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Einführung: Geschichte, Gesellschaft und Kultur

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Indien – Südasien

Die meisten Geschichten zu Südasien tragen im Titel oftmals den Begriff oder Namen „Indien“. Unter Indien wird nach allgemeinem Verständnis fast ausnahmslos die Republik Indien verstanden, was die anderen Staaten des südasiatischen Subkontinents ausschließt. Der Terminus Südasien hat aber in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend den eurozentrischen Begriff „Indien“ abgelöst und sich an die seit längerem etablierten geografischen Bezeichnungen Südost-Asien und Zentralasien sowie neuerdings auch Ostasien und Westasien angelehnt. Darüber hinaus bezeugt diese neue Begrifflichkeit ein gewandeltes Verständnis von geschichtlichen Zusammenhängen, die nun nicht mehr einseitig von Europa aus konzipiert und geschrieben werden. Die neueste Forschung konzentriert sich auf ein polyzentrisches Weltbild, das allen großen Weltregionen einen gleichwertigen historisch-kulturellen Stellenwert zuschreibt. Eine Geschichte Südasiens zu verfassen heißt folglich auch, sie aus der Perspektive des südasiatischen Subkontinents heraus zu entwerfen und nicht von vorgefertigten Meinungen auszugehen, wie sie in Europa über Jahrhunderte gepflegt wurden und sich in Form von Stereotypen und Vorurteilen manifestiert haben.

Geografisch gehören zu Südasien die gegenwärtigen Länder Afghanistan und Pakistan, Indien, Nepal, Bhutan, Sikkim und Bangladesh, Sri Lanka und die Malediven. Südasien ist mit 4,2 Mio. km2 ein Subkontinent, dessen Ausmaße an die der momentanen Europäischen Union heran reichen. Ein Vergleich mit dieser ist nicht nur vor dem Hintergrund der räumlichen Dimension, sondern auch deshalb angebracht, weil die geografische Diversifiziertheit und die sprachliche, kulturelle und ethnisch-gesellschaftliche Vielfalt durchaus mit der Südasiens korrespondiert. Der Subkontinent wird in seiner südlichen Hälfte, der „Halbinsel“, vom Indischen Ozean umspült, deren Spitze Kanya Kumari die Insel Sri Lanka vorgelagert ist. Im Westen begrenzen das Sulaiman- und nördlich davon gelegen das Kirthan-Gebirge die Landmasse. Gen Norden scheint das gewaltige Bergmassiv des Himalaya („Stätte des Schnees“) mit Pamir, Hindukush und Karakorum den Subkontinent abzuschließen, im Osten der Brahmaputra und das Arakan-Gebirge.

Wie jedoch bei allen Gebirgsmassiven der Welt zu beobachten, stellen sie keine unüberwindlichen Hindernisse dar, ganz im Gegenteil, sie fordern geradezu die Erschließung von Passiermöglichkeiten heraus. Der Bolan-Pass und der Khaiber-Pass nach Afghanistan zeugen ebenso von der Suche nach solchen Durch- und Übergängen wie der Karakorum-Pass in das westliche Zentralasien. Auch Tibet war keinesfalls unerreichbar, wie die Jahrtausende alten wirtschaftlichen und kulturellen Austauschbeziehungen zwischen Zentralasien, Tibet und Nordindien belegen. Die transkontinentale Seidenstraße mit ihren von Händlern und Kaufleuten im Verlauf der Jahrhunderte erkundeten und erschlossenen nord-südlich verlaufenden Zubringern sorgte ebenso für die weite Verbreitung von Waren und Menschen wie von politischen und religiösen Ideen.

