicht ähnlich. Ihr Lebensmotto lautete, zuerst komme ich, dann irgendwann nach einer ganzen Weile kommen die anderen.

Maja steckte den Schlüssel in die Zündung, weil es wirklich keinen Sinn machte auf jemanden zu warten, mit dem man sich nichts zu sagen hatte.

Gerade, als sie starten wollte, tat sich was. Ein Mann kam eilig aus einem der Häuser heraus, mit etwas, was wie ein Bild aussah, öffnete seinen Kofferraum, um das Paket zu verstauen.

Er war es.

Maja hatte es eilig, aus ihrem Auto zu steigen und zu rufen: »Herr Boll, was für eine Überraschung, Sie sind es wirklich. Doch es konnte ja auch nicht anders sein, einen solchen Wagen fahren nur mein Bruder Georg und Sie.«

Arne Boll war äußerst irritiert, man konnte sagen unangenehm berührt. Er vergaß ganz, sein Paket im Kofferraum zu verstauen, quälte sich ein Lächeln ab und antwortete: »Frau Greifenfeld, was machen Sie denn hier?«

»Oh, das könnte ich Sie ebenfalls fragen, Herr Boll. Diese Idylle hier gehört ja nicht unbedingt zu den Schauplätzen, an denen Sie sich normalerweise aufhalten, oder?«

Ihm war anzusehen, wie sehr und angestrengt er überlegte, Maja Greifenfeld ausgerechnet hier zu sehen, daran hätte er im Traum nicht gedacht.

»Ich …, äh…, ich habe einen Freund besucht, der kürzlich hier eine Wohnung genommen hat. Er braucht seine Ruhe, hat …, er hat …, äh …, eine unangenehme Trennung hinter sich.«

Sie merkte ihm an, dass er log. Doch warum eigentlich? Er war ihr keine Rechenschaft über sein Tun schuldig. Weswegen eierte er so herum und war das personifizierte schlechte Gewissen?

»Trennungen sind immer schmerzlich«, sagte sie zuckersüß, »es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie Ihren armen Freund besucht haben. Und jetzt hat er Ihnen wohl ein Bild seiner Frau mitgegeben, weil er es nicht mehr sehen kann, da es zu schmerzliche Erinnerungen in ihm weckt.«

Er starrte Maja an, auf das Paket, dass ließ er wie eine heiße Kartoffel in den geöffneten Kofferraum fallen, dann antwortete er: »Ich…, äh…, nein …, er hat es mir mitgegeben, damit ich es für ihn rahmen lassen kann.«

Wieder gelogen!

»Was für ein Aufwand, Herr Boll. Ihr armer, bedauernswerter Freund hätte nur nach Hohenborn fahren müssen. Dort bekommt man beinahe alles und das auf hohem Niveau.«

Er schluckte. »Na ja, ich, er …«, er brachte wirklich keinen einzigen gescheiten Satz über seine Lippen. Und da sie diesen Mann ganz anders kannte, er konnte reden wie ein Buch, ahnte Maja, dass da etwas nicht stimmte. Auch, wenn er mit seinen nächsten Worten eine Erklärung zu geben versuchte. »Meine liebe Frau Greifenfeld, vergessen Sie bitte nicht, dass ich Galerist bin und zwar selbst keine Rahmen verkaufe, doch schon weiß, das werden Sie mir zusprechen, welcher Rahmen am besten zu welchem Bild passt. Außerdem habe ich die allerbesten Beziehungen zu Einrahmern und bekomme entsprechende Konditionen.«

Warum redete er ohne Punkt und Komma? Er war ihr überhaupt keine Erklärung schuldig, sie hätten sich begrüßen können, und dann wäre jeder seinen eigenen Weg gegangen, in diesem Falle gefahren So wäre es auch geschehen, doch er hatte sie jetzt neugierig gemacht.

Ahnte er, dass sie nun anfangen würde Fragen zu stellen? Auf einmal hatte er es sehr eilig. »Frau Greifenfeld, ich muss dann mal. Also dann.«

Er nickte ihr zu, verschwand in seinem Auto und brauste davon, ja, brauste.

Irritiert blieb Maja stehen. Was war das denn jetzt gewesen?

Er hatte sie nicht einmal andeutungsweise gefragt, weswegen sie eigentlich hier war.

Sie blickte auf die andere Straßenseite, alles nette, aber doch recht unscheinbare Häuser. Jemand, der mit diesem Galeristen befreundet war, zog niemals nicht nur in den verträumten Sonnenwinkel, sondern in eines dieser Häuser. Die waren einfach zu bürgerlich, und das Haus, aus dem Arne Boll gekommen war, wirkte zudem ein wenig heruntergekommen, war renovierungsbedürftig.

Sie konnte sich nur wiederholen. Da stimmte etwas nicht.

War es etwas mit dem Bild?

Es war ihm sichtlich unangenehm gewesen, dass sie ihn damit gesehen hatte, und seine Erklärungen waren ziemlich dürftig gewesen.

In diese Richtung zu denken, das machte überhaupt keinen Sinn. Einen Picasso hatte man in diesem bürgerlichen Haus ganz gewiss nicht gefunden, und darunter tat es dieser Snob nicht. Außerdem, warum sollte sich der Bewohner oder die Bewohner ausgerechnet an Arne Boll, den hochgestochenen Galeristen gewandt haben, zudem es auch einen in Hohenborn gab, einen recht guten sogar.

Vielleicht war es doch ein Freund, den er besucht hatte, und ihm war es peinlich, ihn aus einem leicht schäbigen Haus kommen zu sehen? Auch solche Gedanken machten keinen Sinn, weil Arne Boll keine Freunde besaß, der in so einer Gegend, in so einer Hütte wohnte!

Als sie losfuhr, blickte Maja noch einmal zu dem Haus, entdeckte an einem Fenster die Gestalt eines Mannes. Allerdings zog dieser Mann sich sofort zurück, als er ihren Blick bemerkte. Sie hatte das Gesicht erkannt, war sich allerdings direkt sicher, diesen Mann noch nie zuvor gesehen zu haben. Er gehörte keinesfalls zum harten Kern der Clique um diesen Galeristen.

Maja ärgerte sich über sich selbst, dass sie aus dieser Lappalie jetzt so einen Film drehte. Es war nichts passiert, trieb ihre Fantasie Blüten, weil hier sonst nicht viel geschah?

Am besten war es, alles zu vergessen, Schwamm darüber, zumal Arne Boll wirklich nicht zu den Menschen gehörte, mit denen sie sich beschäftigte. Und ein Bild gekauft hatte sie auch noch nicht bei ihm, und alle Einladungen zu Vernissagen hatte sie abgelehnt, und so verhielt es sich auch mit anderen Events. Sie mochte nicht nur diesen Arne Boll nicht. Sie hatte auch keine Lust, ihrem Bruder zu begegnen, der sich so etwas nicht entgehen ließ. Es wunderte sie schon ein wenig, dass sie die Einladungen bekam, ihr Bruder und sie waren noch nie ein Herz und eine Seele gewesen. Aber weil sie noch niemals hingegangen war, wusste er vermutlich auch nicht, dass Arne Boll sie stets bedachte. Das spielte jetzt keine Rolle. Und sie musste aufhören, sich weiterhin damit zu beschäftigen. Sie konnte sich ja die weitere Herumgurkerei ersparen und direkt zur Mühle fahren. Denn dort bekam man nicht nur dieses unvergleichliche Brot, sondern man konnte sich auch hinsetzen, einen Kaffee trinken und selbst gebackenen Kuchen essen, der täglich wechselte. Und es gab auch immer nur eine Sorte. Das war ein geliebter Nebenjob der Chefin, nötig hatten sie es nicht, denn ihnen wurde das Brot nur so aus der Hand gerissen, und es wurde sogar verschickt, weil sich über den Sonnenwinkel hinaus herumgesprochen hatte, was für ein köstliches Biobrot man in der alten Mühle bekam, die allerdings mit den neuesten technischen Hilfsmitteln ausgestattet war. Nur bei den Produkten legte man Wert auf Tradition und vor allem darauf, dass alles dem allerhöchsten Biostandard entsprach.

Ja, die Mühle.

So würde sie es machen, und sie war jetzt schon gespannt, welchen Kuchen man dort heute servierte. Und hoffentlich gab es davon noch etwas. Denn wer zu spät kam, den strafte nicht das Leben, aber der saß vor einem leeren Teller und konnte sich nur noch die Schwärmerei der Gäste anhören, die nicht leer ausgegangen waren.

Es waren nicht nur der Kuchen und das Brot, was in ihr ein Gefühl der Wärme aufsteigen ließ. Sie kannte die Mühle schon von früher, als sie als Kind hier gewesen war. Nur hatte es damals noch keinen Kuchen gegeben, doch Brot kaufen konnte man. Nicht so viele Sorten wie heutzutage, da war man mit der Zeit gegangen, doch die Qualität war gleich geblieben.

Arne Boll …

Als sie zur Mühle fuhr, musste sie an diesen Mann denken, an sein merkwürdiges Verhalten. Was für ein Bild es wohl gewesen war? Mit dem von ihr gesehen zu werden, hatte ihn eindeutig verunsichert.

Nein!

Das war ihre Wahrnehmung, sie bog in eine Parkbucht ein.

Der Parkplatz war fast voll, doch es war ein ständiges Kommen und Gehen. Nicht alle Leute tranken Kaffee und aßen Kuchen, sie waren nur gekommen, um Brot zu kaufen. Und das würde Maja ebenfalls gleich tun.

Sie war aufgeregt, als sie das kleine, gemütliche Café betrat, das eher einer heimeligen Bauernstube entsprach. Beinahe alle Plätze waren besetzt, sie fand glücklicherweise noch einen Platz, weil eine Dame mittleren Alters gerade von dem kleinen Ecktischchen aufgestanden war, ihr freundlich zunickte und sagte: »Heute gibt es einen Kirsch-Streusel-Kuchen, der ist so köstlich. Man könnte sich hineinlegen. Es ist wirklich jammerschade, dass man an all die fantastischen Rezepte nicht herankommt. Die kriegt man um keinen Preis der Welt.«

»Ich kann das gut verstehen. Die würden Sie doch ebenfalls nicht preisgeben. Sie sind seit Generationen Familiengeheimnisse.«

Die Dame seufzte.

»Ich habe ja schon mehr als nur einmal Kuchen mitgenommen, habe versucht, alle Zutaten herauszufinden, ich habe ihn nachgebacken. Er hat immer nach nichts geschmeckt, und das ist sehr enttäuschend, und deswegen habe ich beschlossen, es einfach zu lassen, herzukommen und den Kuchen zu genießen.«

Sie blickte Maja an.

»Haben Sie es auch schon mal versucht?«, erkundigte die Dame sich.

Darauf hatte Maja nur eine einzige Antwort, die alles besagte: »Ich kann nicht backen.«

Der Dame war anzusehen, dass sie das nicht glauben konnte, sie schnappte nach Luft, und gewiss hätte es noch eine Grundsatzdiskussion um das Backen gegeben, wäre nicht eine sehr nette Bedienung mittleren Alters an den Tisch gekommen, um sich nach Majas Wünschen zu erkundigen.

»Ich nehme ein Stück Kuchen und dazu bitte einen Café Latte.«

Die Dame entschuldigte sich und ging, weil Maja noch eine Frage an die Bedienung hatte, nicht wirklich, sie hatte einfach nur keine Lust darauf, diese Kuchendiskussion fortzusetzen. Sie konnte wirklich nicht backen. Und es noch lernen zu wollen, stand weder auf ihrer Prioritäten- noch auf ihrer To-Do-Liste.

Als sie wieder allein war, blickte sie sich um. Das tat sie gern, Menschen beobachten. Und es erstaunte sie immer wieder, wie gemischt das Publikum hier doch war. An einem Tisch saßen zwei junge Mädchen, unterhielten sich, kicherten, etwas weiter hatte man für eine Großfamilie einfach zwei Tische zusammengeschoben, etwas weiter ließ sich ein älterer Herr seinen Kuchen schmecken. Und an einem der Tische saß ein Mann, der ungefähr in ihrem Alter sein mochte und der sie unverhohlen musterte, und dann begann er auch noch mit ihr zu flirten. Sie ertappte sich dabei, dass ihr das nicht einmal unangenehm war. Er sah gut aus, trug einen Anzug, der ganz gewiss nicht von der Stange war. Er aß keinen Kuchen, sondern bestellte sich gerade einen doppelten Espresso.

Was hatte diesen Mann um diese Zeit hierher getrieben?

Normalerweise arbeitete man doch. War er ein Handelsvertreter, der sich eine kurze Pause gönnte? Dafür sprach der Espresso.

Er lächelte ihr zu, sie wollte gerade sein Lächeln erwidern. Warum nicht? Er gefiel ihr, und hier in dieser Gegend standen die Männer nicht unbedingt Schlange, um sie kennenzulernen. Und niemand wusste, dass sie mehr als nur vermögend war. Wer sich dann für sie interessierte, der hatte keine unlauteren Absichten. Im Laufe der Jahre war Maja vorsichtig geworden, denn sie war schon auf mehr als nur einen Mitgiftjäger hereingefallen, die ihr Gefühle vorgegaukelt hatten, die nicht echt gewesen waren.

Doch auf einmal sah sie etwas, was ihr das Lachen vergehen ließ. Er tat sich Zucker in den gerade servierten Espresso, und dabei war er nicht zu übersehen, der goldene Ring an seinem rechten Finger.

Sofort erstarrte sie, widmete sich nur noch ihrem Kaffee und Kuchen und schickte keinen einzigen Blick mehr in seine Richtung.

Das hatte sie auch schon mal erlebt, eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der sie belogen, ihr das Blaue vom Himmel versprochen hatte. Und nichts war geschehen, von wegen eine Frau, mit der er sich nichts mehr zu sagen hatte, er hatte von einer bevorstehenden Scheidung gesprochen. Das Schicksal konnte manchmal ganz schön grausam sein, doch andererseits war eine solche Erfahrung heilsam, und das Ende mit Schrecken war auf jeden Fall besser als ein Schrecken ohne Ende und Illusionen, die schon zerplatzt waren, ehe man sie sich gemacht hatte. Sie hatte ihn und sie in inniger Umarmung gesehen, sie hatten sich sogar geküsst. Und Maja wunderte sich über sich selbst, dass sie die Kraft aufgebracht hatte, sich zu dem Paar zu gesellen und dann auch noch zu fragen: »Ist das deine Ehefrau, von der du dich scheiden lassen möchtest, um mich zu heiraten? Du, ich würde das nicht tun, nicht bei all den Gefühlen, die da noch im Spiel sind.«

Danach hatte sie sich umgedreht, war gegangen, ein Gefühl des Triumphes hatte sie nicht verspürt, im Gegenteil. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken, weil sie sich so verarscht gefühlt hatte, ausgerechnet sie, die tough war, die wusste, wo es längs ging war darauf hereingefallen. Eines hatte sie auf jeden Fall aus der Affäre gelernt.

Nie wieder mit einem verheirateten Mann etwas anfangen!

Es war ja bereits eine ganze Weile her, und es tat lange schon nicht mehr weh. Doch an ihren guten Vorsatz hatte sie sich bis heute gehalten. Und da hatte es mehr als nur einen Mann gegeben, der ihr Avancen gemacht hatte. Sie wusste nicht, wie es sich bei den verheirateten Frauen verhielt, da konnte sie nicht mir reden, weil sie noch niemals verheiratet gewesen war. Verheiratete Männer gingen auf jeden Fall gern und oft über die Dörfer.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie der Mann seinen Espresso austrank, ihr einen Blick zuwarf, überlegte, dann erhob er sich, nachdem er bezahlt hatte und ging nicht auf geradem Weg zur Tür, sondern an ihrem Tisch vorbei.

Da zögerte er, war drauf und dran, Maja anzusprechen. Doch die warf ihm einen Blick zu, der ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen musste. Als sei der Leibhaftige hinter ihm her, verließ er eilig das Café.

Schade, dass die guten Männer kaum auf dem Markt waren, die gingen auch, wenn bei denen mal eine Verbindung zerbrach, unter der Hand weg.

Irgendwann würde sie ihr Leben schon ganz gern mit jemandem teilen, doch ob sie ihren Mr Right mal finden würde? Das stand in den Sternen. Doch noch musste sie sich keine Gedanken machen. Klar hätte sie schon gern das, wovon alle Frauen, zumindest die meisten, träumten, von Mann und Kindern. Noch hatte sie Zeit, noch tickte ihre biologische Uhr nicht, zudem die Frauen heutzutage immer später ihre Kinder bekamen.

Sie schob sich das letzte Stückchen Kuchen in den Mund, spülte es mit dem letzten Schluck Café Latte herunter und überlegte.

Der Kuchen war wirklich so was von lecker gewesen. Sollte sie sich noch ein zweites Stück davon bestellen? Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie beobachten, dass kaum noch etwas davon vorhanden war. Eigentlich hatte sie in den ›Seeblick‹ gehen wollen, doch da ging sie jeden Abend hin oder ließ sich etwas bringen, abgesehen von dem wöchentlichen Ruhetag, da begnügte sie sich mit einem Brot.

Die Bedienung ging gerade bei ihr vorbei, rasch bestellte sie sich noch ein Stück Kuchen, diesmal dazu allerdings einen großen Becher Kaffee. Wenn sie das gegessen hatte, dann würde sie pappsatt sein und nirgendwohin gehen. Hoffentlich gab es einen guten Film im Fernsehen. Es gab ja Ergänzungsprogramme, doch darum hatte sie sich noch nicht gekümmert. Und eigentlich wäre sie ja auch nicht hier, wäre ihr in New York diesmal nicht alles auf die Nerven gegangen.

Sie bekam ihren Kuchen und Kaffee, und die Bedienung sagte lachend: »Da hatten Sie aber Glück, meine Dame. Es war das letzte Stück. Alle anderen Gäste gehen nun leer aus.«

Maja freute sich, und sie wollte sich überhaupt nicht ausmalen, wie enttäuscht sie gewesen wäre, hätte sie den Kuchen jetzt nicht bekommen. Klar wäre es kein Beinbruch gewesen, doch wenn man sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, bekam man es nur schwer wieder hinaus. Im Gegenteil, man steigerte sich hinein, und in den Gedanken wurde dann auch Blech ganz schnell Gold.

Maja genoss ihren Kuchen, jetzt erst recht, und dabei dachte sie weder an diesen Galeristen noch an den verheirateten Mann, der mit ihr geflirtet hatte. Es gab ringsum einiges zu sehen, und obwohl es keinen Kuchen mehr gab, blieben die Gäste, um dann wenigstens etwas zu trinken.

Warum stellte man eigentlich nicht mehr Kuchen her? Der würde doch reißend weggehen? Weil eine Verknappung die Begehrlichkeit erhöhte?

Oh, darum musste sie sich wirklich keine Gedanken machen, aber vielleicht schon mal ganz ernsthaft, was sie aus ihrem Leben machen sollte. Sie hatte wirklich unheimlich viel Glück, und wenn sie mal jammerte, dann auf hohem, auf sehr hohem Niveau.

Sie musste an sich halten, den Kuchen nicht gierig in sich hineinzustopfen, sondern ihn zu genießen.

Ein Paar mit seinen zwei Kindern kam herein, einem Jungen und einem Mädchen, und Maja musste an ihren Bruder Georg denken.

Es gab ja auch noch Heiner, doch der hatte schon sehr früh keine Rolle mehr bei ihnen gespielt, denn er war als Kind bereits in ein Heim für Behinderte gekommen. Wenn sie an Heiner dachte, bekam sie ein schlechtes Gewissen, sie hatte keinen Bezug zu ihm, doch sie kannte ihn ja kaum, wusste nicht einmal, wo er sich aufhielt, weil alle Kosten aus einem Treuhandvermögen bis an sein Lebensende gedacht waren.

Vielleicht waren sie in ihrer Familie ja auch überhaupt nicht bindungsfähig, denn ihr Verhältnis zu Georg war mehr als nur gestört. Und sie hatte auch nichts mehr von ihm gehört, seit er plötzlich im Sonnenwinkel aufgetaucht war. Sie wusste bis heute nicht, wie er das herausgefunden hatte, denn sie hatte es nicht geplant. Es war eine ganz spontane Idee gewesen. Wie auch immer, er war nicht gekommen, um sie zu fragen, wie es ihr ging, sondern er hatte sie mit einem dubiosen Investment über den Tisch ziehen wollen, weil er einfach nicht verkraften konnte, dass sie beim Fabrikverkauf den besseren Deal gemacht hatte. Doch das aber auch nur, weil er sie hatte linken wollen.

Maja hörte auf zu essen, schob den Teller beiseite, der Appetit war ihr vergangen. Eine ihrer Überlegungen sollte vielleicht sein, sich mit Georg irgendwie zu versöhnen. Einem von ihnen brauchte nur etwas zu passieren, und dann war das Gejammere groß. Freilich, wenn ihr etwas geschah, musste sie sich keine Gedanken deswegen machen, dann war sie tot.

Außerdem, zuerst einmal war es wichtig, dass sie für sich etwas fand, womit sie nicht nur leben konnte, sondern etwas, was sie befriedigte. Und sie musste sich auch von dem Gedanken frei machen, dass es vielleicht doch nicht ganz richtig gewesen, die elterliche Fabrik zu verkaufen. Es hatte kein Anlass dazu bestanden, sie schrieben immer schwarze Zahlen. Sie von sich aus hätte es nicht getan, doch Georg hatte es schon so weit klammheimlich vorangetrieben, dass sie überhaupt keine andere Wahl gehabt hatte. Und dann hatte sie ihre Schäfchen ins Trockene bringen müssen. Zum Glück konnte Maja verhindern, dass Georg auch das Elternhaus verkauft hatte. Das hatte sie übernommen, und er war damit einverstanden gewesen, weil er sich dafür andere Immobilien von einem weitaus höherem Wert an Land gezogen hatte.

Nun hatte sie die Villa an der Backe, aus lauter Sentimentalität, doch wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich in dem mit Antiquitäten vollgestopften Haus nicht wohl, es war düster, und es hing das Leben von Generationen der Greifenfelds darin, das erdrückte, zumal man auch in der Familienchronik nachlesen konnte, dass sie alle ganz gewiefte Geschäftsleute gewesen war, in ihrem Privatleben war das nicht der Fall gewesen, da hatte es Krankheiten, frühe Todesfälle, ja, sogar einen Suizid gegeben.

Maja zuckte zusammen, als die nette Bedienung plötzlich vor ihr stand und sich ganz besorgt erkundigte: »Schmeckt es Ihnen nicht?«

Maja riss sich zusammen.

»Doch, doch es ist ausgezeichnet, ich hätte auf das zweite Stück verzichten sollen.« Sie konnte doch jetzt nicht sagen, dass die Gedanken an ihre Familie, speziell an ihren Bruder Georg, den Appetit verdorben hatten.

»Es ist kein Problem, ich packe Ihnen den Rest gern ein.« Die Frau war wirklich nett, der würde sie auf jeden Fall gleich ein fürstliches Trinkgeld geben.

Maja lächelte sie an.

»Das ist lieb, doch mich treibt ja niemand, ich werde den Rest des Kuchens noch ganz genüsslich aufessen, doch einen …«, sie brach ihren Satz ab, hatte sich eigentlich noch einen Kaffee bestellen wollen, doch man konnte auch übertreiben. »Ich nehme bitte noch ein kleines Fläschchen Mineralwasser.«

Die Bedienung entfernte sich, um das Gewünschte zu holen, und Maja wurde bewusst, dass man von seiner Vergangenheit immer eingeholt wurde, auch in dem gemütlichen Bauerncafé der Mühle.

Sie zog den Kuchenteller wieder zu sich heran, und weil der Kuchen wirklich ein Genuss war, aß sie ihn auf.

Als die Gedanken an die seltsame Begegnung mit dem Galeristen Boll kommen wollten, unterdrückte sie die. Sie hatte, weiß Gott, genug mit ihren eigenen Problemen zu tun, da musste sie nicht auch noch über etwas anderes nachdenken, das so unwichtig war wie ein Kropf. Leider neigten die Menschen meistens dazu, auf etwas anzuspringen, um von den eigenen Problemen abgelenkt zu werden.

Der Kuchenteller war leer, ihr Mineralwasser hatte sie nicht ganz ausgetrunken, als sie aufstand, um nach nebenan zu gehen und ein Brot zu kaufen. Und die Bedienung hatte sie glücklich gemacht mit ihrem großzügigen Trinkgeld. Die würde Maja auf jeden Fall in guter Erinnerung behalten. Nein! Stopp! Man sollte sie nicht wegen des Geldes in Erinnerung behalten, sondern weil sie sie war. Etwas hatte sie jetzt, woran sie arbeiten musste. Geld spielte nicht die wirklich entscheidende Rolle im Leben. Es war nicht schlecht, es zu haben, doch man durfte es nicht überbewerten. Vor allem durfte man es nicht zu einem Götzen machen, den man anbetete.

Nachdem Maja ihr Brot gekauft hatte, ging sie zum Parkplatz, und da bekam sie mit, wie ein kleines blondgelocktes Mädchen, das vorher fröhlich herumgehüpft war, hinstürzte und anfing zu schreien.

Mit wenigen Schritten war Maja bei dem Mädchen, hob es auf, und noch ehe jemand von den Eltern hinzuspringen konnte, war es Maja gelungen, das Mädchen zu trösten. Der Sturz war wohl weniger schlimm gewesen, als er ausgesehen hatte, denn das Mädchen hörte auf zu weinen und schaute Maja neugierig an. Die war ganz erstaunt über das, was sich gerade ereignet hatte, denn sie war absolut unerfahren im Umgang mit Kindern.

»Ich bin Maja«, sagte sie, »und wie heißt du?«

Maja erfuhr gerade noch, dass die Kleine Elaine hieß, denn dann war bereits die Kindesmutter bei ihnen, nahm Maja Elaine ab und bedankte sie: »Das war sehr nett von Ihnen, dass Sie unseren Sonnenschein aufgehoben haben, und wie Sie es geschafft haben, sie direkt zu beruhigen. Gewiss sind Sie sehr erfahren im Umgang mit Kindern und wussten sofort, wie man zu reagieren hat.«

Darauf gab Maja lieber keine Antwort, sie wollte der aufgeregten Mutter ihre Illusionen nicht rauben. Sie nickte der Frau zu, blickte die Kleine an, die sie neugierig musterte.

»Elaine, du musst aufpassen, darfst keine so wilde kleine Hummel sein. Die können einfach wegfliegen, das können wir Menschen leider nicht, weil wir keine Flügel haben.«

Ehe sie ins Auto einstieg, bekam Maja gerade noch mit, wie die Kleine sich bei ihren Eltern, inzwischen war der Vater hinzugekommen, erkundige, was eine Hummel sei. Elaine war also nicht nur ein sehr hübsches kleines Mädchen, sondern ganz offensichtlich ein kluges.

Maja wusste nicht, warum sie so froh war, als sie endlich nach Hause fuhr, nun, ein Zuhause war es nicht, vielleicht noch nicht, doch es war ein Ort, an dem sie sich wohlfühlte, ein Wohlfühlort. Wer hätte das gedacht.

