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MORGENGRAUEN
ОглавлениеBacuda hatte einen leichten Schlaf, und er wusste auch, warum – es war wieder einmal soweit, er fühlte sie, bevor er sie hörte – dann waren sie da, kleine, schmächtige Gestalten, die sich traumwandlerisch sicher in seinem Appartement an ihre Arbeit machten; es war halb vier Uhr früh an diesem spätsommerlichen Dienstag, und nicht nur der Morgen graute – und wie jeden Dienstagmorgen verzichtete er auf seinen Kaffee, er riss angewidert eine der mitgebrachten Dosen Bier auf und trank hastig, bevor er sich dem Chef dieser dürren Combo zuwandte:
„Wann?“
„Acht...Bacuda da?“
Er nickte missmutig, der asketische `Chef ´lächelte, freundlich nickend – und dann verschwanden sie, geräuschlos huschten sie aus Appartement, Hochhaus und seinem Blickfeld, Bacuda seufzte vernehmlich:
„Der einzige Sozialhilfeempfänger, der fünfzigtausend Zigaretten zu Hause hat – wer hätte das gedacht, einfach nicht zu fassen...“
Allein mit sich, seinem Körper und den ersten Sonnenstrahlen des Morgens bereitete er sich auf seinen Tag vor, er kontrollierte die Küchenschränke und seine Wohnungstür, apathisch und routiniert – ein Dienstag wie jeder andere, ein Tag in seinem Leben, eine Facette seiner Gefühlswelt – eben etwas, das durchlebt werden wollte...
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Er hatte seine Tage `angelegt´ wie seinen ihm zur Verfügung stehenden monatlichen Salär, und heute war Dienstag – das war sein `Liefertag´, aktiv und passiv; dieser Tag war jedes Mal der Höhepunkt seiner Woche, zumindest, was die reale, direkt miterlebbare Außenwelt betraf – und wenn die `Belieferung´ für ihn auch einer schwitzigen Zumutung gleichkam, entschädigte ihn seine `Eigenlieferung´ doch für so manches – denn dies war ebenfalls der Tag, an dem er einkaufen ging; vier Stunden noch – er würde sie zu gestalten wissen, und während er sein Radio einschaltete, bedachte er die unterschiedliche Bewertung von Zeit...
Bacuda saß seiner Wanduhr gegenüber und beobachtete den Sekundenzeiger, exakt eine Minute lang – sechzig Ticker, immer gleich und doch so unterschiedlich, es war nur eine Frage der Anzahl der Parameter, die man dem unweigerlichen Verstreichen hinzufügte; nun könnte man sich die Sache natürlich einfach machen und auf die emotionale Befindlichkeit beschränken, so nach dem Motto:
„Sitzest du in der Todeszelle, ist jede Minute zu kurz, die Zeit rast, wartest du auf den Bus, ist jede Minute zu lang, die Zeit schleicht – das ist immer so, es kommt darauf an, was dich schlussendlich erwartet!“
Doch so leicht machte er sich das nicht, er dachte da differenzierter – denn er hasste nichts mehr als die axiomatischen Feststellungen, dieses schwarz/weiß Denken, eben das krachlederne Behaupten einer erkannten Unausweichlichkeit!
„Und was ist Zeit beim Bumsen, rasend oder schleichend, tja, oder gar beides?“
Bacuda grinste bitter verächtlich, als er seine zweite Dose Bier öffnete – er dachte diesbezüglich nicht an Freier und Nutte, das wäre zu einfach, nein... – er dachte an ein verliebtes Pärchen, die den Liebesakt in emotionaler Verzückung vollzogen, bereit, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben, den Klimax gemeinsam ansteuernd – was war mit denen?
Selbstverständlich war er sich seiner diesbezüglichen Beschränkung aufs Männliche durchaus bewusst, ergo hielt er sich nicht bei der Imagination auf, sondern versuchte, zu memorieren – wie war das noch mal gewesen, dieses genussreiche Ansteuern des Höhepunktes, dieses `Nicht erwarten können´ und dieses `Es nicht erwarten können´, hm, welch eine unvereinbare Koinzidenz...
Da war einerseits der Umstand, unbedingt `kommen´ zu wollen, andererseits die Erkenntnis – „Wer zu früh kommt, den bestraft das Weibliche!“ – ein und dieselbe Minute, das angestrebte Resultat übertraf alles andere, und doch war die empfundene Zeit nicht gleich – Gier oder Genugtuung, Befriedigung oder Zufriedenheit, Emotion oder Ratio, und all´ das gleichzeitig – doch wer nun glaubte, dass selbst bei dem Gelingen einer solchen Aktion eine Gleichheit der empfundenen Zeit herzustellen sei, der war seiner Meinung nach im Irrtum – denn was hat „Oh mein Gott!“ schon mit „Gott sei Dank...“ zu tun...
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Die zwei nun leeren Bierdosen fügte Bacuda geschickt in sein `Kunstwerk´ ein, seinen `Berliner Turm´ - ein recht merkwürdig anmutendes Gebilde, bestehend aus Dutzenden leerer Bierdosen der unterschiedlichsten Billigmarken, drapiert auf seinem Couchtisch; und er musste sich schon erheben, um die Spitze problemlos zu erreichen, trotz seiner 1, 90 m Körperlänge – es wackelte zwar bedenklich, doch schlussendlich blieb dieses `Etwas´ senkrecht, und für einen kurzen Moment war er echt begeistert, er strahlte triumphal überglänzt!
Prüfend und mit kritischem Blick umkreiste Bacuda den `Turm´, er war sich nun sicher, dass – architektonisch gesehen! – das strukturelle Grundelement der südamerikanischen Inkakultur zuzuordnen war – diese viereckige, sich nach oben hin verjüngende Formgebung war nicht etwa zufällig entstanden, nein, das hatte etwas mit Statik zu tun; und da die Grundfläche begrenzt gewesen war auf die Ausmaße seines Couchtisches wurde er sich betrübt der Endlichkeit seines Werkes bewusst – drei Lagen, höchstens, und dann eventuell noch ein mastmäßiger Aufbau, aber dann...
Unvermittelt ging sein Blick in Richtung der in der hinteren Ecke angeordneten drei mit leeren Bierdosen prall gefüllten blauen Müllsäcke, deren Existenz inmitten eines Wohnraumes er vor kurzem mit dem Terminus `Aktionskunst als Teil des Lebensmittelpunktes´ erklärt hatte – und er erinnerte sich grienend...
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Es war der `Money for nothing - Tag´ vor knapp zwei Wochen gewesen, nach dem üblichen Brimborium mit seiner Sachbearbeiterin des für ihn zuständigem Sozialamtes und der beschämenden Prozedur an der Kasse war er schweißnass in einer Pizzeria vor Anker gegangen, um die wenigen Stunden des Monats zu genießen, in der selbst `Abschaum wie unsereins´ sich als Mensch fühlen durfte – bestückt mit mehreren hundert Mark in bar und der geheuchelten Erkenntnis, dass im Leben eigentlich nur der jeweilige Augenblick wirklich wichtig ist, hatte Bacuda wie selbstverständlich Pasta und Rotwein geordert; und als dann Espresso und Cognac kredenzt wurden, tja, da hatte er innerlich seinen Sozialhilfeempfängerstatus längst abgelegt, so wie ein üble Angewohnheit...
In bester Laune und mit reichlich Feuer im Blut wollte er den Abend in einer Kneipe mit Live – Musik beenden, als er zufällig Tanja kennen lernte – ein ziemlich junges Mädel, ganz in Leder, ganz ohne Argwohn und gänzlich ohne ein Zuhause; und da war sie bei ihm gerade richtig, Bacuda gewährte Obdach!
In seinem Appartement angekommen wurde er dann aber doch skeptisch, was diese Tanja betraf – denn die wurde es nicht müde, die von ihm despektierlich als `meine Platte mit Tür´ bezeichnete Wohnung als `echt toll´ zu bezeichnen – woraufhin er sie zuerst einmal streng unter die Dusche beorderte, hm, wer wusste schon, wo die in letzter Zeit gastiert hatte...
Zumindest empfand er sie als wohlriechend, als man sich dann endlich auf seiner Bettcouch aneinander schmuddelte, und da entdeckte sie die von unten angestrahlten Müllsäcke – doch noch bevor sie die Frage formulieren konnte, die Bacuda als unvermeidlich annahm, hatte er ein Antwort parat, die lästige Weiterungen verunmöglichen würden; denn er war „... von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt!“, ergo warf er folgendes gekonnt ein:
„Baby, das ist Aktionskunst, integriert in den Lebensmittelpunkt, doch dazu später mehr...“ – wie gesagt, dies war `...nicht die Stunde´...
Am nächsten Morgen dann, ein weiteres Mal der Illusion beraubt, dass man sich `nachher´ gravierend anders fühlt als `vorher´, hatte er das unbedingte Bedürfnis verspürt, die Kunst, die nun in völlig anderem Licht erschien als nachts, erklären zu müssen:
„Aktionskunst, verstehst du, was dem einen sein `Reichstag´ ist dem anderen seine `Dosenarmada´, verhüllt und damit von unergründlicher, neuer Tiefe – das dimensionale Zusammenspiel, die sich durch jede Berührung erneute Veränderung von Gesamtform und Schattenwurf, die Koinzidenz von Lebenssaft und Wegwerfartikel, äh, mit einem Wort – das Zerrbild der real existierenden Umstände unserer Gesellschaft, integriert in den Lebensraum, um wie durch ein Fanal ständig an Vergänglichkeit und Missachtung erinnert zu werden – das ist die Botschaft, die eigentliche Message!“
Mit diesem Schlusswort war ihr Gastspiel dann beendet, und Bacuda hatte das Gefühl gehabt, dass diese Tanja sich ganz sicher war, jemand `ganz Besonderen´ getroffen zu haben – und zumindest das befriedigte ihn nachhaltig...
Bacuda schaute zur Wanduhr, es war gerade einmal halb fünf, seufzend wandte er sich einem erneuten Bier zu – das musste man sich einmal vorstellen, wie leicht es doch war, mit einer solch geballten Ladung an intellektuell klingendem Mist Durchschnittsmenschen wie diese Tanja mächtig beeindrucken zu können, eigentlich ein Unding!
Aber war das strenggenommen verwunderlich? War es nicht eigentlich immer und überall das gleiche Spiel, Reputation und Qualifikation einmal vorausgesetzt? Und was hieß in diesem Zusammenhang überhaupt `Qualifikation´?
Bacuda schnaufte verächtlich, er erinnerte sich an die `750 Jahr Feier der Stadt Berlin´, damals noch `Westberlin´, und an die Exponate, die ihnen zu der Zeit als `Kunstwerke´ zugemutet worden waren – ein Stück aus dem Tollhaus!
In der Nähe der `Gedächtniskirche´ hatte er seinerzeit fast einen Schreikrampf bekommen, als man ihm erklärte, dass diese wie willkürlich zusammengeschobenen Absperrgitter ein Gesamtkunstwerk bildeten, das mehrere hunderttausend Mark gekostet habe – und auch heute noch verspürte er Groll in sich aufsteigen, wenn er daran dachte; doch es war nicht nur Groll auf den Künstler und seine Förderer, nein, es war vielmehr Groll auf sich selbst...
Denn eines gab er sich zu – wenn es sich dabei tatsächlich um Scharlatanerie gehandelt hatte, warum war dann er, als Experte auf diesem Gebiet, nicht selbst darauf gekommen?
Was verbarg sich realiter hinter seinem Groll, war es nicht eigentlich nur ganz profaner Neid? Und wenn es so war, worauf war er dann neidisch – auf die Akzeptanz oder lediglich auf den schnöden Mammon? Außerdem, war das nicht eigentlich egal, auf was oder wen auch immer? War es nicht eigentlich nur das Phänomen des Neides, was ihn dunkel erahnen ließ, nicht besonders zufrieden mit sich und seiner Situation zu sein? Suchte er nicht strenggenommen lediglich seinen ganz persönlichen Lee Harvey Oswald, den Sündenbock für das eigene Versagen? Und schlussendlich – war er tatsächlich ein Versager?
Fragen, Fragen, nichts als Fragen, immer nur Fragen – doch Fragen stellt man lediglich, Antworten gestaltet man!
Bacuda ging ins Bad, doch eigentlich wusste er gar nicht, warum er das jetzt tat – er `musste´ nicht, zum Waschen war es viel zu früh und zur Zahnpflege Jahre zu spät, der Zustand seines Gebisses bereitete ihm zunehmend Kopfzerbrechen – er sah ja aus, das gab es ja gar nicht!
Gelb, braun und schwarz waren die Komplementärfarben seiner Mundhöhle, und auch die Form der noch verbliebenen Zähne irritierte ihn – normalerweise waren die irgendwie rechteckig, seine hingegen sahen aus wie auf den Kopf gestellte `Mensch ärgere dich nicht!´ - Klötzchen!
Ihm brach leicht der Schweiß aus, das wollte er nun genauer wissen – er zählte durch und kam auf 19, aus dem längst vergangenen Biologieunterricht erinnerte er die Zahl 32, mit oder ohne Weisheitszähne war ihm nicht mehr präsent – doch bei einer Gesamtanzahl von 19 Stück kam es darauf ohnehin nicht mehr an, oder etwa doch?
Er schaute sich im Spiegel an und schloss den Mund, mit fest zusammen gekniffenen Lippen ging er mit dem Gesamteindruck ins Gericht – na bitte, ein verschmitztes Grinsen war noch machbar, wenn auch unter geradezu höllischen Schmerzen – was, zum Teufel, war denn da drinnen los?
Mit wässrigen Augen und extrem vorsichtig überprüfte er mit dem Zeigefinger den Lockerheitsstatus der Klötzchen und war entsetzt:
„Einen Biss in einen guten, frisch aufgebackenen Döner, und ich kaue auf der Felge – ich fasse es nicht!“
Tiefe Traurigkeit gepaart mit einer merkwürdigen Art von Scham überkam ihn, er konnte seinen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen – er setzte sich auf den Badewannenrand und schluchzte, nein, es war mehr ein fatalistisches Wimmern – ein Mann erinnerte sich hoffnungslos daran, wer er einmal gewesen war...
Ein Bier später, es war mittlerweile kurz nach fünf, war Bacuda alkoholbedingt das erste Mal an diesem Tag reif fürs Bett, er machte das Radio aus und den Fernseher an, dann legte er sich hin, auf sein schmuddeliges Sofa, welches ihm als alles diente – es staubte leicht auf, als er sich unter die Wolldecke verkroch – und während er in einen leichten Schlaf fiel, da war ihm eines völlig bewusst:
„Was auch immer ich in den nächsten Minuten finden werde – es wird keine Ruhe sein...“
Als er gut eine Stunde später erwachte, war er zittrig/verschwitzt – was war denn das gewesen, das er da geträumt hatte - ein Alptraum übelster Ausprägung, ein echtes Fiasko von Traum!
Bacuda erinnerte sich lebhaft, es war in New York gewesen, im `Museum of modern Art´ - er stand vor einem Exponat des deutschen Künstlers Joseph Boys, des einzigen, das er kannte, den so oft zitierten `FETTSTUHL´; und er stänkerte, ja, wirklich, er ließ den umstehenden Betrachtern nicht die geringste Chance, sich ein stummes, subjektives Urteil zu bilden – Bacuda war in Höchstform!
Zuerst einmal hatte er sich als Deutscher `geoutet´, gerade so, als wäre das ein künstlerisch/kritischer Kompetenzbeweis bezüglich des älteren Herrn mit Schlapphut, den er ohnehin mit Verve verachtete – dann donnerte er los, wuchtig, lärmend und doktrinär!
Er schwadronierte über Scharlatanerie, Talmi und deren Akzeptanz, er referierte bezüglich Kunst und Kunstwert, er dozierte über die verschiedenen Kunstformen im Allgemeinen und Speziellen – und dann zog er blank, er verstieg sich zu der ultimativen Behauptung, schuld an dieser Misere seien nur die Amerikaner, eben diese Typen aus Texas, milliardenschwer und bar jeglichen Niveaus, reicher Pöbel, der zum Beispiel einen exzellenten europäischen Rotwein in den Kühlschrank stellt und nachher dann zum Chili trinkt!