Landschaftsräume

Ähnlich wie Europa ist auch Südasien durch eine stark differenzierte landschaftsräumliche Gliederung gekennzeichnet. Die südliche Festlandmasse des Subkontinents bildet die Halbinsel, die in den Indischen Ozean ragt und dessen westliche Hälfte als Arabisches Meer und dessen östliche Hälfte als Golf von Bengalen bezeichnet wird. So wenig wie die Berge Gesellschaften und Kulturen voneinander isolieren, so wenig geschieht das im Fall von Ozeanen. Seit dem Altertum bestanden rege wirtschaftliche und kulturelle Austauschbeziehungen zwischen den Anrainerregionen des Indischen Ozeans. Bereits die Gesellschaft der Harappa-Zivilisation des 3. vorchristlichen Jahrtausends, deren Kern im nordwestlichen Südasien lag, unterhielt Kontakte zur sumerischen Gesellschaft Mesopotamiens, die zu Land wie zu Wasser gepflegt wurden. Im Verlauf der nachfolgenden Jahrtausende sind diese multilateralen Beziehungen immer weiter entlang der arabischafrikanischen Küste einerseits und andererseits zum malayisch-indonesischen Archipel ausgedehnt worden. Nicht zu unrecht wird deshalb neuerdings von einer „maritimen Seidenstraße“ gesprochen. Ab dem 12. Jahrhundert ließen sich Händler aus Gujarat im Hadhramaut, das in etwa dem heutigen Jemen entspricht, und Afrika sowie tamilische Händlergruppen in Südostasien dauerhaft nieder.

Naturräume

Tektonisch kann der südasiatische Subkontinent in drei große Naturräume unterteilt werden. Zum einen liegt, wie bereits erwähnt, das riesige Gebirgsmassiv im Norden des subkontinentalen Festlandplatte. Diese schiebt sich seit etwa 120 Millionen Jahren unter die eurasische Festlandplatte und wirft dabei den Himalaya auf. Zum zweiten gibt es das im Vorfeld dieser Auffaltung liegende Tiefland, das von Ganges und Jamuna, das von dem so genannten Doab, zu Deutsch: Zweistromland, in west-östlicher Richtung durchflossen wird. Westlich davon ergießt sich der Indus, der von vier weiteren Flüssen, die allesamt im Himalaya entspringen, gespeist wird. Vom südlichen Ende des Panjab, dem Fünfstromland, fließt er schließlich weitere 1.000 km bis in das Arabische Meer. Im Osten der submontanen Landschaft formt zusammen mit dem Ganges der Brahmaputra das gewaltige Flussdelta Bengalens, eine einzigartige Landschaft, die nur ein bis zwei Meter über dem Meeresspiegel liegt. Gerade deshalb gehört sie zu einer der fruchtbarsten Regionen des Subkontinents, aber auch zu einer Gegend, die stets von Überschwemmungen, aus dem Landesinneren oder vom Meer her, bedroht war und ist.

Die auf jeder Weltkarte so markant erscheinende „indische Halbinsel“ wird an seiner westlichen Seite von den Western Ghats begrenzt, einer Gebirgskette von bis zu 2.600 Metern Höhe, und im Osten von den Eastern Ghats, die mit 1.500 Metern jedoch wesentlich niedriger sind. Das Hochplateau, das in west-östliche Richtung geneigt ist, gleichsam wie eine schiefe Ebene, wird als Dekhan bezeichnet und stellt den dritten großen Naturraum dar. Sämtliche Flüsse, die in den zur Dekhan Seite gelegenen Abhängen der Western Ghats entspringen, fließen aufgrund der tektonischen „Schieflage“ in den Golf von Bengalen. Am bekanntesten sind die großen Flüsse vor Mahanadi, Krishna, Godaveri und Kaveri mit ihren prägnanten Mündungsdeltas. Die beiden Flüsse, die in Ost-West-Richtung fließen, sind die Narbada oder Narmada und die Tapti, die nördlich von Bombay in das Arabische Meer fließen. Die Narmada, meist bekannt durch die seit Jahrzehnten anhaltenden Planungen und Baumaßnahmen zur weltweit größten Stauseen-Landschaft, trennt zusammen mit dem Satpura-Gebirge Zentralindien vom nördlich davon gelegenen „Hindustan“ ab, ohne dass auch dieser Fluss samt dem schroffen Bergland je eine unüberwindbare Barriere gewesen ist.