Auf der Heimfahrt kam sie an dem Haus vorbei, aus dem Arne Boll gekommen war. Es war grau, reparaturbedürftig, und es wirkte irgendwie abweisend und unbewohnt. Doch das war jetzt ihre eigene Interpretation. Sie spann um etwas eine Legende, weil sie den Galeristen anders sah, vor allem in einem anderen Umfeld. Maja musste es einmal auf sich beziehen. Alle Leute, die sie kannten, wären sehr verwundert, wenn sie sie im Sonnenwinkel sähen und schon gar in einem mehr als nur bürgerlichen Café, in dem sie hingebungsvoll selbst gebackenen Kuchen gegessen hatte.

Das war es! Man machte sich sein eigenes Bild von einem Menschen, und wenn man den in einer anderen, ungewohnten Situation sah, begann man zu grübeln.

Maja war vorher mit dem Tempo heruntergegangen, jetzt gab sie Gas und entschied sich dafür, es einfach loszulassen.

*

Pieter van Leijwen wusste selbst nicht, warum er instinktiv ans Fenster gegangen war, nachdem Arne das Haus verlassen hatte. Welch ein Glück, dass es so gewesen war, denn da hatte er mitbekommen, dass eine Frau aus ihrem parkenden Auto gestiegen war und mit Arne geredet hatte. Die Frau sah gut aus, und deswegen war es schon ein wenig verwunderlich, weswegen Arne unbehaglich wirkte, zumal sie sich kennen mussten.

Na ja, eines verstand er sowieso nicht, Arne legten allergrößten Wert auf Diskretion, schärfte ihm ein, nicht aufzufallen. Und was tat er selbst? Kreuzte mit einer Karre auf, wie sie auffälliger nicht sein konnte. Die fiel in einer Großstadt auf, und da gab es schon tolle Autos. Hier in der Pampa verdrehte man sich den Hals nach diesem fahrenden Vermögen. Die Frau war nicht deswegen stehen geblieben, sie fuhr selbst ein teures Auto, war vorzüglich gekleidet. Nein, sie hatte das Auto erkannt, hatte auf ihn gewartet, weil sie sich gewiss wunderte, was jemand wie der Galerist in diesem verschlafenen Nest, wo sich Hasen und Füchse gute Nacht sagten, wohl verloren hatte.

Verdammte Hacke!

Das ungute Gefühl, das er seit einiger Zeit hatte, verstärkte sich in ihm. Die anderen Männer hielten sich zwar im Hintergrund, nur noch Arne Boll kam, doch es wussten einfach zu viele Leute von dem, was er machte. Außerdem hatte er nicht mit diesen Sonderaufträgen gerechnet.

Pieter ging in die Abstellkammer, in der jede Menge Krempel herumstand, der ihn allerdings nicht interessiert. Er hatte nur direkt gecheckt, dass da niemand etwas suchen würde.

Er holte eine unscheinbare Tasche aus einem Regal, setzte sich mit ihr an den Tisch, öffnete sie, und dann packte er Geldbündel aus.

Er schluckte. Damit ließ sich schon etwas anfangen, und eines musste man Arne lassen. Auf ihn war Verlass, wenn er lieferte, bekam er im Gegenzug auch die Kohle. Und die hatte er nun auch für den zweiten Dali erhalten.

Es sollte noch immer nicht an die eigentliche Arbeit gehen, denn es sollte ein Kandinsky vorgezogen werden, natürlich konnte er den auch, doch der lag ihm nicht so sehr. Allerdings kam es darauf nun wirklich nicht an. Unabhängig davon, dass auch Kandinsky nicht mehr unter den Lebenden weilte, ging es nicht um Sympathie. Als Arne sein Zögern bemerkt hatte, hatte er wortlos ein Bündel Geldscheine auf den Tisch gelegt, und natürlich war er darauf angesprungen. Es war wie mit den Hunden, die man auf seine Seite brachte, wenn man sie mit Leckerli lockte. Woher Arne immer die ganze Kohle hatte, vor allem, dass er sie unbekümmert mit sich herumschleppte. Hatte er keine Angst vor einem Überfall? Er bot sich ja förmlich als Zielscheibe für einen Überfall an. Teures Auto, teure Uhr, teurer Anzug. Da musste man nicht besonders klug sein, um darauf zu kommen, dass da noch mehr zu holen war. Doch das war nicht seine Baustelle. Er musste sehen, dass er seine eigene Haut rettete.

Er strich über das Geld, nahm eines der Bündel in die Hand, blätterte darin.

Das durfte er sich nicht nehmen lassen. Hatte er sich nicht vorgenommen, nur noch den zweiten Dali zu kopieren und danach die Mücke zu machen? Es war ungesund, dass man, wenn man viel hatte, noch mehr haben wollte.

Nur noch diesen Kandinsky!

Er zuckte zusammen, als sein Handy klingelte. Das konnte nur Arne sein, denn der achtete darauf, dass er immer wieder ein neues Wegwerfhandy bekam, das nur er und Arne benutzen durften.

Die alten nahm er mit und vernichtete sie. Er grinste, da hatte sich schon eine ganze Menge Schrott angesammelt. Ein Jammer war nur, dass er Cindy nicht anrufen durfte. Aber auf die war er auch nicht mehr wirklich fummelig. Sie ging ihm halt nicht aus dem Sinn, weil es die letzte Frau für ihn gewesen war. Als er sich auf diese Nummer eingelassen hatte, wusste Pieter nicht, dass er erst mal wie ein Mönch legen sollte.

Das Handy klingelte weiter, er nahm es missmutig in die Hand und meldete sich.

»Mein Gott, Pieter, warum gehst du nicht an dieses verdammte Handy?«, blaffte Arne ihn an, und Pieter registrierte sofort, dass Arne, ganz im Gegensatz zu vorhin, nicht gut drauf war. Das war kein gutes Zeichen! Er hatte es also richtig erkannt, dass diese Frau und Arne sich kannten und dass den diese unverhoffte Begegnung überhaupt nicht gefreut hatte.

»Vielleicht habe ich was zu tun?«, knurrte Pieter. »Du möchtest, dass ich liefere, schnell liefere. Und dann hältst du mich von der Arbeit ab. Glaubst du vielleicht, der Kandinsky malt sich von selbst?«

Sofort war Arne besänftigt, zumindest erfreut, dass er bereits angefangen hatte zu malen.

»Entschuldige, Pieter, die Arbeit geht natürlich vor, ich werde dich auch nicht mehr stören. Ich rufe dich jetzt auch bloß an, um dich zu bitten, weiterhin unauffällig zu sein, mit niemandem groß zu reden.«

Bei Pieter begannen die Alarmglocken zu klingeln. Arne hatte Angst, die Braut könne an seiner Haustür klingeln und versuchen, ihn auszuquetschen. Daran konnte Pieter fühlen: Er kannte sie also wirklich, es war nicht bloß eine Vermutung von ihm. Er musste Arne noch ein wenig auf den Zahn fühlen.

»Arne, das verstehe ich jetzt nicht so ganz. Du möchtest doch, dass ich mit den Leuten rede, freundlich und nett bin, damit niemand auf komische Gedanken kommt«, flötete er ganz arglos.

Arne Boll wand sich wie ein Wurm, und Pieter konnte nicht verstehen, warum Arne jetzt nicht einfach erzählte, dass er die Braut kannte und befürchtete, dass sie ihre Nase in etwas hineinstecken konnte, was sie nichts anging. Er ahnte ja nicht, dass Arne sauer auf sich selbst war, weil er Maja Greifenfeld nicht gefragt hatte, was sie eigentlich hier in der Gegend tat, die nun wirklich nicht ihre Rennstrecke war, wie seine ebenfalls nicht. Er war zu überrascht gewesen, weil er mit einem solchen Zwischenfall nicht gerechnet hatte, und deswegen hatte er sich selten dämlich verhalten. Da musste eine Schadensbegrenzung her.

»Pieter, mit niemandem groß reden meine ich nicht, dass du nicht hallo sagen sollst, über das Wetter redest, den schönen Tag oder sonst etwas Allgemeines sagst. Du gibst halt keine Antwort, wenn jemand beginnt, dich auszufragen.«

Arne ging der Arsch ganz schön mit Grundeis! Warum sagte er eigentlich nicht jetzt, aus welchem Grund das so war?

»Sag mal Arne«, ging er auf das Spiel ein, »für wie blöd hältst du mich wirklich? Ich säge doch nicht an dem Ast, auf dem ich sitze, auf dem wir alle sitzen«, korrigierte er sich sofort. »Aber wenn wir schon mal beim Thema sind. Hast du eigentlich einen Plan B in der Tasche, wenn wir mal auffliegen sollten? Wir sitzen schließlich alle in einem Boot, wobei ich am stärksten betroffen bin, ich fälsche die Bilder, die du verhökerst. Wo bleibe ich für den Fall, dass …«

Es kam zunächst keine Antwort, und dann erwiderte Arne Boll ein wenig lahm: »Rede doch nicht über so etwas.«

Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, Pieter begriff, dass er auf sich allein gestellt war. Das war gut zu wissen. Er hatte keine Lust, jetzt noch etwas zu sagen, wenn er ehrlich war, dann war er enttäuscht.

»Da jetzt alles gesagt ist, du keine Angst haben muss, dass ich plaudere, kann ich ja wohl wieder an die Arbeit gehen, oder, Arne?«

»Ja, ja, das ist gut, Pieter, und nichts für ungut, ich wollte das nur mal gesagt haben.« Damit beendeten sie das Gespräch, Pieter schmiss sein Handy auf einen Stuhl und dachte bei sich, dass Arne gerade ohne Worte mehr gesagt hatte, als er es mit Worten hätte tun können. Pieter war schon ganz schön enttäuscht, weil er sich ganz offensichtlich wichtiger genommen hatte, als es offenbar in Wirklichkeit der Fall war. Er zählte überhaupt nicht als Mensch. Er war nur die Kuh, die gemolken wurde, mehr war da nicht Und von wegen, es gab da auch nicht so etwas wie Dankbarkeit, Solidarität, schließlich rollte der Rubel, weil er so gut war. Okay, er war nicht mehr als ein Kopirski, aber ein verdammt guter!

Pieter verstaute das Geld wieder in der Tasche, und die brachte er zurück in die Abstellkammer, nachdem er zuvor ein paar Scheine aus der Tasche entnommen und die eingesteckt hatte.

Ursprünglich hatte er wirklich malen wollen, doch jetzt tat er den Teufel. Erst einmal abwarten, ob sich die Wogen glätteten oder ob es überhaupt keine gegeben hatte, er aus Arnes Verhalten nicht schlau geworden war.

Er hatte, just for fun, mit einem Vasarely begonnen, den er Arne unterjubeln wollte, doch den kloppte er erst einmal in die Tonne.

Wenn er jetzt einen Whisky hätte oder wenigstens eine Fluppe, was gäbe er nicht dafür. Er hatte so richtig Janker drauf, wie immer, wenn er wegen etwas besorgt, aber auch erfreut war. Es war ganz schön blöd gewesen, alles zu vernichten. Er hätte es, wie das Geld, in die Abstellkammer packen können. Dumm gelaufen, er hätte einfach nur nachdenken sollen. Doch das tat er oftmals nicht, sondern er handelte unüberlegt.

Man konnte nicht sagen, dass er jetzt aufgewühlt war, nein, eher enttäuscht. Andererseits war es gut, dass er jetzt wusste, wo er bei Arne Boll dran war, was er im Falle eines Falles zu tun hatte.

Doch sollte er es wirklich so weit kommen lassen?

Stopp!

Natürlich würde er von sich aus nichts tun, man sägte nicht an dem Ast, auf dem man saß. Er musste nur handeln, wenn sich ein Gewitter zusammenbraute, das von Arne, seinen sonstigen Komplizen ausging. Darüber sollte er jetzt nicht weiter nachdenken, nur wachsam sein musste er.

Pieter zog sich ein paar Schuhe an, weil er es liebte, barfuß im Haus herumzulaufen. Er blickte an sich herunter, stellte fest, dass es mit den Schuhen nicht getan war. Umziehen musste er sich leider ebenfalls noch, weil seine Hose und sein Shirt voller Farbflecken waren. Darauf konnte ihn möglicherweise jemand ansprechen, das war ihm egal. Doch so etwas prägte sich ein. Und man konnte sehr schnell Rückschlüsse ziehen. Pieter war eher ein vorsichtiger Mensch, weil er sein Leben in Freiheit sehr liebte. Doch jetzt brauchte er unbedingt seinen Whisky und seine Zigaretten. Und eines stand fest, er wäre nicht noch einmal so dämlich, alles zu entsorgen. Dabei ging es nicht um das Geld, das er praktisch in die Tonne gekloppt hatte, davon besaß er glücklicherweise jetzt eine ganze Menge.

Nachdem er sich umgezogen hatte, eine schwarze Jeans, ein schwarzes Shirt, schwarze Turnschuhe, sah er aus wie Herr Müller von nebenan. Niemand würde sich an ihn erinnern.

Und dann …

Er musste nachdenken, und dazu brauchte er etwas in der Hand. Das war natürlich eine Ausrede. Warum gab er nicht einfach zu, dass er ein wenig Muffensausen hatte?

Draußen schien die Sonne, doch für ihn begann sich der Himmel bereits zu verfärben, es wurde dunkel, und nun stellte sich ganz ernsthaft die Frage, was er jetzt tun sollte. Sofort die Mücke machen, solange es noch Zeit war zu verschwinden, ohne dass nach ihm gefahndet wurde oder erst einmal abwarten und Tee trinken, in seinem Fall den geliebten Whisky. Man durfte sich nicht immer auf seine Instinkte verlassen, denn die führten einen manchmal auch in die Irre. Wenn er nämlich durchhielt, bedeutete das, noch einen Batzen Geld zu bekommen, was ja auch nicht schaden konnte. Andererseits durfte man nicht zu gierig sein.

Als er schließlich das Haus verließ, schaute er sich vorsichtig um. Man konnte ja nicht wissen.

*

Robertas Umfeld war wegen Kens Einladung zu den Golden Globes reinweg aus dem Häuschen und aufgeregter, als sie selbst es war. Besonders Nicki bekam sich überhaupt nicht mehr ein, und die wäre am liebsten mit ihr nach Los Angeles geflogen.

Ihre Freude hielt sich in Grenzen, und beinahe schämte Roberta sich deswegen schon ein bisschen. Aber sie alle hatten gut reden, sie hatten ja auch keine wichtigen Entscheidungen zu treffen, alles zu organisieren. Sie sahen nur die schönen Bilder und waren beinahe ehrfurchtsvoll bei den Gedanken an die Stars, die sie vermutlich treffen würde, zumindest sehen. Und das war etwas, was Roberta überhaupt nicht interessierte, worüber sie sich den Kopf zerbrach. Vielmehr machte es ihr Stress, was sie anziehen sollte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, weil solche Ereignisse in ihrer Lebensführung überhaupt nicht vorgesehen waren. Wann brauchte mal als normaler Mensch denn ein Abendkleid?

Glücklicherweise war man heutzutage nicht mehr dazu gezwungen, sich in ein Abendkleid zu zwängen, wenn man eine Opern- oder eine Theaterpremiere besuchte. Da brezelte man sich längst schon nicht mehr auf, im Gegenteil waren manche so schlecht gekleidet, dass man sich darüber aufregen konnte.

Wie auch immer, das Abendkleid, das sie sich nun zulegen musste, würde sie dieses eine Mal tragen, und dann würde es für immer in ihrem Kleiderschrank verschwinden. Also, mit dieser Einladung hatte Ken ihr wirklich keine große Freude bereitet. Natürlich freute sie sich darauf, ihn zu sehen, doch ihn allein, wäre ihr lieber als an seiner Seite in eine Welt einzutauchen, die niemals ihre werden würde.

Immerhin hatte Roberta dafür gesorgt, dass der Praxisbetrieb nicht gestört wurde. Ein Kollege hatte ihr versprochen, sich während ihrer Abwesenheit um ihre Patientinnen und Patienten zu kümmern.

Leni Wendler und Ursel Hellenbrink würden die Hausbesuche machen, die ohne sie stattfinden konnten. Und auf ihre beiden Mitarbeiterinnen war Verlass, das war sehr beruhigend.

Ken war außer sich vor Freude, und das berührte sie schon ein wenig, obwohl es ihr klar war, dass er sie vorführen wollte, was immer seine Motivation auch war. Doch es konnte immerhin auch sein, dass er die Frau, die er liebte, in einem derart wichtigen Moment an seiner Seite haben wollte. Die Golden Globes waren eine in der Filmindustrie immerhin sehr bedeutende Auszeichnung, und wer da einen Preis ergattert hatte, war auch chancenreich bei der Oscarverleihung, dem höchsten Preis, den man bekommen konnte.

Das war nicht ihre Welt, würde es auch nicht werden. Sie würde sich das Kleid kaufen, und Nicki hatte ihr versprochen, ihr bei der Auswahl zu helfen. Das war schon mal gut, und jetzt zählte ihre Arbeit, sonst nichts. Da hatte Roberta einen Tunnelblick, der lediglich auf die Menschen gerichtet war, die zu ihr kamen, damit sie ihnen half, und das tat sie voller Leidenschaft und Engagement.

Heute hatten sie eine sehr stramme Sprechstunde hinter sich, und jetzt gab es nur noch eine Patientin, deren Erscheinen Roberta allerdings ein wenig verwunderte. Sie kannte Babette Cremer, allerdings nicht als Patientin, sondern durch Pia. Neben Pamela Auerbach hatte Pia sich ein wenig mit Babette angefreundet, und das Mädchen war einige Male im Doktorhaus gewesen, als Pia noch bei ihnen gelebt hatte. Babette war sehr sympathisch. Nun ja, warum wunderte sie sich jetzt eigentlich, dass Babette in die Praxis kam? Ihr konnte ja etwas fehlen, denn wer wusste besser als sie, dass Krankheiten nicht nach dem Alter fragten.

Babette betrat das Behandlungszimmer, sie glich von der Statur her nicht nur Pia, hochgewachsen und schlank, sondern sie hatte auch etwas sehr Zurückhaltendes an sich. Das war allerdings kein Wunder, wenn man so drauf war wie Pia, suchte man sich keinen Wirbelwind als Freundin.

Roberta begrüßte Babette freundlich, die heute allerdings einen bedrückten Eindruck machte.

»Babette, wie kann ich dir helfen?«, erkundigte Roberta sich freundlich, nachdem sie das Mädchen begrüßt hatte und ein paar unverbindliche Worte gewechselt worden waren.

Offensichtlich wusste Babette das nicht genau.

»Ich …, äh …, ich habe …«, sie überlegte, das konnte man ihr richtig ansehen. »Ich habe … Kopfschmerzen.«

Als erfahrene Ärztin konnte Roberta sofort daran fühlen, dass das nur vorgeschoben war, dass Babette eigentlich aus einem ganz anderen Grund zu ihr in die Praxis gekommen war, den sie nur nicht aussprechen konnte oder wollte. Doch sie konnte das Mädchen nicht zwingen, ihr den wahren Grund zu nennen, sie konnte nur ganz behutsam auf Babette eingehen.

»Hast du oft unter Kopfschmerzen zu leiden, Babette?«, erkundigte Roberta sich.

Babette zögerte mit der Antwort, dann kam ein kaum hörbares: »Ich …, nein, eigentlich nicht.«

»Aber augenblicklich hast du so starke Kopfschmerzen, dass du deswegen zu mir gekommen bist, ja?«

Babette nickte, blickte Roberta dabei allerdings nicht an, sondern knetete an ihren Fingern herum. Sie war vollkommen nervös, und ihr war anzusehen, dass sie sich in ihrer Haut überhaupt nicht wohlfühlte.

Roberta stellte weitere Fragen, machte ein paar kleine, routinierte Untersuchungen, dabei kam nichts heraus. Es gab nichts, was Anlass zur Besorgnis gab. Und auch Babettes Antworten auf ihre Fragen, ließen Roberta immer mehr zu der Erkenntnis kommen, dass, was sie ja auch direkt vermutet hatte, dass die Kopfschmerzen nur vorgeschoben waren.

»Babette, ich kann dir jetzt nicht einfach ein paar Tabletten geben oder aufschreiben. Das wäre unverantwortlich von mir. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen, und deswegen sind weitere Untersuchungen erforderlich.«

Roberta tippte etwas in ihren Computer ein.

»Frau Hellenbrink weiß jetzt Bescheid, und die wird dir gleich, wenn du gehst, die entsprechenden Termine für die Untersuchungen geben. Und dann sehen wir weiter, ja?«

Babette war einverstanden, bedankte sich bei Roberta, dann verließ sie das Behandlungszimmer, Roberta blieb ein wenig ratlos zurück.

Was war los mit Babette?

Warum hatte sie mit ihr nicht darüber gesprochen, was sie wirklich bedrückte? Hatte sie Krach mit ihren Eltern? Deswegen ging man allerdings nicht zu einer Ärztin, das besprach man mit seiner besten Freundin oder einer verständnisvollen Oma. Roberta wusste allerdings nichts über die Eltern und ob es da auch noch Großeltern gab. Sie wusste nicht einmal, wie lange und ob überhaupt die Cremers im Sonnenwinkel wohnten. Patienten waren sie auf jeden Fall nicht bei ihr. Doch das war normal.

Roberta suchte noch ein paar Sachen zusammen, auf die sie in aller Ruhe noch einen Blick werfen wollte, dann verließ sie das Behandlungszimmer, Ursel stand auch schon bereit, die Praxis zu verlassen.

»Hat Babette ihre Termine bekommen?«, erkundigte Roberta sich eigentlich nur ganz nebenbei, denn auf Ursel war Verlass, die hatte alles unter Kontrolle, da musste man nichts nachfragen.

Ursel zuckte die Achseln.

»Hätte ich ihr gern gegeben, doch Babette kam aus ihrem Behandlungszimmer und ist an mir vorbeigestürmt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Sie war vollkommen aufgelöst, was war denn mit dem Mädchen los?«

Nun verstand Roberta überhaupt nichts mehr.

»Sie kam wegen angeblicher Kopfschmerzen, und jetzt weiß ich endgültig, dass es vorgeschoben war. Kennen Sie Babette und deren Eltern?«

Ursel war selbst nicht nur bekannt wie ein bunter Hund, sie kannte auch allen und jeden, doch jetzt konnte sie nur bedauernd erwähnen, dass sie die Leute nicht kannte.

»Frau Doktor, was glauben Sie, warum das Mädchen so durch den Wind war?«

»Ursel, das wüsste ich ebenfalls gern. Es ist bedauerlich, dass ich da jetzt nicht nachhaken kann. Und ich kann Pia jetzt schlecht anrufen, um mich nach Babette näher zu erkundigen, so gut kannten die Mädchen sich auch nicht. Und Pia ist in ein ganz anderes Leben eingetaucht, da ist es nicht gut, sie an die Vergangenheit zu erinnern, zumal Babette vermutlich ein Problem hat, von dem Pia eh keine Ahnung hat.«

»Frau Doktor, vielleicht besinnt sie sich und kommt noch mal zu uns, und dann können Sie ihr gewiss helfen.«

»Das hoffe ich ebenfalls, Ursel«, erwiderte Roberta, die voller Freude registriert hatte, dass Ursel von uns gesprochen hatte. Ja, sie waren wirklich eine eingeschworene Gemeinschaft, und das war unglaublich schön. Sie verabschiedete sich von Ursel und ging nach nebenan. Der Gedanke an Babette ließ Roberta nicht los.

Weswegen war das Mädchen wirklich gekommen?

*

Inge war ganz aufgeregt, seit sie wusste, dass Hannes sie besuchen würde. Seit er sich nur noch auf seine Ausbildung konzentrieren wollte, kam das nicht mehr vor, und er fehlte ihr. Es war immer schöner, jemanden zu sehen, anstatt mit ihm nur zu telefonieren.

Es hatte sich noch etwas geändert, sonst war Hannes einfach gekommen, hatte unangemeldet vor der Tür gestanden. Jetzt hatte er sie angerufen, einen Termin mit ihr gemacht. Und das war auch gut so, seit Werner sich in der Reha aufhielt, arbeitete Inge noch mehr als sonst freiwillig in der Jugendstrafanstalt, und das tat sie mit ganzem Herzen. Dafür hatte sie sogar die Nähkurse aufgegeben, sehr zum Leidwesen der Besitzerin des Stoffladens, in dem sie regelmäßig alles einkaufte.

Hätte Hannes nicht angerufen, wäre sie bei den jugendlichen Straftätern gewesen und hätte sich sehr geärgert, wenn sie Hannes verpasst hätte.

So war alles gut, sie hatte seine Lieblingsspeise für ihn gekocht, Kuchen, die er mochte, gebacken, und abends würden sie alle, Hannes, die Großeltern und sie, in den ›Seeblick‹ gehen, weil Hannes über Nacht bleiben wollte und nicht nur eine kurze Stippvisite machte. Es war selbstverständlich, dass Inge sein altes Jugendzimmer für ihn hergerichtet hatte. Das Bett war frisch bezogen, alles war sauber, und gelüftet hatte sie auch. Jetzt musste Hannes nur noch kommen.

Luna und Sam waren ganz vernarrt in Hannes, obwohl sie ihn kaum sahen, er brauchte sie nicht einmal mit Leckerli bestechen, sie liebten ganz einfach seine Gegenwart. Die beiden hatte Inge vorsichtshalber bei ihren Eltern geparkt. Sie wollte Hannes erst einmal für sich allein haben, vor allem wollte sie den Grund für sein Kommen erfahren. Sie wäre nicht die, die sie war, wenn sich in ihre Freude, Hannes zu sehen, ihn in ihre Arme schließen zu dürfen, nicht auch noch Sorgen mischen würden.

Wenn er nun krank war?

Wenn es einen Besorgnis erregenden Grund für sein Kommen gab, über den er am Telefon nicht sprechen und über den er auch nicht schreiben wollte?

Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihre Aufregung steigerte sich.

Wo er nur blieb?

Es war vollkommen unsinnig, sich das zu fragen und sich in etwas hineinzusteigern. Hannes hatte nur eine ungefähre Zeit genannt, und die war gerade mal um zehn Minuten überschritten.

Es bestand also überhaupt kein Grund, sich Sorgen zu machen. Inge tat es dennoch. Sie hatte sich zwar vorgenommen, sich nicht mehr so schnell über etwas aufzuregen, doch gute Vorsätze fasste man schnell, es war nicht leicht, sich auch daran zu halten.

Sie schaute ständig auf die Uhr, deren Zeiger sich überhaupt nicht fortzubewegen schienen.

Und dann endlich ertönte der erlösende Klingelton, Inge sprang auf, hätte beinahe den Stuhl umgerissen, dann rannte sie zur Haustür, riss sie auf, doch dann blieb sie erst einmal wie angewurzelt stehen, und statt ihren Sohn zu begrüßen, ihn liebevoll in die Arme zu nehmen, ächzte sie vollkommen irritiert: »Hannes, mein Junge, wie siehst du denn aus?«

Hannes begann schallend zu lachen, umarmte seine Mutter, ehe er sagte: »Mama, was ist das denn für eine Begrüßung?«

Es war dumm gewesen, und sie entschuldigte sich sofort.

»Ist schon gut, Mama, ob Pamela, Pia, mein gesamtes Umfeld musste sich auch erst einmal an den neuen Anblick gewöhnen. Ich finde es übrigens cool, und eigentlich hätte ich von selbst darauf kommen können.«

Was redete Hannes da?

»Wieso? Hast du eine Wette verloren?«

Das löste bei Hannes einen erneuten Heiterkeitsausbruch aus.

