Außergewöhnliche Schicksale zwischen Ringstraßenwelt und Luegerzeit Michaela Lindinger wagt einen Blick hinter die Kulissen eines «anderen» Wien um 1900: auf die Vorstadtbühnen, wo Frauen verbotenerweise Hosen trugen und als Männer auftraten, in die hochherrschaftlichen Räume der ersten Wiener Hippies, auf die brennenden Ränge des Ringtheaters oder in die Männerbäder von Wien, wo man zusehen konnte, wie ein Erzherzog abgewatscht wurde. In diesem Buch begegnen wir Proletarierinnen und Hochadeligen, Reaktionären und Kommunarden, Aufsteigerinnen und Hochstaplern. Sie prägten ihre Zeit und auch die Nachwelt, auf ganz verschiedene Art und Weise. Ihr Leben verlief spannend und außergewöhnlich, eine Aura des Geheimnisvollen und Undurchsichtigen umgibt sie bis heute.
Antonie Mansfeld und Emilie Turecek: Wiens erste »Pop-Models«
Von den Mädeln aus der Vorstadt
»Kennen Sie Mansfeld? Fräulein Antonie Mansfeld?«
Die Favoritin
Showgirls
Ludwig Viktor von Habsburg-Lothringen: Emanzipation in Rosa
Partytyp und Mamas Liebling
Ringstraßenpalais
»Queen of Austria«
»Schwule Mädchen«
Anna von Lieben: »Hysterische« Frauen
»Sterne unter den Ratten«
»Wahnsinns«-Frauen
»Cäcilie M.«
Heilige oder Irre?
Männerfantasien?
Karl Anton Guido List: Wiener Geheimgesellschaften
»Ahnenerbe«
Als die Germanen Deutsche wurden
Fauler Zauber?
Elitäre Orden
Karl Wilhelm Diefenbach: Kunst und Politik
Der »Kohlrabi-Apostel«
»Et in Arcadia ego«
Ganz befreit in Ober St. Veit
»Wiener Originale«
Richard Engländer / »Peter Altenberg«: Neurasthenische Männer
»Aus dem Leben eines Taugenichts«
»Genie ohne Fähigkeiten«
Kaffeehaus-Neurasthenie
Sensationen des Alltags
Prater-Paradiese
Schlaflos im Stundenhotel
»Sunt certi denique fines!«
Eugen Steinach: Bonjour Jeunesse
»Altweibermühle«
Frankensteins Väter
Methusalix bei den Ratten
Alter ade?
Stanisław Przybyszewski: Décadence
Der »traurige Satan«
Unheilige Allianzen
Der lange Arm des »genialen Polen«
Marie Alexandrine (»Mary«) von Vetsera: Der »Bling Ring« von Wien
Migrationshintergrund im 19. Jahrhundert
Sportskanonen mit Ambitionen
»Knalleffect der Natur«
Adolf Josef Lanz / »Dr. Jörg Lanz von Liebenfels«: Zwischen Kreuz und Hakenkreuz
Die Rückkehr der Tempelritter
Es war einmal … der Affe
Camelot im Strudengau
Völlig losgelöst
Im Sumpf
Epilog
Literaturverzeichnis
Dank
Bildnachweis
Personenregister
Die »andere« Elisabeth: das Kind ihrer Zeit, die Kultfigur der Décadence
Отрывок из книги
MICHAELA LINDINGER
femmes fataLes
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Die jahrelangen Strapazen gingen nicht wirkungslos an der jungen Frau vorüber. Fünf Jahre nur währte ihr Ruhm, sie verausgabte sich zu sehr. Ihr Mezzosopran bekam bald ein raues Timbre. Die bildhübschen »Brettl«-Damen wurden von ihren männlichen Verehrern bis zum Überdruss angehimmelt, mit Wagen und Brillanten überhäuft, doch Glanz und Gloria entpuppten sich als flüchtig. Die unvermeidlichen Einbußen an Kraft, Stimme und apartem Äußeren verursachten den vormals gefeierten, nun alternden Stars unüberwindliche Schwierigkeiten. Der Fall kam unverhofft, war tief und unsanft. Zuerst wurde man aus den besseren Spielstätten komplimentiert, musste auf einfachere Lokale ausweichen und irgendwann hatte man leere Sitzreihen vor sich. Man war vergessen. Es gab keinerlei soziale Absicherung für die Schaustellerinnen, denn als nichts anderes wurden sie gesehen. Ihr Lebensabend war