Bacuda war dermaßen in Fahrt, dass er das unheilvolle Grollen seitens seines Publikums glatt überhörte – doch dann veränderte sich die Szenerie, aus den Menschen wurden Klötzchen, gelb, braun und schwarz!
Sie formierten sich drohend, in zwei Reihen übereinander, eitrig ihn in eine Ecke drängend – um dann massiv gegen ihn vorzugehen...
Die übereinanderliegenden Reihen bildeten eine Mundöffnung, doch anstatt ihn zu verschlingen hauchten sie ihn in Orkanstärke an, tief aus dem Rachen, so dass der Eiter auf ihn zuflog, begleitet von einem Gestank, der jeder Beschreibung spottete, tja... – da wurde einem Mann die `Endlichkeit des Seins´ bewusst!
Im sich verkrampft/windenden Aufwachen sah Bacuda die Bilder der durch Giftgas getöteten kurdischen Iraker, er durchlitt die Gaskammern von Auschwitz und Birkenau, doch gleichzeitig hasste er immer noch Texas, hm, das Land des Öls und `Gas´...
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Viertel nach sechs Uhr morgens, und die Schockwelle des Tages saß schon tief – Bacuda fuhr fahrig durch sein zwar langes, gelocktes, aber auch immer schütterer werdendes Haupthaar, er atmete hörbar tief durch; ihm war bewusst, dass er sparsam mit Energie und Bier umgehen musste, um einigermaßen durch den Tag zu kommen, ergo ging er in die Küche und machte sich Kaffee – er hasste die Beschränkung, doch er liebte die Planung – warum auch immer...
Rauchend, kaffeeumdämpft und misslaunig sah er fern, das `Morgenmagazin´ der öffentlich/rechtlichen Sender, und eine Frage drängte sich ihm geradezu auf – würde es heute erneut ein langweiliger Tag werden, über den die berichteten, oder war es lediglich ein langweiliger Sender?
Überhaupt Langeweile – im eigentlichen Sinne des Wortes war ihm eine solche Gefühlssituation vollkommen unbekannt – Langeweile, was nämlich bedeutete das in Wahrheit?
Bacuda straffte sich, denn er wusste, dass er `seiner Welt´ etwas mitzuteilen hatte – Langeweile, das war für ihn die subsummierte Substantivierung der Adjektiv/Substantivkonstruktion `lange Weile´, wobei diesbezüglich dem Adjektiv `lange´ eine Bedeutung im übertragenen Sinne zugebilligt werden musste - `lange´ stand stellvertretend für `unausgefüllt´, und damit für:
„Langweilig!“
Seiner Meinung nach bestand das eigentliche Problem der Langeweile darin, dass die meisten Leute nicht in der Lage waren, sich selber zu unterhalten – sie waren völlig abhängig davon, was ihnen von `außen´ geboten wurde, was gleichzeitig auch die unglaubliche Vielzahl von den unterschiedlichsten Medien erklärte – Film, Funk und Fernsehen, dazu noch die sogenannten `Printmedien´, Theater, Kabarett, Oper, Operette und Musical, abgerundet durch Konzerte unterschiedlichster Art – all´ das diente strenggenommen nur der Bekämpfung der Langeweile eben der Personen, die nichts mit sich anfangen konnten!
Oder auch der Unterschied zwischen `einsam´ und `allein´ - Bacuda war sich sicher, dass die meistens Leute gar nicht wussten, dass es überhaupt einen gab!
Bacuda erinnerte sich an eine Begebenheit vor fast einem Jahr – damals war ihm bewusst geworden, wie elementar dieser Unterschied tatsächlich war...
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Es war kurz nach seinem Einzug in diese Wohnung gewesen, dass aus seiner anfänglichen Euphorie darüber, nach jahrelanger `Fast – Obdachlosigkeit´ endlich wieder eine eigene Bleibe zu haben, wo er per Schließen der Wohnungstür die Welt und deren Ungemach draußen halten konnte, ein nüchterner Fatalismus geworden war – und `nüchtern´ war diesbezüglich wörtlich zu nehmen...
Die Wohnung, die schäbige Einrichtung und seine mehr als billige Anfangsausstattung an Kleidung waren das Ergebnis seiner Premiere in einer für ihn völlig neuen Disziplin – der Disziplin des `Über den eigenen Schatten Springens´!
Denn damals war es soweit gewesen, jawohl – er war einfach zu arm, um sich seinen Stolz auch weiterhin erlauben zu können...
Selbstverständlich war er um größtmögliche Diskretion bemüht, weshalb er kurzerhand den Westteil Berlins verlassen hatte, um sich im Osten der Stadt anzusiedeln – er war damals der unbedingten Meinung, dass fast zehn Jahre nach der `Einheit´ selbst `DIE´ mittlerweile Deutsche waren; und außerdem – wenn man den Nachrichten Glauben schenkte, pfiff der gesamte `Osten´ ohnehin aus dem letzten Loch, ergo war sein Gebot der Stunde:
Als Verlierer Abtauchen im Heer der Verlierer, jedoch unter der Maßgabe, dass seine westdeutsche Überlegenheit ihn zumindest zum `Einäugigen unter den Blinden´ machen würde!
Wie sah es denn realiter aus – für Bacuda war das ganz klar, geographisch befand er sich zwar im Osten, `systemisch´ jedoch im Westen – er war nicht bei denen, strenggenommen waren die bei ihm!
Diese Erkenntnis und das verheuchelte Bewusstsein, dass Armut keine Schande ist, machten es ihm erträglicher, den Weg nach ganz unten anzutreten – Endstation, seine ganz persönliche Apokalypse, sein einzig wahres Armageddon; er hatte echte Schauermärchen über die Zustände auf den Sozialämtern gehört, von der geringschätzigen Art, mit der man da bedacht wurde, von der Verachtung der Sacharbeiter, die sich über einem ergoss, von der provozierten Scham, die man schlussendlich aus den Poren schwitzte – aber nicht mit ihm, Bacuda war da wild entschlossen, ausgestattet mit `Hammersyndrom´ und nass/forschem Auftritt betrat er das Bezirksamt Hohenschönhausen, Abteilung Sozialwesen – und erlebte eine Überraschung!
Denn nichts von alledem schien sich zu bestätigen, und spätestens zu dem Zeitpunkt, als man ihn `Bürger Bacuda´ nannte, tja, da hatte er positive Revolutionsgefühle – Danton, Robbespiere und die Bastille, `Liberte, Egalite und Fraternite´, Bacuda, Klamotten und `ne eigene Wohnung – ein `Hoch´ auf unsere Brüder und Schwestern!
Man hatte es ihm leicht gemacht, und er war so dankbar, dass er seine etwas dickliche Sachbearbeiterin glatt geheiratet hätte, wenn sie ihn nur gefragt haben würde – doch so weit ging die Liebe nicht, `Bürger Bacuda´ wurde lediglich im Laufe der nächsten vierzehn Tage mit dem Nötigsten ausgestattet, zuzüglich eines Barbetrages in Höhe von knapp 520,- DM, der sogenannten `Hilfe zum Lebensunterhalt´ – und genau da begann sein Problem...
Im Gegensatz zu den festen Kosten wie Miete und deren anfallenden Nebenbeträge, die direkt vom Amt überwiesen wurden, hatte man ihm zugetraut, seine finanzielle Monatsplanung selbstständig in den Griff zu bekommen – eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellte, unter der jedoch nur der `Bürger´ litt!
Denn Bacuda hatte völlig die Übersicht verloren, verwirrt durch den Umstand, dass er Bröckchenweise über 2000,- DM für seine Einrichtung ausgehändigt und auch sachbezogen verwendet hatte, war er nicht mehr im Bilde über seinen tatsächlichen finanziellen Status, was ihn dann in den Zustand vollkommener Mittellosigkeit getrieben hatte – bereits am Wochenende vor dem Dienstag, an dem es erneut `Frisches´ geben sollte, war er vollständig pleite, sein Kühlschrank `gähnte´, um es mal mit BAP zu sagen!
Samstag, Sonntag und Montag – drei höllische Tage, geraucht wurden die wiederverwendeten Kippen der Vorwoche, getrunken wurde Wasser aus dem Hahn, und gegessen wurde Kakaopulver, verdickt durch einen Schluck Wasser, hm, lecker – und genau zu diesem Zeitpunkt eröffnete sich ihm der Unterschied zwischen `allein´ und `einsam´...
An jenem Sonntag war Bacuda bereit, sich zu erniedrigen – den einzigen an nach außen hin verwendbarem Wert stellte eine Telefonkarte dar, mit einem Guthaben von noch immerhin 1,40 DM; zittrig/schwitzend und mit knurrendem Magen trat er den neunstöckigen Weg zur Telefonzelle an, um seine Exfrau anzurufen – obwohl nichts im Magen war ihm echt zum Kotzen!
Er rief an, er klagte sein Leid und wurde abgestraft – „Da musst du durch, jetzt weißt du endlich auch mal, was Hunger ist – und nun bitte, belästige mich nicht weiter, o.k.?“ – da hatte er blitzartig aufgelegt, anscheinend deshalb, damit sie seinen roten Kopf nicht sah; denn Bacuda schämte sich bis auf die Knochen, ja, sein Schamgefühl überlagerte Hass und Hunger, so schlecht konnte es ihm gar nicht gehen, als dass er einen solchen `Gang nach Canossa´ noch einmal antreten würde, ja... – zumindest das war mal sicher...
Trotzdem saß er den ganzen Tag zu Hause und wartete darauf, dass es an der Tür klingelte – doch es tat sich absolut nichts, und er fühlte sich einsam und verlassen – eben ganz anders als sonst, wo er lediglich allein war...
Denn Einsamkeit war passiv, Alleinsein hingegen aktiv angelegt – es ist nun einmal ein Unterschied, ob niemand einen sehen oder ob man selbstbestimmt seine Ruhe haben will – faktisch war es das Gleiche, hm, aber emotional war es beileibe nicht das Selbe...
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Bacuda hatte angewidert den Programmpunkt `Szene´ hinter sich gebracht, er war sich nun nicht mehr sicher, ob ein weiterer Kaffee zum jetzigen Zeitpunkt das Richtige war – es war doch immer das Gleiche, `Mr. Unbegabt´ im Wettstreit mit `Mrs. Unbedeutend´, und die tatsächlichen Könner ihrer jeweiligen Genres konnten sich bei der Ausübung ihrer beruflichen Verpflichtungen einfach der Präsenz solcher Schranzen wie zum Beispiel Nina Ruge nicht erwehren – „I bin der Mosi, und das ist die Daisy, einfach herzig, net wahr?“ – Bacuda fühlte seine Mundhöhle sauer werden, äh, warum jetzt auch immer...
Apropos Mundhöhle – den Alptraum von vorhin hatte er noch immer nicht verdaut, es zog ihn geradezu magnetisch ins Badezimmer – doch da half kein Beschönigen, zahnseitig betrachtet gehörte er zum Abschaum, in heller Aufregung erinnerte er sich an den Schauspieler und Kabarettist Wolfgang Neuss bei einer Talkshow vor vielen Jahren mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Westberlin, Richard von Weizsäcker – ein Bild des Jammers, lange, verfettete Haare und ein einzelner Kuchenzahn unten rechts, äh... – ach du liebes Bisschen!
Schon damals hatte er sich geschworen, so niemals über den `Catwalk des Lebens´ zu marschieren – doch nun musste er sich zugeben, verdammt nah dran zu sein, verdammt nah dran am Gespensterstatus – alles Haartechnische schien sich ihm gegenüber verschworen zu haben, oben schütter, Brustglatze und ein Bartwuchs wie ein Fünfzehnjähriger, ein Karl Marx Oberlippenbart, der einen gnädigen Schleier über seinen Trümmerhaufen legen würde, wollte ihm einfach nicht entsprießen – lediglich horntechnisch stand er voll im Saft, er war mit Fußnägeln gesegnet, die an Krallen erinnerten!
„Dazu bin ich noch rappeldürr und habe trotzdem einen Kugelbauch, `n echter Adonis – das gibt’s doch alles gar nicht!“
Bacuda hatte genug gesehen, er verließ fluchtartig das Badezimmer – rein in die Küche, weg mit dem Kaffee, her mit dem Bier – das war praktisch alles eins, ein kurzes Aufstauben, dann saß er erneut auf seiner Couch; und er versuchte, sich zu beruhigen...
Er erinnerte sich an dieses Wahlplakat der SPD vor gut drei Jahren – wie war das noch mal gewesen?
Da sah man das Gesicht irgendeines Kerls, der `zahnbelückt´ strahlte auf Teufel komm´ raus – und der Untertitel lautete, zumindest dem Sinn nach:
„Damit ein Lächeln nicht entlarvend wird – für mehr soziale Gerechtigkeit, darum SPD!“
Nun gut, wenn man sich den dentalen Zustand des Bundesarbeitsministers Walter Riester – zumindest im unteren Bereich! – so anschaute, konnte man im weitesten Sinne von einer solidarischen Handlung sprechen, jedoch mit einem gravierenden Unterschied: Der könnte runderneuern, wenn er nur wollte!
Vor einigen Wochen war Bacuda auf dem Gang des Sozialamtes mit einem `Fast – Rentner´ ins Gespräch gekommen, in dessen Verlauf der ihm sein Leid geklagt hatte – denn dieser alte Mann war seit fast zwei Jahren in zahnärztlicher Behandlung auf Kosten des Staates, und er hatte ein Rennen mitgemacht:
„Das müssen Sie sich einmal vorstellen, tse... – da geben die unsereinem ein Zahnbehandlungsschein, der jede Art von Zahnersatz ausdrücklich ausschließt, also: Sie gehen zum Arzt und der erstellt einen Heil – und Kostenplan, damit müssen Sie dann zuerst einmal zu Ihrem Sachbearbeiter, der diesen Plan dann an den zuständigen Amtsarzt weiterleitet, so weit, so gut; und jetzt beginnt der Wahnsinn – Wochen, was sag ich, manchmal Monate später bekommen Sie dann einen Termin bei diesem Amtsarzt, und der erstellt ein Gegengutachten, dass Sie aber nicht sofort mitnehmen können, weit gefehlt – das schickt der dann, selbstverständlich Wochen später, zu ihrem Sachbearbeiter, der es dann – nach einer angemessenen Bearbeitungszeit, versteht sich von selbst! – Ihnen postalisch zukommen lässt... – nun gut! Mit diesem Gegengutachten gehen Sie dann erneut zu Ihrem Zahnarzt, der dann notgedrungen damit beginnt, Ihre wackelnden und fauligen Zähne `zu erhalten´, wie diese `Sesselfurzer´ vom Amt das empfohlen haben, verstehen Sie? Da jedoch der Erfolg bzw. der Misserfolg erst Wochen oder Monate später erkennbar wird, sind Sie gezwungen, immer und immer wieder von einem zum anderen zu laufen, von Pontius zu Pilatus, und umgekehrt! Die meisten verlieren irgendwann die Nerven und lassen die Termine platzen – und das war es dann, das Amt macht Ihnen schwere Vorwürfe und stellt sofort jegliche weitere Bezahlung ein – Zermürbungstaktik, begreifen Sie? Aber nicht mit mir, ich gehe so lange dahin, bis ich mein Gebiss habe, wäre ja wohl noch schöner...“
Bacuda war damals echt erschüttert gewesen, heute jedoch empfand er lediglich Wut und Zorn – doch was sagte unser Bundeskanzler immer:
„Jedes System hat sein Gegensystem!“ – aha... – und just an diesem Dienstag Morgen, viertel vor Sieben, begann `Bürger Bacuda´ damit, eines zu entwickeln...