Klima und Vegetation

Diese so markante geografische Beschaffenheit des südasiatischen Subkontinents, die vor allem durch ihre großräumige Struktur charakterisiert ist, hat unmittelbare Auswirkungen auf die klimatisch-vegetativen Verhältnisse. Sie werden weit über den Subkontinent hinaus vom Monsun (arab. mausim: Jahreszeit) bestimmt, der zunächst einmal nur die sich um fast 180 Grad drehenden Windrichtungen meint. Damit einher gehen gewaltige Niederschläge, die sich über dem Subkontinent, aber auch in Indonesien und Teilen Südchinas ergießen. Allgemein wird unterschieden zwischen dem Sommermonsun, der von Juni bis September aus südwestlicher Richtung über das Arabische Meer weht und mit seinen warmen Winden ungeheure Wassermassen transportiert, und dem Wintermonsun, der von Dezember bis Februar vom asiatischen Inland her weht und nur über dem Golf von Bengalen Wasser aufnimmt. Deshalb sind hier die Niederschläge meist nur in Südindien und auf Sri Lanka zu verzeichnen, während die des Sommermonsuns an den Western Ghats und am Abhang des östlichen Himalaya im Jahresdurchschnitt die höchsten Niederschlagsmengen von bis über 3.000 mm verzeichnen. Auf dem Dekhan sowie im nördlichen Rajastan und Pakistan regnet es indessen am wenigsten.

Auffällig an diesen klimatischen Konditionen ist die extrem hohe Variabilität der Niederschlagsmengen, die den Kontrast zwischen den feucht-nassen und den semi-ariden bzw. ariden Regionen prägen. Dies ist für Südasien insofern von großer Bedeutung, als die Menge an Niederschlägen wie die daraus resultierende Verfügbarkeit von Wasser über künstliche Bewässerungsmöglichkeiten mehr als in anderen Weltregionen entscheidend für eine ertragreiche Landwirtschaft ist. Im Laufe der Jahrtausende sind nicht nur ökologisch angepasste Landwirtschaftsformen wie der Terrassenfeldbau in bergigen Regionen entstanden oder ausgedehnte Bewässerungssysteme in Form von Kanälen und Staudämmen angelegt worden, sondern darüber hinaus wurden die Regionen, in denen Wasser ganzjährig reichlich vorhanden war, zu landwirtschaftlichen Kornkammern ausgebaut. Das gilt für Sri Lanka, das weithin berühmt war für seinen artifiziellen Wasserfeldbau, wie auch für das natürlich bewässerte Bengalen sowie für die Deltas von Mahanadi, Krishna, Godaveri und Kaveri, wo über Jahrtausende einzigartige Kulturlandschaften entstanden. An der Wende zum 20. Jahrhundert wurden schließlich die „Kanal-Kolonien“ im Panjab sowie die großräumigen Bewässerungssysteme im Sind am Unterlauf des Indus angelegt.

Historische Regionen

Die Entwicklung einer ertragreichen Landwirtschaft hat im Verlauf der Jahrtausende auf dem Subkontinent dazu geführt, dass sich einzelne Regionen herausgebildet haben, in denen es zu einer Stabilisierung der Landwirtschaft und damit auch der dort ansässigen Gesellschaft kam. Besondere Eigenschaften einer solchen historischen Region sind die religiösen, kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeiten sowie andere Formen der Traditionsbildung wie solche von gemeinsamen Mythen, Legenden und einem Geschichtsbewusstsein im Sinne einer historisch hergeleiteten gemeinschaftlichen Zugehörigkeit. Dies leitete Prozesse der Vergesellschaftung und der Reichsbildung in verschiedenen Regionen Südasiens ein, auf denen teilweise der noch heute existierende bundesstaatliche Aufbau der Indischen Union basiert. Auch bei den meisten Provinzen Pakistans ist dieses Phänomen als Ausdruck eines „politischen Regionalismus“ zu verstehen. Bengalen, Awadh und der Panjab in Nord- und Ostindien, Rajastan, Sind und Gujarat im westlichen Südasien sowie Tamilnad und Kerala in Südindien sind solche historischen Regionen, innerhalb derer wiederum Subregionen das historische Landschaftsbild bestimmen.


Die Regionen Indiens

(nach: D. Rothermund, Grundzüge der indischen Geschichte, Darmstadt 1976)

Spricht man von Regionen, so geht man von einem gedachten Ganzen aus. Klimatisch und geografisch stellt das nicht unbedingt ein Problem dar, das wird es aber im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Analyse. Diese geht meist von der Idee eines „gesamtindischen“ Staates aus, der freilich nur in wenigen subkontinentalen Großreichen wie dem Maurya-Reich (ca. 320–73 v. Chr.), dem Gupta-Reich (ca. 320 – ca. 500 n. Chr.) und dem Mogul-Reich (1526 – 1858) sowie schließlich mit Britisch-Indien (1858 – 1947) realisiert wurde. Vor diesem Hintergrund werden einerseits Großlandschaften und Staaten zu „Regionalstaaten“ degradiert, so als ob, im Vergleich dazu, Frankreich eine europäische Region sei. Andererseits sind die historischen Regionen spezifisch für Südasien, bilden sie doch die Kerngebiete, von denen Reichs- und Staatsbildungen ausgingen, die weit über die eigentliche historische Region hinausgreifen konnten. Das Reich von Vijayanagara südlich von Tungabhadra und Krishna und das Mogul-Reich entlang des Indus und des Ganges umfassten solche landschaftliche Großräume.