»Nein, natürlich nicht, auf so was würde ich mich überhaupt nicht einlassen. Du kennst mich doch. Ich werde dir alles erzählen. Doch darf ich erst mal reinkommen? Wo sind Luna und Sam, die konnten doch noch überhaupt nicht feststellen, dass ich mich äußerlich verändert habe und sie mich deswegen auch nicht erkannt haben.« Er blickte seine Mutter an. »Übrigens wie du ebenfalls, Mama.«

»Ich habe dich natürlich erkannt, mein Junge, schließlich bin ich deine Mutter. Ich war halt überrascht«, verteidigte Inge sich. Und dann erzählte sie Hannes, dass sie Luna und Sam zu den Großeltern gebracht hatte, weil sie erst einmal allein mit ihm sein wollte.

Das konnte Hannes verstehen. Schließlich kannte er aus der Vergangenheit nur zu genau, dass die beiden Hunde erst einmal die gesamte Aufmerksamkeit haben wollten. Und so sehr er sie auch liebte, nervte das manchmal. Gemeinsam gingen sie ins Haus, und dann musste Inge ihre Neugier erst einmal bezwingen, weil Hannes sich auf das von ihr vorbereitete Essen stürzte, Rouladen mit Klößen, Rotkohl und ganz viel Soße, in die man die Klöße so richtig gut hineintitschen konnte. Das war eigentlich das Schönste an dem ganzen Essen. Hannes tat es voller Hingabe. Er nahm sogar noch eine zweite Portion, und Inge wunderte sich, dass jemand so viel in sich hineinstopfen konnte. Dabei war Hannes schlank, er hatte eine tolle Figur, obwohl er nicht mehr, wie früher, als er noch an der Tauch- und Surfschule in Australien beteiligt gewesen war, täglich mehrere Stunden Sport trieb.

Endlich schob Hannes seinen Teller beiseite, auf dem kein einziges Fitzelchen mehr zu sehen war.

Danach lehnte Hannes sich zufrieden zurück, genoss den Kaffee, den Inge ihm hingestellt hatte. Sie wusste, dass Hannes das liebte. Was den Kaffee betraf, da war Hannes wirklich ganz ihr Sohn.

Inge konnte sich noch immer nicht an sein verändertes Aussehen gewöhnen. Wo waren seine langen Haare geblieben, die er entweder offen oder lässig zu einem Dutt zusammengebunden hatte. Er war ein ganz anderer Typ geworden, dazu trug gewiss auch die lässige Kleidung bei, schwarze Hose, schwarzes Shirt und eine unglaubliche schwarze Lederjacke, die wie für ihn gemacht zu sein schien. Das sagte sie ihm auch, und da bekam Inge von ihrem Sohn die Antwort: »Ist sie auch.«

Nun verstand Inge überhaupt nichts mehr, Hannes besaß einige Rücklagen von dem Verkauf der Schule in Australien, von der Vermarktung des Surfbretts ›Sun­dance‹ und von den vielen Shootings, die er gemacht hatte, erst einmal für die Surfzeitungen, dann zum Schluss für das Modelabel Dan Voss. Doch das war vorbei, und Hannes hatte Pläne für die Zukunft, für die man Kapital benötigte. Ließ man sich dann eine teure Lederjacke anfertigen? Außerdem, sie hatte noch immer keine Antwort darauf, warum er sein Äußeres verändert hatte.

Hannes merkte, wie irritiert seine Mutter war, und deswegen erlöste er sie von ihren Qualen und erzählte ihr, dass er für die ganz neue Linie von Dan Voss noch einmal ein Shooting gemacht hatte, und dafür hatte er leider auch seine Haare opfern müssen.

»Mama, es passte nicht mehr, und bei der Gage, die man mir geboten hat, konnte ich einfach nicht ablehnen. Haare wachsen wieder, obwohl ich nicht weiß, ob ich jetzt mit dem beinahe kahlgeschorenen Kopf nicht erst einmal länger herumlaufen soll.«

Der Hannes!

Inge konnte erst einmal nichts sagen, ihr jüngster Sohn war wirklich für jede Überraschung gut. Und irgendwie war er auch ein Glückspilz.

Die Gelegenheiten flogen ihm ja nur so zu. Aber etwas Besonderes war er schon, und das sagte sie jetzt nicht aus lauter Mutterstolz. Sie liebte all ihre Kinder, doch Hannes war anders, das war er bereits als kleiner Junge gewesen, und er hatte seinen Kopf auch immer durchgesetzt, ganz egal, ob die Weltreise nach dem Abitur, die Weigerung studieren zu wollen.

»Hannes, es ist schon unglaublich, dass man auf dich zurückgekommen ist, obwohl du nicht mehr modeln wolltest.«

»Mama, so wie ich das Gesicht von ›Sundance‹ war, war ich es von Dan Voss. Warum auch immer, die Endverbraucher können sich mit mir identifizieren, kaufen die Klamotten, die ich trage, und da ist es jetzt doch auch nur folgerichtig, dass man mich unbedingt wieder als Model haben wollte. Ich finde die Sachen übrigens viel besser als die zuvor, und ich freue mich, dass ich sie auch privat tragen darf. Kaufen würde ich sie mir nie, obwohl sie cool sind, sie sind einfach zu teuer. Doch, weißt du was, Mama, ich schicke dir all die Titelblätter, auf denen ich zu sehen sein werde. Dich macht es ja stolz, während es Papa peinlich ist. Wie geht es ihm denn in der Reha? Hat er dort auch bereits sein Publikum?«

Inge bekam einen gequälten Gesichtsausdruck.

»Hannes …«, sagte sie nur, doch der behauptete trotzig: »Ist doch wahr. Hoffentlich lernt er jetzt endlich aus der ganzen Geschichte etwas, vor allem, dass auch er nicht das ewige Leben hat und mit den Jahren ein wenig sorgsamer umgehen sollte.«

Gerade Hannes und sein Vater hatten sich nicht viel zu sagen, und das lag vor allem an Werner, der, weil Hannes seine Wünsche nicht erfüllt hatte und auch niemals erfüllen würde, ziemlich nach der Holzhammermethode vorgegangen war. Dabei hätte Werner seinen jüngsten Sohn doch kennen müssen. Werner hatte genau das Gegenteil erreicht, und Hannes hatte sich zurückgezogen. Inge wollte jetzt keine Partei ergreifen, und das tat sie meistens, weil sie immer das Gefühl hatte, Werner in Schutz nehmen zu müssen. Damit machte sie es meistens nur noch schlimmer. Sie erzählte kurz, dass Werner nicht viel Zeit hatte, weil die täglichen Behandlungen viel Zeit in Anspruch nahmen, dass es ihm ansonsten viel besser ginge.

Das kommentierte Hannes nicht weiter, er begann von Pamela zu erzählen, die es tatsächlich geschafft hatte, in der Schule in den meisten Fächern die Beste zu sein.

»Sie ist schon ein kluges Mädchen, unsere Pamela. Es war gut, ihr zu gestatten, das Auslandsjahr zu machen, sie lernt nicht nur eine andere Schlafmethode kennen, sondern sehr viel fürs Leben. Mittlerweile ist sie in Brenlarrick bekannt wie ein bunter Hund, und sie ist sehr beliebt. Und gäbe es bei uns so etwas wie die Wahl einer Schönheitskönigin, hätte unser Mädchen die allergrößten Chancen, das zu werden. Aber zum Glück ist Pamela anders gestrickt, so was interessiert sie nicht, und sie malt sich auch nicht groß an. Muss sie auch nicht, sie ist mit ihren braunen Locken und den großen grauen Augen, mit denen sie einem bis in die Seele schauen kann, auch etwas ganz Besonderes. Pamela hat sich einer Schauspielgruppe angeschlossen, und sie ist sehr begabt.«

Er sah, wie es im Gesicht seiner Mutter zu zucken begann. Er lachte. »Mama, entspann dich, damit hat Pamela längst noch keine Entscheidung für ihre Zukunft getroffen. Es macht ihr nur unendlich viel Spaß. Doch wenn es anders wäre, was wäre dagegen einzuwenden? Schauspieler ist ein höchst ehrbarer Beruf, wenn auch ein schwerer, nicht allein wegen des Könnens, sondern, weil man nicht immer ein Engagement hat und die meisten Schauspieler im Alter mit nur wenig Geld zurechtkommen müssen. In Brenlarrick lebt auch eine von den ehemals ganz Großen, und das von der Hand in den Mund. Aber sie ist dennoch gut drauf, und sie hält auch jetzt noch den Schauspieler-Beruf für den schönsten von der ganzen Welt. Wenn man das sagen kann, dann weiß man, dass man sich richtig entschieden hat. So, wie ich jetzt auch.« Er blickte seine Mutter an. »Mama, du glaubst ja überhaupt nicht, wie glücklich ich bin, wenn ich ein Stück Holz in der Hand habe und daraus etwas entstehen lassen kann. Anfangs habe ich ja mit dem Schicksal gehadert, nachdem dieser unverschuldete Unfall auf dem Highway all meine Träume zerstört hatte. Heute sage ich, dass es gut war. Es war nur vermeintlich ein Unglück. Ich hatte Erfolg, es hat Spaß gemacht, aber glücklich und zufrieden bin ich erst jetzt. Ich bin angekommen, und ich weiß auch jetzt schon, dass ich es niemals bereuen werde, diesen Weg gegangen zu sein, auf den mich ein anderer Weg, nämlich der Camino, gebracht hat. Mama, ich wäre glücklich, wenn du dich mit mir freuen würdest. Du akzeptierst es, im Gegensatz zu Papa. Doch in deinem Hintergrund sitzen noch andere Gedanken. Lass es los.«

Inge musste schlucken. Er hatte recht, mit allem, was er sagte. Ehe sie etwas erwidern konnte, fuhr Hannes fort: »Die Großeltern, die freuen sich mit mir, auch Ricky und Jörg, der beneidet mich sogar, und das nehme ich ihm sogar ab. Wer weiß denn, wohin sein Weg ihn geführt hätte, wäre er von Papa nicht mehr oder weniger manipuliert worden und hätte diesen vorbestimmten wissenschaftlichen Weg eingeschlagen.«

»Jörg ist ein großartiger Manager geworden, der auf der Karriereleiter bis ganz oben geklettert ist. Und er ist mit seinem Leben, mit Charlotte und den Kindern, glücklich und zufrieden.«

»Vielleicht wäre er aber noch glücklicher, wenn er einen anderen Weg hätte gehen können, statt Papas Erwartungshaltung zu erfüllen.« Er warf seiner Mutter einen bittenden Blick zu. »Mama, lass uns davon aufhören, es führt zu nichts. Reden wir lieber mal darüber, wie es dir geht. Irgendwie machst du einen zufriedeneren Eindruck als zuletzt.«

»Ich … Papa und ich, wir haben uns ausgesprochen, und wir sind auf einem guten Weg.«

Hannes kommentierte das nicht weiter.

»Es würde mich freuen«, sagte er nur, um sich dann nach der ehrenamtlichen Tätigkeit seiner Mutter zu erkundigen. Und da blühte Inge so richtig auf, ihr war deutlich anzusehen, mit welchem Herzblut sie dabei war.

»Mama, es war die beste Entscheidung, die du treffen konntest, weil es ja dabei nicht darum geht, dass du beschäftigt bist, weil du Zeit totschlagen möchtest, sondern du kannst etwas bewirken. Jeder Jugendliche, dem man dabei hilft, auf den richtigen Weg zu kommen, ist ein Gewinn für die Gesellschaft, vor allem für sich selbst. Es gibt schon tolle Frauen in unserer Familie, die Omi, du, was Ricky macht, ist auch nicht zu verachten, und unsere Pamela, über die wird man auch noch reden.«

Er erwähnte mit keinem einzigen Wort seinen Vater, sondern fügte noch hinzu: »Und um Jörg müssen wir uns auch keine Sorgen machen. Er hat einen schweren Schicksalsschlag verkraften müssen, und er kann es mit einer berühmten Handchirurgin gut aushalten, das kann man nur, wenn man selber stark ist.«

Inge errötete vor lauter Freude, auch wenn es schon ein wenig schmerzte, dass Werner überhaupt nicht in seiner Aufzählung vorkam. Er war jemand, der sich weltweit einen großen Namen gemacht hatte. Doch das zählte bei Hannes offensichtlich nicht.

»Und wie geht es Pia?«, erkundigte sie sich, eigentlich in erster Linie, um vom bisherigen Thema abzulenken. Doch wenn sie ehrlich war, war auch eine gewisse Neugier dabei.

Hannes grinste.

»Na endlich. Erstaunlich, wie lange du dir das verkniffen hast, Mama. Pia und ich sind jetzt richtig zusammen, sie ist meine Freundin. Und das fühlt sich sehr gut an. Pia ist ganz großartig.«

Inge schluckte.

Eigentlich war es nicht neu, Hannes und Pia hatten sich von Anfang an mehr als nur sympathisch gefunden, und jetzt waren sie, wie man heutzutage sagte, zusammen.

Hannes trank etwas von seinem Kaffee.

»Mama, du sollst dir jetzt nicht überlegen, ob du uns was schenken musst. Wir sind nicht verlobt, und wir haben auch nicht geplant, irgendwann zu heiraten. Wenn es so kommen soll, dann wird es so sein. Pia ist keine Person, die nur durch mich lebt, umgekehrt ist es nicht anders. Jeder hat seine eigene Welt, in der er sich verwirklicht. Aber wenn wir zusammen sind, dann ist es unglaublich schön, dann sind wir uns sehr nahe, dann geht, ich drücke es jetzt mal kitschig aus, die Sonne auf.«

»Hannes, ich freue mich für dich, äh, für euch, und das meine ich sehr aufrichtig. Ich habe nichts gegen Pia, im Gegenteil. Und wenn es einmal anders war, dann eigentlich nur …«, sie brach ihren Satz ab. Und es war gut, dass plötzlich an der Haustür ein Getöse entstand, Luna und Sam kamen hereingestürmt, gebärdeten sich wie toll und konnten überhaupt nicht von Hannes lassen. Und dann kamen Teresa und Magnus von Roth in den Raum.

Hannes liebte seine Großeltern über alles, und entsprechend herzlich war die Begrüßung. Nachdem sie sich geherzt, ausreichend umarmt hatten, schob Teresa ihren Enkel ein wenig von sich weg, betrachtete ihn prüfend.

»Hannes, mein Junge, du erfindest dich immer wieder neu. Toll siehst du aus, und wenn ich jung wäre, würde ich total auf dich abfahren.«

»Teresa«, ächzte Magnus ein wenig gespielt, doch dann stimmte er seiner Frau zu. »Hannes, du hast doch nicht einfach so dein Äußeres vollkommen verändert. Da steckt gewiss etwas dahinter. Oder irre ich mich da?«

Hannes lachte.

»Opi, du irrst dich nie.«

Dann erzählte er seinen Großeltern von diesem neuen Auftrag, und Teresa und auch Magnus fanden das durchaus richtig, hätten es ebenfalls nicht anders gemacht.

»Von dir kann man noch etwas lernen, mein Junge«, lobte Teresa ihren jüngsten Enkel, »du bist wirklich mit allen Wassern gewaschen, geschäftstüchtig durch und durch, und kreativ bist du auch noch. Ich habe in der ›Art & Design‹ den Artikel über dich gelesen, lauter lobende Worte, und der Stuhl, der da abgebildet war, den würde ich auch nehmen. Der sieht unglaublich aus, und ich könnte darauf wetten, dass man auch noch sehr gut darauf sitzen wird.«

Inge bekam überhaupt nichts mehr mit. Ihre Mutter hatte es ihr gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Doch das durfte sie auch nicht erwarten, sie erzählte ja auch nicht, was sie gerade las. Und wenn, dann hätte sie ja selbst mal in einer dieser Kunst- und Designhefte blättern können, die bei ihren Eltern überall herumlagen, weil sie sich dafür interessierten.

Hannes auf jeden Fall freute sich.

»Omi, ich wusste, dass du voll darauf abfahren würdest, und deswegen habe ich mir auch erlaubt, dir den Stuhl mitzubringen, und dafür habe ich sogar in Kauf genommen, saftiges Übergepäck dafür zu zahlen.«

Teresa wurde ganz aufgeregt, sie wurde rot.

»Hannes, du hast was?«, erkundigte sie sich schließlich, und Hannes lachte: »Omi, du hast schon richtig gehört, ich habe den Stuhl in meinem Mietwagen. Und wenn du magst, hole ich ihn für dich heraus.«

Und ob Teresa das wollte, sie überließ es nicht Hannes allein, sondern sie ging mit nach draußen und umhüpfte ganz aufgeregt den sorgsam verpackten Stuhl.

Als sie wieder ins Haus gingen, murmelte sie vor sich hin: »Dass ich das erleben darf. Magnus ist mein Zeuge, als ich die Abbildung sah, erweckte sie direkt Begehrlichkeit in mir. Doch dass ich selbst den Stuhl bekommen würde, nein, ich glaube es noch immer nicht.«

Hannes packte den Stuhl aus, und dann bestaunten sie ihn alle, selbst die Hunde blieben für einen Augenblick still.

Es sagte niemand etwas, weil der Stuhl bezaubernd schön war. Inge konnte nicht glauben, dass ihr Hannes dieses Prachtstück mit seinen eigenen Händen fabriziert hatte, allein schon die Idee für dieses ungewöhnliche Design zu haben, war fantastisch.

Magnus war einfach nur stolz auf seinen Enkel, und Teresa, die strich ganz behutsam über das edle Holz, als handele es sich um feinstes Porzellan.

Teresa von Roth verschlug es nicht so schnell die Sprache, doch jetzt konnte sie einfach nichts sagen. Sie war nur glücklich, und fassen konnte sie auch noch nicht, dass dieser Stuhl, den sie so sehr bewundert hatte, Magnus war wirklich ihr Zeuge, nun ihr gehören sollte. Ein Stuhl, über den man so viele lobende Worte gefunden hatte.

Durfte sie dieses Geschenk überhaupt annehmen?

»Omi, nun setz dich bitte mal drauf, ich möchte zu gern wissen, ob er auch beim Sitzen deinen Vorstellungen entspricht.«

Teresa rührte sich zunächst einmal nicht von der Stelle. Hannes fasste seine Großmutter ganz behutsam an die Schulter, schob sie zu dem Stuhl, drückte sie behutsam auf ihn, dann blickte er seine Omi ganz erwartungsvoll an.

Hannes musste eine ganze Weile warten, denn zunächst einmal saß Teresa beinahe andachtsvoll auf ihrem neuen Stuhl, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, danach schüttelte sie ungläubig den Kopf und flüsterte ergriffen: »Dass ich so etwas noch einmal erleben darf. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, schon mal auf einem so bequemen Stuhl gesessen zu haben, vor allem die Rückenlehne ist perfekt, und daran hakt es ja meistens. Und dann dieses minimalistische und doch so besondere Design. Ich kann verstehen, dass so etwas von der Fachwelt bejubelt wird und man sich vieles von dir verspricht, mein Junge. Mein Gott, augenblicklich ist es für mich so wie Weihnachten und Ostern zugleich. Ich kann es einfach nicht fassen, dass einer meiner Enkel dieses Wunderwerk geschaffen hat. Danke, Hannes, tausend Dank, es macht mich unendlich stolz, und ich freue mich unbeschreiblich, dass du dabei an mich gedacht hast.«

Hannes freute sich, er war ganz stolz, umarmte seine Großmutter.

»Omi, wenn jemand es verdient hat, dann doch du. Du ­verfolgst meinen Werdegang, nimmst regen Anteil. Dafür danke ich dir so sehr«, er blickte zu seinem Großvater, »dir natürlich ebenfalls, Opi. Besonders danke ich dir für die Ratschläge, die du mir hier und da erteilst, aber auch für die Kritik.«

Nachdem das dann abgehakt war, sie sich natürlich sehr freute, dass Hannes seinen Großvater mit einbezog, fuhr Teresa fort: »Übrigens, Hannes, ich möchte den Stuhl nicht geschenkt haben. Mit der Fertigung von besonderen Möbeln möchtest du nach deiner Ausbildung dein Geld verdienen. Und ich bin ganz stolz darauf, das erste Stück des großen Möbeldesigners Hannes Auerbach erworben zu haben.«

Was redete seine Omi da eigentlich?

»Omi, du musst mir nichts abkaufen. Auch wenn ich mich noch in der Ausbildung befinde, verdiene ich recht gut, zudem waren da bis jetzt die Nebenjobs, und das Geld aus dem Verkauf der Surf- und Tauchschule habe ich bislang nicht angerührt. Du musst dir also wirklich keine Sorgen machen, dennoch ist es lieb von dir, danke, Omi, doch es ist nicht nötig.«

»Es ist sehr großzügig von dir, dass du mir dieses wundervolle Designstück schenken möchtest. Doch ich bin dank Piet van Beveren an eine ganze Menge Geld gekommen, das ich beliebig ausgeben kann, was mir übrigens eine ganz große Freude bereitet. Hast du denn schon mal etwas verkauft, mein Junge?«

Hannes schüttelte den Kopf.

»Nö, das nicht, bislang habe ich alles verschenkt, und das war gut so.«

Teresa nickte. »Ja, man sagt nicht umsonst, dass Geben seliger ist denn Nehmen, dennoch: Gerade, weil du noch nichts verkauft hast, möchte ich gern das erste Teil von dir käuflich erworben haben. Als Grundstock gewissermaßen.«

Hannes kannte seine Großmutter, kam gegen sie eh nicht an, denn wenn sie etwas wollte, da konnte sie hart sein wie Kruppstahl.

»Okay, Omi, du hast mich überredet.«

Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Teresa wandte direkt ein: »Nein, überzeugt, mein Junge, nicht überredet.«

Sie blickte ihren Ehemann an.

»Magnus, Lieber, bring bitte den Stuhl zu uns hinüber. Ich habe bereits eine Idee, wohin ich ihn stellen möchte.«

Sie blickte ihre Tochter und ihren Enkel an.

»Ihr habt euch gewiss noch eine ganze Menge zu erzählen, das könnt ihr jetzt tun. Wir kommen gleich wieder zurück.«

Damit machte sie klar, dass sie keine Hilfe von ihrem Enkel haben wollte, denn selbstverständlich hätte Hannes den Stuhl in das Haus seiner Großeltern getragen.

Teresa und Magnus gingen, Inge und Hannes waren wieder allein, denn Luna und Sam hatten gleichfalls das Haus verlassen, vermutlich in der Hoffnung, gleich mit diesen köstlichen Leckerli belohnt zu werden.

Inge freute sich über die noble Geste ihres Sohnes, und wie glücklich Hannes seine Großmutter damit gemacht hatte, war nicht zu übersehen. Nein, das war es ganz gewiss nicht, was sie gerade ziemlich verunsicherte. Sie fand es beschämend, dass ihre Eltern über alles, was Hannes machte, bestens informiert waren. Doch sie lasen auch die Blätter, durch die sie auf den neuesten Stand der Dinge gebracht wurden, und demzufolge konnten sie auch mitreden. Wenn sie ehrlich war, dann wusste Inge eigentlich überhaupt nichts von all dem, denn Hannes sprach mit ihr nicht über das, womit er sich gerade beschäftigte. Und dass über ihn etwas in dieser bekannten Zeitschrift gestanden hatte, auch davon hatte sie keine Ahnung gehabt.

»Hannes, ich …«

Er ahnte, was seine Mutter sagen wollte und ließ es überhaupt nicht erst zu, dass sie es aussprach.

»Mama, lass es gut sein, du musst dich jetzt nicht rechtfertigen. Ich würde übrigens auch sehr gern hier und da etwas für dich anfertigen. Ich möchte verhindern, dass Papa sich darüber mokiert. Ich könnte Gold in die Möbel einarbeiten, und er würde verächtlich sein Gesicht verziehen. Lass es gut sein, zwinge dich nicht zu etwas. Ich muss nicht dazu ermuntert werden, bei der Stange zu bleiben. Ich brenne für das, was ich mache, und es ist schön zu wissen, dass ich den Rest der Familie auf meiner Seite habe, und die Großeltern, die sind richtige Fans von mir, und welche Sach- und Fachkenntnisse sie haben, das ist ganz unglaublich, sie kennen die ganze Szene.« Er lächelte seine Mutter an. »Bekomme ich noch einen Kaffee?«

Fast geistesabwesend schenkte Inge den für ihren Sohn ein, für sich selbstverständlich ebenfalls. Als sie wieder saß, sagte sie leise: »Alle meine guten Wünsche sind immer bei dir, Hannes, das musst du mir glauben. Und vielleicht solltest du deine Meinung über deinen Vater mal überdenken. Gewiss, mir gefällt auch nicht alles, was Werner macht. Aber jetzt ist er krank.«

Sofort korrigierte Hannes seine Mutter. »Er war es, Mama, jetzt erholt er sich in der Reha.«

»Okay, Hannes, doch warum fragst du nicht, wie es Papa geht?«, wollte Inge wissen.

Prompt kam seine Antwort: »Hat er jemals gefragt, wie es mir geht?«

»Ja, damals, als du auf Weltreise warst nach dem Abitur, wollte er alles wissen.«

»Ja, damals, weil er da noch glaubte, ich würde mich seinen Wünschen beugen und nach meiner Rückkehr mit meinem Studium anfangen, zunächst in Amerika, wo ich immerhin ein Stipendium haben konnte, dann hier. Und weil ich nicht das tat, was er für mich geplant hatte, hatte er jegliches Interesse an mir verloren. Bitte erinnere dich daran, Mama, wie peinlich es ihm war, als einer seiner Kollegen ihm ein Titelbild gezeigt hatte, auf dem ich für ›Sundance‹ Werbung machte. Alle fanden es gut, sehr gut sogar. Und es hat die Umsätze für ›Sundance‹ angekurbelt, sehr sogar. Mama, es ist lobenswert, wie sehr du dich bemühst, Papa in einem schönen Licht erscheinen zu lassen. Als wir Kinder waren, gelang dir das. Mittlerweile haben wir alle unsere eigene Meinung, und da bin ja nicht nur ich von Papa bedrückt, wir alle respektieren ihn, aber wir haben ein distanziertes Verhältnis zu ihm. Selbst Pamela hat ihre Meinung geändert, und glaub bitte nicht, dass jemand von uns sie beeinflusst hat. Wir reden nicht über Papa. Wozu auch? Da gibt es, weiß Gott, andere Themen, die uns mehr interessieren. Außerdem braucht Papa uns überhaupt nicht, es gibt genug Leute, die ihm nach dem Munde reden, die ihn bewundern.« Er blickte seine Mutter an. »Bitte, lass uns aufhören, über dieses Thema zu reden. Wie findest du es, dass Ricky und Familie mit den Rückerts zu einem gemeinsamen Urlaub aufbrechen?«

Da konnte Inge sofort sagen, wie großartig sie es fand, und Hannes erkundigte sich direkt: »Und erweckt das keine Neidgefühle in dir? Schließlich waren du und Papa noch nie gemeinsam mit jemandem von uns in den Ferien. Freilich, was sollte sich geändert haben. Papa war und ist kein Familienmensch, er ist schnell genervt von allem. Das haben wir als Kinder ja auch erfahren. Ein, zwei Tage hat er sich bemüht, seiner Vaterrolle gerecht zu werden, danach war Zeitunglesen angesagt, und nach einer Woche spätestens musste er wegen angeblich wichtiger Termine abreisen. Und dazu ein Urlaub in einem Camper, das wäre für Papa eh unmöglich. Ricky freut sich auf jeden Fall, weil sie sich davon erhofft, dass Fabian und seine Eltern noch mehr Kontakt zueinander bekommen. Mit Rosmarie scheint es ja schon recht gut zu funktionieren, mit Heinz Rückert klappt es noch nicht so ganz, aber immerhin bemüht der sich, und dass dieser dröge Notar mal über seinen Schatten springen würde, darauf hätte ich niemals gewettet. Aber immerhin sind ihm seine Bemühungen hoch anzurechnen. Und Ricky sagt, dass sich die Rückerts zu recht passablen Großeltern entwickeln.«

Diese harsche Kritik an Werner, der noch immer von den Folgen seiner Krankheit arg gezeichnet war, wollte Inge trotz der Liebe zu ihrem Sohn nicht unwidersprochen stehen lassen. Aber dann kamen ihre Eltern mit den Hunden zurück, und die sprangen erst einmal wieder an Hannes hoch, jaulten vor Freude, als hätten sie sich Ewigkeiten nicht mehr gesehen.

