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Neue Aufgaben

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In der Ferne kam die Burg ihres Onkels in Sicht – Aljonas altes neues Zuhause. Als frisch Vermählte hatte sie die vertrauten, behütenden und liebgewonnenen Mauern verlassen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass sie sich so früh und als Witwe erneut in ihren Schutz begeben müsste. Doch was blieb ihr anderes übrig? Sie war dankbar dafür, dass ihr diese Chance überhaupt geboten wurde. Andere Familien hätten sie in dieser Situation mit dem Nächstbesten, der sich um sie bewarb, verheiratet. Dies war die einzige Absicherung, die es für eine Frau gab. Aljona verabscheute dieses System, in dem eine Frau allein nichts wert war, nur eine Zierde an der Seite ihres Mannes, gut genug um den Haushalt zu führen, seine Triebe zu befriedigen und ihm Kinder zu gebären. Und eine Frau wie sie, die anders, ja richtiggehend wild war, musste gezähmt und gefügig gemacht werden durch Schläge oder Schlimmeres.

Ihr Matthew war ganz anders gewesen. Er hatte sie geliebt und geachtet, ihre Meinung und ihr Rat waren ihm wichtig. Wenn sie mit ihm zusammen war, musste sie sich nicht verstellen, er akzeptierte sie so, wie sie war, in jedweder Hinsicht. Er kannte ihre gefühlvolle ebenso wie ihre kämpferische Seite und schätzte sie gleichermaßen. Doch nun war er nicht mehr da und ihr Schicksal äußerst ungewiss. Zwar war ihr Oheim Richard ein kluger, gütiger und starker Mann, der versuchen würde, sie vor allem Unheil zu bewahren. Gewiss war jedoch, dass es auch in seinen Diensten genügend unverheiratete Männer gab, die sich um sie reißen würden. Wie lange könnten sie beide diesem Druck standhalten? Vieles hatte sich verändert. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen von damals, selbst wenn es sich jetzt wieder genauso anfühlte wie an dem Tag vor circa 19 Jahren, als sie hier Zuflucht und ein liebevolles Zuhause gesucht hatte. Langsam näherte sich der Tross seinem Ziel. Sie ritt, wie es sich gehörte, im Damensattel hinter ihrem Oheim und ihrem Vetter, die den Zug anführten, und nicht an deren Seite. Die Etikette musste gewahrt werden, zumindest nach außen. Oder würde es etwa so weitergehen, dass sie zukünftig hinter ihren Herren zurückstehen musste? Sie war gespannt darauf, welche Pläne ihr Ohm mit ihr hatte. Bald würde sie es erfahren.

Der Empfang auf der Burg war herzlich, wenn auch sehr bedrückend. Die meisten der Bewohner und Bediensteten kannte sie von früher und alle bekundeten ihr ihr aufrichtiges Beileid. Aljona war müde von der Reise. Außerdem hatte sie sich den ganzen Tag über gequält, um Haltung zu bewahren. Am liebsten hätte sie sich vom Abendessen entschuldigt, um sich in ihre Gemächer zurückzuziehen, um die immer noch kalten und steifen Glieder in Decken gehüllt zu wärmen, um endlich allein zu sein und sich ihrer Trauer hinzugeben. Allein dies blieb ihr verwehrt, da zu ihren Ehren sowie zum Gedenken an ihren verstorbenen Gatten und treuen Freund ihres Vetters ein Festessen in der großen Halle bereitet wurde. Schon beim Anblick der Speisen zog sich ihr Magen krampfhaft zusammen, nur mühsam brachte sie ein paar Bissen hinunter. Jacob, der zur Rechten seines Vaters saß, während sie zu seiner Linken Platz genommen hatte, schien es ähnlich zu gehen. Doch es gab noch einen anderen Grund, weshalb es ihr nicht möglich war, sich schon frühzeitig von der Gesellschaft zu verabschieden: Ihr Onkel hatte sie für nach dem Fest zu sich gebeten. Was er wohl so Wichtiges mit ihr zu bereden hatte, das nicht bis zum nächsten Tag warten konnte?

Das Holz im Kamin knackte laut und die sorgfältig aufgeschichteten, inzwischen halb verkohlten Scheite fielen in sich zusammen. Wie verabredet war Aljona ihm in seine privaten Gemächer gefolgt, nachdem er die Tafel aufgehoben hatte. Er bot ihr den Platz ihm gegenüber an und schenkte selbst einen Becher Gewürzwein ein. Danach eröffnete er das Gespräch mit der Frage nach ihrem Befinden, die sie ihm wahrheitsgemäß beantwortete. Bis dahin war noch alles in Ordnung, aber nach seinen letzten Worten waren ihre Gesichtszüge gefroren. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte sie ihn an, unfähig etwas zu erwidern. Eine ohrenbetäubende Stille erfüllte das Zimmer. Er wusste gleich, dass dies der falsche Zeitpunkt war, um eine solche Unterhaltung zu führen. Die Wichtigkeit der Angelegenheit duldete jedoch keinen Aufschub. Sie mussten gemeinsam beraten und entscheiden, wie Aljonas Zukunft hier aussehen sollte.

„Um Himmels Willen, sieh mich nicht so an“, sagte er.

Sie klappte den Mund zu, schluckte hinunter, was immer sie gern geantwortet hätte, und blickte ihn weiter an, ohne sich überhaupt Mühe zu geben, ihre Fassungslosigkeit zu verbergen.