Historiografie

Sowohl in den Reichen, die im Gebiet der historischen Regionen entstanden, als auch in den Großreichen gab es eine reichhaltige und vielfältige Geschichtsschreibung. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts können grundsätzlich drei Typen unterschieden werden. Zum einen handelt es sich um die indo-persische Hof-Historiografie, die stark von der arabisch-persischen Geschichtsschreibung beeinflusst war, was sich besonders am Genre der Herrscherbiografien, Hagiografien, Chroniken und Annalen festmachen lässt. Gleichzeitig existierte die lange und große Tradition der brahmanischsanskritischen Hof-Historiografie, die ihrerseits stärker auf Chroniken, Annalen, Epen, Balladen und vor allen den Purana basierte. Puranas enthalten die idealtypischen Pflichten eines Herrschers (rajadharma) und dienen als Vorlage für gegenwärtige Herrscher. Puranische Literatur repräsentiert eine Vergangenheit, die auf der Mythisierung geschichtlicher Ereignisse basiert, wie sie für die Selbstdarstellung indischer Eliten typisch ist. Abgesehen von der imperialen und regionalen Hof-Historiografie als Repräsentation von Herrschaft und Macht gab es, drittens, die lokale Geschichtserzählung der Endo-Historie. Sie legitimierte ebenfalls Herrschaft, war aber rein exklusivistisch angelegt und diente überwiegend der inneren Repräsentation in Form eines gruppenintern tradierten historischen Wissens.

In der politisch unruhigen Zeit um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird deutlich, dass sich vor allem die Geschichtsschreiber im nordöstlichen Südasien, in Bengalen und Awadh, dieser Umbruchphase respektive der Umgestaltung und Neuordnung des Mogul-Imperiums bewusst sind. Entsprechend verfassten die Hof-Historiografen, die zugleich zur Verwaltungselite des Landes gehörten, ihre Geschichte und sahen sich dabei als ethisch-moralische Sach- und Erbwalter des in ihren Augen bedrohten Mogul-Reiches. Nicht unwesentlich haben sie zum wirkmächtigen Mogul-Mythos des ausgehenden 18. und vor allem des frühen 19. Jahrhunderts beigetragen. Ende des 18. Jahrhunderts trat mit der britischen Kolonialherrschaft in Bengalen eine neue, europäische Form der Geschichtsschreibung auf, die früh den Anspruch auf die exklusive Deutungshoheit der südasiatischen Geschichte erhob und schließlich versuchte, ein Monopol über die gesamte Historiografie zu errichten.

Kennzeichen dieser neuen Geschichtsschreibung war zum einen, dass sie den Menschen und Gesellschaften Südasiens ein historisches Bewusstsein grundsätzlich absprach, woraus sie auch die angebliche Armut an historiografischen Zeugnissen ableitete. Mit diesem operativen Zug konnte überhaupt erst die Aneignung der „indischen Geschichte“ eingeleitet werden. Zum zweiten übertrugen britische Amateurhistoriker und europäische Indologen die Dreiteilung der Geschichte nach bekanntem europäischem Muster von Altertum, Mittelalter und Neuzeit, wie sie seit Humanismus und Aufklärung konstruiert wurde, auf Südasien. Zunehmend wurde die „Alte Geschichte“ mit der Geschichte der hochstehenden, sanskritisch-brahmanischen Hindu-Kultur samt hierarchischen Gesellschaften und einer hochstehenden literarischen Produktion gleichgesetzt, während das Mittelalter mit der Errichtung des Delhi-Sultanats durch eine muslimische Dynastie 1207 angesetzt wird, das bis zum angeblichen Niedergang des Mogul-Reiches im 18. Jahrhundert reicht. Charakteristisch für dieses muslimische Mittelalter, so die bald herrschende britisch-europäische Meinung, waren dekadente Herrscher und eine stetig degenerierende Kultur, die allenfalls im Mogul-Reich noch einen letzten Höhepunkt erlebte, aber spätestens seit 1700 den jeglicher muslimischer Kultur angeblich inhärenten Verfallserscheinungen preisgegeben war.