Teresa war noch immer ganz aufgeregt, und Magnus war sehr gerührt.

Teresa stürzte sich auf ihren Enkel.

»Hannes, natürlich musst du es dir noch richtig ansehen, aber sieh mal, ich habe ein Foto gemacht. Sieht der Stuhl in diesem Erker nicht perfekt aus?«

Das tat der Stuhl wirklich, und Hannes freute sich, dass er seine geliebte Omi so glücklich gemacht hatte.

Nachdem sie alle saßen, Teresa neben Hannes, das ging überhaupt nicht anders, schob sie Hannes einen Briefumschlag zu. Sie ließ sich also wirklich nicht davon abbringen, den Stuhl zu bezahlen.

Er warf einen Blick in den Umschlag, schüttelte den Kopf, rief: »Nein, Omi, das geht überhaupt nicht. Das ist viel zu viel.«

Er wollte ihr den Umschlag wieder zuschieben, doch Teresa hinderte ihn daran.

»Hannes, das ist mir der Stuhl wert, basta.«

Dann hatte er keine andere Wahl, er bedankte sich, umarmte seine Großmutter, die ließ es geschehen und freute sich, dass Hannes das Geld genommen hatte. Es fühlte sich ganz großartig an, jemandem eine Freude zu bereiten, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob das ein Loch in die Haushaltskasse reißen würde.

»Aber, meine Lieben«, sagte Hannes, »dann lade ich euch heute Abend in den ›Seeblick‹ ein.«

Da Teresa ihren Hannes sehr gut kannte, weil er eine ganze Menge von ihr hatte, erwiderte sie direkt: »Einverstanden, mein Junge. Doch dann lass dir danach einen ordnungsgemäßen Bewirtungsbeleg ausstellen, den du absetzen kannst.«

Hannes brach in schallendes Gelächter aus. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, bemerkte er: »Danke, liebste Omi, das werde ich mir für die Zukunft merken, doch jetzt als Azubi habe ich nichts davon und kann darauf verzichten. Das ist gut so, ihr seid meine Familie, ich liebe euch über alles, und eigentlich ist es ein gruseliger Gedanke, euch von der Steuer abzusetzen. Was für ein Glück, dass ich das nicht tun muss.«

Inge mischte sich ein. »Darf ich vielleicht auch etwas dazu sagen? Ich habe den Tisch bestellt, die Einladung ausgesprochen, und ich werde die Rechnung begleichen, ohne euch abzusetzen. Auf so eine Idee würde ich niemals kommen. Außerdem glaube ich zu wissen, dass das ohnehin nur bei Geschäftsessen möglich ist, nicht, wenn man privat essen geht. Können wir das Thema beenden? Ich habe zu dem Kaffee auch etwas anzubieten. Ich weiß zwar nicht, ob Hannes bereits wieder etwas essen kann, nachdem er sich mittags den Bauch so vollgeschlagen hat.«

Hannes schaute seine Mutter an.

»Mama, es kommt ganz darauf an. Was gibt es denn?«

Neugierig blickte er seine Mutter an, und die freute sich darauf, gleich eine Bombe platzen zu lassen, denn das, was sie in petto hatte, würde Hannes gleich im Karree springen lassen. Inge ließ sich Zeit, ehe sie antwortete: »Eine Stachelbeer-Baiser-Torte.«

Inge hatte sich nicht geirrt, Hannes sprang auf, umarmte ­seine Mutter stürmisch und quietschte: »Und das sagst du erst jetzt, Mama? Ich liebe Stachelbeer-Baiser.«

Magnus lachte.

»Das wissen wir doch alle, mein Junge. Auch wenn du vieles von deiner Oma hast, die Vorliebe für diesen Kuchen, die hast du von mir, denn da könnte ich mich auch reinlegen.«

Inge freute sich, und sie beeilte sich, rasch noch die Kuchenteller, Kuchengabeln und Servietten auf den Tisch zu bringen, ehe sie die Torte servierte, die köstlich aussah. Sie hatten alle noch nicht einmal ein Stück davon auf ihrem Teller, als Hannes bereits begann, sich etwas davon in den Mund zu stopfen und genießerisch die Augen zu verdrehen.

Inge war sich sicher, dass er auch hier mehr als nur einmal zuschlagen würde, doch das machte nichts. Sie war sich sicher, dass er abends ebenfalls wie ein Weltmeister essen würde.

Sie warf ihrem Sohn einen liebevollen Blick zu. Es war so schön, ihn hier zu haben, und das dachten ihre Eltern wohl ebenfalls, denn sie strahlten Hannes richtig an.

Nur schade, dass Hannes seinen Vater nicht ganz vorurteilsfrei beurteilte.

Inge kam zur Erkenntnis, dass auch ihr geliebter Sohn Hannes, genau wie alle Familienmitglieder, seine kleinen Schwächen hatte. Er war ebenso wenig unfehlbar wie ihr Werner. Er war ja schließlich auch Werners Sohn.

*

Vermutlich lag es daran, dass Maja Greifenfeld hier im Sonnenwinkel nicht richtig ausgelastet war. Anders ließ es sich nicht erklären, dass sie die unbedeutende Szene mit diesem Arne Boll nicht aus dem Sinn bekam. Warum ließ es sie nicht los? Weil sie es sich nicht erklären konnte, was er in dieser mehr oder weniger verträumten Gegend machte? Wieso eigentlich, sie war doch ebenfalls hier. Und wüssten das die Menschen aus ihrem näheren Umfeld, würden die sich auch wundern. Wundern ja, doch würde es ihnen nicht mehr aus dem Sinn gehen? Gewiss nicht, weil es so wichtig nicht war.

Maja ertappte sich dabei, dass sie, auch wenn es überhaupt nicht notwendig, sondern sogar ein Umweg war, immer an dem ein wenig verwahrlosten Haus vorbeifuhr, das übrigens einen verlassenen Eindruck machte. Wüsste sie nicht, dass dort jemand lebte, käme sie zu der Annahme, es sei leer stehend.

Sollte sie einfach mal anhalten, zum Haus gehen, klingeln, sich als eine Bekannte von dem Galeristen vorstellen?

Doch was sollte das bringen?

Hatte sie nicht hinreichend mit sich selbst zu tun? Sie war in ihren Überlegungen noch keinen einzigen Schritt vorangekommen, wie es mit ihr eigentlich weitergehen sollte. Um das Dasein einer reichen Frau zu genießen, dazu war sie noch zu jung. Andererseits wollte sie nicht mehr in ihren alten Beruf zurückkehren. Was also wollte sie aus dem Rest ihres Lebens machen?

Sie wusste es nicht, und deswegen lenkte sie von sich ab. Natürlich gab es noch ein paar andere Menschen ringsum, mit denen sie sich beschäftigen, die sie treffen konnte. Sie kannte die Frau Doktor, und mit Julia hatte sie sich ein wenig angefreundet. Von der allerdings konnte sie keine Hilfe erwarten, allenfalls Ratschläge, doch da sie schon in verschiedenen Welten lebten, wären die für sie nicht umsetzbar.

Ja, sie wollte von sich ablenken, da war Maja sich irgendwann sicher, und das Verhalten des Galeristen ging ihr nicht aus dem Sinn. Es war ihm richtig unangenehm gewesen, sie zu sehen. Doch warum? Sie hatte ihn doch nicht dabei ertappt, wie er von einer heimlichen Geliebten gekommen war. Und selbst wenn, er war ein freier Mensch, und das, was sie miteinander verband, das war nicht mehr als ei­ne­ oberflächliche Bekanntschaft, und das auch nur, weil ihr Bruder Georg mit diesem Mann zu tun hatte.

Es stimmte etwas nicht!

Das konnte sie an nichts festmachen, es war einfach nur so ein Gefühl.

Auch heute war sie wieder unterwegs, fuhr erst ganz langsam an das Haus heran, dann blieb sie stehen, blickte hinüber. Sollte sie? Sollte sie nicht? Lust darauf hätte sie schon, allein, um ihre Neugier zu befriedigen. Doch mit welcher Begründung sollte sie dort klingeln.

Es war ausgesprochen töricht, dachte sie, fuhr an, sie würde in die Mühle fahren. Brot brauchte sie noch nicht, doch wenn der Kuchen des Tages verlockend aussah, würde sie sich ein Stück davon genehmigen, dazu einen leckeren Kaffee. Die Mühle war einer ihrer Lieblingsorte. Und so ging es vielen Menschen, denn dort war es immer voll. Gleichgültig, ob im Verkaufsraum oder in dem Café. Und es waren die unterschiedlichsten Menschen, die dort verkehrten, egal, ob jung oder alt, ob mit oder ohne Familie. Egal, ob Geschäftsleute in ihren erkennbaren grauen Anzügen, die sich einen kurzen Stopp gönnten, um einen Kaffee zu trinken oder um Wartezeiten zu überbrücken. Es machte Maja mittlerweile Spaß, in den Gesichtern zu lesen, sich so ihre Gedanken zu machen. Doch so schnell, wie die kamen, so schnell verschwanden sie wieder. Warum gelang ihr das nicht bei diesem Zwischenfall mit Arne Boll? Sie besuchte seine Vernissagen nicht, er interessierte sie nicht für einen Cent als Mann.

Es war die Langeweile …

Dabei könnte sie sich wenigstens ehrenamtlich betätigen, denn dazu hatte sie diese großartige, feine Dame, Teresa von Roth, ermuntert. Die hatte eines Tages bei ihr geklingelt, ihr eine Sammelbüchse vors Gesicht gehalten und um eine Spende für das Hohenborner Tierheim gebeten. Sie war nicht kleinlich gewesen, und als Teresa den Betrag sah, versuchte sie sofort, diese junge Frau ins Boot zu ziehen. Auch wenn Piet van Beveren noch immer großzügig war, schadete es nicht, weitere Spender zu finden. Geld wurde überall gebraucht, nicht nur im Tierheim.

Also, warum vertrieb sie nicht durch gute Taten ihre scheinbare Langeweile, denn sonst hätte sie nicht diese dummen Gedanken an den Galeristen. Maja beschloss, es sich aus dem Kopf zu schlagen.

*

Wenn Maja von Greifenfeld geahnt hätte, dass ihre Aktionen nicht unbemerkt geblieben waren, hätte sie sofort gehandelt.

Pieter van Lejwen war zutiefst besorgt. Zuerst hatte er es für einen Zufall gehalten, dass er andauernd dieses auffallenden Auto sah, das im Schritttempo bei ihm vorbeifuhr. Doch irgendwann wurde ihm klar, dass es kein Zufall war. Und als dann das Auto auch noch anhielt, die Frau Anstalten traf, auszusteigen …

Er hatte sie sofort erkannt, und da gingen alle Alarmglocken bei ihm an, zumal Arne ihm noch einmal eingeschärft hatte, wie er sich verhalten sollte.

Was sollte er jetzt tun? Seinem Instinkt folgen und die Mücke machen, oder sollte er die Kohle für das nächste Bild noch mitnehmen? Denn eines war klar, so eine Chance bekam man nur einmal in Leben, und wenn man das ohne aufzufallen überstanden hatte, sollte man das Schicksal nicht ein zweites Mal herausfordern. Außerdem standen skrupellose Galeristen mit den Dollarzeichen in den Augen nicht in jeder Ecke. Es gab sie gewiss, doch wie sollte man an sie herankommen? Das mit Arne Boll war eine glückliche Fügung des Schicksals gewesen.

Er war nervös, lief auf und ab, vergaß sogar, eine seiner geliebten Zigaretten anzuzünden oder sich einen Whisky einzuschenken.

Plötzlich hielt er inne, lief in die Abstellkammer, holte die unscheinbare Tasche heraus, brachte sie zum Tisch, und dann holte er die Geldbündel einzeln heraus, legte sie auf den Tisch, setzte sich, erfreute sich an ihnen. Und jetzt brauchte er doch eine Zigarette und einen Whisky.

Es war verdammt viel Knete, und eine alte Oma musste sehr lange dafür stricken. Eigentlich müsste es reichen, man sollte schließlich nicht zu gierig sein.

Er legte seine Zigarette in einen Aschenbecher, nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Glas ab, dann begann er flink, einige Geldbündel zu verschieben.

Wenn er die Nerven behielt, würde genau ein solcher Betrag hinzukommen. War da die Frage, die er sich unablässig stellte, nicht schon beantwortet?

Es wäre dämlich, auf so viel Kohle zu verzichten.

Er lehnte sich zurück, trank etwas, zündete an der beinahe aufgerauchten Zigarette die nächste an und dachte nach.

Hörte er die Flöhe husten?

Was war denn schon passiert?

Arne Boll hatte da so eine Braut gesehen, was ihm sichtlich unangenehm gewesen war. Und weiter? Das war alles! Und eigentlich war es doch gut, dass er vorsichtig war, auch ihn bat, vorsichtig zu sein. Es lag in ihrem Interesse, dass der Coup störungsfrei über die Bühne gebracht wurde, und dann gab es ja auch noch die anderen Jungen, die was vom Kuchen mithaben wollten und die weitere Aufträge für ihn hatten. Doch dagegen hatte er sich längst entschieden, das wussten sie nur nicht. Nein, wenn überhaupt, dann noch das eine Bild für den Ami, und dann … Thailand hatte er für sich längst schon gestrichen. Er würde nach Südamerika gehen, dort konnte er leben wie Gott in Frankreich, und dort würde ihn niemand finden. Aber erst einmal …

Er raffte das Geld zusammen, verstaute es in der Tasche, und die brachte er in die Abstellkammer zurück. Dieses Geld war ihm auf jeden Fall schon mal sicher. Er war klug genug gewesen, es sich bar auszahlen zu lassen, man sagte nicht umsonst – nur Bares ist Wahres …

Er lachte, weil es ihm ein verdammt gutes Gefühl der Sicherheit gab.

Er würde sich nicht mehr davon verrückt machen lassen, dass diese Braut ständig hier herumkreiste. Er würde auch nicht mehr aufpassen, ob er sie sah oder nicht.

Er hätte schon noch Lust auf einen Whisky oder ein weiteres Zigarettchen gehabt, er verkniff es sich, sondern ging in sein Atelier. Und dort begann er verbissen, an seinem Bild zu malen. Er konnte stolz auf sich sein, und wieder einmal fand er, dass es besser war als das Original. Doch das allerdings war lediglich seine subjektive Meinung. Hier ging es nicht darum, besser zu sein, denn wäre es so, würde er auffliegen. Und genau das war es, was er vermeiden wollte.

Ach, was sollte es, einen kleinen Whisky konnte er sich noch gönnen, und arbeiten mit einer Fluppe im Mundwinkel konnte er ebenfalls. Und genau das setzte er in die Tat um, ehe er sich durch nichts mehr ablenken ließ.

*

Rosmarie Rückert wirkte ziemlich abgehetzt, als Inge ihr die Haustür öffnete.

»Ich bin am Ende«, stöhnte Rosmarie nach der Begrüßung, »jetzt kann mich nur noch ein Kaffee retten.«

Inge schüttelte den Kopf.

»Kannst du mir mal verraten, weswegen du dir einen solchen Stress machst? Ihr werdet euch in zivilisierten Ländern bewegen, in denen man alles kaufen kann, solltet ihr etwas vergessen haben.«

Rosmarie lachte.

»Das sagt Heinz auch immer, vor allem schüttelt er den Kopf wegen der vielen Süßigkeiten, die ich für die Kids eingekauft habe. Er ist der Meinung, dass man damit ein Kinderheim bestücken könnte und dass Fabian und Ricky uns ohnehin ihre Anweisungen geben werden, was wir dürfen und was nicht.«

Inge kannte ihre Tochter und ihren Schwiegersohn.

»Rosmarie, das fürchte ich auch. Doch es macht nichts, was du wieder mitbringst, kannst du dann tatsächlich im Kinderheim abgeben. Dort wird man sich freuen. Doch komm erst mal rein, auf den Kaffee musst du nicht warten, der ist fertig.«

»Und gibt es auch etwas Süßes dazu?«, erkundigte Rosmarie sich hoffnungsvoll. »Ich brauche das jetzt für meine Nerven.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Ich bin ja nur froh, dass ich Hannes noch erwischt habe und ich ein paar Worte mit ihm wechseln konnte. Der Junge sieht ja so was von cool aus. Ich mochte seine langen Haare vorher ebenfalls, doch so laufen mittlerweile viele Männer rum, junge, denen es steht, ältere, die es besser lassen sollten, die vermutlich keinen Spiegel daheim haben. Hannes hat mir verraten, wo er eine Titelseite. Er hat sich übrigens sehr gefreut, dass ich den über ihn geschriebenen Artikel gelesen und den Stuhl gesehen habe. Und ist es nicht unglaublich, dass er den unter viel Mühe Teresa mitgebracht hat? Die muss doch vor lauter Glück und Stolz an die Decke gesprungen sein. Also wirklich, Hannes ist etwas ganz Besonderes, und wäre ich jung, würde ich mich gnadenlos in ihn verlieben.«

Sie blickte Inge an.

»Du kannst auf all deine Kinder stolz sein, meine Liebe, auf Hannes allerdings besonders, er ist schon anders als alle anderen. Doch wo bleibt was Süßes?«, wechselte sie das Thema.

Inge erhob sich, um Rosmaries Wunsch zu erfüllen und konnte zusehen, wie ein Keks nach dem anderen in Rosmaries Mund verschwand. Rosmarie war für Süßigkeiten durchaus zu haben, doch sie genoss sie in Maßen, war normalerweise sehr diszipliniert. Heute war sie jedoch wie entfesselt.

»Rosmarie, pass auf, dass du keinen Herzinfarkt bekommst, ehe die Reise startet. Wann geht es denn ganz genau los?«

»Heute zur halben Nacht, wir fahren bis zu Fabian, Ricky und den Kindern, und dann geht es gemeinsam weiter. Alle freuen sich, aber ich glaube, ich bin am meisten aufgeregt.«

Sie aß einen weiteren Keks, trank etwas von ihrem Kaffee, schob die Tasse ein wenig zur Seite, blickte Inge an.

»Inge, so sehr ich mich auf den gemeinsamen Urlaub auch freue, dich werde ich vermissen, die schönen Gespräche mit dir sind sehr wichtig für mich.«

Inge errötete. »Du kommst ja wieder, und ich bin nicht aus der Welt, es steht keine Reise bei mir an.«

»Auch nicht zu Werner?«

Inge schüttelte den Kopf.

»Wir dachten schon daran, doch die Frau Doktor riet uns davon ab, weil wir eh nichts voneinander hätten. Und Werner kann das mittlerweile bestätigen, er hatte den ganzen Tag über irgendein Programm, und abends fällt er rechtschaffen müde in sein Bett. Er fehlt mir, aber ich bin es ja gewohnt, ohne ihn zu leben. In der Vergangenheit war er, wie du weißt, öfter unterwegs als daheim.«

Das konnte Rosmarie bestätigen, sie wusste auch, wie unglücklich Inge deswegen gewesen war.

Es ging sie nichts an, doch es interessierte sie schon.

»Und glaubst du, dass sich in Zukunft etwas ändern wird?«

Inge antwortete nicht sofort, zuckte schließlich die Achseln und sagte wahrheitsgemäß: »Rosmarie, ich weiß es nicht. Werner hat mir einfach zu viel in der Vergangenheit versprochen und sich nicht daran gehalten. Ja, vielleicht ist es jetzt anders geworden. Ein Herzinfarkt lässt einen schon nachdenklich werden.«

»Inge, ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass es künftig ein gemeinsames Leben bei euch geben wird, ganz besonders dir wünsche ich es ….«, sie zögerte kurz, um leise fortzufahren: »Und ich bin ja so froh, dass Werner nichts mit einer anderen Frau hat, dass es nur eine Stalkerin war, die dir das Leben zur Hölle gemacht hat.«

Inge nickte. »Und Werner hat davon nichts mitbekommen, aber so ist er, wenn er auf seinen wissenschaftlichen Treffen ist, interessiert ihn nichts anderes als seine Arbeit. Ich hätte mir so manche schlaflose Nacht ersparen können, wenn ich etwas gesagt hätte, statt es in mich hineinzufressen. Aber zum Glück ist es vorbei, Jörg hat dieser Frau so richtig Angst eingejagt. Hoffentlich sucht sie sich nicht ein neues Opfer. Doch zur Polizei zu gehen, hätte nichts gebracht, die greift ja leider erst ein, wenn es fast schon oder wenn es bereits zu spät ist. Da sollten die Gesetze geändert werden. Bei uns hielt es sich ja noch in Grenzen, doch für manche der Stalkingopfer muss es entsetzlich sein, und nicht einmal ein Wohnortwechsel hilft da, denn manche von denen schrecken vor nichts zurück.«

»Lass uns davon aufhören, Inge«, bat Rosmarie, »ich möchte mich jetzt nur noch entspannen und über etwas Schönes reden.«

Dem stimmte Inge zu.

»Da habe ich eine Idee, lass uns über die kleine Teresa sprechen.«

»Sofort, dazu bin ich bereit, und ich finde, was bei euch der Hannes ist, ist in Fabians Familie die kleine Teresa, sie ist anders, sie mischt sie alle auf, und niemand kann ihr böse sein.«

Sie hatten ein Thema, an dem sie sich beide erfreuten, und natürlich blieb es nicht dabei, nur über den kleinen Nachzügler zu sprechen, auch über die anderen Rückert-Sprösslinge konnte man stundenlang reden, und dann, es blieb nicht aus, auch über Ricky und Fabian, die so glücklich miteinander waren, dass man neidisch werden konnte. Und das waren gewiss viele Leute, Inge und Rosmarie freuten sich nur.

Rosmarie hatte nur kurz bleiben wollen, doch dann hatten sie sich verplaudert, und Rosmarie sprang irgendwann ganz entsetzt auf.

»Du liebe Güte, Heinz muss längst zu Hause sein, und gewiss hat er bereits eine Vermisstenmeldung aufgegeben.«

»Rosmarie, entspann dich, er kann sich doch denken, wo du dich aufhältst, und wenn er dich noch für irgendwas Wichtiges brauchen würde, hätte er sich gemeldet.«

Sie erhob sich, holte eine Tragetasche aus Papier aus dem Schrank, drückte sie Rosmarie in die Hand.

»Auch wenn du wie eine Weltmeisterin Süßigkeiten eingekauft hast, mit dem hier kannst du auf jeden Fall punkten, denn das sind alles Kekse, die die großen und die kleinen Rückerts mögen.«

»Danke, Inge, und du hast dir die große Mühe gemacht, all diese Köstlichkeiten für uns zu backen?«

Inge nickte.

»Na klar, und das habe ich von Herzen gern gemacht. Ich bedaure nur, nicht dabei zu sein, wenn du die Tüte auspackst. Auf diese Gesichter wäre ich gespannt.«

Rosmarie lachte. »Im Gegensatz zu dir liebe ich Fotohandys, ich werde alles im Bild festhalten und es dir schicken. Doch dann darfst du ausnahmsweise mal dein Handy nicht ausstellen.«

»Keine Sorge, meine Liebe, ich bin lernfähig. Nachdem sich all meine Kinder bitterlich beklagt hatten, habe ich meinen Widerstand aufgegeben. Und so schlecht ist es überhaupt nicht, man bekommt auf jeden Fall mehr mit.«

»Wenn es so ist, liebste Inge, dann schalte dein Handy nicht aus, solange wir weg sind, werde ich dich auf dem Laufenden halten.«

»Danke, Rosmarie, das wird für mich eine vollkommen neue Erfahrung sein.«

Die beiden Frauen umarmten sich, beide riefen beinahe gleichzeitig: »Pass auf dich auf.« Und Inge fügte hinzu. »Habt wunderbare Ferien.«

»Die werden wir haben«, rief Rosmarie, »und jetzt freue ich mich nur noch.« Sie schwenkte die Tasche mit den Keksen. »Und danke noch mal dafür. Ich könnte darauf wetten, dass dagegen niemand etwas haben wird.«

Das glaubte Inge ebenfalls nicht. Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann blickte Inge Rosmarie nach, so lange, bis von ihr nichts mehr zu sehen war. Danach ging sie ins Haus zurück. Sie war wirklich nicht neidisch auf die gemeinsamen Ferien der jungen und der alten Rückerts. Sie bedauerte nur, dass Rosmarie und sie sich einige Wochen nicht mehr sehen würden. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass sie so gute Freundinnen werden würden, aber Rosmarie hatte sich auch sehr verändert, in positiver, angenehmer Richtung. Jeder konnte etwas verändern, man musste es nur wirklich wollen. Impulsiv griff sie nach ihrem Handy, und dann tippte sie, ein wenig mühsam und unbeholfen noch, eine Nachricht an Werner.

»Mein Lieber, ich vermisse dich so sehr, in Liebe, deine Inge.«

Dann schickte sie die Nachricht ab.

Inge wusste selbst nicht, warum sie sich jahrelang so sehr gegen diese Art der Kommunikation gesträubt hatte. Sie liebte es noch immer, Briefe zu schreiben, doch es dauerte, ehe die beim Empfänger ankamen. So schickte man einfach los, was einem gerade in den Sinn kam. Und wenn man dabei nicht übertrieb, dann war es okay. Tja, manchmal stand sie sich selbst im Weg.

Und da musste sich etwas ändern. Doch zuerst einmal verstaute sie das benutzte Geschirr im Geschirrspüler, und weil auf dem Silberteller nur noch ein einziger verträumter Keks lag, schob sie sich den in den Mund. Sie hätte ihn auch wieder in die Keksdose packen können.

Als sie die gemütliche Wohnküche verließ, in die Diele kam, blieb sie vor dem Spiegel stehen, betrachtete sich kritisch.

Sie sah nicht schlecht aus, doch sie musste aufpassen, dass das Hüftgold bei ihr nicht deutlich mehr wurde. Sie begab sich in ihr Nähzimmer, denn Pamela hatte wieder mal etwas entdeckt, was sie unbedingt haben wollte, und Inge erfüllte ihrer Jüngsten derartige Wünsche gern, denn das waren für sie echte Herausforderungen, und sie machte Pamela glücklich. Die Kleine fehlte ihr mehr, als sie zugeben wollte. Und nur der Gedanke, dass Pamela ihr Auslandsjahr so richtig genoss, machte es ihr leichter. Und was war schon ein Jahr? Wenn man jung war, glaubte man, die Tage zögen sich endlos dahin. Je älter man wurde, umso schneller verging die Zeit, verflogen die Tage. Doch das war etwas, was alle Menschen so empfanden.