„Ich konnte mir schon denken, dass das für dich keine Option ist“, fuhr er fort, „aber ich wollte, dass du es wenigstens in Erwägung ziehst. Ich habe mir während der ganzen Reise den Kopf darüber zerbrochen, wie ich dich am Besten davor bewahren kann, dass du irgendjemanden heiraten musst, der dich nicht verdient.“

„Und das ist dabei herausgekommen? Bevor sich die anderen um sie streiten, reiß sie dir selbst unter den Nagel?!“, entgegnete sie empört und voller Bitterkeit. Ihre Stimme war lauter, als man es von ihr gewohnt war, sie bebte innerlich, Tränen standen ihr in den Augen. Richard musste sie beruhigen, bevor irgendjemand etwas hörte. Der Inhalt dieses Gesprächs war nicht für jedermanns Ohren bestimmt. Besser, wenn er gar nicht erst erzählte, dass er ursprünglich seinen Sohn in Betracht gezogen hatten, das würde sie womöglich nur noch mehr aufregen.

„Wie ich bereits sagte, wollte ich lediglich, dass du diese Möglichkeit in Betracht ziehst.“

„Du bist wie ein Vater für mich. Wie könnte ich dich heiraten? Das Lager mit dir teilen? Dir Kinder schenken?“

Diesen Einwand ließ er gelten, er hatte ohnehin damit gerechnet. Darum erläuterte er seine Absichten weiter: „Das kann ich sehr gut verstehen. Im Grunde geht es mir genauso. Aber da ich vor Gott nicht dein fleischlicher Vater bin, gäbe es nichts, was gegen eine solche Verbindung spräche. Es wäre der einfachste Weg gewesen, deine Stellung hier auf der Burg zu sichern. Sei's drum, ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass du deinen eigenen Kopf hast und dazu bereit bist, den steinigen Weg zu gehen. Also hör zu: Du wirst ab sofort Herrin dieser Burg und zuständig für die Verwaltung der Vorräte und so weiter sein, und zwar ganz ohne Verheiratung mit mir oder meinem späteren Erben, ja nicht einmal Verlöbnis. Da du mit den örtlichen Gegebenheiten bestens vertraut bist, sollte das für dich kein Problem sein. Die alte Barbara kann dir behilflich sein, sie hat sich seit dem Tod deiner Tante um alles gekümmert und ist ihr auch früher schon zur Hand gegangen. Du bekommst ein Jahr Trauerzeit zugesprochen. Danach werde ich dich selbstverständlich zu keiner neuen Ehe zwingen, möchte dich aber bitten, eventuelle Bewerber anzuhören und sowohl mit dem Herzen als auch mit dem Verstand abzuwägen, ob du nicht einem von ihnen die Hand reichen könntest. Eine Vernunftehe muss nicht zwangsläufig eine schlechte sein. Deine Tante und ich, wir mussten damals ebenfalls erst lernen, uns zu lieben, und waren am Ende sehr glücklich miteinander. Bist du damit einverstanden?“

Ihre Züge hatten sich wieder etwas entspannt, aber ihre Gesichtsfarbe war noch immer fahl, ihr Blick verlor sich trübsinnig in einem leeren Punkt des Raumes. Die Last auf ihren Schultern war schwer. Richard wusste, dass er ihr eine verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe übertragen hatte. Nichts desto trotz hegte er keinen Zweifel, dass seine Nichte sie meistern würde.

Wohl wissend, dass er sie genau beobachtete, antwortete sie endlich leise: „Ja, so soll es sein.“

Er nahm ihre Antwort mit einem zufriedenen Nicken zur Kenntnis. Es entstand eine Pause, in der beide, in ihre eigenen Gedanken vertieft, die allmählich verlöschenden Flammen betrachteten. Die Kälte im Raum nahm zu, durch die Stille hörte man, wie der eisige Wind draußen um die Mauern jagte. Aljona fröstelte und zog ihr Tuch enger um die Schultern. Ihre Augen waren schwer und ihr schwirrte der Kopf. Sie musste jetzt endlich allein sein, sie brauchte Zeit zum Nachdenken und Zeit zum Trauern, die würde sie ab morgen am Tage nicht mehr haben. „Wenn du erlaubst, würde ich mich jetzt gern zurückziehen. Ich bin wirklich müde“, sagte sie, während sie sich erhob.

„Eine Sache wäre da noch“, hielt er sie zurück. Verwundert sah sie ihn an und setzte sich wieder. „Ich möchte deinen Status unter meinen Männern eindeutig festlegen. Nicht alle kennen dich von früher oder sind sich darüber im Klaren, welchen Stellenwert du hast. Sie sollen wissen, dass du kein wehrloses, verängstigtes Mädchen bist, sondern jemand, der es mit ihnen aufnehmen kann. Wenn alles so läuft, wie ich es mir ausmale, dann kannst du vielleicht sogar bald schon die Knappen trainieren.“

Aljona war überrascht von dieser Wendung. Sie hatte schon angefangen zu glauben, dass die Zeiten, in denen ihr Ohm sie wie einen Sohn behandelt hatte, gänzlich vorbei seien. Da hatte sie sich offenbar gründlich geirrt. Zum zweiten Mal an diesem Abend hatte er sie sprachlos gemacht, dieses Mal vor freudiger Erwartung. Gespannt hörte sie, welchen raffinierten Plan er sich ausgedacht hatte.

Aljona

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