Die Problemstellung war klar – da er als sein eigener Gutachter festgestellt hatte, dass zahnseitig in seinem Mund nichts mehr `erhaltenswert´ war, entschied er sich für die `ultima ratio´ - Vollprothetik, oben und unten!
Die zu erwartenden Widerstände seitens der Ämter waren ihm bewusst, weiterhin machte er sich ebenfalls nichts vor, was die Länge seiner Duldsamkeitsspanne betraf – das alles müsste blitzartig über die Bühne gehen, keine langen Geschichten, was also war zu tun?
Er sah das Ziel, er erkannte die Widerstände, dann legte er den einzuschlagenden Weg fest – die Zauberformel hieß: Endgültige Fakten schaffen!
Neunzehn Zähne in lausigstem Zustand, manche so locker, dass er sie mit seinen Fingern extrahieren könnte – was eben noch der Supergau seiner Gefühlswelt gewesen war entpuppte sich nun als der reine Glücksfall!
Es kam eben wie immer im Leben auf die Perspektive an, unter der man die Dinge betrachtete – in seinem Fall war die Lage ohnehin alternativlos:
Die Frage – Vollgebiss, ja oder nein? – stellte sich nicht mehr, also her mit den `Dritten´ - außerdem, weinte er vielleicht seinen Milchzähnen nach, hm? Na also, äh, bitte!
Das also war die Zielvorstellung, und wie er den lästigen Amtsschimmel besiegen würde, das war ihm ebenfalls klar, dieses Mal hieß das Zauberwort:
SIMPLIFIKATION! Er hatte den Zahnbehandlungsschein, ergo würde er einen Zahnarzt – selbstredend in unmittelbarer Nähe! – aufsuchen und sich sämtliche Zähne ziehen lassen, alle, äh, ohne Ausnahme – um sich im Anschluss an diese Behandlung einen Kostenplan erstellen zu lassen, den er dann seiner Sachbearbeiterin vorlegen würde; und er würde es nicht verabsäumen, auf die Dringlichkeit hinzuweisen – denn mit gerade mal Mitte vierzig konnte man schlechterdings nicht von ihm erwarten, dass er sich von Milchbrei ernährente...
Selbstverständlich würde die Materialfrage zu erörtern sein, er machte sich da nichts vor, es würde kein Porzellan sein – aber jedes Material war besser als das, was er zur Zeit mit sich herumschleppte – von der Optik und der dann für den Rest seines Lebens garantierten Schmerzlosigkeit im Mundhöhlenbereich einmal ganz abgesehen!
Auch den wochenlangen zahnlosen Zustand würde er ertragen, hielt er sich doch ohnehin zumeist allein hier in seiner Wohnung auf – und zu essen gab es bei ihm schon seit langem fast ausschließlich `Chili con Carne´, tja, und das konnte man praktisch lutschen!
Apropos Chili – heute würde er einkaufen gehen, ein neuer Topf dieses edlen Stoffes würde angesetzt, praktisch roch er es schon, hm, lecker; Bacuda hatte eine plötzliche Ausschüttung – eine Ausschüttung von körpereigenproduzierten Endorphinen, sein glückshormoneller Haushalt stürmte geradezu in den extrem grünen Bereich – war das Leben nicht eigentlich doch schön, auch für Leute wie ihn, hm?
Waren es nicht gerade die kleinen Dinge des Lebens, die einen echt frohlocken ließen? Ein Plan, ein Töpfchen Chili, zusammen der Beginn eines Neuanfangs – konnten das eigentlich die sogenannt Etablierten überhaupt nachempfinden?
Denn er war da privilegiert, kannte er doch beide Seiten – und an dieser Stelle erinnerte er sich daran, sich nicht daran erinnern zu wollen – denn das war gefährlich, da genügte schon ein kleiner Schritt in die falsche Richtung, und dann, tja... – dann...
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Zurück auf dem Teppich wandte er sich dem Profanen zu, es war kurz nach Sieben, in einer Stunde kam die `Dritte Welt´, um ihres Tages Werk zu beginnen – Bacuda konnte sich wieder einmal der Bewunderung nicht entziehen, wenn er an sie dachte – dieser Fleiß, diese Konstanz, diese Genügsamkeit!
Vor gut einem Jahr hatte ihre `Geschäftsbeziehung´ begonnen, er erinnerte sich genau...
Es war Ende August 2000 gewesen, er hatte vor dem örtlichen `Lidl – Markt´ gesessen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen – links neben sich seinen Zigarettentabak, rechts die Plastiktüte mit vier Bierdosen, über sich die Sonne, die einem das wohlige Gefühl von Lebensfreude illusionierte; damals waren sie zu ihm gekommen und hatten ihm eine Schachtel `West – Zigaretten´ geschenkt, freundlich und diskret – bis sie dann kurze Zeit später recht unvermittelt zur Sache kamen...
Das Angebot war ganz einfach – Bacuda stellte ihnen seine Wohnung als `Lagerraum´ zur Verfügung, im Gegenzug erhielt er zwei Stangen Zigaretten pro Woche und zwölf Dosen Billigbier pro Tag, Sonn – und Feiertage eingeschlossen; für ihn war das damals die sprichwörtliche `...gebratene Taube, die ihm ins Maul flog!´, Alkohol und Zigaretten `for free´, die beiden größten Kostenposten in seinem finanziellen Mikrokosmos hatten sich damit zur vollsten Zufriedenheit erledigt – und auch der Umstand, dass er ihnen seinen Zweitschlüssel zur Wohnung überlassen musste, war für ihn akzeptabel, nein, das schreckte ihn nicht – denn was hätte man bei ihm schon stehlen können, hm?
Anfänglich hielt sich das alles noch im Rahmen, sie kamen recht unregelmäßig und lagerten fünfzig bis hundert Stangen, doch im Laufe der Monate nahm der Umfang geradezu gigantische Ausmaße an – stellenweise hatte er über fünfhundert Stangen gelagert, das waren mehr als 100.000 Zigaretten; und während er zu Beginn seine Mittäterschaft augenzwinkernd als eine `erweiterte Form des Mundraubs´ bezeichnet hatte, war ihm heute bewusst, dass er strenggenommen ein aktives Mitglied des organisierten Verbrechens war, hm, wenn auch lediglich auf unterster Ebene...
Doch Bacuda schüttelte diese Erkenntnis wieder einmal souverän ab und ging duschen, danach rasierte er die enttäuschenden Stoppeln - denn es war halb acht, seine `Komplizen´ würden bald erscheinen!
In den Nachrichten lief ein Bericht aus dem nahen Osten, die `Hamas´ hatte wieder einmal zugeschlagen – und da waren sie wieder, die Bilder der fanatisierten Araber, und auch eine Kohorte von schwarzverschleierten, in den höchsten Tonlagen tirilierenden Frauen war zu sehen, Mann, wie er das alles hasste, dieses machohafte, sich jedoch gleichzeitig `Allah zu opfern bereitseiende Gehabe´, echt zum Kotzen...
Er erinnerte sich spontan an einen Ägypter, den er früher gekannt hatte – eine ungeheure Type, er war Koch in seiner damaligen Lieblingspizzeria – und der Kerl war es nicht müde geworden, ihm jedes Mal, wenn er ihn sah, zu erzählen, wie er es die letzte Nacht seiner deutschen Frau besorgt hatte, ein Stück aus dem Tollhaus!
Denn grundsätzlich immer, wenn dieser Mimo – so hieß der Bursche! – aus seiner Küche nach vorne kam, um ihn zu begrüßen, erzählte er:
„Du, Bacuda, gestern ich war gutt Mann – zu Ende wie immer, zuerst in ihre Arsch und dann sofort in ihre Mund – war Klasse großes, echt...“
Dann lachte er erfolgsheischend und ging quietschend vor Vergnügen zurück in die Küche, wow – dem reichte es scheinbar nicht, seine Frau zu erniedrigen, es zu genießen, wenn die ihre eigenen Fäkalspuren lecken musste, nein – der Kerl wollte sich mitteilen, sich scheinbar damit brüsten, nicht nur der Boss von Töpfen und Pfannen zu sein, sondern zu Hause in gleichem Maße Herr über Leben und Tod, weil... – prügeln tat er sie auch, und das nicht zu knapp!
Selbstverständlich war Bacuda kein Hohlkopf der Ausprägung, rassistisch von einer Person auf zig Millionen Araber zu schließen, weit gefehlt – aber seit diesen Vorfällen und dieser `nahöstlichen Situation´ waren sie für ihn irgendwie negativ besetzt, hm, diese `arabischen Jungs´...
Da lobte er sich doch seine vietnamesischen Kumpels, denn was auch immer die ihm erzählten, er verstand kein Wort – das war auch kaum nötig, man musste nur lächelnd nicken und ab und zu „Ja, ja...“ sagen, das erfreute die Burschen; und falls sie ihn tatsächlich veralberten und sich daran ergötzten, was soll `s... – es gab zur Zeit nichts, wirklich rein gar nichts, was ihm mehr egal war...
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Dann kamen sie, seine Asiaten, huschend, geräuschlos, diskret – sie klopften an seine Zimmertür, und während der eine sich in der Küche damit beschäftigte, die erste `Portion´ für den Straßenverkauf verpackungstechnisch unkenntlich zu machen, brachte der zweite ihm höflich und zurückhaltend die Bierration des Tages; Bacuda dankte ihm mit einem lächelnden Kopfnicken, danach verstauten die beiden Asiaten mehrere Stangen in ihren übergroßen Pullovern und Jacken, bevor sie sich vor der Wohnungstür positionierten, um durch den Türspion die Sachlage im Hausflur zu überprüfen – alles klar, die Luft war rein, und ebenso leise, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder...
Nun war es für ihn soweit, genau betrachtet begann erst jetzt sein Tag – das waren die Momente der Woche, die er mit Würde beging, tja, das Zeremoniell des Einkaufs der Lebensmittel, das war ihm geradezu heilig; der Mensch ist ein lernfähiges System, so auch Bacuda – nie mehr Kakaopulver, das hatte er sich seinerzeit geschworen, hm... – allein ja, einsam nie wieder...
Er zog seine Turnschuhe an, sprühte sich vorsichtshalber noch einmal mit seinem `Lidl´ - Deodorant ein und warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel – und siehe da, seit der Implementierung seines `Dentalplans´ empfand er sich gar nicht mehr als so abscheulich, er stellte fest, dass er über das verfügte, was man landläufig `den struppigen Charme eines Straßenköters´ nannte; und damit konnte er leben, äh, was blieb ihm auch anderes übrig...
Bacuda ging gemessenen Schrittes zum Aufzug, es war zu spüren, da war sich ein Mann der Bedeutung des Augenblicks bewusst – der Aufzug hielt an, er begrüßte souverän die anderen Kabinenbenutzer mit einem dezenten „Guten Morgen!“, was verklemmt erwidert wurde, dann trat er ins Freie; die Sonne schien, und obwohl es erst kurz nach Acht war, fühlte er sich wohlig/warm, innerlich wie äußerlich – und nun begann die Stunde, in der er sich endlich wieder einmal als vollwertiger Mensch fühlen konnte, keine Tricks und Blenderei, kein illegales Gebaren, keinerlei Beschönigung – er ging mit echtem Geld in ein Geschäft und kaufte wie jeder andere ein, ein Kunde wie alle übrigen, und wäre man hier nicht in Deutschland, der totalen Servicewüste, dann könnte man `königliche´ Gefühle entwickeln – doch, immerhin, hier und jetzt war er der `Bürger Bacuda´, der sein Geld für Waren ausgab, die er zum Leben benötigte, eben wie jeder x – beliebige andere Bürger auch!
Denn man sah seinem Geld ja nicht an, woher es kam – Sozialamt oder Betrug, Börsengewinn oder Raubüberfall, Gehalt oder Lohn - `pecunia non olet´, das Geld stank einfach nicht; vor einer Kasse im Supermarkt herrschte irgendwie anonyme Gleichberechtigung, wären da bloß nicht seine Zähne gewesen, der noch sichtbare Beweis seiner Scham...
Wie auch immer – den Einkaufswagen mit Bedacht vor sich herschiebend und die Lippen fest zusammengepresst betrat er an diesem Morgen den `Lidl´ - Markt, der selbst um diese frühe Stunde schon rege frequentiert war; Bacuda liebte diesen Laden, wenn es auch ein kleines Manko gab - `Lidl´ führte `Knorr – Produkte´, zu seinem Leidwesen war die `Maggi – Palette´ nicht vertreten – in seinen besseren Tagen hatte er `Maggi Fix´ für `Chili con Carne´ dem `Knorr – Pendant´ vorgezogen, aber... – man konnte nun mal nicht alles haben...
Doch der Umstand, dass `Lidl´ keinen Frischfleischtresen hatte, sondern lediglich Tiefgefrorenes feilbot, war für ihn wie geschaffen – denn jedes Mal, wenn er eingekauft hatte, genoss er es, auf einer der Parkbänke, die seinem Hochhaus vorgelagert waren, ein oder zwei Bier in der Sonne zu trinken; und da man ja wusste, wie schnell frisches Gehacktes in der Sonne umkippte, äh... – aber hallo!
Bacuda schlich an den Molkereiprodukten vorbei, er tat so, als wägte er ab – nun gut, äh, Spielerei, aber er hielt sich nun einmal ausgesprochen gern an jenem Ort auf, wo es die wirklich wichtigen Dinge gab; da geschah an diesem Morgen etwas Merkwürdiges...
Man hörte sie, bevor man sie sah, dann fragte man sich, was eigentlich schlimmer war – eine vierköpfige, sächsische Familie hatte den Laden gestürmt, die Prospekte, auf denen die `Sonderangebote der Woche´ aufgeführt waren, äußerst erregt vor sich her wedelnd – schon auf den ersten Blick ein Alptraum!
Vater, Mutter und zwei unmündige Kinder, zusammen nicht einmal sechs Meter groß – und kurz hinter dem `Eingangstriller´ nahmen sie Maß!
Jedes Mitglied dieser Prachtfamilie nahm sich einen Verkaufsgang vor, lärmend den `Kameraden an der Billigfront´ die Schnäppchenpreise zuschreiend – und die Mutter, die figürlich stark an ein Kantholz erinnerte, sauste mit vor Eifer gerötetem Kopf von Gang zu Gang, den Einkaufswagen gekonnt auf nur den inneren Rädern um jede noch so enge Kurve balancierend – was Schumacher in Monte Carlo, das war sie bei `Lidl´!
Sämtliche Kunden sahen pikiert aus, anfänglich auch der `Bürger Bacuda´ - doch um so länger diese `Pfennigfuchserei´ andauerte, desto betroffener wurde sein Gemütszustand; gnädig über die körperlichen Unbilden bzw. die akustischen Zumutungen hinwegsehend bzw. - hörend wurde ihm bewusst, was sich hier eigentlich realiter abspielte – es war das erbärmliche Schauspiel von erzwungener Würdelosigkeit, denen war es mittlerweile einfach egal, dass sie sich hier zum `Beppo´ machten – Hauptsache, es gab genug zu essen!
Bacuda brach der Schweiß aus – in was für einem Land lebten wir eigentlich, gewinnträchtige Konzerne zahlten kaum oder keine Steuern, aber diese Wichte aus Sachsen mussten sich unter Aufgabe jeglicher Selbstachtung nach der Decke strecken, was war los Anfang dieses dritten Jahrtausends, wo Opernhäuser mangels finanzieller Mittel geschlossen und gleichzeitig Stümper wie diese `Zlatkos´ Millionäre wurden, wie war es zu begreifen, dass Wirtschaftsverbrecher wie dieser Dieter Landowsky in Schande entlassen, aber finanziell extrem großzügig verabschiedet wurden, während die `Bacudas´ dieses Landes nicht einmal einen Job als `Bürotrottel´ bekamen – was, zum Teufel, war hier los?
Ein animalischer Hass überfiel ihn, er musste sich an der Pizzatruhe abstützen, denn er drohte, zu kollabieren, doch dann fasste er sich gewaltsam – heute Abend gab es `Chili´, was auch immer passieren würde, das konnte man ihm nicht nehmen!