Inge breitete den schönen blauen Stoff auf dem Tisch aus, und dann konzentrierte sie sich. Auch beim Zuschneiden konnte man Fehler machen. Sie dachte an nichts anderes mehr. Sie konnte stolz auf sich sein, all diese Arbeiten gingen ihr sehr leicht von der Hand, und es machte ihr großen Spaß.

Nein, sie durfte sich wirklich nicht beklagen. Das Leben hatte es schon gut mit ihr gemeint. Wenn, dann jammerte sie auf hohem Niveau. Sie war gesund, lebte in einer wunderschönen Villa, hatte keine finanziellen Sorgen, und ihre Kinder und Enkelinnen und Enkel waren wohlgeraten. Mehr ging eigentlich überhaupt nicht.

Und das mit Werner und ihr …

Das würden sie schon noch auf die Reihe bringen, diesmal war alles anders. Auf jeden Fall hoffte Inge es inständig, und nach den Gesprächen, dem Beisammensein im Krankenhaus war die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, spürbar. Sie musste an ihrem Verhalten ebenfalls etwas ändern. Sie durfte nicht mehr alles herunterschlucken und unter den Teppich kehren. Dadurch löste man keine Probleme, ganz gewiss nicht.

Inge betrachtete noch einmal das Foto, das Pamela ihr geschickt hatte. Die Bluse war nett, gewiss, doch es gab auf jeden Fall schönere. Aber wenn Pamela sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie davon nicht mehr abzubringen, da könnte sie eigentlich eine echte Auerbach sein. Aber im Grunde genommen war sie das doch auch, die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie bei ihnen verbracht, und ein Kind ihres Herzens war sie für alle von Anfang an gewesen, ab dem Moment der Adoption.

Ehe Inge ihre Arbeit fortsetzte, griff sie erneut nach ihrem Handy, um Pamela eine Nachricht zu schicken. Sie machte ein Foto von den zugeschnittenen Teilen.

»Pamela, mein Herz, du sollst sehen, dass ich mich an die Arbeit gemacht habe. Doch in erster Linie schreibe ich dir, um dir zu sagen, wie lieb ich dich habe. In Sehnsucht, deine Mama.«

Ein Klick, und dann war die Nachricht auch schon verschickt. Es war wirklich toll, dennoch sollte es nicht zur Gewohnheit werden. Sich mit jemandem am Telefon zu unterhalten, das gefiel ihr wesentlich besser, und daran würde sich für Inge auch niemals etwas ändern. Und sie würde weiterhin mit Begeisterung Briefe schreiben. Mochten sie alle noch so sehr die Augen verdrehen und sie für altmodisch halten.

Pamela hatte ihre Nachricht erhalten, und es kam sofort auch eine Antwort.

»Ich muss dir nicht sagen, dass du die allerbeste Mami von der ganzen Welt bist, nicht wahr? Die Bluse wird einfach toll, super, spitze! Schickst du sie mir sofort, wenn sie fertig ist? Ich küsse und umarme dich, auf ewig deine Pamela.«

Inge war gerührt, diese Nachricht würde sie nicht löschen, und dann machte sie sich wirklich an die Arbeit.

*

Ken hatte Roberta angeboten, sich aus dem Fundus der verschiedensten Designer ein Kleid auszusuchen, die großzügig ihre Roben zur Verfügung stellten, weil es die allerbeste Werbung für sie war, wenn jemand, der Rang und Namen hatte, sie trug.

Im Sonnenwinkel und darüber hinaus war sie bekannt, sie hatte sich in der Medizinwelt einen sehr guten Namen gemacht, doch in Hollywood kannte sie niemand. Und sie war sich nicht sicher, ob man ihr überhaupt ein Kleid zur Verfügung stellen würde, und wenn, dann wollte sie das Risiko nicht eingehen, dass sie eines tragen würde, das von der Größe zwar passte, in dem sie sich ansonsten verkleidet fühlen würde. Und das wollte sie auf keinen Fall, wenn schon, denn schon, dann wollte sie ein Kleid tragen, das ihren Stil und ihren Wünschen entsprach und in dem sie sich wohlfühlte. Genervt war Roberta schon, einen solchen Aufwand zu treiben für etwas, was sie überhaupt nicht wollte. Was tat man nicht alles aus Liebe. Liebe? Es war nicht vergleichbar mit dem, was sie für Lars empfunden hatte, niemals aufhören würde zu empfinden. Gefühle waren aber schon im Spiel, die man Liebe nennen konnte. Die Liebe hatte viele Facetten.

Natürlich war Nicki sofort Feuer und Flamme, als Roberta sie bat, sie beim Kauf des Kleides zu unterstützen und zu beraten. Doch Nicki wollte auf keinen Fall nach Hohenborn kommen, obwohl es da wirklich schöne und auch exklusive Geschäfte gab, darunter auch ein besonders exklusives Geschäft für Braut- und Abendmoden.

Es war nichts zu machen, Nicki hatte da ganz andere Ideen, und Roberta glaubte ihrer Freundin, als die beteuerte, dass das überhaupt nichts damit zu tun hatte, dass sie den Sonnenwinkel samt Umgebung total verspießt fand.

Roberta war schon alles egal, Hauptsache, sie konnte das mit dem Kleid endlich abhaken. Außerdem besuchte sie Nicki gern, der Loft in der alten ehemaligen Papierfabrik, in dem Nicki wohnte, beeindruckte sie immer wieder, mit dem sichtbaren Mauerwerk, den gekalkten weißen Wänden, den offen liegenden Leitungen und Balken hatte es etwas. Es passte zu Nicki, aber sie selbst fühlte sich in ihrem heimeligen Doktorhaus wohler. Gegen Besuche zwischendurch war nichts einzuwenden, doch die wurden durch die durchaus komfortable Wohnsituation nicht besser. Sie kam in erster Linie wegen ihrer allerbesten Freundin, und die würde sie auch in einer engen Mansarde oder in einem Kellerloch besuchen. Sie war so unendlich dankbar dafür, dass es Nicki in ihrem Leben gab.

Es wurde viel über Seelenverwandtschaft geredet, doch Nicki und sie waren Seelenverwandte, bei ihnen war es nicht nur so ein Wort.

Die Besuche von Patienten, Patientinnen, zu denen sie selbst gehen musste, hatte sie hinter sich. Und nun konnte Roberta ganz beruhigt das Feld ihren vortrefflichen Mitarbeiterinnen Ursel und Leni überlassen, die sich bereits gegenseitig zu überbieten versuchten. Ohne Ursel und Leni wäre sie wirklich aufgeschmissen. Sie konnte ganz entspannt sein, und Bereitschaftsdienst hatte sie auch nicht. Das bedeutete, dass sie nach dem Kauf des Abendkleides nicht einfach zurückhetzen musste, sondern mit Nicki das Wochenende verbringen konnte. Und Alma hatte, wie konnte es auch anders sein, Leckereien mitgegeben, als ginge sie auf eine wochenlange Expedition in die Wildnis und nicht nur für zwei Tage in eine Stadt, in der man alles kaufen konnte und in der es viele Restaurants gab.

Roberta hatte längst aufgegeben, sich da einzumischen oder etwas dazu zu sagen, das war so ein Ding zwischen Nicki und Alma. Und wenn es sie glücklich machte. Sie selbst hatte nichts dagegen, und sie machte sich auch keine Gedanken darüber, dass es um ihr Geld ging. Du liebe Güte, sie war nicht geizig, nicht knauserig. Im Gegenteil, es machte ihr Freude, die Freude von Nicki und Alma zu sehen.

Als Roberta vor dem imposanten Fabrikgebäude ankam, stellte sie wieder einmal fest, dass es für ihre quirlige Freundin genau der richtige Ort zu wohnen war. Und sie stellte außerdem fest, dass es ihr offensichtlich vorbestimmt zu sein schien, um mal bei Nicki zu sein, Professor Jens Odenkirchen, Nickis Nachbarn, zu treffen, wenn sie ankam.

Sie hatte kaum geparkt, als er auf sie zugeschossen kam, Jens und Roberta mochten sich. Und Roberta ließ sich nicht davon abbringen, dass ihre Freundin und der Professor das ideale Paar waren. Leider schienen die beiden das nicht so zu sehen. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, verstanden sich blendend, erzählten sich von ihren wechselnden Liebschaften. Es war ganz merkwürdig mit ihnen.

»Roberta, wie schön, dich zu sehen. Nicki hat mir schon erzählt, dass du zu den Golden Globes eingeladen wurdest. Da kommen wir Normalsterblichen ja nicht hin. Bist du bereits aufgeregt? Es ist ja davon auszugehen, dass du sie alle sehen wirst, die in der Filmbranche kräftig mitmischen.«

»Jens, meine Begeisterung hält sich in Grenzen, und wenn ich ganz ehrlich bin, es ist nicht meine Welt. Und wenn ich könnte, würde ich absagen. Manchmal ist das nicht so einfach.«

Er lachte.

»Warum hast du dir auch einen so prominenten Freund ausgesucht. Ken Craig ist schließlich nicht irgendwer. Er ist unter den Filmregisseuren ein Schwergewicht.«

Du liebe Güte!

Darüber hatte Roberta nicht einen einzigen Augenblick lang nachgedacht. Sie hatte sich in einen Mann verliebt, der cool und witzig gewesen war.

Zum Glück klingelte sein Handy, das ersparte ihr, ihm eine Antwort zu geben. Er entschuldigte sich mit den Worten, dass er da drangehen müsse.

»Wir sehen uns hoffentlich noch, Roberta«, rief er, dann meldete er sich, und es war für Roberta nicht schwer zu erraten, dass es da wieder eine neue Frau in seinem Leben gab. Manchmal konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nicki und Jens versuchten, sich gegenseitig den Rang abzulaufen. Dabei lag das Glück für sie doch so nahe. Warum erkannten sie nicht, dass es direkt nebenan wohnte? Roberta entschied sich dafür, sich deswegen nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Das mussten Nicki und Jens von allein herausfinden. Außerdem wollte Roberta sich den Mund nicht noch einmal verbrennen, indem sie ihre Freundin darauf stieß. Nicki konnte ganz schön heftig reagieren.

Bepackt mit Kühltaschen, Weinflaschen und Kuchen kam Roberta schließlich vor Nickis Wohnungstür an. Nicki musste ihr Kommen beobachtet haben, denn sie öffnete nicht nur sofort, fiel ihr stürmisch um den Hals, sondern erkundigte sich: »Hat der gute Jens dir wieder eine Frikadelle ans Knie geredet? Du hast ihn hoffentlich nicht wieder eingeladen, denn ich möchte die Zeit mit dir allein verbringen. Aber«, korrigierte Nicki sich sofort, »er hätte eh abgelehnt, weil er da wieder etwas laufen hat, mit einer Crescida. Doch frag mich jetzt nicht, wo er die aufgegabelt hat und woher sie kommt. Es wird eh nicht lange halten, deswegen lohnt es sich auch nicht, da nachzufragen.« Sie blickte Roberta an, die sich für die Shopping-Tour ein wenig aufgehübscht hatte und ein Kleid trug, die kinnlangen Haare glatt heruntergebürstet. »Du siehst bezaubernd aus, meine Liebe. Du solltest viel öfter Kleider anziehen.«

Das Kompliment gefiel Roberta, doch sie musste dazu sofort etwas sagen. »In der Praxis wäre das nicht gerade die richtige Kleidung, meine Liebe. Aber ja, ich ziehe gern Kleider an, Lars hat mich darin sehr gern gesehen.«

Nicki verkniff sich eine Bemerkung. Roberta konnte Lars einfach nicht vergessen. Denn wäre es jetzt nicht passender gewesen, sie hätte etwas über Ken gesagt, den neuen Mann an ihrer Seite? Zu dem sie immerhin nach Los Angeles fliegen würde, für den sie gleich ein Abendkleid kaufen würden? Nun, nicht direkt für ihn, sondern für die Golden Globes. Aber in erster Linie kaufte man das Kleid schließlich doch für den Mann, den man begleiten würde.

»Ich schlage vor, wir verstauen all die wunderbaren Sachen, die du mitgebracht hast, Roberta, und dann machen wir uns auf den Weg. Ich habe da ein paar Geschäfte herausgesucht, und es wird, glaube ich, ziemlich anstrengend werden. Aber Spaß macht so etwas auch. Hast du bereits eine Idee, wie dein Kleid aussehen soll? Hast du entsprechende Glanzzeitschriften durchgeblättert?«

Nicki hatte vielleicht Ideen. Roberta erinnerte sie daran, dass ihre Tage mit viel Arbeit ausgefüllt waren, und dass in Zeitschriften zu blättern, nicht unbedingt zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörte.

»Nicki, wir lassen uns einfach inspirieren, doch ich kann dir gleich sagen, dass ich keine Lust habe, von Geschäft zu Geschäft zu ziehen. Wir gehen in das mit der größten Auswahl, und dort hoffe ich, ein Kleid zu finden.«

Nicki verdrehte die Augen.

»Roberta, ich bitte dich. Wann bietet sich dir so schnell noch einmal eine derartige Gelegenheit? Wir werden es auskosten und den Einkaufsbummel so lange wie nur möglich hinausdehnen.«

Roberta bereute bereits ein wenig, nicht einfach nach Hohenborn gefahren zu sein und sich dort ein Kleid gekauft zu haben. Jetzt war es zu spät, sie war Nicki ausgeliefert.

»Meinetwegen«, gab sie sich ergeben, »doch wenn wir was finden, dann ziehen wir nicht weiter um zu sehen, ob es nicht noch etwas Besseres gibt. Versprichst du mir das, Nicki?«

Nicki lachte.

»Roberta, ich führe dich doch nicht zum Schafott, sondern wir wollen Spaß haben. Aber meinetwegen, schauen wir mal.«

Das sagte alles und nichts, Roberta seufzte, ergab sich in ihr Schicksal, sagte nichts, weil es ja doch noch ganz nett werden konnte, weil man mit Nicki Spaß bekam. Sie räumten alles ein, was Roberta mitgebracht hatte. Nicki konnte es nicht lassen, schon mal hier und da zu picken, Alma und alles zu loben, und dann zogen sie los.

Für Roberta fühlte es sich noch immer ein wenig eigenartig an, sich in der Stadt aufzuhalten, in der sie viele Jahre gelebt und gearbeitet hatte, in der sie allerdings auch gescheitert war. Und das war es wohl, woran sie nicht mehr erinnert werden wollte, an ihre zerbrochene Ehe mit Max, dem Schwerenöter, der auf ihre Kosten recht gut gelebt hatte und der es auf Kosten seiner neuen Ehefrau wieder tat. Max fiel immer auf die Füße, doch er hätte die andere auch nicht geheiratet, wäre da nicht ein großes Vermögen gewesen. Zum Glück ließ er sie seither in Ruhe, und irgendwann würden auch die letzten Erinnerungen an ihn verblassen.

Würde man sie vor die Alternative stellen, wieder hier zu leben oder im Sonnenwinkel, dann gäbe es für sie nur eine einzige Antwort darauf, und das war der Sonnenwinkel, auch wenn die beiden Praxen überhaupt nicht miteinander vergleichbar waren. Für sie hatte sich ein Herzenswunsch erfüllt, sie war näher an ihren Patientinnen und Patienten dran. Das machte sie glücklich, auch wenn es mit sehr viel mehr Arbeit und mit weniger Geld verbunden war.

»Roberta, du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich es genieße, jetzt mit dir unterwegs zu sein. Ein Kleid für die Golden Globes, natürlich erwähnen wir das direkt, wenn wir ein Geschäft betreten. Ich möchte sehen, wie die Leute vor Ehrfurcht erstarren und vor lauter Neid erblassen.«

Jetzt schritt Roberta ganz energisch ein.

»Nicki, und genau das werden wir nicht tun. Es geht niemanden etwas an, wofür das Kleid gedacht ist. Es reicht, wenn wir sagen, dass es für ein großes gesellschaftliches Ereignis sein soll.«

»Damit verdirbst du mir ganz schön die Freude«, beschwerte Nicki sich.

Roberta schüttelte den Kopf, Nicki konnte manchmal wirklich wie ein Kind sein.

»Meinetwegen«, gab sie nach, »wenn du es brauchst, kannst du es erwähnen, aber bausche es bitte nicht auf und drehe keinen Film daraus.«

Nicki umarmte ihre Freundin, weil sie wusste, was für ein Anfang das jetzt für Roberta gewesen war, dann grinste sie: »Nö, mit dem Film, das lass ich, die dreht dein Ken besser, und dafür bekommt er ja auch seinen Preis.«

»Nicki, noch hat er ihn nicht, er ist lediglich nominiert.«

»Aber das in mehreren Kategorien, meine Liebe, und er wird mehr als nur einen Golden Globe bekommen, das fühle ich.«

Roberta gab darauf keine Antwort, weil Nicki mit ihren Gefühlen oftmals daneben lag. Außerdem hatten sie das erste Geschäft erreicht. Roberta kannte es nicht, es musste eröffnet worden sein, nachdem sie die Stadt verlassen hatte, oder es war ihr einfach nur nicht aufgefallen, weil sie sich auch früher nicht in solchen Geschäften getummelt hatte.

Das Geschäft war groß, und Roberta fühlte sich von der Vielzahl der überall herumhängenden Kleider richtig erschlagen.

Nicki kannte sich aus, sie zog Roberta mit sich fort, an den Brautkleidern vorbei, und Roberta wurde bewusst, dass sie keine Braut in Weiß gewesen war und dass sie auch niemals das Bedürfnis verspürt hatte, eine zu werden. Sie hatte nie davon geträumt.

In der nächsten Abteilung hingen Abendkleider, eine Frau mittleren Alters, sehr vornehm gekleidet, sorgsam geschminkt, kam zu ihnen, fragte, ob sie helfen könne.

Nicki platzte heraus: »Meine Freundin sucht ein Abendkleid, dass sie zu der Verleihung der Golden Globes anziehen kann.«

Roberta hatte Nicki doch so sehr darum gebeten, es nicht direkt herauszuposaunen. Und was hatte die getan?

Die Verkäuferin blickte ungläubig drein, fühlte sich vermutlich ein wenig auf den Arm genommen, Roberta blieb nichts weiter übrig als einzuschreiten und es zu bestätigen. Die Frau fing an zu schwärmen, sie überschlug sich beinahe, und Roberta verging immer mehr die Lust, als sie sah, welche Art von Kleidern sie hervorholte. Opulent, bombastisch, mit viel Stoff, mit viel Perlen und Glitzer, in auffallenden Farben. Das war wohl die Vorstellung der Verkäuferin von Hollywood. Warum schenkte sie nicht erst einmal ihr einen Blick? Sie war kaum geschminkt, trug keinen Schmuck, hatte keine aufgeklebten Fingernägel, ihre Haare waren nicht gefärbt, und ihre Frisur war schlicht. Wie sollte sie also in dieser Art von Kleidern aussehen? Dafür gab es nur ein Wort – verkleidet!

Sie musste einschreiten.

»Das ist überhaupt nicht das, was ich mir vorstelle«, sagte sie, »danke für Ihre Bemühungen, doch ich denke, meine Freundin und ich schauen uns selbst erst einmal um. Wenn wir Hilfe benötigen, dann rufen wir Sie.«

Damit war Nicki offensichtlich nicht einverstanden, denn sie sagte: »Das türkisfarbene Kleid oder das hellblaue da drüben finde ich aber sehr schön. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du darin sehr hübsch aussehen wirst. Die Farben passen zu deinen blonden Haaren, deinen blauen Augen.«

Das konnte jetzt nicht wahr sein! Hatte die Tatsache, dass sie zu dieser Golden Globe Verleihung gehen sollte, Nicki alles vergessen lassen?

»Aber von all den falschen Brillis kann man blind werden, Nicki. Ich bin doch kein Zirkuspferd. Außerdem sind mir die Farben viel zu auffällig, oder hast du mich schon mal in einer solchen gesehen?«

»Nein, aber du bist bislang auch noch nicht zu einem solch bedeutenden Event gegangen. Da zieht man sich halt anders an.«

Roberta nickte der Verkäuferin zu, die jetzt unschlüssig war, weil es ja vielleicht doch eine Entscheidung zu ihren Gunsten gab.

»Danke, wir sehen uns um, von den Kleidern, die Sie uns gezeigt haben, kommt keines infrage.«

Die Verkäuferin ging, als sie außer Hörweite war, rief Nicki: »Roberta, du musst umdenken, dort kannst du nicht schlicht und ergreifend auftauchen. Probiere diese Kleider doch wenigstens einmal an.«

Roberta schüttelte entschieden den Kopf.

»Nur über meine Leiche. Ich sage dir noch einmal, dass ich mich nicht verkleiden werde. Und ehrlich mal, Nicki, es macht mir Stress, weil ich nicht dorthin gehöre.«

»Roberta, wenn du mit Ken Craig zusammenbleibst, wirst du dich daran gewöhnen müssen, an derartigen Events, Verleihungen oder was auch immer teilzunehmen.«

Nach diesen Worten war es still, und Roberta spürte, wie ein Gefühl des Unbehagens sich in ihr ausbreitete.

Sie war von Ken angetan, und durch ihn hatte sie zum ersten Male vorübergehend diese Traurigkeit vergessen, die wie ein graues schweres Tuch auf ihr lag.

Aber, und das musste sie sich immer wieder bewusst machen, dass es nicht nur verschiedene Erdteile waren, auf denen sie lebten, sondern dass bei ihren Berufen nicht die geringste Gemeinsamkeit vorhanden war.

Sollten sie planen, ihr Leben miteinander zu verbringen, dann musste einer von ihnen seinen Beruf aufgeben. Ken würde es gewiss nicht tun. Und sie? Niemals! Sie hatte schon als ganz kleines Mädchen nichts anderes werden wollen als Ärztin, und das hatte sie niemals bereut. Ihr Beruf war ihr Leben.

Und wenn das so klar war, was machte sie dann hier? Warum verbrachte sie überhaupt Zeit mit Ken, denn es doch niemals eine gemeinsame Reise geben würde? Ihre Züge fuhren in verschiedene Richtungen.

Weil es da auch noch ein Herz gab? Gefühle, Träume, ja, die hatte man, auch wenn man eine Ärztin aus Leidenschaft war und in seinem Beruf aufging.

Sie kannten sich sehr gut, verstanden sich oftmals auch ohne Worte. Ahnte Nicki, was jetzt in ihr vorging? Mit wenigen Schritten war sie bei Roberta, nachdem sie die von ihr favorisierten Kleider wieder weggebracht hatte, umarmte sie und flüsterte: »Roberta, gib Ken und dir eine Chance. Es sind nicht immer die richtigen Bilder, die unser Kopf uns vorgaukelt. Du hast es so sehr verdient, wieder glücklich zu sein.«

Roberta nickte.

»Nicki, du hast recht, aber es ist doch ziemlich alles verworren mit Ken und mir.«

Nicki schüttelte den Kopf.

»Ist es nicht, glaub mir, es beruhigt, weil du es nicht mit deinem klaren Verstand erfassen kannst, weil du dich auf einem fremden Terrain bewegst. Spring einfach ins kalte Wasser, liebste Freundin. Was kann dir denn schon passieren? Du kannst doch schwimmen.«

»Na, das ist jetzt vielleicht ein Vergleich«, bemerkte Roberta, »aber es stimmt schon. Sicher ist überhaupt nichts, und Alma würde jetzt sagen, wer nicht wagt, der auch nicht gewinnt. Aber irgendwie komme ich mir schon ein bisschen vor, wie jemand, den man ins kalte Wasser geworfen hat. Ich würde gern mehr Zeit mit Ken allein verbringen, um ihn richtig kennenzulernen, anstatt jetzt den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden.«

Nicki zuckte die Achseln. »Also, ich kenne mich ja in der Filmbranche ebenfalls nicht aus, wie du weißt, doch ich glaube, der Vergleich mit den Löwen, der hinkt. Ich denke eher, dass sich in Hollywood, in der gesamten Filmbranche überhaupt, eher die Piranhas tummeln.«

Roberta spürte, wie sie sich immer mehr entspannte, ja, sie konnte sogar lachen, und dann wanderte sie mit Nicki von Kleid zu Kleid. Nicki fand manches toll, weil passend, Roberta fand es schrecklich. Es gab eine gigantische Auswahl, doch auf Roberta wirkten sämtliche Kleider vollkommen überladen. Das war nichts für sie, und so verließen sie schließlich das Geschäft, begleitet von der leicht säuerlich wirkenden Verkäuferin, die vielleicht sogar die Geschäftsinhaberin war, so beflissen, wie sie wirkte. Klar wäre es für das Image des Geschäftes eine großartige Werbung gewesen, sagen zu können, dass man sogar bis Hollywood verkaufte, nicht nur das, sondern für die Golden Globes, das war etwas, was jeder aus dem Fernsehen, den Gazetten kannte. Und wenn sie dann auch noch ein Foto bekommen hätten, nicht auszudenken.

Roberta war die Lust bereits jetzt schon vergangen, doch Nicki wusste mit ihrer Freundin umzugehen. Sie begaben sich erst einmal in ein am Weg liegendes Bistro, um dort einen Kaffee zu trinken. Damit war Roberta sofort einverstanden. Es hätte auch überhaupt kein Kaffee sein müssen, ein Tee oder ein Mineralwasser hätten es ebenfalls getan. Roberta würde die Frauen niemals begreifen, die sich beglückt den Tag damit totschlugen, shoppen zu gehen. Nicki bestellte zu dem Café au lait ein süßes, klebriges Gebäck, das allerdings sehr lecker war.

»Weißt du, Roberta, du kannst stolz auf dich sein. Immerhin bist du ganz schön über dich hinausgewachsen. Obwohl du meine allerbeste Freundin bist, hätte ich nicht darauf gewettet, dass du tatsächlich deine geliebte Praxis für ein paar Tage allein lassen würdest. Ken bedeutet dir viel, nicht wahr?«

Roberta antwortete nicht sofort, rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee herum, dann hob sie ihren Kopf, blickte ihre Freundin an.

»Er ist der erste Mann, der nach dem …«, sie konnte das Wort Tod noch immer nicht aussprechen, obwohl davon auszugehen war und Solveig ihren Bruder bereits für tot hatte erklären lassen, »der nach Lars mein Herz berührt hat.«

Nicki ging etwas durch den Kopf.

»Aber du hast deswegen hoffentlich kein schlechtes Gewissen, oder?«

Als keine Antwort kam, fuhr Nicki fort: »Roberta, Lars würde es nicht wollen, dass du ihm für alle Ewigkeit nachtrauerst. Ich glaube wirklich, dass Lars ihn dir sogar geschickt hat, und das mit dem Penny …«

Sie wurde von Roberta unterbrochen.

»Das soll man nicht überbewerten. Es ist nichts, was er sich für mich ausgedacht hat, sondern eine allgemeine Redewendung in England, indem man sagt, ich gebe einen Penny für deine Gedanken.«

So leicht gab Nicki nicht auf.

»Aber immerhin hatte er einen dabei.«

»Auch das ist kein Wunder, kein, wie du immer zu sagen pflegst, Zeichen. Für einen Engländer ist es normal, auch wenn er in Hollywood lebt. Nicki, ich möchte in das mit Ken nichts hineininterpretieren. Und ich möchte auch damit aufhören, mir Gedanken um eine gemeinsame Zukunft zu machen, wie damals bei Lars.

Es ist schon verrückt, dass, sobald man einen Mann kennengelernt hat, der dein Herz berührt, die Gedankenmühle anspringt in Richtung gemeinsames Leben und so.«

»Diesmal im weißen Kleid?«, neckte Nicki, und das konnte Roberta entschieden verneinen.