Daran schloss sich die „Neuere Geschichte“ an, die nicht ohne Grund mit dem Beginn der britischen Territorialherrschaft in Bengalen gleichgesetzt wurde. Die selbst definierte historische Aufgabe der Briten bestand darin, „Indien“ und seine Gesellschaften aus der angeblichen Unzivilisiertheit heraus- und an die, mit einem gegenwärtigen Begriff treffend ausgedrückt, „Weltgemeinschaft zivilisierter Nationen“ heranzuführen. In der Zivilisationsmission lag demnach die Legitimation der fremden Herrschaft, die über eine solche Geschichtsschreibung hergeleitet wurde, die jedoch nichts anderes als ein koloniales Konstrukt darstellte. Im Prinzip wurden die Menschen Südasiens über die Aneignung ihrer Geschichte entmündigt, während die Briten sich umgekehrt als ihre wohlmeinenden Treuhänder darstellten. Diese Historiografie zeigte und zeigt bis in die Gegenwart eine ungeheure Wirkmächtigkeit, denn sie verursachte recht eigentlich die kulturelle und gesellschaftliche Deformation der Kolonisierten, die sich zumindest beim Mittelstand und teilweise bei den Eliten Südasiens bis heute in Form eines gewissen Minderwertigkeitsgefühls manifestiert.

Periodisierungen

Mit der hier vorliegenden Geschichte zum modernen Südasien soll gezielt von dieser Historiografie abgerückt werden. Dies geschieht zunächst einmal mit der Periodisierung. Gute Gründe sprechen dafür, es bei der bekannten Dreiteilung auch der Geschichte Südasiens zu belassen. Allerdings hat die Forschung der letzten beiden Jahrzehnte dazu beigetragen, dass sich die Zäsursetzung erheblich verschoben hat. So wird das Ende des „indischen Mittelalters“ nicht mehr mit dem Beginn der britischen Kolonialherrschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts angesetzt, vielmehr wird der Beginn der Neuzeit aufgrund der modernen zentralstaatlichen Reichsbildung einschließlich bürokratischem Verwaltungsapparat auf die Wende vom 15. auf das 16. Jahrhundert gelegt. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts spielten die Europäer auf dem südasiatischen Subkontinent in der Tat eine recht marginale Rolle.

Es dauerte noch lange, bis die Briten im Zuge der dynastischen Auseinandersetzungen auf dem indischen Subkontinent mit ihrer East India Company (EIC) die Oberhand gewinnen und zur führenden Territorialmacht werden sollten. Diese Vormachtstellung war schließlich um 1820 gesichert, und die Briten sprachen nun selbst von der „British Paramountcy in India“. Freilich blieb diese neue Machtkonstellation nicht unhinterfragt. Die permanenten Expansionskriege und die zahlreichen Annexionen von südasiatischen Staaten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lösten massiven Widerstand aus, der schließlich im Befreiungskrieg von 1857–59 kulminierte. Nach dessen brutaler Niederwerfung durch die Briten setzten diese die Dynastie der Timuriden ab, das englische Parlament nahm der EIC sämtliche Privilegien und gliederte Britisch-Indien als Kronkolonie in das Britische Imperium ein. Im Jahr 1876 wurde per Parlamentsakte Queen Victoria zur Kaiserin erhoben. Zwischen 1858 und 1947, dem Ende der Kolonialherrschaft, bezeichneten schon die Zeitgenossen Britisch-Indien auch als British Raj (Hindustani: Herrschaft, Reich, vgl. Raja = König).