Die sächsischen Mitbürger waren scheinbar fündig geworden, sie lärmten noch eine zeitlang ausgesprochen gut gelaunt an der Kasse `rum, dann waren sie verschwunden – eben so wie ein Termitenschwarm, kurz durchgebröselt, dann ein geräuschvoller Abgang, tja... – irgendwie erbarmungswürdig...
Nun endlich schritt Bacuda zur Tat, er hatte da seinen genauen Ablaufplan; grundsätzlich begann er den Einkauf mit der Gewürzmischung, denn die war geschmacklich das Entscheidende – und was nützten ihm die anderen Ingredienzien, wenn die wichtigste Komponente fehlte?
Überhaupt das Gewürzregal, was hatte er da nicht schon alles erlebt – fast immer herrschte dort ein heilloses Durcheinander, er konnte es einfach nicht begreifen, dass `Knorr Fix für Sahnesauce´ im `Bolognese´ - Schuber steckte, und sein `Fix für Chili con Carne´ musste er sich grundsätzlich aus den unmöglichsten Pappschubern zusammensuchen, für ihn als - zumindest in dieser Hinsicht! - Pedant eine echte Zumutung – er brauchte neun Tüten, und manchmal suchte er minutenlang...
Doch heute war scheinbar sein Glückstag, der `Chili´ Schuber war wohl gerade erst frisch aufgefüllt worden – alle Neune, auf einen Streich, ihn überkam es fast mystisch!
Sein nächster Stop war an der Tiefkühltruhe, denn wie machte man `Chili con Carne´ ohne `Carne´ - und wieder Entwarnung, sein Kilo stellte kein Problem dar; und auch die `Paprika – Ampel´ hatte er schon von weitem ausgemacht, unterwegs zur Dosenabteilung schlug er im Vorbeigehen zu – jetzt noch ein Treffer bei den Bohnen und Tomaten, und die nächsten Tage wären gerettet!
Chili - , Pfeffer – und rote Kidneybohnen, drei, zwei und eine Dose, das lief ja wie am Schnürchen; nun noch die geschälten und die passierten Tomaten, ebenfalls vorhanden, bravo – und auf dem Weg zur Kasse komplettierte er den Einkauf mit einem Toastbrot und zwei `Unterwegs – Bieren´, ein Traumeinkauf!
Bacuda bezahlte knapp fünfundzwanzig Mark, echt preiswert für eine Woche `Leben´ - und nachdem er seine Schätze in den zwei mitgebrachten Einkaufstüten verstaut hatte, hechelte er der Parkbank entgegen, um sich von den Strapazen des Profanen zu erholen...
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Bacuda war Profi, ergo wusste er aus Erfahrung, dass er, völlig gefahrlos für das Tiefgefrorene, bis zu zwei Stunden in der prallen Vormittagssonne verweilen konnte - er genoss das immer wieder sehr, vormittags, halb Neun, außer ein paar geschäftigen Hausfrauen war niemand unterwegs, hm, zum Glück auch nicht diese fürchterlichen Kinder...
Nicht, dass er allgemein etwas gegen Kinder hätte, Gott bewahre – doch alles hatte seine Zeit, seinen Platz, ja, da gab es in seinem Leben nun einmal Prioritäten; und eine dieser Prioritäten war unverbrüchlich die, dass er seit drei Jahren verzweifelt versuchte, zu vergessen, dass auch er eine Tochter hatte – Bacuda hatte sich den Befehl erteilt:
„Ich darf sie nicht sehen, sie kennt mich kaum noch, der Vater in mir ist lediglich auf dem Papier präsent – Punkt!“
Die Sonne war angenehm, er ließ seine Gedanken fliegen, wie jedes Mal stellte er sich vor, das hinter der Häuserfront das Meer war – er hörte es rauschen, er roch den Salzgehalt der Luft, tja, er hing wieder einmal am Fallschirm, der hinter einem Motorboot hergezogen wurde – genau wie damals, vor über zwanzig Jahren in Miami...
Ende der siebziger Jahre hatte ihm der Dollarkurs praktisch befohlen, seinen Urlaub in den USA zu verbringen – 1,56 DM für einen Dollar, wenn das nicht ein Schnapper war!
Zusammen mit einem Schulfreund - hm, nein, der war eigentlich nur ein recht guter Kumpel gewesen, äh, wie auch immer! - war er zu seinem ersten Interkontinentaltrip aufgebrochen, jawohl, und sie beide waren damals wild entschlossen gewesen, auch ja nichts auszulassen – und die erste Woche hatte auch gehalten, was die Prospekte versprachen; denn alles war zu ihrer völligen Zufriedenheit, vom Sexuellen einmal abgesehen – ein einziges Mal hatte er sich eindeutig einer Amerikanerin genähert, die seinen Versuch jedoch wie folgt zunichte gemacht hatte:
„I only love Americans, so, you Slut – fuck off!”
`Danke sehr, ausgesprochen freundlich, das genügt!´, hatte er sich damals gedacht, wer nicht will, der hat doch schon – und so hatten die beiden deutschen Prachtburschen seinerzeit beschlossen, ihre überschüssige Energie sportiv zu verarbeiten, ah ja... – und das Drama nahm seinen Lauf...
Anstatt am Strand zu joggen oder ganz einfach Minigolf zu spielen hatte Bacuda beschlossen, dem Abenteuer ins Auge blicken zu wollen – und da bot sich dieser Fallschirmflug, hängend am Motorboot, geradezu an, er würde von oben sehen und von unten gesehen werden – welch´ nachgerade königliches Gefühl müsste das sein!
Gesagt, getan – anfangs ging auch alles gut, wenngleich es nicht gerade vorteilhaft aussah, was er da so trieb – obschon lang und dürr hing er irgendwie wie ein nasser Sack im Zaumzeug, nun gut, die B – Note war verheerend, doch die von ihm verspürte A – Note näherte sich der 6,0 – dann kam die Landung, und es kam eben so, wie es einfach kommen musste...
Denn kurz vor dem Aufsetzen hatte ihn eine unbillige Böe erwischt, die ihn dann schnurstracks auf die Klippen schmetterte – die Diagnose lautete:
Doppelter Schienenbeinbruch rechts, Bruch des linken Mittelfußknochens, schwere Verstauchung im Steißbereich und Hautabschürfungen ohne Ende, den Rückflug trat er im Streckverband an – doch bis zum heutigen Tag war er der unbedingten Meinung, dass sich der Trip damals echt gelohnt hatte, hm , das war halt Amerika – dieses Land hatte ihm seine Grenzen aufgezeigt, tja, und dafür war er heute dankbar!
Bacuda straffte sich auf der Parkbank, unwillkürlich fuhr er mit der rechten Hand über seinen Steiß – na bitte, keinerlei bleibende Schäden, es war irgendwie absurd – der Körper regelte sämtliches Ungemach, egal, wie dick es kam; ein faszinierendes, komplexes System, wenn da bloß nicht die Seele wäre – und er war wieder einmal der Meinung, dem Phänomen der seelischen Qualen, die kein Ende nehmen wollten, auf der Spur zu sein...
Er öffnete die zweite Dose Bier, die Sonne brannte nun schon fast schmerzhaft – Bacuda schwitzte, von innen heraus, äußerlich unbeeinflusst; die Geschichte mit der Seele, für ihn immer wieder höchst interessant, wenn auch vollkommen unergiebig!
Denn seine Definition von `Seele´ war dergestalt, dass er in ihr so etwas wie einen Transmitter sah, der auf äußerst abstruse Weise eine nur erahnbare Verbindung zwischen Geist und Körper herstellte – es war für ihn eine Art von `irdischer Dreifaltigkeit´, bezüglich der niemand so genau wusste, wer dabei eigentlich der Boss war...
Ein Beispiel:
Ein Kerl betrügt seine Frau, was seinen Körper im Grunde genommen erfreut – doch dann sagt ihm sein Intellekt, dass diese Aktion strenggenommen nicht ganz korrekt war; wie gesagt, zu der Zeit ist er körperlich entspannt und bar jeden Kopfschmerzes, hm, und jetzt kommt die Seele ins Spiel – die Transmission zwischen Körper und Geist läuft im Nanosekundenbereich ab, ihm bricht der Schweiß aus, er verspürt fahrige Übelkeit und brummelt ununterbrochen: „Oh Gott, oh Gott, oh Gott – was habe ich da nur angerichtet, ich ekele mich vor mir selbst – ich Schwein, ich schwarzes!“
Das Gute an dieser `Transmission´ aber war die nur stark begrenzte `Halbwertzeit´, denn lediglich eine Zeitlang war dieses Bild permanent auf dem jeweiligen `Monitor´ sichtbar, dann ging der gnädige `Bildschirmschoner´ runter – und das Intervall war beliebig, hm, je nachdem, wie man `eingestellt´ war...
Bacuda nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierdose – obwohl er sich seiner Unzulänglichkeit auf diesem Gebiet durchaus bewusst war, konnte er nicht umhin, ausgesprochen zufrieden zu grunzen; ob ambitionierter Amateur oder fatalistischer Profi, es war zumindest ein einleuchtender Gesichtspunkt – nicht mehr, aber garantiert auch nicht weniger!
Noch nicht einmal zehn Uhr, und er war bereits zum zweiten Mal an diesem Tag couchreif – nun gut, eigentlich völlig egal, er war nun einmal ein `polyphasischer´ Schläfer, einem Wolf nicht unähnlich, tja, und der war auch ein Einzelgänger... – what a coincidence...
Er trank die Büchse aus und entsorgte sie in dem dafür vorgesehenen Behälter, dann griff er sich die Tüten und trat den Heimweg an – und während er sich dem Hochhaus näherte, in dem er wohnte, betrachtete er es genauer; ein scheußlicher Bau mit siebzehn Etagen, seine `Platte´ lag im 9. Stock – und dieses Stockwerk war das elendste von allen, er erinnerte sich mit Grauen an die vor einem Jahr durchgeführte Strangsanierung – denn der Neunte lag mittig, was bedeutet hatte, dass seine Wände die letzten waren, die wieder verschlossen wurden!
Und dann dieser Lärm, dieser Dreck und der unglaublich feine Staub, der selbst in dem Fall, wenn er jemals staubgesaugt hätte, niemals ganz verschwunden wäre – heute noch, ein Jahr später, staubte es regelmäßig auf, wenn er sich auf die Couch setzte oder legte; und im Aufzug dann bedachte er grinsend, dass er tatsächlich eine Wohnung mit allen Extras hatte – selbst die `getönten Scheiben´ waren vorhanden...
`Mein Heim ist meine Burg´, Klappe zu, Affe tot, Bacuda war angekommen – er stellte die Tüten in der Küche ab und `staubte´ auf sein Sofa, um zuerst einmal ein Zigarette zu rauchen; in solchen Momenten gab er sich zu, langsam alt zu werden, Dinge, die früher bei ihm noch nicht einmal eine Schweißdrüse in Bewegung gesetzt hätten, empfand er heute als anstrengend, ja, geradezu als enervierend – Mitte vierzig, das Alter war halt kein Spaß, da musste man haushalten, in jeder Beziehung!
Bedingt durch den momentanen Schwächanfall dachte er an den Terminus `Zweierbeziehung´, mein Gott – ja, in solchen Augenblicken war er froh, allein zu sein; denn die Vorstellung, jetzt irgendeinen `Besen´ an seiner Seite zu haben und zu wissen, dass die erwartete, es um die Mittagsstunde herum von ihm `besorgt zu bekommen´, verursachte ihm körperliche Schmerzen, tatsächlich – er imaginierte sich einen nackten Frauenkörper und hörte in sich hinein, doch da war nichts, was „Ja!“ schrie... – es war mehr ein verhallendes, kaum hörbares „...die andere Woche mal...“ – und das verursachte bei ihm gleichermaßen Angst und Mut!
Die Angst davor, Potenz und Libido zu verlieren, und den Mut dazu, genau zu wissen, in einem solchen Fall in dem Ausmaß tapfer zu sein, sich hoch erhobenen Hauptes das Mittel `Viagra´ zu besorgen – du meine Güte, er war fünfundvierzig Jahre alt, zumindest numerisch, denn es gab mit Sicherheit Achtzigjährige, die nicht einmal einen Bruchteil von dem erlebt hatten, was er sein `Leben´ nannte...
Neues Bier, neues Glück, sakra – solche Überlegungen führten zu nichts, ihm war bewusst, dass er sich im rein akademischen Frageszenario befand; und genau genommen hasste er sich dafür, wenn er sich – wie eben! – selber `einen Türken baute´, hm, wenn er versuchte, sich selbst zu belügen – dazu war er nicht dumm genug, wenngleich seine `Blödheit´ dafür mit Sicherheit ausreichte!
Bacuda blies das schwarze Wölkchen einfach weg und versuchte, sich ganz auf den kommenden Spaß zu konzentrieren – er würde kochen, ja, mehr noch, er würde `Lebensmittelzubereitung zelebrieren´; die Japaner hatten ihre Teezeremonie, die Franzosen decantierten Rotwein und ließen ihn dann atmen, er hingegen `gestaltete´ sein Chili con Carne – und da saß jeder Griff, da ging alles wie von selbst...
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Da er ein sogenannter `sauberer´ Koch war, lag das Gelingen des Gerichtes und die für ihn daraus resultierende Freude unbedingt an der exakten Vorbereitung – zuerst schnitt er die Paprikaschoten in kleine Stücke, dann öffnete er sämtliche Dosen, wobei den `Kidneybohnen´ besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden musste; denn nur bei denen war der Sud ungenießbar, weshalb man ihn abtropfen lassen musste...
Danach wurden Topf und Pfanne auf dem Herd postiert, und erst jetzt konnte es losgehen – mit gekonnter Handbewegung bugsierte er das Gehackte – selbstverständlich halb und halb, Schwein war zu fett, Rind zu trocken! – in die Pfanne, briet es gut an und salzte, das war ganz wichtig; nun ein in aromatischem Ambiente köstlicher Schluck Bier, dann wurde das Gehackte in den bereitstehenden Topf umgefüllt – und bevor man den Topf auf die heiße Platte stellte gab man die Tomaten und Wasser in gleichem Maße dazu, dann rührte man kräftig um!
Er persönlich zerdrückte die geschälten Tomaten mit dem Rührlöffel an den Topfseitenflächen, man konnte sie jedoch auch einfach zerkochen lassen – die Meinungen differierten diesbezüglich, doch er zog das Zerdrücken vor; danach gab man die Paprikastücke hinzu, und während des ersten Aufkochens war Zeit genug für eine Zigarette und einen weiteren Schluck Bier; und nun kam sein besonderer Trick – er schüttete nicht einfach wahllos Bohnen und Gewürze in den Topf, nein, nein, weit gefehlt; zuerst kamen die `Kidneys´, abgerundet durch eine Tüte `Fix´, dann wurde erneut gewartet und getrunken – danach die Pfefferbohnen, nach jeder Dose eine Tüte `Fix´, weiteres Trinken, Rühren und Aufkochen – und erst jetzt kamen die Chilibohnen, drei an der Zahl, und nach jeder Dose eine Tüte `Fix´ - rauchen, trinken, rühren!
Zu diesem Zeitpunkt schmeckte er immer ab, und jedes Mal aufs Neue gingen selbst in seinem Mund Lilien auf – den Rest der `Fix´ - Tüten gab er Brise für Brise dazu, stets unterbrochen von trinken, rühren und abschmecken; danach stellte er den Herd ab und verweilte noch gut eine halbe Stunde in der Küche, um abzuschmecken, zu rühren, zu rauchen und glücklich zu trinken – um dann ziemlich satt, ziemlich betrunken, jedoch auch ziemlich überglücklich in ein staubiges Mittagsschläfchen zu fallen – nicht lange, hm, vielleicht ein schlaffes Stündchen... - `I have a dream today...´
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Wie in Zeitlupe verließ er den S – Bahnhof Hohenschönhausen, von erwartungsvoller, getragener Musik begleitet – die Straße war links und rechts von stummen Menschen gesäumt, bis hin zum `Bacuda – Tower´; und entlang dieser Menschenkette waren Wäscheleinen gespannt, das Bild erinnerte an Überlandstromleitungen, an denen Tausende und Abertausende von Farbeimern hingen, leicht schwenkend im Ostwind, taktgenau zur Musik...