Sie hätte gern noch weiter in diesem gemütlichen kleinen Bistro gesessen, doch Nicki drängte zum Aufbruch, und so blieb Roberta nichts weiter übrig, als ihrer Freundin zu folgen.

Nicki zerrte sie in den nächsten Laden, in den übernächsten.

Es war ähnlich, Roberta entdeckte kein Kleid, das ihr gefiel, vor allem, in dem sie sich wohlfühlen würde, und darauf kam es in erster Linie doch hauptsächlich an. Und da konnte Nicki und die Verkäuferinnen auf sie einreden wie auf einen kranken Gaul. Sie wollte sich nicht verkleiden, und dabei blieb sie, daran würde sich nichts ändern.

Als sie den letzten Laden verließen, sagte Nicki ziemlich genervt: »Roberta, ich kann dich nicht verstehen, es waren einige Kleider dabei, in denen du großartig ausgesehen hast. Was willst du eigentlich? Soll man dir ein Kleid malen? Es gibt noch zwei Läden, die infrage kommen. Hoffentlich finden wir da etwas, was deinen Ansprüchen genügt.«

Nicki war sauer, doch dafür konnte Roberta sich nichts kaufen. Schließlich würde sie das Kleid tragen müssen, nicht Nicki. Außerdem waren sie unterschiedlich, wie man unterschiedlicher nicht sein konnte. Sie war groß, schlank, blond und blauäugig, Nicki dagegen war klein, zierlich, schwarzhaarig, war eher ein südländischer Typ. Sie besaßen auch einen ganz unterschiedlichen Geschmack, und das war auch gut so, machte nichts aus, denn man war aus ganz anderen Gründen miteinander befreundet.

Ziemlich einsilbig gingen sie nebeneinander her, als Roberta plötzlich stehen blieb, ihre Freundin am Arm packte, auf die andere Straßenseite deutete.

»Nicki, der Laden da macht einen ansprechenden Eindruck, lass uns dort mal hineingehen.«

Nicki blickte ihre Freundin an.

»Roberta, dort verwirklicht sich eine junge Designerin. Gut, sie macht wirklich sehr hübsche, individuelle Sachen, aber ich glaube nicht, dass du dort ein Abendkleid finden wirst, das deinen Ansprüchen genügt. In den bekanntesten, angesagtesten Läden für Braut- und Abendmoden hast du an allem herumgemäkelt. Wie es der Name schon sagt, ›Petite Fleur‹, handelt es sich um ein kleines Lädchen, eine kleine Blume.«

Nicki konnte reden was sie wollte, Roberta war nicht davon abzubringen, in das Geschäft zu gehen, denn die Auslagen in dem kleinen Schaufenster waren sehr ansprechend, es war genau ihr Stil, reduziert im Schnitt und in den Farben.

»Nicki, wenn wir schon mal unterwegs sind, vielleicht finde ich etwas anderes. Ich brauche schließlich auch noch das eine oder andere Outfit.«

Nicki verdrehte die Augen.

»Roberta, zuerst einmal ist es wichtig, dass du ein Abendkleid bekommst. Und wie du weißt, haben wir das bislang nicht gefunden, weil nichts deinen Vorstellungen entspricht. Ich halte es wirklich für keine besonders gute Idee, jetzt Zeit zu verschwenden, weil du dich in diesem Lädchen umsehen möchtest. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Vergiss vor allem nicht, dass wir uns nicht in Amerika befinden, wo man rund um die Uhr einkaufen kann, und das auch sonntags.«

Roberta hörte überhaupt nicht zu, sie ging über die Straße, und Nicki hatte überhaupt keine andere Wahl, als ihrer Freundin zu folgen. Was für eine Schnapsidee!

Roberta wusste überhaupt nicht, wieso sie sich plötzlich so sicher war, im Lädchen ›Petite Fleur‹ etwas zu finden. Dabei dachte sie überhaupt nicht an ein Abendkleid, sondern sie brauchte nach den bislang frustrierenden Bemühungen einfach nur ein Erfolgserlebnis.

Sie betraten das Geschäft, nachdem Roberta sich die Auslagen noch einmal aus der Nähe angesehen hatte. Es war genau ihr Geschmack.

Der Laden war nicht sehr groß, doch da er nicht vollgestopft und nur sehr minimalistisch eingerichtet war, wirkte er größer. Durch eine offene Tür konnte man in den zweiten anschließenden Raum blicken, und da entdeckte man einen Zuschneidetisch, auf dem Stoffe lagen. Klar, Nicki hatte ja gesagt, dass eine junge Designerin hier ihr Atelier hatte und gleichzeitig versuchte, ihre Creationen an den Mann zu bringen.

Nachdem ein Klingelton an der Tür angekündigt hatte, dass jemand den Laden betreten hatte, kam die Inhaberin sofort aus ihrem Atelier. Sie war mittelgroß, sehr schlank, trug eine enge schwarze Hose, dazu ein schwarzes Shirt, auf dem sich einige Flusen befanden. Die Haare von undefinierbarer Farbe waren mit einem Kamm lässig zusammengesteckt.

Sie begrüßte die beiden Damen freundlich, erkundigte sich nach deren Wünschen, doch das bekam Roberta überhaupt nicht mit, wie ferngesteuert lief sie auf ein Kleid zu, das für sich allein auf einem Dekoelement hing. Das war nicht verwunderlich, denn die Auswahl der Konfektionsteile war überschaubar. Und mit dem schwarzen Schieferboden, den geschlämmten weißen Wänden, den wenigen schwarzen Elementen wurde man durch nichts abgelenkt, musste man sich auf die Teile konzentrieren. Doch dazu kam Roberta überhaupt nicht, weil sie wirklich nur dieses eine Teil sah, und es war, man konnte es kaum glauben, ein Abendkleid, ach was, ein Gebilde, ein Traum von einem Abendkleid.

Sie ging darauf zu, berührte es sacht, ehe sie sich umdrehte und sich erkundigte: »Ist das zu verkaufen? Und ist das meine Größe?«

»Es dürfte Ihnen passen«, antwortete die junge Frau, die ein wenig irritiert war, als sie die Begeisterung der Kundin spürte. Das kam nicht so oft vor. »Und wenn nicht, ist es überhaupt kein Problem, es zu ändern, das ist schließlich mein Beruf.«

»Ich möchte es anprobieren«, sagte Roberta entschlossen, und Nicki bemerkte: »Roberta, es ist ein sehr schönes Kleid, gewiss, doch ich glaube nicht, dass es für deine Zwecke geeignet ist. Ich finde es zu schlicht, die Ärmel sind lang, es hat keinen Ausschnitt. Du hast Arme, die zu zeigen kannst, ein wunderschönes Dekolleté. Zu diesem Kleid, das fraglos sehr schön ist, kannst du nicht einmal Schmuck tragen.«

Roberta wandte sich ihrer Freundin zu.

»Wann hast du mich mal Schmuck tragen sehen, Nicki?«, erkundigte sie sich.

»Aber du hast welchen, und der ist wunderschön.«

Roberta wandte sich erneut der jungen Frau zu.

»Ich möchte es gern probieren«, sagte sie mit aufgeregt klingender Stimme. Und nicht nur ihre Stimme klang aufgeregt, sie war es ebenfalls. Jetzt wünschte sie sich nur noch, dass das Kleid passte.

Die Designerin nahm es von dem Element, führte Roberta zu der einzigen Umkleidekabine, die groß war, und die durch einen schwarzen Vorhang vom Laden abgetrennt wurde. Schwarz und weiß, das waren die Farben, und das, was an fertigen Teilen vorhanden war, fügte sich in alles hinein, wirkte sehr harmonisch, weil nicht eine einzige laute Farbe dabei war.

Roberta war froh, dass die junge Frau ihr dabei half, das Kleid anzuziehen, denn sie war vollkommen aufgeregt, und Nicki, die schmollte, die hatte sich auf einen schwarzen Designerstuhl gesetzt und rührte sich nicht. Doch da hatte Roberta keine Sorge, Nicki würde sich schon wieder beruhigen.

Endlich hatte sie das Kleid an, das perfekt passte, wie für sie gemacht, und auch die Farbe, ein edles, müdes Hellgrau harmonierte wunderbar mit ihren Augen, ihren Haaren, ihrer Haut. Über einem schlichten, sanft die Figur umspielenden ärmellosen Unterkleid, gab es eines darüber einen Hauch von Stoff mit sparsam eingearbeiteten Blumenmuster, handgestickt. Die Ärmel waren dreiviertel lang und hatten einen ganz raffinierten Abschluss. Dieses Kleid war so besonders, es wirkte für sich allein, es brauchte überhaupt keinen Schmuck, der würde dieses Bild der Vollkommenheit nur zerstören.

Roberta trat aus der Kabine heraus, um sich in dem großen, in die Wand eingelassenen Spiegel genau zu betrachten. Nicki sprang von ihrem Stuhl auf, starrte ihre Freundin an, schluckte, holte tief Luft, dann sagte sie im Brustton der Überzeugung: »Wow, es ist wie für dich gemacht, und ich wusste bislang überhaupt nicht, dass du eine so perfekte Figur hast. Ich nehme alles zurück, das ist es, besser kannst du nicht aussehen, und du wirst bei den Golden Globes allen die Show stehlen.«

Die junge Frau wusste nicht, wie ihr geschah. Sie war bereits geflasht, dass jemand ein Kleid probieren wollte, ohne nach dem Preis zu fragen. Und sie traute sich jetzt auch nicht, ihn zu nennen, denn dann würde der Traum, das Kleid zu verkaufen, sofort zerplatzen. Dabei hatte sie in ihre Kalkulation nichts eingerechnet, nicht die vielen Arbeitsstunden, keine Lohn-, sondern nur die Materialkosten. Die waren immens hoch, doch sie hatte an diesen Stoffen einfach nicht vorübergehen können.

Roberta betrachtete sich von allen Seiten, und die, die sich aus Klamotten eigentlich überhaupt nichts machte, fühlte sich wie ein reich beschenktes Kind, dem man seinen Lieblingswunsch erfüllt hatte.

Sie dachte nicht an dieses große Ereignis, sie staunte nur über sich selbst und konnte nicht glauben, dass sie es war, der diesen Traum von einem Kleid trug.

Roberta war in sich versunken, sie bekam nicht mit, was Nicki und die junge Frau miteinander redeten. Sie staunte und staunte und staunte. Dann riss sie sich zusammen, drehte sich um und sagte mit fester Stimme: »Ich nehme das Kleid.«

Jetzt war es die junge Frau, die schluckte, doch nun war es auch an der Zeit, Farbe zu bekennen, ehe die Kundin in Ohnmacht fiel. Sie begann weitschweifig über die Stoffe zu reden, über deren Besonderheit, die Arbeit, weil das Kleid größtenteils mit der Hand genäht werden musste. Die junge Frau wand sich wie ein Wurm, und Roberta ermunterte sie, den Preis zu nennen. Das geschah, gut, es war ein stolzer Preis, doch wenn sie den mit den Preisen der Abendkleider verglich, die sie sich angesehen hatten, war das hier beinahe geschenkt.

»Es ist okay, ich nehme das Kleid auf jeden Fall, und jetzt würde ich mich gern noch ein wenig umsehen.«

Die junge Frau wusste nicht, wie ihr geschah. Heute war auf jeden Fall ihr Glückstag. Sie hätte niemals im Leben geglaubt, dass sie dieses Abendkleid jemals verkaufen würde. Sie hatte es als Eyecatcher, als Anreiz für die Kunden angefertigt.

Roberta zog sich um, dann schaute sie sich um, fand noch eine Art Marlenehose, eine traumhaft schöne Bluse und ein Kleid mit einem schwingenden Rock, überschnittenen Ärmeln aus feinsten Leinen.

Auch Nicki hatte sich umgesehen, weniger aus Interesse, vielmehr, um Zeit totzuschlagen. Die Sachen hier waren wirklich sehr individuell, aber überhaupt nicht ihr Ding. Dann allerdings wurde sie von etwas angezogen, zerrte es aus einer Ecke hervor. Es war ein rotes enges Kleid mit einem tiefen Rückenausschnitt.

Die Designerin bekam es mit, errötete leicht und entschuldigte sich: »Oh, das gehört eigentlich nicht hierher, ich hätte das Kleid längst wegräumen müssen. Es war ein Versuch, aber rot, auch wenn es ein sehr schöner Farbton ist, passt einfach nicht in mein Sortiment.«

Nicki hörte nicht auf die Worte, hielt sich das Kleid vor, rot war einfach eine perfekte Farbe für sie.

»Darf ich es mal probieren?«, erkundigte sie sich, dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Und es war unglaublich, das Kleid passte perfekt. Es war vom Stil her anders als die Bekleidungsstücke, die hier ausgestellt waren, und es war auch ein ganz anderer Schnitt, eine andere Größe.

Nicki gefiel sich, doch sie dachte daran, welche Ausgaben sie noch vor der Brust hatte. Und nötig war das Kleid nicht. Sie ging in die Kabine zurück, zog das Kleid aus, ihre Sachen an, dann brachte sie das Kleid zurück, bedankte sich, und sie wunderte sich, warum die Frau es vom Bügel nahm, einpackte.

»Nein, danke, ich möchte das Kleid nicht kaufen, auch wenn es wirklich schön ist.«

»Und viel zu schade für andere Leute«, lachte Roberta, »ich möchte es dir schenken. Du bist mit mir herumgelaufen, hast meine Laune ertragen. Ich möchte dir einfach eine kleine Freude bereiten, und sag jetzt bitte nicht, dass du es nicht annehmen kannst. Du kannst.«

Tja, was sollte Nicki jetzt dazu sagen? Zwei Seelen waren da in ihrer Brust, die eine, die ihr sagte, wie perfekt das Kleid für sie war, die andere, die ihr sagte, dass sie Robertas Großzügigkeit nicht überstrapazieren durfte. Wenn sie nur daran dachte, was sie diesmal wieder alles mitgebracht hatte.

Sie wollte etwas sagen, doch Roberta hinderte sie daran. »Zu spät, Nicki, ich habe das Kleid bereits bezahlt.« Was sollte sie da machen?

Ihrer Freundin um den Hals fallen und sich bedanken. Das Kleid war wirklich ein Traum, und sie wollte überhaupt nicht wissen, was es kostete.

Bestens gelaunt, bepackt mit ihren Einkaufstüten verließen sie den Laden. Die junge Frau konnte ihr Glück überhaupt noch nicht fassen, eine solche Tageseinnahme hatte sie noch nie gehabt. Ach, von wegen Tageseinnahme, Monatseinnahme musste man da wohl besser sagen. Als junge Designerin, die sich noch keinen Namen gemacht hatte, war es nicht einfach, zu bestehen. Es gab viele von ihnen, und die Endverbraucher kauften in erster Linie ein, was billig war. Qualität und Verarbeitung spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Und die Frauen, die darauf achteten, die es erkannten, die liefen nicht scharenweise durch die Straßen. Das jetzt war ein Glückstreffer gewesen, aber auch eine Motivation, weiterzumachen, das Handtuch nicht zu werfen.

Roberta war nur davon angetan, dass die junge Frau, da sie jetzt die Karte hatte, wusste sie, dass sie Maren Linke hieß, nicht versucht hatte, Kapital daraus zu schlagen, dass sie das Kleid bei der Verleihung der Golden Globes tragen würde. Sie hatte doch mitbekommen, wie Nicki unmissverständlich darüber gesprochen hatte, man konnte eher sagen, geprahlt.

Man konnte ja beinahe den Eindruck gewinnen, dass nicht sie nach Los Angeles fliegen würde, sondern ihre Freundin.

»Jetzt brauchst du noch Schuhe«, erklang Nickis Stimme in ihre Gedanken hinein. »Und die sollten wir jetzt auch ganz schnell noch kaufen. Danach können wir es abhaken und die Zeit, die uns noch bleibt, so richtig miteinander genießen. Es geht doch wirklich nichts über unsere Mädelsabende.«

»Darauf freue ich mich auch, Nicki.«

Die blieb stehen, drehte sich zur Seite, dann fiel sie Roberta um den Hals.

Was sollte das denn jetzt?

Roberta war ein wenig irritiert.

Und dann bekam sie auch noch einen schmatzenden Kuss auf ihre Stirn.

»Nicki, was …«

Nicki lachte.

»Ich möchte mich einfach noch einmal für dieses Traumkleid bedanken, und es wird nicht das letzte Mal sein. Du bist schon ganz schön verrückt. Ich bin so glücklich, dich als Freundin zu haben, und das hat nichts mit dem Kleid zu tun, nichts mit all den großzügigen Geschenken, die du mir ständig machst, sondern, weil du du bist. Und das mit dem Kleid eben, das war wirklich verrückt. Es hat dich in den Laden gezogen, es sollte auf deinen Weg kommen.«

Fing Nicki jetzt wieder mit der Esoterik an? Das musste sie rasch unterbinden, ehe es zu Grundsatzdiskussionen kam.

»Nicki, ich wollte in den Laden, weil ich die Auslagen ansprechend fand, mehr nicht. Es war keine Fügung, keine Vorbestimmung, nichts von dem, mit dem du immer um dich schmeißt. Und das sich dort dieses Kleid befand, das war ein Zufall, mehr nicht.«

Nicki hatte dazu eine andere Meinung, doch da sie ihre Freundin kannte, beschloss sie, dazu nichts mehr zu sagen.

Außerdem hatten sie ein Schuhgeschäft erreicht, und das betraten sie. Was den Kauf der Schuhe betraf, hatten sie allerdings unterschiedliche Meinungen. Nicki stellte sich für Roberta hochhackige Schuhe vor, und Roberta wusste schon, dass sie keine Turnschuhe oder Ballerinas dazu anziehen konnte, obwohl das hier und da auch vorkam. Aber sie würde ganz gewiss nicht stundenlang solche Marterwerkzeuge an ihren Füßen tragen. Sie würde niemals die Frauen verstehen, die sich so etwas freiwillig antaten. Dachten sie denn nicht an die Spätfolgen? Fußprobleme, nicht nur die, waren vorhersehbar. Roberta hatte Glück, sie hatte schmale Füße, und an denen sahen eigentlich alle Schuhe gefällig aus. Eine mittlere Absatzhöhe ließ sie sich für Gelegenheiten wie diese gefallen, und sie würde darauf achten, dass die Schuhe nicht nur schön aussahen, sondern dass man vor allem stundenlang darauf stehen konnte, ohne das Gefühl zu bekommen, gleich zusammenzubrechen.

Aber sie würde schon Schuhe finden, da war sie ganz fest überzeug. Das Kleid war wichtig, und da hatte sie einen Traum gefunden. Roberta hätte niemals für möglich gehalten, dass ausgerechnet sie über ein Abendkleid so glücklich sein würde.

Ehe sie den Laden betraten, umarmte sie die verblüffte Nicki, und als die sich erkundigte, weswegen das jetzt geschehen sei, lachte Roberta und rief: »Einfach so.«

Und das stimmte ja auch, man brauchte nicht für alles eine Erklärung oder einen Grund. Die spontanen Entscheidungen aus dem Bauch heraus waren eigentlich immer die besten, nur traute man dem nicht oft, und so entgingen einem viele gute Gelegenheiten.

*

Maja wusste wirklich nicht, warum das Haus Tannenweg Nr. 8 ihr einfach nicht aus dem Sinn ging, dass sie es umkreiste wie eine Spinne ihr Opfer.

Was versprach sie sich denn davon?

Nichts, wenn sie ehrlich war.

Sie musste dem ein Ende bereiten, und sie musste endlich eine Entscheidung treffen, was sie künftighin aus ihrem Leben machen wollte. Augenblicklich war sie eindeutig unterfordert, und deswegen kam sie auf komische Gedanken.

Eigentlich hatte sie sich gemütlich hinsetzen und ein Buch lesen wollen. Das musste warten. Sie zog sich Schuhe an, eine Strickjacke, weil es heute draußen ein wenig kühl war, und die Sonne hatte sich auch noch nicht am Himmel gezeigt, der wolkenlos grau war und wo man nicht wusste, ob es doch nicht anfangen würde zu regnen. Ausgehwetter war es nicht, aber das Wetter konnte man immer vorschieben, wenn man wollte, mal war es zu heiß, mal war es zu kalt, mal zu neblig, mal zu windig. Außerdem wollte sie nicht ausgehen, nur etwas klarstellen.

Sie schnappte sich ihre Tasche, den Haus- und den Autoschlüssel, dann machte sie sich auf den Weg, ohne Umwege, ohne etwas vorzuschieben zu dem besagten Haus. Und sie hatte sich auch schon etwas ausgedacht.

Eine Nachbarin, die ein paar Worte mit ihr reden wollte, blieb stehen, doch Maja tat so, als habe sie das nicht bemerkt.

Sie wollte sich jetzt durch nichts und niemanden aufhalten lassen.

Das leicht verwahrloste, abweisend wirkende Haus hätte sie auch blind gefunden, so oft war sie an dem schon vorbeigefahren, hatte angehalten, seit sie dort zufällig den Galeristen Arne Boll getroffen und der sich so merkwürdig verhalten hatte.

Wäre er ganz normal gewesen, hätte er nicht so herumgeeiert, wäre es längst schon aus ihrem Kopf.

Sie blieb auf der anderen Straßenseite stehen, zögerte kurz, dann überquerte sie entschlossen die Straße, ging auf das Haus zu, und dann klingelte sie. Es tat sich nichts, Maja wusste allerdings auch nicht, dass sie beobachtet worden war. Weil diese Frau immer wieder auftauchte, mal langsam vorbeifuhr, mal anhielt, um dann wieder wegzufahren, war er hellhörig geworden. Und das sie nun sogar hier auftauchte? Was hatte das zu bedeuten? Er rührte sich nicht.

Maja ließ nicht locker, sie klingelte immer wieder, dann trat sie den Rückweg an. Es konnte ja sein, dass dieser Mann sich nicht im Haus aufhielt. Und da sie nicht wusste, ob und welches Auto er fuhr, konnte sie das auch nicht kontrollieren.

Vielleicht sollte sie ja auch sogar froh sein, ihn nicht angetroffen zu haben, denn ihn nach seinem Befinden zu fragen, weil sie zufällig den Galeristen kannte, war eine maue Ausrede.

Aber dennoch …

Maja war sich nicht sicher, ob sie es nicht doch noch einmal versuchen würde, einfach nur, um es aus dem Kopf zu bekommen.

Als er sicher sein konnte, dass sie gleich nicht noch einmal kommen und klingeln würde, griff Pieter nach seinem Handy, rief Arne an. Und dabei vergaß er sogar, sich einen Whisky einzuschenken oder sich eine Zigarette anzuzünden.

Verdammte Hacke!

Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass so eine neugierige Braut sich da reinhängte. Arne musste das regeln, egal wie. Er hatte es schließlich auch eingebrockt.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Arne sich meldete, und er zischte auch ganz ungehalten: »Du weißt doch, dass du mich nicht anrufen sollst, wenn die Galerie geöffnet ist.«

»Dann mache sie halt zu oder überlass sie deinem Personal und gehe in einen Raum, in dem es keine Zuhörer gibt.«

Arne mochte es nicht, wenn man sich nicht an die Vereinbarungen hielt. Doch er war auf diesen Mann angewiesen, der war ein Künstler, und die tickten manchmal anders.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Brauchst da was? Gibt es Schwierigkeiten mit dem Monet? Oder hast du mit dem noch nicht angefangen?«

Pieter ging darauf nicht ein.

»Diese Braut, mit der du herumgequatscht und vor der du mich gewarnt hast, fährt dauernd hier vorbei, und vorhin war sie sogar an der Haustür, hat den Klingelknopf beinahe abgerissen, weil sie unaufhörlich geläutet hat.«

Verdammt!

Das sprach Arne allerdings nicht aus.

»Und was hast du gemacht?«, erkundigte er sich stattdessen und bemühte sich, seiner Stimme einen sorglosen Klang zu geben.

»Na was wohl, nicht aufgemacht. Hätte ich sie zum Kaffee einladen sollen?«

»Ah …, nein …, natürlich nicht«, Arnes Gedanken überschlugen sich. Warum war ihm diese Maja Greifenfeld bloß über den Weg gelaufen! Und warum hatte sie geklingelt? Das machte überhaupt keinen Sinn, man ging nicht zu wildfremden Menschen.

»Pieter, äh …, sollte sie noch mal vor der Tür stehen, dann mach auf. Du musst sie ja nicht reinlassen. Ich habe ihr gesagt, dass du ein Freund bist, der sich zurückgezogen hat, weil er private Probleme hat. Spiel ihr was vor, was dich glaubhaft erscheinen lässt, sie davon abhält, danach noch mal bei dir aufzutauchen.«

Wie stellte Arne sich das vor? Er war Maler, Kunstfälscher, kein Schauspieler. Und er wollte nicht, dass jemand da irgendwelche Zusammenhänge feststellte. Übrigens konnte man daran fühlen, dass sich diese Braut da was zusammengereimt hatte, was sie nun überprüfen wollte. Nicht mit ihm, sein Gesicht musste sich niemand einprägen.

Pieter fühlte sich unbehaglich.

»Arne, wir sollten das hier abbrechen, ehe es uns um die Ohren fliegt.«

Davon wollte Arne Boll überhaupt nichts wissen, nicht jetzt, wo es wie geschmiert lief, wo sich noch ganz andere Möglichkeiten auftaten, an die er vorher nicht einmal im Traum gedacht hatte. Aber da wusste er auch nicht, wie genial dieser Bursche war.

»Krieg jetzt bloß keine kalten Füße, mein Lieber, noch zwei Gemälde, dann sehe ich mich nach einem anderen Ort um. Und um es dir zu versüßen, ich verdopple die vereinbarten Beträge, ist das was?«

Es hörte sich großartig an, wenn da bloß nicht dieses ungute Gefühl da wäre.

»Schaff mir die Braut vom Hals, oder finde wenigstens heraus, was sie eigentlich hier in der Gegend will, sie passt doch überhaupt nicht hierher, ist eher so eine Schicki-Micki-Mieze.«

Er musste alles tun, um Pieter zu besänftigen, es war merkwürdig, wie sehr er sich an den Namen gewöhnt hatte und nicht einmal mehr daran dachte, dass dieser begnadete Fälscher eigentlich ganz schlicht und ergreifend Manfred hieß. Verständlich, denn so prickelnd war der Name wirklich nicht.

»Ich tue, was ich kann«, versprach Arne, »zunächst allerdings bist du gefragt, weil sie vermutlich wieder bei dir klingeln wird. Aber da mache ich mir keine Sorgen, du machst das schon, wer so genial fälschen kann, der wird ja wohl auch in der Lage sein, eine neugierige Person abzuwimmeln. Ich verlasse mich da ganz auf dich, hab das Ganze vor Augen, sieh das viele Geld, das wir noch verdienen werden.«

Pieter brummelte etwas, und Arne war erleichtert, als er schließlich versprach, Maja Greifenfeld geschickt, ohne dass sie Verdacht schöpfte, abzuwimmeln.

»Ich muss mich um Interessenten kümmern, Pieter. Und noch mal, wenn du es vermeiden kannst, ruf bitte nicht während der Öffnungszeiten an, ja?«

Dazu sagte Pieter nichts mehr, er legte auf. Das Gespräch hatte nichts gebracht, im Gegenteil. Arne hatte es sich sehr einfach gemacht, indem er alles auf ihn abgewälzt hatte. Und seine Informationen waren mehr als nur dürftig gewesen.