düster und elend. Der letzte Akt begann bei Antonie Mansfeld mit dem Tod ihres Liebhabers. Als 1869 ihr ständiger Klavier- und Lebensbegleiter Ferdinand Mansfeld nach langer Krankheit starb, musste sie mit übler Nachrede fertig werden. In der Todesanzeige hatte sie zwar, wie eine anständige trauernde Witwe, den »unersetzlichen Verlust« beklagt, aber eben nicht nur das. Da sie sich die Ausgaben für eine zweite Anzeige sparen wollte, teilte sie innerhalb der Parte gleich mit, dass sie in drei Tagen wieder aufzutreten gedenke und zwar mit »ganz neuen Liedern«, offenbar aus dem Nachlass des Verstorbenen. Für die damalige Zeit galt das als skandalös, da die Trauerzeit für Witwen sehr ernst genommen wurde und mindestens zwei Jahre umfasste, in denen man praktisch nicht aus dem Haus ging. Im ersten Jahr der »tiefen Trauer« war nur schwarz zu tragen, dann ging man ein halbes Jahr in »Halbtrauer« (schwarz, grau und weiß) und anschließend sechs Monate in »Austrauer« mit den erlaubten Kleiderfarben schwarz, grau, weiß und mauve. Und diese Sängerin, zwar keine richtige Witwe, da sie nie verheiratet war – aber in so einem Fall hätte es der Anstand erst recht verlangt, den Schein zu wahren – trat drei Tage nach dem Ableben des Gefährten wieder vor Publikum und sang zotige Lieder. Die pietätlose Reklame wurde als Geschmacklosigkeit schwer gerügt, doch die geschäftstüchtige Antonie Mansfeld war um Widerworte nicht verlegen: »Das macht ihn a nimmer lebendig, und so geht’s eben in an Aufwaschn«, soll sie gesagt haben. Außerdem war sie gezwungen, weiterhin ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein neuer »Bruder« musste her. Er fand sich in Gestalt des jungen gesellschaftskritischen Johann Sioly. Der Violinspieler und Pianist war fünf Jahre jünger als die Mansfeld, schuf über tausend (Heurigen-)Lieder (darunter Des hat ka Goethe gschriebn) und führte den signifikanten Beinamen »Strauß des Brettls«. Er trat die Nachfolge des Ferdinand Mansfeld an und begleitete Antonie am Klavier und ins Bett. Die Nummern, die er für sie schrieb, waren etwas gemäßigter im Ausdruck, doch beinahe ebenso erfolgreich wie ihr Standardrepertoire. Sie schaffte es, auch damit gut anzukommen und punktete weiterhin bei Kritik und Publikum. Die Volkssängerin plante »ehrbar« zu werden und wollte Sioly heiraten. Doch sie erkrankte, veränderte sich stark im Wesen und begann das Geld zum Fenster hinauszuwerfen, obwohl sie früher die Sparsamkeit in Person gewesen war. Sogar ein eigenes Haus hatte sie sich kaufen können. Ihr Geist verwirrte sich. Am 1. Mai 1873, als in Wien die große Weltausstellung mit der Rotunde im Zentrum eröffnet wurde, musste sie in die »Privatirrenanstalt« in Lainz eingeliefert werden. Sie lebte dort noch zwei Jahre und starb mit 39 Jahren in geistiger Umnachtung. Das Illustrirte Wiener Extrablatt hatte noch geschrieben: »Selbst im gegenwärtigen Zustande des Irrsinns singt und jodelt sie wilde Wahnsinnslieder. Reminiszenzen an entschwundene Tage, die hin und wieder aus der Nacht des Geistes wie ein Wetterleuchten hervorbrechen.«
Wie seine Musik war auch Johann Sioly selbst nur vordergründig »lustig«. Während seine Verleger mit seinen Kompositionen ein Vermögen verdienten, bekam er selbst für ein Stück nur 2 bis 4 Gulden. Von Natur aus ein verschlossener Mann, vergrämten ihn die diversen Enttäuschungen immer mehr, bis er 1911 in bitterer Armut starb.