Neugierig, aber keineswegs beunruhigt, schritt Bacuda das Spalier ab, nach links und rechts per Kopfnicken sein Einverständnis signalisierend – bis er schließlich vor seinem Hochhaus ankam, aus dem drei riesige Seidenschals heraushingen – in den Farben schwarz, rot und gülden; er schaute sich interessiert die Anordnung der Schals an, das war ja erstaunlich – der erste, der schwarze, hing aus dem vierten Stock bis fast auf den Boden, der rote, linkerhand, flatterte aus dem achten bis in die Höhe vom vierten, tja, und der güldene, der ergoss sich aus dem zwölften bis Oberkante achtem, mittig zwischen schwarz und rot – und Bacuda begriff, ja, er war sich der gestalterischen Aufforderung ganz sicher!
Denn im neunten Stock, da war lediglich eine Fensterfront weit geöffnet, von gemalten, schwarz/rot/güldenen Flammen eingerahmt – das Gesamtbild schien dazu bewegen zu wollen, den Weg in den Schlund anzutreten;cineastisch auch im Erklimmen von Steilwänden voll im Bilde packte er sich kurzentschlossen den schwarzen Schal, erkletterte geschmeidig die Höhe zwei über null und begann damit, durch Laufen entlang der Häuserfront Schwung aufzunehmen, die ihn schon kurze Zeit später in die Lage versetzte, sich den roten Fetzen zu greifen – Bacuda schwitzte wie ein Affe, als er in direktem Anschluss auf diese Art auch den gülden erwischte; und nun war es soweit, er nahm Maß...
Tarzan war ein Entenfurz gegen ihn, als er am güldenen durch das Fenster ins Innere flog und sich per eleganter Hechtrolle mittig des Raumes postierte, wow, mittlerweile völlig umgekleidet – er trug eine schwarze Hose, ein rotes Hemd und eine güldene Weste, und frenetischer Beifall brandete ihm entgegen!
Nun schaute Bacuda genauer hin – und das erste, was er erkannte, war seine fünfjährige Tochter, die lachschreiend auf ihn zustürzte; er fing sie auf, hob sie hoch und schloss sie glücklich in seine Arme, bevor er sich den anderen Besuchern zuwandte, die ihm aufmunternd seine Schultern klopften...
Und jetzt war er doch leicht erstaunt – er erkannte Rembrandt, Dali und Bosch, Monet, Picasso und Loutreck, Spitzweg, Zille und Friedensreich Hundertwasser – alle mit Feder, Pinsel und Farbpalette bewaffnet – welch´ eine Combo!
Und wie auf Kommando verbeugten sie sich leicht vor ihm und deuteten auf die Wände seines Wohnraumes – Bacuda erkannte sofort, dass es ein szenisches Geschehen war, das diese Giganten a´ miniature auf seine drei Wände geschaffen hatten – und er erschrak fürchterlich, denn da klatschte sein ganzes Leben auf den Mauern, die Schöpfer verfielen unisono zu Staub und seine Tochter auf seinem Arm verwandelte sich in ein rußiges Toastbrot – er fiel auf seine Knie und begann, bitterlich zu weinen – und da zerflossen die Wandgemälde, zu blutigen Tränen...
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Bacuda schreckte vom Sofa hoch, dass es nur so staubte – die ersten Augenblicke in der Realität verharrte er stumm und regungslos; dann blickte er sich unsicher in seinem Wohnraum um, Gott sei Dank, kein Toastbrot, keine blutigen Tränen, hm, und auch nicht mehr Staub als üblich... – die Fenster waren geschlossen, er trug Jeans und ein blass/graues Unterhemd, alles war so wie immer; und von seinen Wänden sprang ihn die vertraute, bronzefarbene Nikotinpatina an, die ihn stets daran erinnerte, niemals einen Lungenfacharzt aufzusuchen!
Ein Blick zum Fernseher genügte, um zu wissen, wie spät es war – es musste nach Elf und vor Zwölf sein, denn dieser grässliche Franklin von SAT 1 verhöhnte im Brustton des Mitgefühls irgendwelchen Abschaum, der ausgerechnet in dieser Sendung seine Stunde für gekommen hielt – wie er dieses Triumvirat hasste, die Redaktion, den Moderator u n d erst recht diesen Abschaum!
Seine `Vormittagsträumerei´ hatte er nun zwischengelagert, er öffnete sein `Brunchbier´ und ließ sich vom aktuellen Franklin über das tragen, was er gerne als seinen `retrospektiven TV - Parcours des Grauens´ bezeichnete – und was hatte er da nicht schon alles erlebt, im Laufe der letzten vier Jahrzehnte war kaum eine geschmackliche Entgleisung ausgelassen worden, keine Peinlichkeit war scheinbar zu extrem, als dass man sie nicht doch senden konnte, kein Tabu zu ehern, als dass man es nicht dennoch knacken wollte - aber das eine musste man immerhin ohne wenn und aber zugeben, verdammt – noch niemals zuvor war es so verheerend gewesen wie heute, in dieser Beziehung gab Bacuda sogar dem `Berufsjugendlichen´ Thomas Gottschalk recht, der festgestellt hatte:
„Fernsehunterhaltungstechnisch rauschen wie runter auf ein Niveau, unter dem es keinen Keller mehr gibt!“ – bravo, `Tommy´, ein goldener Satz, gut der Mann!
Überhaupt die ZDF – Institution `Gottschalk´ - wenn er `allein mit sich´ war gab Bacuda zu, zumindest bezüglich dieser Person zwei Meinungen zu haben – eine ehrliche und eine `öffentlich propagierte´, hm... – was auch immer man unter `öffentlich´ verstehen wollte...
Bezüglich Bacuda war unter `öffentlich´ zu verstehen, dass er den `Tanjas seiner Welt´ in wortreichem Pathos erklärte, was für ein überbezahlter Schaumschläger dieser Gottschalk in Wirklichkeit war – und er ließ in solchen Fällen keine Gehässigkeit aus, sich an der Wehrlosigkeit einer real nicht vorhandenen Person zu weiden; er ließ kein gelockt/blondiert gutes Haar an ihm, er verhöhnte den dunkel gefärbten Kinnbart unterhalb des Riesenzinkens, er stellte zur Disposition, dass dieser zur Fettleibigkeit neigende `Tommy´ unter seiner gewöhnungsbedürftigen Klamotte garantiert ein Bauchkorsett trug – um sich dann mit Verve seiner `posenhaften Körpersprache´ zuzuwenden, die sich in Attitüde und Gehabe in nichts von einer `Schmierenkomödiantentruppe´ unterschied – diese Gestik, die Mimik, eben die gesamte Körpersprache, ja, das war der dumme Junge, der sich den `Superstar Gottschalk´ vorstellte – echt zum Kotzen!
Und auch inhaltlich ging er gnadenlos mit dem Kulmbacher ins Gericht, dessen sogenannte Flapsigkeit, herrje, seine so oft zitierte Schlagfertigkeit, tse, sein so hervorgehobenes Spiel mit dem Publikum – alles lachhaft, da sollten die ZDF – Bosse mal umdenken, jeder zweite Arsch in einer wirklich guten Kneipe war unterhaltsamer als dieser frivole Kasper!
So viel zur `Öffentlichkeit´ - insgeheim sah er das selbstredend anders, er kannte Gottschalk seit dessen `Na, so was – Tagen´, und der Unterhaltungswert seiner Sendungen waren für ihn unbestreitbar; wenn schon Unterhaltung, dann aber bitte mit Gottschalk!
Bacuda wusste genau, warum er dieses `öffentliche´ Hasspamphlet immer und immer wieder proklamierte – strenggenommen war es der Neid, der ihn dazu trieb, warum der und nicht ich, was hatte der, was er nicht hatte, warum hatte der alles und er rein gar nichts? Sein Neid ließ ihm einfach keinen Raum für entspannte Kritik, äh... – na ja, so war das eben...
Aber, wie gesagt, es war Neid, keine Missgunst – er gönnte Thomas Gottschalk all´ das, was der sein eigen nannte, trotzdem war er neidisch auf dessen Erfolg; denn der verdiente Millionen, er gar nichts - außer der Sozialhilfe; der Typ war beliebt, ihn hingegen sah man lieber gehen als kommen, der Tommy war der einzige Mann, den die Theresa Orlowsky, die `Queen of the Anal – Scene´, laut eigener Aussage umsonst `ran lassen würde´, er andererseits bumste die `Tanjas´ – das war irgendwie nicht in Ordnung, Bacuda wirkte da mächtig betroffen – doch eigentlich hatte er nicht das Geringste gegen Thomas Gottschalk, ganz im Gegenteil...
Zurück zum aktuellen Geschehen – dieser Franklin tropfte immer noch aus der Röhre, Bacuda spürte die Schleimspur, auf der er persönlich niemals ausrutschen würde!
Wohlgemerkt, er sah das Fernsehbild, doch er hörte nicht, worum es de facto ging – denn er hörte Radio, der Fernseher erfüllte lediglich den Zweck, dass sich außer ihm noch irgendetwas anderes im Raum bewegte, und sei es nur der TV - Abschaum; außerdem, er erinnerte sich an die Aussage irgend eines ganz und gar nicht dummen Menschen, der auf die Frage:
„Sagen Sie bitte, was halten Sie von den sogenannten `daily talks´?“ geantwortet hatte:
„Gar nichts – wissen Sie, es interessiert mich einfach nicht, wenn `Herr Scheiße´ mit `Frau Scheiße´ über Scheiße redet!“
Äh... – genau, ganz seine Meinung; Bacuda saugte gierig das Bier aus der Dose, ein letzter Blick in Richtung Franklin, dann war es geschafft – der Darm meldete sich, er suchte geschwind das Bad auf, um hinten das fallen zu lassen, was er sich die letzten Minuten optisch zugemutet hatte...
Es war einfach ein phänomenales Gefühl, im wahrsten Sinne des Wortes `erleichtert´ den angestammten Platz im Leben und der Wohnung wieder einzunehmen – selbst den Pöbel empfand man als weniger aufdringlich, ja, mehr noch – man genoss es geradezu, dass es ihn gab!
`Bürger Bacuda´ machte sich in dieser Hinsicht nichts vor – bei allem Hass auf den Zynismus des Triumvirats musste er zugeben, dass dieser Form der `Unterhaltung´ eine ganz bestimmte soziologische Komponente nicht abgesprochen werden konnte; selbstverständlich lag die Priorität auf einen Begleiteffekt dieser Komponente, dem allseits beliebten `Geldverdienen´ - die soziologische Komponente aber war das gute Gefühl selbst für die `Bacudas´, vorgeführt zu bekommen, dass es noch etwas unter ihnen gab, etwas ganz und gar nur erahnbar Niedriges – und das verbreitete Hoffnung, dieses entwürdigende Schauspiel täglich stundenlang frei Haus präsentiert zu bekommen erweckte innerlich den Eindruck, selbst als Abschaum über Abschaum urteilen zu dürfen; und die angewandte Taktik war uralt, `Give the people what they need!´, ha, noch viel älter - `panem et circensis´, hm, Brot und Spiele...
Bacuda schaute durch Röhre, Franklin und Pöbel einfach hindurch, er verlor sich ganz einfach in sich selbst – Anfang der achtziger Jahre hatte es begonnen, mit dem sogenannten `Frühstücksfernsehen´ von ARD und ZDF – wenn er sich recht erinnerte, war damals die Arbeitslosenzahl erstmalig über die Millionengrenze gehopst, tja, und auch die wollten unterhalten werden, denn was auch immer sie nicht mehr waren, eines blieben auch sie bis zum bitteren Ende – W Ä H L E R !
Der nächste Schritt in die falsche Richtung war dann der gewesen, dass man dem Wähler mehr Auswahl bezüglich der freien Wahl gab, sich unterschiedlich heftig verblöden zu lassen, denn das Privatfernsehen wurde per Gesetz ins Leben gerufen und ausdrücklich seitens der Meinungsmacher in der Medienfamilie willkommen geheißen – man feierte das als einen gewaltigen Schritt in Richtung größerer Medienvielfalt, längst überfällig und fast historisch, man beglückwünschte sich unisono, wer auch immer wen – und der deutsche Michel hatte noch keine Ahnung davon, wie penetrant ätzend z.B. Waschmittelwerbung tatsächlich sein konnte...
Proportional zur jeweiligen Arbeitslosenquote wurden die Sendezeiten erweitert, und heute war es endlich soweit – rund um die Uhr wurde nun gesendet, was tagsüber das Nervenkostüm und spät in der Nacht der Lendenbereich so aushielt – Medienvielfalt, Meinungsvielfalt, jeder Art von sexueller Ausrichtung – und es stand und steht nicht zu befürchten, dass der Michel begreift:
Es sind immer die gleichen elektromagnetischen Wellen, die immer wieder den exakt selben Bockmist verschiedener Meinungsmacher in den Äther blasen, hm... – und gewichst ist gewichst, ob auf RTL oder SAT 1, auf VOX oder PRO 7, ZDF oder ARD...
Bacuda schüttelte unwirsch den Kopf, er konnte einfach nicht begreifen, dass dieser Umstand den meisten Leuten überhaupt nicht bewusst war – doch was ihn wirklich schockierte war die Tatsache, dass ihm klar war, dass zumindest manche es wussten – und es war ihnen scheißegal, oh ja, daran verdiente dieser grässliche Franklin und ebenso diejenigen, die jetzt noch kommen würden...
Mittagsstunde, Punkt zwölf Uhr, das Grauen wechselte das Geschlecht – die im wahrsten Sinne das Wortes `bildschirmsprengende´ Vera schwabbelte wieder mal vorbei, doch da machte `Bürger´ Bacuda nicht mit – das war jetzt seine stumme Protestkundgebung, gemessenen Schrittes ging er zum Fernseher und schaltete um auf RTL; denn sein Gerät hatte noch nicht einmal eine Fernbedienung, doch wie hieß es so schön:
`Jeder Gang macht schlank!´ - wenn sich das doch bloß auch mal dieser weibliche `Jabba´ von SAT 1 hinter die drallen Öhrchen schreiben würde!
Das musste man sich einmal vorstellen – vor ein paar Wochen hatte sich diese fleischgewordene Zumutung nicht entblödet, eine Sendung mit dem Titel zu moderieren:
`Vera, hilf mir – alle sagen, ich wäre zu fett, was kann ich bloß tun?´
Zumindest dem Tenor nach, Bacuda grinste angewidert, da wurde der Bock zum Gärtner gemacht... – das war ungefähr so absurd, als wenn er eine Show moderieren würde, hm, mit dem Thema:
`Bacuda, hilf mir – meine Zähne bringen mich um, wie pflegt man den Dentalbereich am effektivsten?´
Auch den sogenannten `Experten für Partnerschaftsprobleme´, den sie dabei hatte, dieses beglatzt/bebrillte `Nur – Grinsen´ - der erinnerte ihn irgendwie an seinen Vater in jungen Jahren, denn den fand er auch zum Kotzen!
Apropos `Zahnzustand´ - es war noch gar nicht so lange her, da hatte es tatsächlich eine solche `Horror - Show´ gegeben, wenn er sich recht erinnerte, dann war das seinerzeit `Bärbel Schäfer´ auf RTL gewesen, die das verbrochen hatte; damals hatte er tatsächlich geglaubt, er spinnt...