Jetzt schenkte er sich doch einen Whisky ein und zündete sich eine Zigarette an, und die wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen, als es erneut an der Tür klingelte.

Er zuckte zusammen. Das konnte jetzt nicht wahr sein. Er wollte sich still verhalten, doch dann trieb ihn die Neugier zur Tür, er blickte durch den Spion und atmete erleichtert auf, die Frau war nicht noch einmal gekommen. Der Alte von nebenan war gekommen. Der hatte ihm mittlerweile verziehen, dass er beim Einzug das Brot und das Salz nicht angenommen hatte, denn seine Frau schien das Haus hier zu lieben, denn sie tauchte immer wieder bei ihm auf, und sie ging bereitwillig mit, wenn er sie zurückbrachte. Die hatte einen an der Waffel, eindeutig und konnte froh sein, dass sie einen Ehemann hatte, der sich so rührend um sie kümmerte und nicht in ein Heim abschob. Aber vielleicht kapierte die Olle nicht einmal, welch ein Glück sie hatte.

Er öffnete die Tür, nicht ganz, nur ein bisschen.

»Ist meine Frau bei Ihnen?«, erkundigte der Nachbar sich ganz besorgt, »oder haben Sie sie gesehen?«

»Nö«, kam die knappe Antwort. »Sie sollten abschließen, damit sie nicht andauernd davonläuft. Und mich entschuldigen Sie bitte, ich habe zu tun.«

Damit knallte er die Tür zu. Er hatte ganz andere Probleme, als sich Gedanken um eine ausgebüxte Frau zu machen.

Was sollte er jetzt tun?

Das Schicksal nicht noch länger herausfordern?

Er ging zur Kammer, holte zum gefühlten hundertsten Male die abgewetzte Tasche heraus, packte das Geld auf den Tisch. Die Freude, die er sonst dabei empfand, wollte sich nicht bei ihm einstellen.

Wie gewonnen, so zerronnen …

Wenn er nicht aufpasste, konnte es damit sehr schnell vorbei sein, denn wenn sie aufflogen, würde das Geld schneller verschwinden als er gucken konnte. Schließlich war es nicht auf legalem Weg erworben worden.

Es war ein Spiel mit dem Feuer, und die Anzeichen, die es gab, die waren alarmierend. Oder war er zu vorsichtig? Arne schien es ja nicht viel ausgemacht zu haben, aber er hatte ihm den Schwarzen Peter zugeschoben. Was er tat, was er getan hatte, war nachvollziehbar, war zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wie Arne Boll seinen Kopf aus der Schlinge zog, ob der überhaupt drinsteckte oder ob der nicht alle Spuren, die zu ihm führten, beseitigt hatte.

Nein, es stellte sich keine Freude bei ihm ein, auch nicht, als er sich auszumalen versuchte, was er mit dem Geld anfangen würde. Und anfangen ließ sich einiges damit, es war ein ganz schöner Batzen.

Es klingelte erneut.

Er ignorierte es, doch die Klingelei hörte nicht auf. Und dann wurde auch noch gegen die Haustür gedonnert, und eine Frauenstimme rief: »So machen Sie doch auf, ich weiß, dass Sie zu Hause sind. Oder haben Sie etwas zu verbergen?«

Die Stimme dieser Frau, er vergaß ganz, was Arne ihm geraten, was er sogar versprochen hatte.

Ein Satz hämmerte sich in sein Gehirn – oder haben Sie etwas zu verbergen?

Beinahe panikartig warf er das Geld in die Tasche zurück, blieb still sitzen, rührte sich nicht. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet, er griff an seinen Hals.

Nach einer Weile hörte es auf, er schlich zur Tür, schaute durch den Spion und bekam gerade noch mit, wie sie in ihr Auto stieg, zögerte, um danach davonzufahren.

Er vergaß zu rauchen, er vergaß, seinen Whisky zu trinken. Er war nur noch von dem Gedanken beseelt, abzuhauen, ehe es zu spät war.

Er holte eine kleine Reisetasche hervor, in die packte er die nötigsten Sachen hinein. Dann entnahm er einer Kassette zwei Reisepässe, einer lautete auf seinen richtigen Namen. Er war zum Glück noch nicht abgelaufen, weil er geradezu penibel darauf achtete, dass seine Papiere in Ordnung waren, nicht nur der Reisepass, auch sein Personalausweis. Die anderen Papiere lauteten auf Pieter van Lejwen, das klang interessanter als Manfred Röder. An den erinnerte sich kein Schwein mehr, und wenn, dann als einen gescheiterten Mann, der es nicht geschafft hatte, auf der Kunstakademie aufgenommen zu werden.

Er zögerte.

Pieter van Lejwen klang nicht nur besser, unter diesem Namen hatte er gefälscht, dass sich die Balken bogen. Es war praktisch sein Künstlername.

Der kurze Augenblick der Eitelkeit dauerte nicht lange. Ihm wurde natürlich auch sofort bewusst, dass man nach einem Mann fahnden würde, der diesen Namen trug und das weltweit. Er war schließlich kein kleiner Fisch, sondern ein ganz großer. Doch das erfüllte ihn jetzt nicht mit Selbstzufriedenheit.

Jetzt brauchte er doch einen Whisky, wenigstens einen ganz kleinen, eine Fluppe brauchte er auf jeden Fall. Dann überlegte er.

Was trieb ihn jetzt an?

Angst?

Vorsicht?

Er musste es jetzt nicht analysieren. Es hatte einfach zu viele Hinweise gegeben. Es wäre ganz schön dämlich, die zu ignorieren.

Er holte eine Schere, zerschnitt ein wenig mühsam die Papiere des Pieter van Lejwen, brachte die Schnipsel zur Toilette, spülte sie herunter.

Pieter van Lejwen war ab sofort Vergangenheit!

Es erfüllte ihn nicht mit Genugtuung, denn Pieter war immerhin jemand gewesen. Manfred Röder? Wer war das noch? Musste man den kennen? Nein!

Am liebsten wäre er sofort losgefahren, doch er traute sich nicht aus dem Haus, aus lauter Sorge, diese Frau könnte da noch irgendwo in der Nähe herumlungern, so wie sie es getan hatte, weil sie sonst nicht gewusst hätte, dass er daheim war.

Wer war sie?

Was wollte sie?

Ganz bestimmt kein Bild kaufen. Diese Vorstellung war komisch, doch er konnte darüber nicht lachen.

Er hätte gern noch einen Whisky getrunken, doch das verkniff er sich. Er musste nur in eine Polizeikontrolle kommen, und schon war der Lappen weg, wenn man feststellte, dass er getrunken hatte. Er durfte nicht auffallen!

Und das Auto?

Das würde er am Flughafen einfach abstellen, nach ihm die Sintflut.

Er betrachtete das Handy, gebrauchen könnte er es schon, und er könnte auch telefonieren, mit wem er wollte, weil er ab sofort nichts mehr mit Arne Boll zu tun hatte, schade eigentlich. Doch jeder war sich selbst der Nächste. Schon wollte er das Handy in seine Tasche stecken, als er sich besann. Jetzt war er so vorsichtig, es wäre töricht, das Handy mitzunehmen, denn wenn Arne aufflog, würde man seine Anrufe zurückverfolgen. Er konnte ja nicht davon ausgehen, dass er akribisch diese Handys zerstören würde, um ihm immer ein neues zu geben. Nein, nein, Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Er hatte dieses Haus hier gehasst, doch jetzt tat es ihm beinahe leid, dass er es verlassen musste. So schlecht war es nun auch nicht gewesen.

Vorbei …

Er blickte auf seine Uhr, es war Zeit für ihn, allmählich aufzubrechen, wenn er den letzten Flieger nach London noch erreichen wollte. Und von dort aus würde er einen Weiterflug buchen. Er hatte Zeit, sich zu überlegen, wohin die Reise gehen sollte.

Vorsichtshalber steckte er die Geldtasche in eine etwas größere, in die er ein paar Sachen packte, die so unscheinbar waren, dass bei einer eventuellen Kontrolle jeder die Lust daran verlieren würde, nachzusehen, ob sich in der Tasche etwas Illegales, Verbotenes befand.

Es dämmerte, er traute sich nicht, Licht anzumachen, saß still und stumm auf seinem Platz. Als er glaubte, sicher zu sein, weil sich niemand die Nacht um die Ohren schlagen würde, um jemanden zu beobachten oder gar aufzusuchen, verließ er das Haus mit leichtem Gepäck, das war am unauffälligsten.

Er lief nicht, sondern rannte zu seinem Auto, schmiss das Gepäck hinein, setzte sich hinters Steuer, wollte starten, doch er war so nervös, dass er erst einige Male den Motor abwürgte. Das hatte er als Fahrschüler nicht einmal getan.

Nach einer Weile stellte er fest, dass er ohne Licht fuhr, nein, eigentlich hatte er es nicht selbst festgestellt, sondern war darauf aufmerksam geworden, als jemand ihn anhupte.

Er musste aufpassen, durfte in keiner Weise auffallen. Also hielt er sich auch an das Tempolimit, obwohl er sonst eigentlich zu den forschen Autofahrern gehörte.

Als er den Flughafen erreichte, fiel ihm ein, dass er das Haus nicht abgeschlossen hatte, dass der Schlüssel irgendwo steckte, entweder drinnen oder draußen.

Dumm gelaufen, doch zurückfahren konnte er jetzt nicht mehr. Er stellte das Auto auf einen Parkplatz, zerknüllte das Ticket, warf es in einen Papierkorb. Er brauchte es nicht mehr. Irgendwann würde man sich wundern, dass da immer noch ein Auto stand, doch dann war er längst über alle Berge und musste sich keine Gedanken darüber machen, wer die Parkgebühren bezahlte und wer das Auto abholte.

Er hastete in die Abflughalle.

Mist!

Der Flieger nach London war gerade weg. Selber schuld. Er hätte sich nicht so penibel an das Tempolimit halten sollen.

Um diese Zeit gab es keine ­allgemeinen Verkehrskontrollen mehr, es sei denn, man war auf der Suche nach einem Schwerverbrecher. Und in diese Kategorie gehörten Kunstfälscher nicht. Außerdem mahlten die Mühlen des Gesetzes langsam, man wusste nichts über ihn, noch nicht. Und wäre er irgendwo geblitzt worden, das wäre auch so was von egal gewesen.

Vorbei!

Er konnte herumjammern, wie er wollte. Er musste sehen, wie er heute noch wegkam, im Flughafenhotel zu übernachten, das war keine Option für ihn. Man kannte zwar seinen Namen nicht, er wäre niemandem aufgefallen. Doch Arne wusste, wer er war, und wenn der anfing zu singen, konnte man seine Spur verfolgen. Nein, er wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

Er ging zur Abflugtafel. Es gab noch einen Flug nach New York, der fiel für ihn aus, weil er kein gültiges Visum besaß, nach Moskau wollte er nicht, egal, ob mit oder ohne Visum.

Aber Lissabon!

Das war zwar nicht seine erste Wahl, doch er wollte dort nicht hin, um seinen Urlaub da zu verbringen oder eine Sightseeing-Tour zu machen, sondern umsteigen. Noch einige Male, damit er sicher sein konnte, dass all seine Spuren verwischt waren.

Er ging zu dem Counter, an dem eine einsame Mitarbeiterin der Flughafengesellschaft saß, die sich langweilte und froh war, jetzt noch etwas zu tun zu bekommen.

Es dauerte keine fünf Minuten, da hatte er sein One-Way-Ticket, und die junge Frau wünschte ihm einen angenehmen Flug.

Er konnte es langsam angehen lassen, denn das Flugzeug würde erst in einer halben Stunde abheben.

Eine leichte Aufgeregtheit machte sich in ihm breit. In Portugal war er noch nie gewesen, und Lissabon sollte sehr schön sein, besonders die Altstadt.

Und wenn er nun für ein paar Tage dort blieb?

Erst einmal musste er ankommen.

Er wurde ein wenig melancholisch, als ihm bewusst wurde, dass es mit seinem bisherigen Leben zu Ende war, dass es kein Zurück mehr gab, dass er sich neu aufstellen musste.

Hatte er zu früh die Flucht ergriffen?

Hätte er nicht wenigstens noch ein Bild fälschen sollen?

Das hätte ihm noch viel Geld eingebracht. Es war doch sehr dämlich, sich von einer Frau, die er nicht kannte, ins Bockshorn jagen zu lassen. Es war wirklich dumm gelaufen, doch jetzt war nichts mehr zu ändern. Er hatte sich selbst eine Rückkehr unmöglich gemacht, denn inzwischen konnte viel passiert sein.

Eine Frau setzte sich in seine Nähe, sie mochte ein paar Jahre jünger sein als er, sie war sehr gut angezogen, trug edlen Schmuck, eine teure Uhr.

Verdammt, er hatte seine Uhr vergessen, das bedauerte er sehr. Aber er war auch ziemlich kopflos abgehauen.

Sie lächelte ihn an.

»Ich finde es so angenehm, die späten Flieger zu nehmen, da sind die Maschinen nicht so voll und es gibt kein Geschiebe und kein Gedrängel. Wollen Sie Urlaub in Portugal machen? Ich liebe das Land, und ich fliege immer wieder hin, und wenn nur für ein paar Tage.«

Normalerweise würde er sich jetzt geschmeichelt fühlen, würde sie anflirten, doch noch ging ihm der Hintern mit Grundeis. Auch wenn diese fremde Frau mit nichts etwas zu tun hatte, traf er eine Entscheidung.

»Urlaub wäre schön, doch ich bin nur auf der Durchreise, Lissabon ist für mich ein Zwischenstopp, ich muss weiter.«

Er sagte nicht, wohin, und da er fürchtete, sie würde sich danach erkundigen, erhob er sich, nickte ihr freundlich zu und entschuldigte sich, ehe er in den Duty-Free-Shop ging, nicht, um sich etwas zu kaufen, sondern um Zeit totzuschlagen, als der erste Aufruf für seine Maschine erfolgte, verließ er den Shop, ohne etwas gekauft zu haben. Die Tasche mit dem Geld hielt er fest umklammert. Die musste er hüten wie seinen Augapfel, denn der Inhalt der Tasche war seine Zukunft. Wäre er nicht so angespannt, würde er jetzt heimlich grinsen und sich diebisch freuen, wenn die Leute wüssten, was er, dieser unauffällige Mann mit sich herumschleppte.

*

Wenn Roberta darüber nachdachte, welchen Stress sie schon vorher wegen des Abendkleides hatte, konnte sie nur mit ihrem Kopf schütteln. Sie hätte es sich ersparen können, sich den Kopf deswegen zu zerbrechen, allerdings hätte sie auch nicht damit gerechnet, einen solchen Traum von Kleid zu bekommen. Jetzt freute sie sich sogar auf diese spektakuläre Veranstaltung. Aber mehr noch freute sie sich auf das Wiedersehen mit Ken. Sie standen auf verschiedene Weise miteinander in Verbindung, aber das war doch alles nichts gegen ein persönliches Sehen, ein Sprechen, Ansehen, Fühlen.

Natürlich hatte sie ihm von dem Traumkleid vorgeschwärmt, und sie war ganz enttäuscht, dass es ihn nicht sonderlich interessierte. Aber vielleicht war sie da ungerecht. Eine Freundin fuhr voll auf so etwas ab, ließ es sich in epischer Breite erzählen. Männer waren da anders gestrickt, und wenn sie ehrlich war, hätte Lars ebenfalls so und nicht anders reagiert.

»Ladybird, versuche bitte, noch ein paar Tage herauszuschinden, ich möchte dir so vieles zeigen, du sollst Leute kennenlernen, die mir wichtig sind, denen ich dich voller Stolz präsentieren möchte.«

Das gefiel Roberta nicht, sie war schließlich keine Trophäe, die man vorzeigte. Aber es konnte durchaus sein, dass sie nicht ganz objektiv war, weil sie sich gewünscht hätte, sich mit Ken irgendwo einzuigeln, nur mit ihm allein.

Ganz offensichtlich tickte man anders, wenn man in Hollywood arbeitete und die meiste Zeit verbrachte. Ken war ein wenig pikiert, als sie ihm sagte, dass sie keinesfalls verlängern könnte, dass sie froh war, schon die paar Tage herausgeschunden zu haben.

»Jeder Mensch hat Anspruch auf Urlaub, tüchtige Ärztinnen ebenfalls, es ist alles eine Frage der Organisation, Ladybird. Aber wenigstens kommst du, und sei erst einmal hier, dann sehen wir weiter.«

Darauf ging sie nicht ein, wie stellte er sich das denn vor? Wenn er einen Film drehte, da konnte er sich auch nicht einfach abseilen. Aber vielleicht konnte man das nicht miteinander vergleichen. Ihre Arbeit setzte sich fort, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Seine Arbeit dauerte einen Filmdreh lang, dann hatte er frei, ehe er sich einem neuen Projekt zuwandte. Zudem war die Arbeit einer Ärztin nicht mit der eines Regisseurs zu vergleichen.

Wenn ihr solche Gedanken kamen, durchströmte Roberta ein ungutes Gefühl. Ließ sich alles miteinander vereinen?

Nicki hatte ihr angeraten, nicht alles zu durchdenken, es auf sich zukommen zu lassen. Doch auch ihr stellte sie sich die Frage, wie es gehen sollte.

Warum war bei ihr immer alles so kompliziert? Warum lernte sie nicht einfach einen Mann kennen, der in der Nähe wohnte, mit dem sie sich über ihren Beruf unterhalten konnte.

Stopp!

Das hätte sie haben können mit Konstantin, und sie hatte es nicht gewollt. Also half es ihr jetzt nicht, auf hohem Niveau zu jammern.

Sie musste sich nur noch freuen, alle Gedanken, die ihr sonst durch den Kopf schossen, einfach verbannen. Roberta hatte verschiedene Krankenakten durchsehen wollen, die konnten warten. Das Wetter war wieder richtig schön geworden, da drängte es einen förmlich nach draußen, und Bewegung konnte nicht schaden. Sie musste ihren Kopf frei bekommen. Also zog sie sich rasch ihre Sneakers an, eine Jeans, ein leichtes Sweatshirt, danach lief sie los, Richtung See. Hier und da grüßte sie, wurde gegrüßt, und es blieb auch nicht aus, dass sie mit der einen oder anderen Passantin oder einem Passanten ein paar Worte wechseln musste. Das störte sie nicht, im Gegenteil, Roberta genoss es, bekannt zu sein und nicht irgendwo anonym zu leben.

Als sie den See erreicht hatte, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie hatte sich dafür entschieden, die andere Seite zu nehmen. Es machte ihr zwar nichts mehr aus, an der Stelle vorbeizukommen, an der Lars’ Haus gestanden hatte und in dem sie so glücklich gewesen waren. Doch heute war sie emotional ein wenig angeschlagen, da wollte sie lieber nichts riskieren. Vielleicht war es das ja auch, riskieren. Sie riskierte nicht gern etwas, im Beruf schon, privat nicht.

Das konnte durchaus mit den trüben Erfahrungen zu tun haben, die sie in ihrem Leben schon gemacht hatte. Außerdem, an der anderen Uferseite hatte sich so einiges getan, besonders ein neuer Bootsverleiher sollte sich angesiedelt haben. Und vielleicht sollte sie wieder anfangen zu rudern. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hatte, hatte man irgendwie alles schon einmal erlebt, und das durfte man nicht vollkommen ausklammern, nur, weil damit Erinnerungen verbunden waren, die nicht immer schön waren, die schmerzten. Außerdem, sie war es gewesen, die sich damals von Kay getrennt hatte, weil sie nicht daran geglaubt hatte, dass es mit ihnen etwas werden könnte, weil er jünger war als sie und ein Aussteiger, der sein Leben nur noch nach seiner Fasson leben wollte, das allerdings recht etabliert. Es war schon so lange her, dass sie jetzt wieder an Kay denken musste. Er hatte sie wirklich geliebt, und als sie es, Nicki hatte ihr dabei sehr zugeredet, wagen wollte, war er gegangen. Sie hatten sich nur knapp verfehlt, und sie hatte es schon eine Weile bedauert, weil sie sich da um etwas gebracht hatte. Sie hatte Kay nie heiraten wollen, hatte ihn nicht, wie danach Lars, als den Vater ihrer Kinder gesehen.

Stopp!

Die Vergangenheit war vorbei, die durfte sie nicht zurückholen, außerdem waren es schöne Erinnerungen, die sie an Kay hatte, nachdem sie sich von ihren Schuldgefühlen befreit hatte, ihn vertrieben zu haben. Nach dieser schmutzigen Scheidung hatte Kay sie spüren lassen, begehrenswert zu sein, und er hatte noch viel mehr getan.

Roberta blieb stehen, als sie auf einer Bank eine in sich versunkene Gestalt bemerkte. Alles, was sie zuvor beschäftigt hatte, war wie weggeblasen.

Auf der Bank saß die junge Babette Cremer, die sich nie mehr in der Praxis hatte blicken lassen. Man konnte daran fühlen, dass mit dem jungen Mädchen etwas nicht stimmte.

Roberta überlegte nur kurz, dann schlenderte sie zu der Bank, rief: »Hallo, Babette.«

Babette hatte es überhaupt nicht mitbekommen, sie schreckte hoch, blickte Roberta an, wurde puterrot.

»Hallo … Frau Doktor.«

Es war dem Mädchen unangenehm, die Ärztin hier zu sehen, na klar, sie war aus der Praxis hinausgestürmt, ohne sich Termine geben zu lassen.

»Darf ich mich ein wenig zu dir setzen, Babette?«, erkundigte Roberta sich freundlich, das Mädchen rückte wortlos beiseite, dabei wäre das überhaupt nicht nötig gewesen.

»Und, hast du noch Kopfschmerzen?«, wollte Roberta wissen, sonst sagte sie nichts, sie machte Babette auch keine Vorhaltungen.

»Ich …, äh …«, stotterte Babette, und Roberta erlöste sie, indem sie sagte. »Du hattest überhaupt keine Kopfschmerzen, als du zu mir in die Praxis kamst, nicht wahr?«

Babette hielt den Kopf gesenkt, antwortete nicht.

Eine Antwort war auch überhaupt nicht nötig.

»Babette, was bedrückt dich? Du kannst mir alles anvertrauen, denn ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht. Ich darf es überhaupt niemandem erzählen. Manchmal erleichtert es einen Menschen, über das, was einen bewegt, zu reden.«

Babette begann zu weinen, und Roberta rückte näher an Babette heran, legte einen Arm um sie und sagte zunächst einmal nichts. Sie hatte es sofort geahnt, dass Babette nicht wegen angeblicher Kopfschmerzen zu ihr in die Praxis gekommen war. Das erklärte auch, warum sie sich keine Termine hatte geben lassen, sondern davongelaufen war.

Doch was war los mit dem Mädchen!

Roberta nahm sich vor, solange auf ihrem Platz sitzen zu bleiben, bis Babette zu reden begann, und wenn es Stunden dauern sollte. Dann ging sie halt nicht spazieren. Das konnte warten, und auch wenn sie Lust dazu verspürte, hätte sie eh keine Zeit, rudern zu gehen.

Nach einer ganzen Weile atmete Babette ganz tief durch, warf Roberta einen kurzen Seitenblick zu, knetete an ihren Händen herum, dann gab sie sich einen Ruck und sagte leise: »Ich bin schwanger.«

Roberta hätte mit allem gerechnet, damit allerdings nicht, denn sie hatte Babette niemals auch nur in der Nähe eines Jungen gesehen, und jemand wie Babette schmiss sich auch nicht an die Jungen heran. Da gab es in jeder Generation, an jeder Schule, immer Mädchen, die ständig neue Freunde hatten und von denen, die nicht so drauf waren, irgendwo beneidet wurden. Das kannte Roberta aus ihrer Schulzeit sehr gut, sie war immer eine von denen gewesen, die sich nicht mit den Jungenbekanntschaften brüsten konnte.

Das wollte sie allerdings auch nicht, und so schätzte sie Babette ein.

Weil Roberta nicht sofort etwas sagte, erkundigte Babette sich zaghaft: »Sind Sie jetzt entsetzt, Frau Doktor?«

Du liebe Güte, was für Gedanken gingen dem Mädchen denn da durch den Kopf.

»Aber nein, wieso sollte ich denn entsetzt sein, Babette? Bist du zu mir gekommen, um mir das zu erzählen?«

Babette nickte.

»Du weißt aber schon, dass dafür Gynäkologen zuständig sind, sind wahr?«

Wieder nickte Babette.

»Ja, und ich war auch schon bei einem, und der hat das bestätigt. Aber zu Ihnen bin ich gekommen, weil …«, jetzt wandte Babette sich Roberta zu, »zu Ihnen habe ich Vertrauen, Pia hat mir gesagt, dass Sie für alles Verständnis haben.«

Roberta umschloss das Mädchen fester.

»Danke für dein Vertrauen, Babette. Es ist sehr gut, dass du zu mir gekommen bist. Wie kann ich dir helfen? Weiß der junge Mann von der Schwangerschaft? Wissen es deine Eltern? Möchtest du das Kind bekommen?« Sie stellte noch weitere Fragen, und Babette wartete, ehe sie die beantwortete. Und so erfuhr Roberta, dass Babette den jungen Mann eigentlich ihr Leben lang kannte, er war für sie früher immer so etwas wie ein großer Bruder gewesen. Doch dann seien sie weggezogen, hierher, und er hatte sein Abitur gemacht und angefangen zu studieren. Sie waren immer in Verbindung geblieben, hatten sich ineinander verliebt, sie hatten sich getroffen, heimlich, ihre Eltern wussten nichts davon. Und dann sei sie schwanger geworden.

»Jost steht voll hinter mir, und wir wollen das Baby beide haben. Ein Schwangerschaftsabbruch käme für uns niemals infrage. Man tötet doch kein Leben.«

»Babette, wo ist dein Problem? Hast du Angst vor der Verantwortung für ein kleines Wesen, weil du selbst noch so jung bist?«

Babette schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Ich kann auch voll auf Jost zählen, und ich habe ja auch überhaupt nicht mehr lange bis zum Abitur. Das will ich auf jeden Fall machen, und dann möchte ich gern studieren und mit Jost zusammenziehen.«

Das hörte sich für eine so junge Person erstaunlich vernünftig an, aus diesem Grunde verstand Roberta noch immer nicht, wo eigentlich das Problem lag. Deswegen erkundigte sie sich noch einmal: »Babette, weswegen bist du so niedergeschlagen? Du gehst ganz wunderbar damit um, und so ist es auch zu schaffen.«

»Es sind meine Eltern«, erwiderte Babette mit kaum hörbarer Stimme, »die flippen aus, wenn sie das erfahren. Und sie werden darauf bestehen, dass ich das Baby abtreiben lasse, damit niemand etwas von dieser großen Schande erfährt. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass einem Mädchen in unserer früheren Nachtbarschaft das auch widerfahren ist. Sie war schwanger, und als das publik wurde, ab diesem Zeitpunkt durfte ich mit dem Mädchen kein einziges Wort mehr wechseln. Für meine Eltern war sie verdorben, und sie durfte auch unser Haus nicht mehr betreten, obschon sie früher bei uns ein- und aus gegangen ist. Das Mädchen hätte einen schlechten Einfluss auf mich haben können.«

»Aber warum das denn?«, konnte Roberta sich nicht verkneifen zu fragen. »Schwanger zu sein, ist doch kein Makel.«

Babette seufzte.