Die Unabhängigkeit Britisch-Indiens stellt zweifelsohne die bedeutendste Zäsur in der Geschichte des Subkontinents im 20. Jahrhundert, wenn nicht gar der neueren Geschichte insgesamt dar. Nach einem Jahrhundert der staatlichen Zwangsvereinigung unter dem Kolonialregime wurde mit der Unabhängigkeit Britisch-Indien in die Staaten Pakistan und Indien geteilt. Pakistan bestand zunächst aus den beiden Landeshälften West- und Ost-Pakistan. Letzteres entspricht dem heutigen Bangladesh, das sich 1971 in einem blutigen Krieg und mit Hilfe Indiens von Pakistan loslöste. 1948 entließ Großbritannien auch Ceylon in die Unabhängigkeit, was jedoch aufgrund der tragischen Ereignisse im Verlauf der Teilung Britisch-Indiens international kaum zur Kenntnis genommen wurde. Dass die beiden großen Nachfolgestaaten Britisch-Indiens auch Atommächte sind – Indien seit 1974 und seit den 80er Jahren Pakistan – dürfte einen ebenso wichtigen historischen Einschnitt markieren wie die „Emergency Rule“ von 1975–77 unter Indira Gandhi in Indien und der Militärputsch unter Zia ul Haq in Pakistan im Jahr 1977.

Nach dieser Periodisierung bieten sich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert jeweils deren Mitte als eine einschneidende Zäsur an. Dem entspricht die zeitliche Organisation des vorliegenden Buches nicht, das sich eher an den Jahrhundertgrenzen des christlichen Kalenders orientiert. Dass gerade eine solche zeitliche Festlegung höchst willkürlich ist, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Aus diesem Grund sind auch die einzelnen Jahrhunderte nicht als fixierte Zeiträume zu verstehen, sondern als Orientierungszeitspannen, deren Anfang und Ende den jeweiligen historischen Gegebenheiten und Ereignissen angepasst wird. So ist beispielsweise das Vijayanagara-Reich, dessen Spätphase das 16. Jahrhundert darstellt, zugleich eine Übergangsphase zum Aufstieg und zur Konsolidierung der Mogul-Herrschaft in Delhi. Das 17. Jahrhundert beginnt eher zufällig mit dem Tod von Padshah (Mogul) Akbar im Jahr 1605. Seine zwei Nachfolger Jahangir (reg. –1627) und Shah Jahan (reg. –1658) führten das Mogul-Reich auf seine kulturelle Höhe, während der dritte große Mogul-Herrscher des 17. Jahrhunderts, Aurangzeb (reg. –1707), dessen maximale territoriale Expansion betrieb.

Doch bereits in den 1670er Jahren traten erste Formen der inneren Restrukturierung auf, die die Zäsursetzung angelehnt an die christlichen Jahrhunderte verwischt. Im Maratha Desh, dem bergigen Hinter- und Hochland von Mumbai und Goa mit seinen Zentren Satara und Pune entstand ein Königreich, das innerhalb des Mogul-Reiches eine neue Macht etablierte. Dieser Prozess leitete auf lange Sicht in den großen Provinzen des Mogul-Reiches die Staatenbildung des 18. Jahrhunderts ein, so in Bengalen, Awadh, Panjab und Haiderabad. Er nahm schließlich den 1720er Jahren an Intensität zu und sollte erst mit Errichtung der „British Paramountcy“ um 1820 einen Abschluss finden, als die Marathen, eine der letzten verbliebenen Großmächte auf dem indischen Subkontinent, von den Briten militärisch besiegt und ein Teil ihres Territorium annektiert wurde. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich also durchaus von einem „langen 18. Jahrhundert“ sprechen. Die Jahre um die Wende zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bedeuteten aus der Sicht der Bevölkerung Südasiens eine der wichtigsten Phasen ihrer Geschichte, denn es ist das entscheidende Vierteljahrhundert, in dem sich aus der bengalischen, marathischen und hindustanischen Nationalbewegung eine gesamtindische Nationalbewegung formierte.