Wie immer hatte er den Ton abgedreht und Radio gehört, als er kurz einen Blick auf den Bildschirm geworfen hatte – und was er da erblicken musste, das hatte ihn wohl an sich selber erinnert; denn er identifizierte diese Type als einen Leidensgenossen, tja, es war fast so wie in dem Film `Terminator II´ - eine Szene ziemlich am Anfang, als der `T 1000´ in der `Galeria´ unserem Arnold das erste Mal die Jacke voll gehauen hatte – da steht der `An sich Flüssige´ neben einer silbrig glänzenden Schaufensterpuppe, und man hatte das Gefühl, dass er sich am liebsten vorgestellt hätte...
Wie auch immer – Bacudas Interesse war damals erwacht, Radio aus, Ton an, Schockschwerenot – da saß dieses arme Schwein, neben ihm seine Freundin, die sich feixend darüber ausließ, als wie widerwärtig sie es empfand, ihn zu küssen, so nach dem Motto:
„Vögeln ja, aber ohne küssen!“ – eben wie in einem Bordell, Bacuda wurde es blümerant, hm, äh... – „Sauerkraut!“
Aber damit nicht genug, obwohl er das Gefühl hatte, dass diese Inquisition kaum noch zu `toppen´ war, wurde er eines Besseren belehrt – denn die Redaktion hatte sich etwas ganz besonders Perfides einfallen lassen; man hatte weder Kosten noch Mühe gescheut, um dem Volk einen wirklich bunten Nachmittag zu kredenzen – ein Zahnarztstuhl nebst dem dazu passenden FDP – Wähler war im Studio installiert worden, und darauf durfte das `zahnlose Lamm´ dann Platz nehmen - ja, dass sie seinen Weg von Stuhl zu Stuhl nicht noch musikalisch mit zum Beispiel dem `Narhallamarsch´ untermalt hatten war wirklich alles!
Und ab jetzt bekam der Wahnsinn Methode – nachdem der arme Teufel auf der Stätte Platz genommen hatte, auf der jetzt der nur noch zu erahnende Rest seiner Würde geopfert werden sollte, wurde ihm ein Lätzchen umgebunden und dieser pseudoärztliche `Guido´ ging frisch ans Werk, wenn auch mit angewidertem Gesichtsausdruck – doch damit nicht genug, jetzt wurde es erst so richtig fruchtig...
Man musste das einmal so richtig durchschmecken – da saß der Kerl mit offenem Mund, der `Guido´ stocherte lustlos und verlogen/schockiert im Trümmerfeld herum, die bösartigsten Kommentare über diese Zumutung ablassend – und dann kam sie, bewaffnet mit einer kleinen Minikamera in Stabform – Bacuda hatte damals laut „Och nä, das darf doch jetzt wohl nicht wahr sein!“ gestöhnt – doch es durfte wahr sein, Frau Bärbel Schäfer von RTL führte ein, eine Perfidie sondergleichen!
Doch halt, eines musste man ihr lassen – sie hatte die Kamera noch einmal herausgezogen, um ihr Bekenntnis darüber abzugeben, dass sie das hier nicht tun würde, um auf Kosten dieses `Gastes´ irgendwelchen Schabernack zu treiben, Gott bewahre – nein, nein, sie tat das jetzt lediglich, um ihrer journalistischen Aufklärungsmission, die sie nun einmal unbedingt verspürte, zu genügen – und jeder, der etwas anderes vermutete, tja, der sollte sich was schämen!
Und spätestens jetzt hatte man das Pack an den Bildschirmen zu Hause so richtig heiß gemacht, ergo entschied man sich für ein kleines Werbeblöckchen – da war man flexibel, bitte sehr, man war halt Profi!
Obwohl Bacuda genau wusste, was gespielt wurde, war er damals wie gebannt dabei geblieben, der Voyeur in ihm hatte gesiegt – dann war es endlich soweit, Frau Schäfer führte erneut ein, und dieses Mal so richtig:
Ihren Blick auf den Monitor gerichtet, fuhr sie diesem Herrn durch die Mundhöhle, in jeden noch so versteckten Winkel, ein echter `Rundflug des Grauens´ - und Frau Schäfer trug Gummihandschuhe, selbstverständlich war das lediglich eine präventive Aidsmaßnahme, mit Ekel hatte das nichts zu tun; Bacuda hatte damals gemeint, in ihrem Gesicht ganz kurz das `Pulitzer Preis Glitzern´ erkannt zu haben, denn was einem da via Bildschirm ins Zimmer tröpfelte, das war wirklich bemerkenswert...
Hätte man nicht gewusst, dass es sich um einen menschlichen Mund handelte, man wäre nicht darauf gekommen – das war kein Rachenbereich, das wirkte mehr wie eine Tropfsteinhöhle, das waren keine Zähne, das hatte mehr etwas von Stalaktiten und Stalagmiten, das alles lebte nicht nur, nein, das moderte sogar – ein Alptraum!
Ein Aufschrei wohligen Entsetzens des Publikums im Studio, ein verschmitzt betretenes Grienen der `Preiswürdigen´, ein ungebührliches Lachen dieses `Dentalguidos´ - und der Grottenolm auf dem Stühlchen schien sich so langsam darüber klar zu werden, was er sich mit dieser Selbstinszenierung angetan hatte; und der Blick, den er seiner grinsenden Freundin zuwarf, ließ bezüglich dieser Beziehung nichts Gutes erahnen...
Bacuda konnte es nicht fassen, im Laufe der Sendung wiederholten die `Macher´ dieses unwürdige Schauspiel noch weitere zwei Mal – und schlagartig war er damals imaginär Mitglied der Redaktionskonferenz bei RTL gewesen, die diese Entgleisung beschlossen hatte; er sah den Raum, er sah den Konferenztisch, und an der Wand prangte ein riesiges Plakat, auf dem geschrieben stand:
`Wenn man schon in einem Bordell arbeitet, dann kann man nur das Eine sein – die beste Hure des Hauses!´
Die grundsätzliche Frage, welche diese mehr als `Gutverdiener´ am meisten interessierte, war die:
„Wie weit ist der Abschaum bereit, zu gehen, für 500,- cash plus Spesen – wo liegt selbst bei diesen Unpersonen die Schmerzgrenze?“
Er sah sie vor sich, diese aalglatten Scheißer, wie sie sich zynisch/feixend darüber austauschten, was man denen noch antun konnte, der geheiligten Quote zuliebe – es war nicht das Vertretbare, was die interessierte, es war ausschließlich das Machbare...
Und in dieser Beziehung schien jedes Limit aufgehoben zu sein, dieses Mal war nicht der Himmel, sondern eher die Hölle die Grenze – Bacuda fragte sich ernsthaft, warum er da nicht mittat, was war es, das ihn davor zurückschrecken ließ – Moral, Anstand, das gute Gefühl, sich nicht mitschuldig zu machen?
Moral, Anstand, Gefühl – eigentlich war es nichts von alledem, es war mehr eine Erkenntnis; und diese `Erkenntnis´ hatte etwas mit den eigenen Grenzen zu tun, die ein ´guter Mann´ kennen sollte...
Zum einen war da der Umstand, dass er nun mal kein `Teamspieler´ war – denn wie sollte er auch, war er doch sein Leben lang selbstständig gewesen, ähem... – doch das war eine andere Geschichte...
Zum anderen war da sein extrem dünnes Nervenkostüm, wenn es sich um etwas handelte, das er voll selbstgerechter Empörung ablehnte – und dieses `Etwas´ waren für ihn nicht nur Dinge bzw. Sachen, nein, nein, er bezog das auch auf Menschen:
„Wenn ich mir nur vorstelle, mich tag/täglich mit diesem Abschaum – völlig egal, wo auf der finanziellen Skala angeordnet! – abgeben zu müssen, tja, da kämpfen meine Nackenhaare um `n Stehplatz!“
Doch Bacuda war nicht nur selbstgefällig, nein, denn in gleichem Maße verfügte er auch über ehrliche Demut – er machte sich da nichts mehr vor, wer wartete schon auf ihn; ziemlich alt, ziemlich ranzig, ziemlich verkeimt – und gleichzeitig völlig zornig, total genervt und dennoch nicht bereit, einfach aufzugeben – welch´ eine Mischung...
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Wie gesagt, Bacuda hatte der `SAT 1 – Fettel´ per Knopfdruck den Garaus gemacht, jetzt begann das, was er `seine Stunde der Köperertüchtigung´ nannte – er zog sich an und verließ die Wohnung in Richtung Park – doch vorher kehrte er noch einmal bei `Getränke Hoffmann´ ein; für normale Menschen war es nun `Lunchtime´, ergo entschied er sich für zwei Dosen Hefeweizen, lecker – und jetzt begann sein Jogging, nach einem leichten Trab über gut fünfzig Meter nahm er hechelnd und leicht verschwitzt auf einer Parkbank Platz, um dann mit großem Appetit endlich zu `trink/essen´...
Er stellte schmerzhaft fest, dass er einen Fehler gemacht hatte – denn er hatte das Hefeweizen aus der Kühlbox genommen, es pfiff und zischte im `Dentalgebälk´!
Der Schmerz war der Prüfstein des Charakters, doch auch eine Aussicht war scheinbar in der Lage, den empfundenen Schmerz zu relativieren – es war doch immer wieder beeindruckend, in welchem Ausmaß der menschliche Geist in der Lage war, den Körper zu beeinflussen; trotzdem hatte Bacuda den `blanken Hans´ im Auge, linksseitig zog sich der Schmerz hinunter bis in seinen Arm, und das war bedenklich...
Denn er hatte einmal gehört, dass eine Totalvereiterung des Kieferbereiches sogar bis zum Herzinfarkt führen konnte – und das fehlte noch, abgetreten wegen einer `versüfften´ Schnauze, äußerst unappetitlich, wenig vorteilhaft; und ihm war ebenfalls bekannt, dass Mundgeruch und sogenannter `schlechter Geschmack´ im Mund Parameter für den Grad der Vereiterung waren, na dann:
„Ich hab´ `n Geschmack in der Schnauze, der jeder Beschreibung spottet...“, brummelte er, Schluss jetzt damit – das alles war ganz schlecht, diesbezüglich hatte etwas zu geschehen, und zwar noch heute!
Der Schmerz ließ so langsam nach, und Bacuda hatte präventive Maßnahmen dahingehend ergriffen, dass ihm eine erneute `Fehlermeldung´ erspart bleiben würde – er hatte die Bierdosen in der heißen Mittagssonne postiert, es war also nur eine Frage von Minuten, wann er sie sich gefahrlos zumuten konnte – und danach würde er dann aktiv werden, ein Zahnarzt seines Vertrauens musste und würde gefunden werden, sonst hörte alles auf – diesen gesundheitlichen bzw. optischen Eiertanz war er nicht länger bereit, einfach nur mitzumachen...
Jeder, der schon mal lauwarmes Weizenbier getrunken hatte, konnte sich gut vorstellen, was der `Bürger Bacuda´ bereit war, auf sich zu nehmen, um genug Courage zu haben, eine Zahnarztpraxis zumindest einmal aufzusuchen – er hatte sich damit zu beruhigen versucht, dass es heute nur um die Terminierung ging, doch zumindest cineastisch betrachtet war das ein unangenehm doppeldeutiger Begriff; und außerdem – bei diesen `Guidos´ wusste man nie, ob man nicht direkt blitzartig auf dem Stühlchen landete...
Doch alles war gutgegangen, jedoch nur dank seiner brillanten Vorbereitung, da war er ganz sicher – denn bevor er die Praxis betreten hatte, zerwühlte er sich das Haupthaar, er stellte den Dachstuhl auf Sturm, um einen gehetzten und gestressten Eindruck zu vermitteln; dann hatte er wie wild drauf los geplappert, von wegen „...heute keine Zeit, brauche jedoch einen Termin, zwecks Begutachtung und daraus resultierender Strategie, äh, Sie verstehen...“ – und das Mädel an der Rezeption hatte verstanden, lächelnd und ausgesprochen charmant hatte sie zusammengefasst:
„Sicher, Herr Bacuda, wie wäre es übermorgen, Donnerstag, den 13ten, morgens um halb neun – wäre das recht?“
Ja, nun, selbstverständlich – wortreich und redegewandt gab er zu verstehen, dass ihm dieser Termin ausgesprochen gut kombinieren würde; da schaute sich das Mädel kurz nach links und rechts um, dann wisperte sie:
„Und bitte, Herr Bacuda – nüchtern, in Ordnung?“
Er fühlte sich erröten, doch er akzeptierte diese Zurechtweisung – denn erstens war sie diskret vorgetragen worden, und zweitens gab er sich zu, einfach nicht in der Verfassung zu sein, einen Protest zu formulieren; stumm nickend schlich er zur Tür hinaus, selten hatte er sich dem Abschaum so nah gefühlt... – doch draußen dann, in der prallen Mittagssonne, überwog sein Stolz und das Glücksgefühl, das er empfand; der Stolz darauf, es begonnen zu haben, hm, und das Glücksgefühl darüber, dass es gleichermaßen bald ein Ende haben würde...
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Kurz nach halb eins, da war noch Zeit für ein Bier an der frischen Luft - und da er in Feierstimmung war, gönnte er sich ein `Beck´ s´, da kannte er nichts; dieses Mal hatte er sich ein schattiges Plätzchen in unmittelbarer Nähe seiner Hauseingangstür ausgesucht, er öffnete die Dose, zündete sich eine Zigarette an und wollte gerade damit beginnen, sich vorzustellen, wie er wohl mit einem makellosen Gebiss aussehen würde, da hielt ein Radler direkt vor seinen ausgestreckten Beinen – und bevor er es sich versah, schnatterte der Kerl los, ohne Punkt und Komma, Bacuda wusste aus Erfahrung, dass es vorbei war mit Ruhe und Beschaulichkeit...
Denn der Typ war ein sogenannter `k und k – Mensch´, kontrastierend und kontaktfreudig – der Kontrast war im wahrsten Sinne des Wortes augenscheinlich, ein uralt aussehender Kopf auf einem jugendlich/straff wirkendem Körper, ähnlich einem Kerl wie zum Beispiel Mick Jagger; und das eigentlich neutrale Adjektiv `kontaktfreudig´ war in seinem Fall so zu verstehen, dass diese Art Mensch einem grundsätzlich das Gefühl gab, sie schon jahrelang zu kennen und nur auf sie gewartet zu haben – ohne jegliche Einführung bzw. Vorstellung legten die damit los, was man allgemein unter `Die kauen einem ein Ohr ab!´ verstand – Bacuda war, zumindest innerlich, entsetzt!
Doch er ging duldsam mit ihm um, denn heute war es für ihn bisher ein guter Tag gewesen – problemlose Zigarettenlieferung, frisch gekochtes Chili und ein vereinbarter Zahnarzttermin, Donnerwetter noch mal!
„Ich war `heute schon das dritte Mal bei `Lidl´, das mache ich jeden Tag...“ – das war die Ouvertüre dieses jugendlichen Alten, während er sein Fahrrad abstellte; dann setzte er sich peinlich eng neben ihn, packte einen Flachmann des billigsten Weinbrands aus, den Bacuda je gerochen hatte, und nahm erst mal einen großen Schluck zur Brust – ein brünstiges „Ah, det tat jetzt jut!“, dann bot er ihm das Gebräu an, was er dankend ablehnte – und jetzt erst ging `s so richtig los...
Es war ja so langweilig, den ganzen Tag allein zu Hause vor der Glotze zu sitzen, da lobte er sich die Supermärkte, denn da war immer was los – „...vor allem im Sommer, da siehste auch mal ein paar kaum versteckte Möpse, ha!“ – Bacuda lächelte gequält, doch jetzt war der Alte nicht mehr zu bremsen!
Er könne gar nicht verstehen, was die Leute mit diesem `Viagra´ hätten, er persönlich habe jeden Morgen einen Hammer in der Hose, da träumte der Führer von – „...und det merkwürdije is, dat det Ding immer `ne Viertelstunde vor mir uffsteht, ick kann dir sajen, Mensch...“
Der alte Bursche war nun mächtig in Fahrt, Bacuda war der Meinung, jetzt ebenfalls etwas sagen zu müssen – er überlegte kurz, was in diesen Kontext passen könnte, dann hatte er es – er sagte:
„Ja, genau – wer lang hat, kann lang hängen lassen!“ – um Himmels willen, das war ja wie „Ohne Brot kein Butterbrot!“, aber, äh, na ja, ein Versuch...