»Meine Eltern sind sehr konservativ. Ich traue mich ganz einfach nicht, ihnen von der Schwangerschaft zu erzählen. Aber irgendwann werden sie es merken.« Sie seufzte erneut, schaute Roberta an. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Frau Doktor, können Sie nicht mal mit meinen Eltern reden?«

Das war für Roberta nun überhaupt kein Problem.

»Das kann ich gern tun, Babette. Ich finde, wir machen das gemeinsam. Und wenn sie dich zu etwas zwingen wollen, was du nicht möchtest, da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ich will dich nicht gegen deine Eltern aufwiegeln, aber du bist nicht deren Leibeigene, und ein Kind zu bekommen ist keine Schande. Es wäre schlimm, du würdest dich dazu entschließen, es abzutreiben. Ich bin da nämlich ganz deiner Meinung, dass man jedem Kind die Chance geben soll zu leben. Du kannst daheim ausziehen. Es gibt da eine ganz wunderbare Einrichtung für werdende jugendliche Mütter. In dem Haus kannst du wohnen, dein Kind bekommen, und du bekommst jede Unterstützung, damit du deinen Schulabschluss machen kannst. Ich kann über Frau von Roth einen Kontakt für dich herstellen, die unterstützt das Heim nämlich im Namen eines Gönners, der nicht genannt werden will.«

»Frau von Roth, das ist doch die Großmutter von Pamela Auerbach, nicht wahr? Und die wollte ja auch Pia in diesem Internat unterbringen, damit sie ihr Abitur machen kann. Das hat sich zerschlagen, weil sie nach Cornwall gegangen ist und dort die Schule beendet und zudem die wunderschönsten Schmuckstücke anfertigt.«

Roberta nickte.

»Genau diese Frau von Roth ist es, und sie ist wirklich eine ganz wunderbare Dame, engagiert, mit viel Herz. Doch ich hoffe, dass wir deine Eltern überzeugen können. Schließlich ist es doch ihr erstes Enkelkind, das sie bekommen werden. Und so etwas wünscht sich schließlich jeder. Gut, du wirst halt ein bisschen früh Mutter. Doch ein Beinbruch ist das auch nicht.«

Babette blickte Roberta an.

»Ach, Frau Doktor, wenn Sie das sagen, dann hört es sich so einfach an, was es ja im Grunde genommen auch ist. Doch Sie kennen meine Eltern nicht. Die sind auch kein bisschen aufgeschlossen und hassen Veränderungen. Dass wir in diese Gegend gezogen sind, war für sie ein ganz großer Anfang, doch es ging aus beruflichen Gründen nicht. Aber wenn sie zum Arzt müssen, fahren sie noch immer an unseren früheren Wohnort, und wenn meine Mutter zum Friseur muss, ist es nicht anders, auch nicht, wenn sie Bekleidung oder Schuhe oder so was kauft. Unsere Mahlzeiten werden auch immer zur gleichen Zeit eingenommen, der Weihnachtsbaum immer gleich geschmückt. Ach, ich könnte noch vieles aufzählen, doch damit langweilte ich Sie nur. Bestimmt haben meine Eltern auch überhaupt keine Freunde, weil sie so sind.«

Das konnte Roberta sich sehr gut vorstellen, es konnten sich einem ja die Nackenhaare aufstellen, wenn man so etwas hörte. Es waren ausgesprochene Spießer, und man konnte sich nur wundern, dass diese Leute eine so wundervolle Tochter hatten. Sie sagte nichts dazu, sondern erzählte ihr noch Verschiedenes, und dann verblieben sie so, dass Babette sie anrufen würde, wann es am besten war, die Eltern zu treffen, und dann wollte Roberta einen Termin machen. Auf dieses Treffen freute sie sich wahrlich nicht, doch wegen Babette nahm sie es auf sich, und sie wollte auch überhaupt nicht untätig sein, sondern schon mal mit Teresa von Roth reden, falls es zu einem Knall kommen sollte. Arme Babette!

»Gehst du wieder mit zurück?«, erkundigte Roberta sich, Babette schüttelte den Kopf, und Roberta fragte nach: »Aber es ist jetzt alles in Ordnung mit dir, oder?«

Babette schaute sie dankbar an.

»Es ist alles in Ordnung, Frau Doktor. Haben Sie nicht den Stein plumpsen hören, der mir gerade von der Seele gefallen ist? Ich möchte einfach noch ein wenig hier sitzen bleiben und mit Jost telefonieren. Der ist jetzt noch in einer Vorlesung, und auch er wird sich sehr freuen, weil er sich ganz große Sorgen gemacht hat. Klar wollten er und ich nicht so früh Eltern werden. Aber es ist nun mal passiert, und wir wollen das Kind beide haben. Danke, tausend Dank, Frau Doktor.«

Roberta lächelte.

»Alles ist gut, Babette, danke, dass du ein so großes Vertrauen zu mir hast, mir alles zu erzählen.«

»Ich weiß von Pia, was für ein großes Herz Sie für andere Leute haben, doch als ich in der Praxis war, da habe ich mich einfach nicht getraut. Es war auch dumm von mir, einfach wegzulaufen.«

»Babette, es ist vorbei. Ruf mich bitte an, wann ich einen Termin mit deinen Eltern machen kann, ja?«

Babette versprach es, sie sprang plötzlich auf, umarmte Roberta stürmisch und rief: »Sie sind ein so guter Mensch, sind Sie sich eigentlich sicher, dass Sie kein Engel sind?«

Jetzt hatte Roberta es aber eilig, zu gehen. Sie war gerührt, sie war bewegt. Doch ganz tief in ihrem Inneren war sie auch sauer auf diese Eltern. Wie waren die denn drauf, dass ihr einziges Kind Angst vor ihnen hatte?

Sie ging zurück ins Doktorhaus, in dem es immer Arbeit für sie gab. Doch sie bereute nicht, nun nicht bis zu dem Ruderbootverleih gegangen zu sein. Das konnte warten, hier brauchte ein junger Mensch ihre Hilfe, das war wichtiger als alles sonst. Und weil sie dazu neigte, es in ihrem Beruf auch musste, alles sofort zu erledigen, drehte sie noch einmal um und ging zum Haus des Ehepaares von Roth, um schon mal mit Teresa zu reden.

Wenn ihre Eltern wirklich so drauf waren, wie Babette sie beschrieben hatte, würden sie weder einlenken, noch sie freuen.

Roberta klingelte an der Haustür, zum Glück war Teresa von Roth daheim und freute sich, die so sehr von ihr geschätzte Ärztin zu sehen.

»Frau Doktor, das ist aber eine schöne Überraschung. Womit habe ich die Ehre verdient, dass Sie als viel beschäftigte Frau mich besuchen?«

Roberta bekam beinahe ein schlechtes Gewissen. Sie hatte zu dem Ehepaar ein ganz besonderes Verhältnis, weil Magnus und Teresa von Roth ihre ersten Patienten gewesen waren und das ohne Grund, einfach nur, um sie zu unterstützen, weil die Sonnenwinkler sauer waren, dass ihr Arzt, Dr. Enno Riedel, die Praxis aufgegeben und Roberta sie übernommen hatte. Das war zum Glück lange vorbei, doch seitdem herrschte zwischen Roberta und dem Ehepaar von Roth ein besonders herzliches Verhältnis. Außerdem bewunderte Roberta Teresa, die wirklich ganz unglaublich war und an der man sich eine Scheibe abschneiden konnte.

»Frau von Roth, ehrlich gesagt, ist es kein Besuch, sondern ich habe eine Bitte.«

Teresa lächelte.

»Ist doch ganz gleichgültig, was für einen Grund Sie haben, Frau Doktor. Sie sind bei uns jederzeit herzlich willkommen. Haben Sie Zeit, mit mir einen Tee zu trinken oder einen Kaffee?«

»Ich will Sie aber nicht stören.«

»Frau Doktor, Sie stören niemals, ich freue mich.«

Roberta nickte.

»Dann würde ich gern einen Kaffee trinken.«

Teresa bat ihren Gast ins Haus, in dem es merkwürdig still war, und deswegen erkundigte Roberta sich: »Ist Ihr Mann nicht daheim?«

Teresa schüttelte den Kopf und lachte.

»Magnus hat Hummeln in seinem Hintern und ist total umtriebig. Der ist mit Sam und Luna unterwegs. Er will mit ihnen neben dieser Marathonstrecke herlaufen, die der jetzigen Frau van Beveren hinreichend bekannt ist. Die ist ja früher viel Marathon gelaufen.«

Roberta bestätigte es und bemerkte: »Ich bewundere Ihren Mann, Frau von Roth, und ich glaube, man muss so energievoll sein wie er, um regelmäßig für das goldene Sportabzeichen zu trainieren und es dann auch immer zu schaffen.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile darüber, dann war der Kaffee fertig, und Roberta kam auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs zu sprechen.

Teresa schüttelte den Kopf.

»Es ist unglaublich, dass Menschen in der heutigen Zeit noch so drauf sind. Das arme Mädchen. Ich finde es großartig, Frau Doktor, dass Sie sich neben der ganzen Arbeit, die Sie haben, auch noch die Zeit nehmen, sich um so etwas zu kümmern.«

Das wollte Roberta überhaupt nicht hören, sie winkte ab und sagte lächelnd: »Und jetzt schiebe ich Ihnen den Schwarzen Peter zu, liebe Frau von Roth. Denn falls es mit diesen Eltern zu einem Zerwürfnis kommen sollte, muss schnell gehandelt werden, damit Babette nicht den Boden unter ihren Füßen verliert.«

»Da machen Sie sich überhaupt keine Sorgen, Frau Doktor, ich werde mich sofort darum kümmern. Und ich verspreche Ihnen, dass Platz für das Mädchen sein wird. Soll ich Ihnen mal was sagen? Alles, was Sie mir da erzählt haben, hat bei mir Schauder des Entsetzens ausgelöst. Wie kann man so sein? Ich könnte darauf wetten, dass die Eltern das arme Wesen aus dem Haus jagen, wenn es einer Abtreibung nicht zustimmt.«

Am liebsten hätte Roberta sich die Ohren zugehalten, denn es war wirklich ganz grauenhaft.

»Babette ist fest entschlossen, das Baby zu bekommen, ihr Freund ist auf ihrer Seite, und jetzt hat sie auch noch uns an ­Unterstützung gewonnen.« Sie blickte Teresa an. »Wir können doch auf Sie zählen?« Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie sich bereits mit Babette und deren scheinbaren Problemen identifiziert hatte. Denn richtige Probleme waren es ja nicht, es war eher etwas, worüber man sich unglaublich freuen und dankbar sein musste. Wie viele Frauen versuchten alles, um ein Kind zu bekommen, was nahmen sie dafür auf sich!

»Frau Doktor, ich werde alles tun, und damit werde ich auch gleich anfangen, wenn Sie weg sind.«

Sie musste jetzt gehen, denn sie hatte sich tatsächlich mit Teresa von Roth verplaudert. Sie erhob sich und sagte lachend: »Dann gehe ich sofort.«

Teresa verstand, wie es gemeint war. Sie war jetzt nicht beleidigt oder pikiert.

»Wir schaffen es gemeinsam«, sagte Teresa, als sie die Frau Doktor zur Tür begleitete. »Und bitte, sehen Sie zu, dass das Gespräch sehr schnell stattfinden wird, damit das arme Ding sich nicht länger quälen muss.«

Roberta nickte.

»Dafür werde ich sorgen, Frau von Roth, doch jetzt erst einmal danke für Ihre spontane Bereitschaft, etwas für Babette zu tun, und danke für den Kaffee. Er war sehr lecker.«

Teresa lachte.

»Schade, dass das jetzt meine Inge nicht gehört hat, denn eigentlich ist sie die Spezialistin. Schön, dass Sie hier waren. Es freut mich immer, Sie zu sehen. Für den Sonnenwinkel war es ein ganz, ganz großes Glück, Sie als Ärztin zu bekommen.«

Am liebsten hätte Roberta ­diese feine, gebildete Dame umarmt, und das gewiss nicht wegen des Kompliments, sondern weil sie schon etwas Besonderes war, die Teresa von Roth.

Roberta war noch immer ganz gerührt und hatte Teresas Worte in ihren Ohren, als sie nach Hause kam, und sie hatte die Haustür kaum aufgeschlossen, als ihr Telefon klingelte.

Nicki?

Sie rannte los, meldete sich fast atemlos. Es war nicht Nicki, sondern Ken rief an.

»Ladybird, du bist ja ganz atemlos. Hast du geahnt, dass ich der Anrufer bin, weil ich eine unbändige Sehnsucht nach dir habe, danach, deine Stimme zu hören?«

Ken!

Ihr Herz begann zu klopfen, wenn sie seine Stimme hörte, da gab es keine Zweifel, da gab es keine Gedanken, wie es mit ihnen wohl weitergehen würde, könnte. Da gab es nichts weiter als nur Gefühl pur. Ein unbeschreibliches Glück überkam Roberta

»Wie schön, dass du anrufst, Ken, jetzt scheint die Sonne noch viel leuchtender.« Roberta hätte niemals für möglich gehalten, dass ausgerechnet sie solche Worte aussprechen würde. Doch irgendwie war es so, es war auf einmal heller ringsum.

Er hatte nicht viel Zeit, er machte ihr ein paar Komplimente, die bei Roberta heruntergingen wie Öl, und sie fühlte sich jung, unbeschwert wie ein Teenie, sie war halt wirklich verliebt in Ken, und da war tatsächlich Gefühl pur, wenn ihr Verstand nicht anfing zu arbeiten, den schaltete sie aus, es war so wunderschön auf der berühmten Wolke Sieben. Leider, leider konnte man auf der nicht dauernd bleiben. Doch daran dachte sie jetzt nicht. Alles war einfach nur schön, und als sie sich schließlich voneinander verabschiedeten, war die Welt heil. Und sie konnte sogar eines der Fotos von Lars in die Hand nehmen, die überall herumstanden, und daran würde sich auch niemals etwas ändern.

Sie strich über die Konturen seines geliebten Gesichtes und flüsterte: »Ihr würdet euch gut miteinander verstehen, der Ken und du, weil ihr euch sehr ähnlich seid. In gewisser Weise seid ihr beide so etwas wie einsame Wölfe, aber du …« Sie presste das Bild an ihr Herz. Roberta wusste, dass Lars immer ihre Nummer Eins bleiben würde. Es gab, wenn man Glück hatte, mehr als nur eine Liebe im Leben. Doch die wahre, die unglaubliche Liebe, die gab es nur einmal. Und die hatte sie erleben dürfen, zu kurz, zu schmerzlich, aber …

»Lars, ich werde dich immer lieben«, murmelte sie, »aber Ken, ich glaube, den liebe ich ebenfalls, wenn auch anders.«

Mit dem Foto an sich gepresst, setzte sie sie, von dem, was gewesen war, was augenblicklich eine Rolle spielte und dem, was sein könnte. Das Leben war in Veränderung, go with the flow, und Aristoteles sollte etwas ganz Wunderbares gesagt haben: Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen …

Sie musste dankbar sein, es ging ihr gut. Und auch, wenn sie zwischendurch arg gebeutelt wurde, es ging immer weiter, und da fiel ihr noch etwas ein, was Alma immer sagte – wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.

Es war mehr als nur ein Lichtlein, was sich derzeit in ihrem Leben abspielte, und Ladybird, wie Ken sie nannte, gefiel ihr …

*

Maja musste an sich halten, nicht wieder zu diesem Haus zu fahren, weil es mittlerweile schon eine Obsession war, wie sie sich mit diesem verwahrlosten Haus beschäftigte. Dabei kannte sie die Person, die darin wohnte, nicht einmal persönlich.

Sie vermied es, dort noch einmal zu klingeln, und sie wollte auch nicht mehr vorbeifahren und sich den Hals verrenken.

Aus dem Sonnenwinkel gab es einige Wege, und ebenso welche, in die man hineinfahren konnte. Selbst zu der Mühle gelangte man auf andere Weise, doch merkwürdigerweise interessierte Maja das nicht. Doch da sie sich auf jeden Fall ein neues Brot kaufen musste, ging sie zu dem Bauernwochenmarkt, den sie bereits einige Male besucht hatte, weil man da wirklich alles bekam, was das Herz begehrte. Sie kochte selbst kaum, aber leckere Kleinigkeiten bereitete sie sich schon zu, Obst und Gemüse waren immer eine Option, und der geräucherte Lachs war köstlich.

Sie schlenderte überall herum, kaufte hier und da etwas, und gerade, als sie den Markt verlassen wollte, entdeckte sie Julia.

»Julia, was machst du denn hier? Hast du als Gastronomin nicht ganz andere Einkaufsquellen?«

Julia freute sich, Maja zu sehen, sie mochten sich mittlerweile wirklich sehr, und das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass Maja ein besonders guter Gast war.

»Ja, aber es wäre sehr töricht, das hier nicht zu nutzen. Die meisten der Markthändler kenne ich eh, weil es alles Biobauern aus der Umgebung sind, bei denen ich einkaufe. Es ist sehr angenehm, hier einkaufen zu können, was ich vergessen habe oder zusätzlich benötige. Und was die Blumen betrifft, die kaufe ich nirgendwo sonst, nur hier, und wenn sie doppelt oder dreifach so teuer wären. In dieser Gärtnerei werden noch Blumen gezüchtet, die man kaum noch sieht und auf dem Blumengroßmarkt schon überhaupt nicht. Da wird das Angebot immer uniformer. Es macht keinen Spaß. Doch was treibt dich um, Maja? Willst du uns untreu werden und den Kochlöffel selber schwingen?«

Das erheiterte Maja ziemlich.

»Da kann ich dich beruhigen. Das wirst du niemals erleben. Aber ich finde den Markt auch sehr schön, und hier und da kaufe ich auch etwas. Beispielsweise ist der Räucherlachs ausgezeichnet.«

Das konnte Julia nur bestätigen, verwies auch auf das Gemüse und Obst.

Doch dafür interessierte Maja sich nicht mehr so sehr, denn ihr fiel etwas ein.

»Sag mal, kennst du zufällig den Mann, der auf dem Tannenweg in Haus No. 8 wohnt?«

Was sollte diese Frage jetzt?

»Bist du hinter dem her?«, erkundigte Julia sich belustigt. »Nö, ich glaube, dass der nicht ganz koscher ist.«

Julia mochte Maja, wie gesagt, sehr, doch sie war in Eile, und deswegen hatte sie auch überhaupt keine Lust, sich über solche Banalitäten zu unterhalten.

»Maja, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Erst einmal kommen nicht alle Leute, die im Sonnenwinkel wohnen, zu uns in den ›Seeblick‹, ich weiß noch nicht einmal, wo der Tannenweg überhaupt ist. Kann sein, dass der Mann, der dich interessiert, schon mal Gast bei uns war, vielleicht auch nicht, warum ist das so wichtig für dich? Nicht ganz koscher, wie du sagst, sind viele Leute. Da kann ich ein Lied von singen.«

Warum hatte sie bloß diese Frage gestellt. Allmählich wurde es peinlich, aber sie konnte jetzt nicht einfach etwas dahersagen, sie musste schon Farbe bekennen. Deswegen erzählte sie Maja, wieso sie das interessierte und schloss mit den Worten: »Du kennst diesen Galeristen nicht, sonst würdest du mich verstehen. Der verkehrt nur unter den Reichen und Schönen und das weltweit.«

Maja zuckte die Achseln.

»Aber das bedeutet doch nicht, dass er jemanden, der ihm etwas bedeutet, hier besucht. Du wohnst doch ebenfalls, wenn auch vorübergehend, hier. Ehrlich mal, dich würde man normalerweise hier auch nicht vermuten.«

»Ich kenne das hier von früher, deswegen bin ich hier.« Maja war genervt. Doch Julia war es ebenfalls.

»Maja, ich glaube, du hast dich da in etwas verrannt, ich sehe nichts Ungewöhnliches an dieser Geschichte.«

»Und warum war Arne Boll, der Galerist, so irritiert, mich zu sehen? Mehr noch, es schien ihm unangenehm zu sein.«

»Maja war es so, oder interpretierst du da in etwas was hinein?«

Maja schluckte, denn eigentlich hatte Julia den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie konnte wirklich nicht ausschließen, dass es so war.

»Ich weiß nicht, doch wenn du den Mann nicht kennst.«

Sofort widersprach Julia.

»Das habe ich nicht gesagt, weil ich nicht ausschließen kann, dass er doch schon mal Gast bei uns war. Maja, warum fährst du nicht einfach noch mal hin und versuchst, mit dem Mann zu reden, und vielleicht erfährst du dann auch noch mehr über den Galeristen und warum er sich für deine Begriffe so merkwürdig verhalten hat?«

Sie durfte Julia nicht länger nerven, denn Maja hatte bemerkt, wie die schon mehrfach verstohlen auf ihre Armbanduhr geschaut hatte.

»Ich will dich nicht länger aufhalten, vielleicht hast du recht. Außerdem ist es auch nicht so wichtig.«

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Maja ärgerte sich sehr über sich selbst, warum hatte sie bloß davon angefangen? Was war der eigentliche Grund?

Langeweile!

Sie hatte nichts zu tun, wusste mit ihrem Leben nichts anzufangen, und deswegen jagte sie Hirngespinsten hinterher. Und sie lenkte dadurch von dem ab, was wirklich wichtig war.

Vielleicht sollte sie einfach nur ihre Koffer packen, es musste ja nicht wieder New York sein, sie hatte noch andere Wohnungen. Und wenn sie gescheit war, dann sollte sie sich erst einmal Gedanken darüber machen, was mit ihrem Elternhaus geschehen sollte. Sie hatte es um jeden Preis haben wollten, hatte dafür auch auf eine Menge Geld verzichtet, weil ihr Bruder Georg sofort Kapital daraus geschlagen und sich gewinnträchtige Mehrfamilienhäuser unter den Nagel gerissen hatte.

Sie musste weg!

Sie musste wieder sie selber werden!

Der Sonnenwinkel war zwar ein schöner Platz, doch er machte träge, weil nicht viel passierte.

Maja betrachtete ihre Einkäufe, die brauchte sie jetzt auch nicht mehr, denn sie würde, vielleicht heute noch nicht, aber doch morgen ihre Koffer packen.

Sie verließ den Markt, da fiel ihr Blick auf eine Frau, die sehr ärmlich aussah und voller Verlangen auf die Pfirsiche blickte, die eingangs des Marktes aufgeschichtet waren. Pfirsiche hatte sie ebenfalls gekauft. Sogar welche, die noch appetitlicher aussahen und auch teurer gewesen waren.

Sie lief auf die Frau zu, drückte ihr ihre Einkäufe in die Hand und sagte: »Das schenke ich Ihnen, genießen Sie es.«

Dann wandte sie sich ab, lief davon. Wie schade, dass sie das Gesicht der Frau nicht sah, die ihr verblüfft hinterher blickte und ihr Glück nicht fassen konnte, weil sie wirklich arm war und immer Märkte aufsuchte in der Hoffnung, Reste zu ergattern, die nicht mehr ganz einwandfrei waren, die sich nicht mehr mitzunehmen lohnte. Und das hier war ein Markt, wo man sehr großzügig war, dafür lohnte sich sogar die Busfahrt.

Und das jetzt.

Natürlich sah sie sofort nach, was sie da geschenkt bekommen hatte und konnte es nicht fassen, dass sogar Räucherlachs dabei war, den hatte sie seit Jahren nicht mehr gegessen und wenn, dann ganz gewiss nicht in dieser Qualität.

Es gab doch noch gute Menschen auf der Welt, oder hatte der liebe Gott ihre Gebete erhört?

Maja würde sich vielleicht besser fühlen, wenn sie wüsste, dass sie die Frau glücklich gemacht hatte.

Ehe sie sich weiterhin lächerlich machte, musste sie weg.

Sie stolperte dahin und zuckte zusammen, als jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um und entdeckte Teresa von Roth, mit der sie schon einige Male zu tun gehabt hatte, weil sie gespendet hatte.

»Hallo, Frau Greifenfeld, schön, Sie zu sehen, das erspart mir den Weg zu Ihrem Haus«, rief Teresa.

Und Maja fragte sich, ob sie wieder für etwas spenden sollte, da war diese Frau von Roth ziemlich direkt. Doch insgeheim fand Maja es gut. Es sollten sich viel mehr Leute dafür einsetzen, für etwas zu sammeln, womit man Not mildern konnte.

»Was ist es denn diesmal, Frau von Roth?«, erkundigte sie sich.

Teresa begann zu lachen.

»Bin ich bei Ihnen schon so verschrien, dass Sie glauben, ich wolle etwas von Ihnen, wann immer ich Sie sehe? Nein, ich wollte Ihnen nur die Spendenbescheinigung für Ihre letzte Spende vorbeibringen, für die ich Ihnen übrigens noch einmal von ganzem Herzen danke. Das war sehr großzügig von Ihnen.« Sie kramte in ihrer Tasche herum, beförderte einen Umschlag daraus hervor, auf den Sophia, die für das Ausstellen der Bescheinigungen zuständig war, fein und ordentlich Maja Greifenfeld geschrieben hatte.

Natürlich hätten sie die Spendenbescheinigung auch mit der Post schicken können, doch einmal konnte man das Porto sparen, zum anderen fand Teresa es wichtig, sich immer in Erinnerung zu bringen. Ein persönliches Gespräch war einprägsamer als ein unverbindlicher Brief.

Es war verrückt, doch Maja konnte nicht anders. Teresa von Roth kam überall rum, vielleicht …

Maja hatte diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, als sie ihn auch schon aussprach.

»Frau von Roth, wissen Sie, wer auf dem Tannenweg im Haus Nummer 8 wohnt? Es ist ziemlich verwahrlost.«

Bingo!

»Da wohnt ein Mann, der sich recht merkwürdig verhält«, sagte Teresa sofort. »Er lässt niemanden in sein Haus, will mit niemandem etwas zu tun haben. Und stellen Sie sich bloß mal vor, ein ausgesprochen liebenswerter Nachbar wollte ihm Brot und Salz bringen, und dieser Mensch hat die Annahme verweigert und die Tür vor der Nase des armen Mannes zugeschlagen.«

Maja bedankte sich, und eigentlich hatte Teresa jetzt erwartet zu erfahren, weswegen Frau Greifenfeld an dem Mann interessiert war. Doch es kam nichts, Maja hatte es plötzlich eilig, sie sagte nur noch, dass gewiss mit einer weiteren Spende gerechnet werden könne, dann hastete sie davon.

Kopfschüttelnd blickte Teresa ihr hinterher, das Verhalten dieser Frau war ebenfalls höchst merkwürdig.

Sie drehte sich um, ging weiter, und weil sie gleich wieder jemanden traf, war der kleine Zwischenfall schnell vergessen, sie hatte nur registriert, dass weitere Spenden kommen sollten, und an diesem Thema würde sie dranbleiben.

Maja lief nicht in ihr Haus, sondern rannte zum Auto, stieg ein und fuhr davon. Diesmal würde sie sich nicht abwimmeln lassen. Sie musste der Sache auf den Grund gehen.

Es war ein Glück, dass es hier keine Verkehrskontrollen gab, denn da hätte man sie ganz schön zur Kasse gebeten. Als sie parkte, merkte sie, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

Das Haus wirkte noch verwahrloster, als sie es in Erinnerung hatte. Sie rannte hin, klingelte Sturm und das wieder und wieder. Diesmal würde sie sich nicht abwimmeln lassen, sie donnerte gegen die Tür, drückte wütend die Türklinke herunter …

Der neue Sonnenwinkel Box 13 – Familienroman

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