Das Massaker von Jallianwalla Bagh in Amritsar, bei dem britisches Militär 1919 auf eine friedlich protestierende Versammlung schießen ließ und dabei bis zu 400 Menschen tötete, markiert den Anfang vom Ende der britischen Herrschaft in Südasien, denn die Gräueltat demonstrierte vor den Augen aller Welt, dass die Macht des Kolonialstaates auf schierer Gewalt und wenig Konsens beruhte. Im selben Jahr gelang es auch Afghanistan in einer kurzen militärischen Auseinandersetzung, sich von den letzten verbliebenen Beschränkungen der Souveränität zu lösen. Vom selben Jahr an nahm schließlich auch die indische Nationalbewegung Gestalt an und an Geschwindigkeit allmählich zu. Wichtigster Organisator war Mohandas K. (Mahatma) Gandhi, der den bislang schwachen Indian National Congress von einer mit dem Kolonialregime kooperierenden Honoratiorenversammlung in eine schlagfertige Massenorganisation transformierte, mit der dann das Ziel der Unabhängigkeit verfolgt werden konnte. Dass sich dieses Ziel nicht in einem subkontinentalen Einheitsstaat realisieren ließ, stellt historisch gesehen keine Tragödie dar, wohl aber, dass die Teilung allein auf der Grundlage religiöser Scheidelinien vollzogen wurde, die unmittelbare Ursache für das einsetzende große Morden war.

Langfristig gesehen verursachte das hinduistische Rajatum von Kashmir, dessen Monarch nach der Unabhängigkeit mit dem Gedanken spielte, als souveräner Staat tatsächlich unabhängig zu bleiben, einen bis in die Gegenwart anhaltenden Konflikt, der zu vier ergebnislosen Kriegen und der Teilung Kashmirs entlang einer Waffenstillstandslinie geführt hat. Bedeutsam für Südasien insgesamt dürfte indessen die Entscheidung der indischen Regierung 1991 gewesen sein, von der bisherigen Planwirtschaft abzurücken und die Liberalisierung der Wirtschaft einzuleiten. Damit reagierte der Staat unmittelbar auf die sich veränderte global-politische Situation nach dem Fall der Mauer in Berlin und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 / 90. Seitdem hat sich die Indische Union zu einem wirtschaftlichen und politischen global player entwickelt, der seine Hegemonialstellung in Südasien und im Indischen Ozean auch militärisch zielstrebig ausbaut. Pakistan scheint sich nach Jahrzehnten bisweilen höchst instabiler Militärdiktaturen und autokratischen Herrschern auf dem Weg zu stabileren politischen Verhältnissen zu befinden.

Es ergibt also durchaus Sinn, die einzelnen Kapitel nach der Abfolge der Jahrhunderte zu organisieren. Freilich lässt sich dieses „chronologische Prinzip“ nicht bei allen historischen Aspekten durchhalten. Ohnehin ist es nicht Absicht des Buches, eine strikt chronologische und ereignisgeschichtliche Darstellung zur Geschichte Südasiens vorzulegen. Stattdessen wird bei spezifischen Fragestellungen zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eine übergreifende Darstellung geboten, die historische Entwicklungen in ihren kausalen Zusammenhängen erkennbar werden lassen. Deutlich dürfte dabei nochmals werden, wie willkürlich Periodisierungen sind, wie sinnvoll und notwendig sie aber auch sind, um überhaupt historische Ereignisse und Prozesse sichtbar, analysierbar und schließlich zu einem Sinn in der Gegenwart interpretierbar zu machen. Dieser Sinn, so scheint es jedenfalls momentan, liegt bei fast allen Geschichtsschreibern dieser Welt darin, die Entstehung der gegenwärtig existierenden Nationalstaaten aus der jeweiligen Geschichte herzuleiten.

Globalgeschichte

Den Nationalstaat hat das vorliegende Buch jedoch nicht im Visier. Im Gegenteil, er wird historisiert und damit zu einer geschichtswissenschaftlich-historiografischen Kategorie gemacht. Das nimmt ihm auch den Zauber der teleologischen Geschichtsauffassung, wie sie in den europäischen Geschichtswissenschaften vorherrscht. Ohne einen solchen Ansatz besteht jedoch die Chance, die Geschichte der Gesellschaften und Kulturen Südasiens auch und gerade in globalhistorischen Zusammenhängen zu betrachten. Bezug nehmend auf die eingangs getroffene Feststellung, dass weder Gebirge noch Ozeane trennende Barrieren waren, kann so die Geschichte Südasiens und seiner Menschen in das historisch-kulturelle Umfeld des Indischen Ozeans eingebettet und der Indische Ozean selbst als historische Weltregion verstanden werden. Über eine solche Verortung ergeben sich speziell unter globalgeschichtlichen Aspekten neue historische Erkenntnisse, die die Besonderheit, aber auch die Vergleichbarkeit der südasiatischen Geschichte mit anderen Weltregionen ermöglicht.

Geschichte Südasiens

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