Der Alte sah das völlig anders, er lachte wiehernd und meinte verschmitzt:
„Det haste jut jesagt, mein Kleener – det isset nämlich, worauf et im Leben ankommt – wer hat, der hat, hahaha...“
Damit war die erste Welle des Mitteilungsbedürfnisses dieses Herrn scheinbar verebbt, denn der Radler beruhigte sich zunehmend – Bacuda war diese Taktik natürlich bekannt, das krachledern/sexuell Behauptete dieses Gesülzes war nicht mehr und nicht weniger als eine Überprüfung der Art, inwieweit man sich der Gesprächsbereitschaft seines Gegenübers sicher sein konnte; der Alte leerte den Flachmann mit dem zweiten Zug, warf das leere Fläschchen in den Abfallbehälter und nahm Bacuda dann mit auf eine Rundreise durch seine Welt, die – wenn Bacuda nicht höllisch aufpasste! – auch schon sehr bald die seine werden würde – der Alte brabbelte weiter:
Sein Leben lang war er angeeckt, doch er hatte sich zu wehren gewusst – er erinnerte sich noch genau an die erste saftige Tracht Prügel, die er bekommen hatte – 1953 war das gewesen, bei den Aufständen rund um den 17. Juni herum, damals, in der Stalinallee, tja, er war dabei gewesen!
Der Alte bekam glänzende Augen, er berichtete mit der Genauigkeit eines Zeitzeugen – zu jener Zeit war er siebzehn Jahre alt gewesen, politisch völlig unbedarft und eben jugendlich/euphorisch; dieses herrliche `Wir – Gefühl´, die Kampfesstimmung von wegen `Wir Arbeiter gegen die da oben!´, das alles hatte ihn damals echt begeistert – doch dann hatte er Hunger bekommen und wollte nach Hause, tja, und da hatte der Ärger dann begonnen!
Nicht der Russe, nicht die Stasi und auch nicht die Bullen, nein, sein eigener Polier hatte ihn verdroschen, dass es nur so geraucht hatte!
„Und det allet nur, weil ick keen Transparent trajen wollte, wo druff stand: `Der Spitzbart muss weg!´ - verstehste, meen eijener Polier, det war für mir `n Ding damals...“
Der Alte zauberte einen weiteren Flachmann hervor, und dieses Mal nahm Bacuda einen Schluck, eben so, als wollte er dem Alten damit seine Solidarität beweisen – und während sie so dasaßen und tranken, hatte Bacuda plötzlich das Gefühl, neben sich zu stehen und die Szenerie analytisch zu betrachten – alt und nicht mehr ganz jung, aufgesetzt lustig und fatalistisch, Ost und West, gemeinsam auf einer Parkbank Fusel trinkend, über alle `Grenzen´ hinweg im Elend vereint; diese Erkenntnis war erschütternd, tja, und sein zweiter Schluck diente der Verdrängung...
Damals hatte seine `Karriere als asoziales Subjekt´ begonnen, berichtete der geprügelte Alte nun weiter, einmal in solch einem üblen Strudel gefangen habe man kaum die Möglichkeit gehabt, wieder Fuß zu fassen – Gefängnis, Alkohol, Arbeitsverweigerung, Hauptstadtverbot, hm, und dann eine verheerende Ehe in Mecklenburg/Vorpommern – die hatte ihm den Rest gegeben, und dennoch – die Geschichte war es wert, erzählt zu werden!
Man hatte ihn seinerzeit nach Mecklenburg/Vorpommern `deportiert´, denn das verhängte Hauptstadtverbot bezog sich auf Berlin und angrenzende Gebiete – auf einem Bauerhof war er gelandet, und seine Aufgabe bestand darin, sich um die Versorgung der Tiere zu kümmern; und auf diesem LPG – Stützpunkt – so nannte sich das damals! – hatte auch eine junge Witwe mit ihren drei kleinen Kindern gewohnt und gearbeitet, ihr Mann war erst vor kurzem bei einem Manöver der `Warschauer Pakt Streitkräfte´ in Polen ums Leben gekommen, ein bedauernswerter Unfall, wie man ihr lapidar mitgeteilt hatte...
Verständlicherweise war sie dadurch bedingt nicht besonders gut auf den Staat zu sprechen gewesen, und da sie in ihm wohl so etwas wie einen `Dissidenten´ gesehen hatte, war man miteinander vertraulich geworden, vereint in der Ablehnung des Systems – und außerdem, sie hatte es gejuckt, ihn ebenfalls, und da habe man sich halt des Öfteren mal zusammen gekratzt; einige Monate später dann hatten sie sich dazu entschlossen, ihre Verbindung zu legalisieren, hm, auch wegen der Kinder – und die Hochzeit war wirklich toll gewesen, das ganze Dorf hatte damals mit ihnen gefeiert!
Der Alte kramte zwei Bier und den dritten Flachmann hervor, und Bacuda war wild entschlossen, mitzutun – denn sein Interesse war erwacht, hm, und besser als dieses `Geschwabbel´ auf SAT 1 war dieser Kerl hier allemal...
Wie gesagt, man war nun eine Familie gewesen, und der Alte berichtete nicht ohne einen Anflug von Stolz, dass man sich „...ohne Ende jekratzt...“ habe – doch ein halbes Jahr später hatten dunkle Wolken ihren ehelichen Sonnenschein verdunkelt, und zwar in Form des neuen Pächters der örtlichen Dorfkneipe; nun gut, der Kerl war jünger und durchtrainierter gewesen als er, aber der wirkliche Grund war ein anderer – der Typ kam frisch von der `Fahne´, ja, und seine Frau sah damals in dem so etwas wie eine Reinkarnation ihres verstorbenen ersten Mannes!
Der Alte war immer noch empört darüber, was sich seinerzeit so alles abgespielt hatte – Bacuda sollte einmal versuchen, sich vorzustellen, wie er sich damals gefühlt hatte – jede Nacht hatte sie sich davongeschlichen und war mit ihrem Fahrrad zu ihm gefahren, um sich dann so richtig kräftig `durchkratzen´ zu lassen, eine bodenlose Frechheit, ein geradezu verheerendes Benehmen!
Und anfänglich hatte er gute Miene zum bösen Spiel gemacht, was sollte er auch tun, der Kerl hatte `ne Nahkampfausbildung... – doch eines Nachts war ihm das dann alles zuviel geworden, diese Schande, und auch die Eifersucht, dazu noch das Gefühl, die „...Lachnummer von det Dorf...“ zu sein; da war er dann tätig geworden und hatte einen Riegel vorgeschoben, hm, und was für einen...
Vierter Flachmann, auf ex, dann erzählte er weiter – er habe sich zuerst einmal mit einer Flasche Wodka zu trösten gesucht, doch das war ihm nicht gelungen; ganz im Gegenteil, er war damals von Schluck zu Schluck immer saurer geworden, tja, und dann hatte er sich – bewaffnet mit einer weiteren Pulle! – auf den Weg gemacht...
Vor der geschlossenen Kneipe hatte ihr Fahrrad gestanden, und da hatte er eine Idee gehabt – aus beiden Reifen ließ er die Luft raus, nahm die Luftpumpe an sich und schlich ca. zweihundert Meter zurück in Richtung Bauernhof, um auf sie zu warten; denn es gab nur diesen einen Weg, sie musste an ihm vorbei, zu Fuß, das Rad schiebend – und dann hatte er gewartet, über zwei Stunden lang, und getrunken, die gesamte zweite Flasche – und die ganze Zeit über hatte er sich vorgestellt, in welchen Stellungen die beiden sich momentan `kratzten´, ein völliger Alptraum!
Dann endlich war sie erschienen, und er hatte das Glänzen in ihren Augen gesehen, dass Frauen grundsätzlich nur dann haben, wenn es ihnen so richtig gut besorgt worden war – und da hatte er rot gesehen, unter zu Hilfenahme der eisernen Luftpumpe hatte er sie nach Hause geprügelt – und dort angekommen war es erst richtig losgegangen, er hatte sie zusammengeschlagen, immer ins Gesicht und in den Bauch, eben dahin, wo es so richtig weh tat!
Irgendwann war dann sein Blutrausch verflogen und er hatte von ihr abgelassen – sie hatte blutüberströmt auf dem Küchenboden gelegen und röchelnd nach einem Arzt verlangt, da war er erneut böse geworden und hatte das Telefon aus der Wand gerissen... – an den Rest konnte er sich bis zum heutigen Tag nicht erinnern, er wusste lediglich noch, dass er am nächsten Morgen in die Küche gekommen war und sie tot in einer riesigen, schon getrockneten Blutlache gefunden hatte...
Der Alte machte eine kurze Pause, er versuchte, sich zu sammeln – Bacuda sagte kein Wort, stellte keinerlei Fragen, denn er wusste, dass der Kerl die Geschichte zu Ende berichten musste; und so war es dann auch, der Alte erzählte, sie sei damals an inneren Blutungen gestorben, da sie eine Fehlgeburt hatte – denn sie war schwanger gewesen, von ihm oder dem wurde nie geklärt; und er war für zwölf Jahre in den Knast gekommen, wegen geplanten Totschlags – die von seinem Anwalt vorgebrachten mildernden Umstände waren samt und sonders vom Gericht verworfen worden, wie gesagt, bei seiner Vorgeschichte als `asoziales Subjekt´ hatte er nicht die Spur einer Chance gehabt...
Kurz nach seiner Entlassung war dann die Mauer gefallen, und die Wende kam – doch für ihn kam das alles zu spät, es wurde keine Wende zum Guten; Sozialamt, ab und zu ein paar Monate Knast wegen Ladendiebstahls, dann wieder Sozialamt – und jetzt war er fünfundsechzig Jahre alt, er machte sich nichts mehr vor - „Tja, meen Kleener, meen Leben ha´ ick voll verkackt, na ja, wat soll et...“
Schweigend saßen sie noch ein paar Minuten nebeneinander, Bacuda und sein unglücklicher Alter, wie ein Beichtvater mit seinem reuigen Sünder – doch dann sprang der Alte unvermittelt auf, bestieg sein Rad und sagte lächelnd:
„Tschüss, meen Kleener, allet Jute für dich!“
Dann verschwand er ebenso fix, wie er vor einer halben Stunde gekommen war – und Bacuda trat ebenfalls seinen Heimweg an, er dachte über das Gehörte nach, er war irgendwie betrübt – was für ein Zausel, hm, und was für eine Geschichte...
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„Irgendwie komisch, ich ziehe solche Typen an wie ein Stück Scheiße die Fliegen, zum Kotzen – als hätte ich nicht genug eigene Probleme...“
Bacuda war klatschnass geschwitzt, als er endlich wieder auf seinem Sofa saß, nur noch mit Unterhose und Unterhemd bekleidet – und während er sich gedankenverloren seine dürren, weißen Beine anschaute, die völlig unbehaart und voller Hitzepickel waren, wodurch sie an in die Länge gezogene Stachelbeeren erinnerten, wurde er sich darüber bewusst, dass es zumindest zwei Sorten von Menschen gab – die einen, die eine solche Geschichte völlig kalt ließ, und dann Leute wie ihn, den so etwas tatsächlich tief berührte!
Er machte sich ein `Mittagsschlafbier´ auf und erkannte spontan, dass diese Differenzierung viel zu oberflächlich war – denn das war kein flächiges, sondern ein räumliches Problem, hier gab es nicht nur links und rechts, nein, das hier gestaltete sich auf verschiedenen Ebenen; es war nicht die Geschichte, um die es ging, es war vielmehr der persönliche Bezug zu ihr, den man hinterfragen sollte – und dieser Bezug war mit Sicherheit `vielschichtig´...
Bacuda zog sich eine Trainingshose an, eine lange, denn der Anblick seiner Beine war zu verwirrend – du meine Güte, wie konnten Frauen so etwas nur gut finden, wo war für die bloß der Kick, wenn die solche rauen `Stricknadeln´ streichelten? Wieder einmal war er bezüglich der Frauen mit seinem Latein am Ende – er erinnerte sich, dass er einmal mit einem Mädchen Schluss gemacht hatte, nur weil die einen leichten Ausschlag auf ihrem Handrücken gehabt hatte; er atmete tief durch, zum Glück waren Frauen da großzügiger, denn im anderen Fall wäre er mit Sicherheit auch heute noch eine `männliche Jungfrau´ - aber das war wieder eine ganz andere Geschichte...
Doch zurück zum Problem der `bezüglichen Vielschichtigkeit´ - wenn man einmal voraussetzte, dass man an einer solchen Geschichte Anteil nahm, sie einen irgendwie berührte – was war der Auslöser, oder besser, was könnte er sein?
Schon an diesem Punkt musste man erneut differenzieren – war man nun selber in einer guten oder schlechten, vergleichbaren oder gänzlich anderen Lebenssituation wie der Klagende, denn das war seiner Meinung nach ausschlaggebend dafür, was man schlussendlich realiter empfand – Mitleid oder Mitgefühl, und das war ein himmelweiter Unterschied...
Bacuda knöpfte sich zuerst einmal die etablierten, gut situierten und zufriedenen `Ärsche´ vor, und er erinnerte sich in dem Zusammenhang an ein besonders verlogenes Exemplar – und zwar an sich selbst, als er noch einer der `goldenen Reiter´ war; und was nun folgte war keine Spekulation, nein, denn das war jetzt eine Tatsache...
Es war ein paar Jahre her, er war zu der Zeit stolzer Pächter einer sogenannten `Piano – Bar´ in einer der zahlreichen Berliner Einkaufspassagen gewesen, tja, er erinnerte sich lebhaft:
Eines Samstagmittags, er wollte gerade seine Bar öffnen, entdeckte er in einer gegenüberliegenden Ecke des Ganges ein zusammengekauertes, übelst riechendes Faktotum, den er auf den zweiten Blick als eine `hilflose Person´ identifizierte – er war zu ihm gegangen, und als er ziemlich nah an ihm dran war traf ihn fast der Schlag – der Kerl war von oben bis unten voller Erbrochenem, seine Hose wies vorne einen riesigen Fleck auf, dessen Ursprung keine Frage offen ließ; und im hinteren Hosenbereich waberte etwas, das er sich nicht einmal vorstellen konnte, ohne dass sich extremer Brechreiz einstellen würde!
Bacuda war damals zum Telefon gesaust, um die Feuerwehr anzurufen – doch nicht etwa, weil er sich Sorgen um den `Fäkalisten´ machte, nein, diese Belästigung musste einfach nur entsorgt werden, weg mit dem Kerl!
Während er auf das Eintreffen der Feuerwehr wartete, hatte er sich in der Eingangstür seiner Bar postiert, einen Putzlappen vor sich haltend – nicht, dass der Kerl vielleicht aufwachte, sich räkelte und `etwas von ihm´ in seinen Laden spritzte – Bacuda war in einem bis dato nicht gekanntem Ausmaß angewidert, da erschien die Polizei...
Eine `Zwei Mann Fußstreife mit Hund´ kam zufällig vorbei, und noch bevor er die Beamten über den Stand der Dinge aufklären konnte, machte der eine schon Meldung – Bacuda hatte nicht alles verstanden, lediglich das eine:
„Äh, wir haben hier `ne `Hülle´, schickt mal die Kollegen von der Feuerwehr...“
`Hülle´ - das war genau das Wort, welches diesen `Haufen Mensch´ umschrieb, `Hülle´, etwas zwar Sichtbares, aber ebenso auch Hohles, `Hülle´, nur Verpackung, keinerlei Inhalt; Bacuda gesellte sich zu seinen neuen `Brothers in Mind´, doch niemand sagte etwas, schweigend erwartete man die Kollegen von der Feuerwehr – und er war irgendwie gespannt darauf, wie die es wohl anstellen würden, `das da´ abzutransportieren, ohne sich zu beschmutzen...
Der Hundeführer hatte ihm erklärt, warum die Kollegen einen Helm mit einem Visier bis unter das Kinn trugen:
„Manchmal erschrecken sich solche Typen, wenn sie geweckt werden – und dann kotzen die einen voll...“
Bacuda protestierte – das könne doch wohl nicht angehen, der Kerl hatte die Hosen gestrichen voll, und auch magentechnisch hatte der sich ja wohl reichlich erleichtert – was, zum Teufel, könne der schon noch `hervorbringen´?
„Nun ja, glauben Sie es mir – dass sind die nervösen Restbestände, die solche Burschen dann mit kräftig Atü unsereinem entgegenhusten, äh, echt wahr...“
Die Kollegen hatten es geschafft, ihn zu wecken – und er hatte es hinbekommen, wenn auch gestützt, die Senkrechte zu erreichen; dann stand er da, mit seinem Plastikeimerchen in der Hand, in dem sich das geschnorrte, schale Bier aus den Tresenauffangbecken der umliegenden Kneipen befand, umzingelt von Feuerwehr, Polizei, einem Hund und Bacuda – und zumindest die Zweibeiner dieses `Kessels´ waren sich einig darüber, dass der `Eimerchenträger´ nur der DNA nach zur gleichen Spezies gehörte!
Nun schritt man zur Tat, der `Hilflose´ sollte hinausgeleitet werden – da drehte der sich noch einmal um, sah Bacuda direkt an, öffnete seinen zahnlosen Mund und lallte, kaum verständlich:
„Ich wünsche dir, dass du dich niemals so fühlst wie ich mich zur Zeit, ich hoffe ehrlich, dass dir das erspart bleibt...“
Und dabei sah er ihn so hoffnungslos verloren an, dass Bacuda von – er wusste nicht, was – durchzuckt wurde – wortlos und spontan hatte er einen Fünfziger hervorgeholt, ihm zugesteckt und von sich selbst ergriffen geraunt:
„Hier, Mann, für dich, äh... – mach´ s irgendwie gut...“
Dann war er zurückgegangen, in seine Bar, die verwunderten Blicke der Beamten wohlig registrierend – es tat halt mächtig gut, anständig zu sein...
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Heute noch konnte er sich genau daran erinnern, wie er sich damals gefühlt hatte – der gute Samariter, er hatte sich seinerzeit nicht entblödet, diese Geschichte stolz und trotzdem bescheiden seinen Freunden zu erzählen; heute wusste er es besser, das war keine Barmherzigkeit, sondern übelstes Pharisäertum gewesen, schlimmer noch, das war damals weder Mitleid n o c h Mitgefühl, sondern kokett zur Schau getragene `Menschlichkeit´, nicht mehr und nicht weniger – denn damals hatte er den `Mann mit dem Eimer´ bereits schon vergessen, bevor der erste Gast seine Bar betreten hatte...
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Und die Geschichte heute, der `k und k – Alte´ und seine kurz und bündige Lebensbeichte, wie verhielt es sich damit, hm?
Nun gut – was ihn persönlich betraf waren seine Lebensparameter in der Totalen nicht mehr mit den damaligen zu vergleichen, auch war der Alte von heute nicht unbedingt vergleichbar mit dem `Eimer´ von damals... – doch war es deshalb tatsächlich zwingend, dass seine Betroffenheit von heute anderen Ursprungs war als seinerzeit, ja, lag nicht eher der Verdacht nahe, dass sich lediglich graduell etwas verändert hatte?
„Mach dir nichts vor – deine Abscheu war heute zumindest gedanklich genauso zynisch präsent wie damals – der Unterschied liegt vielleicht mehr darin, dass du dir heute zugibst, ein echtes `Schwein´ zu sein – und wenn es überhaupt eine Weiterentwicklung gibt, dann ist es die, dass du es heute nicht mehr sein willst!“
Bacuda zupfte sich, diese Erkenntnis befriedigte ihn nicht wirklich – denn der eigentlichen Problemstellung, der er sich mit Verve heute hatte widmen wollen, war er nur ein hauchdünnes Scheibchen näher gekommen; nun gut, äh, was ihn persönlich betraf war ein Ergebnis zu verzeichnen, wenn auch ein in dieser Form nicht gewolltes, äh... – ach was, Bockmist, scheiß´ drauf...
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Viertel nach Eins, auf SAT 1 strahlte `Britt´, tja, und sie strahlte makellos – ausgestattet mit einem Gebiss, das Bacuda sofort wieder daran erinnerte, welche Überlegung er hatte anstellen wollen, als er vorhin von dem `Radler´ recht rüde unterbrochen worden war – und die Frage lautete:
„Wie werde ich wohl aussehen, wenn das Trümmerfeld bereinigt ist – stimmt es wirklich, dass optisch dem Zahnzustand eine solche Bedeutung zukommt oder ist das jetzt eher Wunschdenken?“
Was waren denn das jetzt wieder für Zweifel, die sich da bei ihm einschleichen wollten – Bacuda hasste sich für diese Unart, selbst auf der Hand liegende Tatsachen immer und immer wieder hinterfragen zu müssen, tse... – das alles war irgendwie zwanghaft...
Und obwohl ihm das klar war, konnte er nicht anders, er musste die Probe aufs Exempel machen – das Problem war lediglich, wie man ein strahlend weißes Gebiss simulieren konnte; doch da er ein cleverer, findiger Kopf war, hatte er eine Idee:
Er nahm sich ein weißes Stück Pappe, schnitt zwei schmale Streifen ab und unterteilte diese mittels Bleistiftstrichen, um so zwei Zahnreihen erahnbar werden zu lassen – und dann schob er die Streifen zwischen Lippen und Kieferkamm bzw. noch vorhandene Zahnrudimente; und im Zustand fiebriger Erwartung trat er den Weg vor den Badezimmerspiegel an...
Na ja, bitte sehr, das war doch ein Bild... – nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte konnte er guten Gewissens feststellen, dass „...eine blendend/weiße `Sabberrinne´ ja wohl weitaus mehr hermacht als diese Klötzchenparade, schon dieses Provisorium ist `n echter Kracher!“
Es staubte mächtig auf, als Bacuda glucksend vor Freude seinen Platz auf dem Sofa wieder einnahm – war denn das zu glauben, was selbst zwei Stück Pappe in der Lage waren, aus seinem Gesicht hervorzuzaubern?
Und wenn man sich nun noch vorstellte, braungebrannt und haartechnisch etwas gepflegter der heiß ersehnten Prothese entgegenzukommen, tja, man hätte zum Narziss werden mögen – er war sich sicher, nein, mehr noch, er war überzeugt davon, dass die zahnärztliche Terminierung von heute einen Meilenstein in seinem Leben darstellte; nun würde alles gut, der Anfang war gemacht – und er war gut gemacht, denn er konnte sich noch genau daran erinnern, womit sein Niedergang damals begonnen hatte...
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Der Verlust von Frau, Tochter und sogenannter `Freunde´, der pekuniäre Absturz und das daraus resultierende Ablegen der liebgewordenen Lebensart, der Wechsel von großzügiger Wohnkultur hin zur verkappten Obdachlosigkeit – das alles war es nicht, was ihn geschafft hatte; der wahre Grund war gleichzeitig simpler und komplizierter, nachvollziehbar oder abstrus, real oder fiktiv – der wahre Grund war seine Einstellung zu sich und die Parameter, an denen er sie festmachte!
Bacuda war in den letzten fünfundzwanzig Jahren stets in der Lage gewesen, sich sein Leben selbstbestimmt einzurichten – das war nicht unbedingt sein eigener Verdienst, nein, die Umstände hatten es gut mit ihm gemeint; ein wohlhabendes Elternhaus hatte ihm eine gute Ausbildung beschert, zufällige Koinzidenzen hatte er stets zu seinem Vorteil genutzt, und die menschliche Komponente in seinem direkten Umfeld hatte er grundsätzlich nach optischen Gesichtspunkten bzw. sonstiger Verwertbarkeit völlig unabhängig von anderen ausgesucht bzw. besetzt - und gerade Letzteres war ihm damals entglitten, sein ehrliches Kummergefühl wurde jedoch von der Verletzung seiner Eitelkeit weit übertroffen!
Das alles hatte ihm damals mächtig zu schaffen gemacht, und aus diesem Grund hatte er sich dann auch ziemlich gehen lassen – was trotz allem nicht besonders aufgefallen wäre, da er es immer genossen hatte, trotz sonstiger Erstklassigkeit in Punkto äußerem Erscheinungsbild `ganz auf Penner´ zu machen; und dann waren ihm innerhalb von nur einem halben Jahr die Zähne im wahrsten Sinn des Wortes `verdörrt´, ein paar fielen aus, der Rest wechselte chamäleonartig die Farbe, hm... – alles wurde schlicht dunkler, äh, passend zur Stimmung...
Nun gut, Haare kann man umfrisieren, Kleidung kann man abändern, in Punkto Benehmen war man variabel, wenn man Bacuda hieß – doch der Zustand der Zähne war nur mit Geld und einer gültigen Versicherung zu verbessern, hm, und wenn man beides nicht mehr hatte, sank man unweigerlich auf das herab, was man bisher nur gespielt hatte – auf das Niveau eines Penners!
Und das ist ein gewaltiger Unterschied, er erinnerte sich aufgewühlt, dass er nicht einmal mehr gewagt hatte, ein Mädchen anzulächeln – dabei wäre das vielleicht die Lösung seiner Probleme gewesen, sofort und unmittelbar in die Arme einer anderen `Pissnelke´ zu stürzen, die man dann für alles Ungemach hätte bluten lassen können, was einem von `DENEN´ so zugemutet worden war... – an Unbotmäßigen, Ungeheuerlichem und...
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Halt, halt, halt – er riss sich gewaltsam zusammen, ja, er atmete tief durch und erklärte sich, fast feierlich:
„Nun bitte nicht den Überblick verlieren – was in die eine Richtung funktioniert, klappt auch umgekehrt – lasst mich bloß erst meine neue `Kauleiste´ haben, dann wird der Rest sich schon finden!“
Bacuda prostete mit einem `letzten´ Schlafbier der schönen Britt zu, und seine Gedanken spielten verrückt – auch oder gerade solche Frauen standen auf Typen, die wirklich harte Kämpfer waren, den Unbilden des ganz profanen Lebens beinhart trotzten, sozusagen der `Schattenseite des Lebens den Sonnenbrand abgewannen´ - es waren schlussendlich immer die Männer, die völlig unkonventionell lebten, die eben genau das hatten, was diese `Babies´ mehr als alles andere bewunderten – eben die Fähigkeit, überlebend zu denken...
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„Körperliche Mankos kann man heutzutage jederzeit korrigieren, aber wenn du intellektuell `Luft ziehst´, tja, da ist dann einfach nichts zu machen, bräsig bleibt bräsig, da hilft dann alles nichts!“
Diese Erkenntnis hatte Bacuda in die Wagerechte begleitet, doch er konnte nicht einschlafen – trotz bleischwerer Müdigkeit wälzte er sich nur unruhig hin und her; im Fernsehen lief gerade der `halb Zwei Werbeblock´, mit Ton, eine Zumutung für jeden auch nur halbwegs intelligenten Menschen – irgendwelche Schicksen hauchten gerade abstoßend melodiös `Der große Bauer...´, er erinnerte sich an Tom `s Stimme aus dem `Off´: „Birgit, du Joghurt – Luder...“ – das war brechreizverursachend!
Er zwang sich dazu, seine Augen geschlossen zu halten, und das aus gutem Grund – denn er hatte im Laufe der Zeit festgestellt, dass Belästigungen dieser Art für ihn weitaus erträglicher waren, wenn er sie sich in der von ihm so bezeichneten `Ein – Sinn – Strategie´ zumutete:
Entweder er sah, ohne zu hören, oder er hörte, ohne zu sehen – fühlen, schmecken und riechen waren diesbezüglich ohnehin keine Optionen, äh, eigentlich schade, wenn er an diese `Britt´ dachte, denn in ihrem Fall...
Bacuda fragte sich ernsthaft, ob die jeweiligen Firmen, deren Produkte beworben wurden, überhaupt eine Ahnung davon hatten, was diese `Werbeagenturfritzen´ ihnen für viel Geld tatsächlich antaten – denn was ihn persönlich betraf, so hungrig könnte er gar nicht sein, als dass er sich so etwas wie `den großen Bauer´ einatmen würde, nicht für Geld und gute Worte, nicht einmal geschenkt – eher würde er `Kakaopulver´ essen, hm, und in dieser Hinsicht wusste er genau, wovon er sprach...
Trotz aller Empörung dachte er noch rational, er gab sich zu, bezüglich dem Durchschnittsbürger, dem Pöbel und erst recht dem Abschaum nicht im Bilde darüber zu sein, wie solche `Leute´ diese Art von Werbung empfanden, weshalb er das Gedachte relativierte – natürlich, Menschen wie er waren in der Unterzahl, das Hauptkontingent der Bevölkerung stellten die Primitivlinge, männlich wie auch weiblich; und die sprach dieser Schwachsinn scheinbar an, wie sonst wären die horrenden Summen, die investiert wurden, wieder einzufahren – aber wo blieb da die Gleichberechtigung, hm? Denn nur aus dem Grund, weil dieses Pack eine gut zu melkende Zielgruppe war, musste man sich als `mündiger Bürger von Format´ massiv anöden lassen, eigentlich stellte das eine bodenlose Unverschämtheit dar – Bacuda schnob!
Das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen... – Leute, die in jeder Hinsicht so wirkten, als hätten sie erst vor einer Viertelstunde den aufrechten Gang entdeckt, gaben die Schlagzahl vor, ihre Massivität war ihr Vorteil, Quantität erdrückte Qualität; und jeder einzelne `Quant´ hatte das gleiche Stimmrecht wie ein `Bacuda´, das war strenggenommen nicht akzeptabel – dieses `Heer von Kopffüßlern´ bestimmte per Wahl, in welcher Form man regiert wurde, das war geradezu infam!
Bacuda lag zwar noch, aber er trank schon wieder – das `Drei – Klassen – Wahlrecht´ war natürlich keine Alternative, Klerus, Adel und Bürgertum, unterschiedlich gewichtet; damals hatte der `Plebs´ keine Rolle gespielt, und auch die Frauen waren völlig leer ausgegangen; eine solch radikale Wiedereinführung war nicht durchsetzbar, außerdem auch nicht zeitgemäß – Klerus und Adel, heutzutage unbedeutende Randgruppen, doch was den `Plebs´ anging, war das schon ein Schritt in die richtige Richtung, richtig?
Richtig... – doch das alles war damals viel zu statisch, da müsste man mehr Geschmeidigkeit hineinbringen – wie wäre denn zum Beispiel Folgendes:
Selbstverständlich hatte jeder volljährige Bürger – ob weiblich oder männlich – weiterhin uneingeschränktes Wahlrecht, doch die Neuerung wäre die, dass es sich ab sofort um ein sogenanntes `Quotientenwahlrecht´ handeln würde – und die Neuerung bestand darin, dass der ermittelte Intelligenzquotient ausschlaggebend war für die prozentuale Wertigkeit der abgegebenen Stimme, ähnlich so wie bei den Skispringern – was deren `Schanzenkalkulationspunkt´ war, das verstand man im Wahlbereich als Richtgröße `IQ 100´, alles streng gleichberechtigt ermittelt Niedrigere gab Abzüge, alles darüber hinaus Erzielte gab Zuschläge – das wäre fair, sozusagen über alle immer noch bestehenden finanziellen Klassenschranken hinweg, ein hinzugefügter Parameter, der eines mit Sicherheit garantierte – dass nach Auszählung der Stimmen Quantität und Qualität prozentual näher zusammenrückten, ein unbedingtes Plus für jeden noch so obskuren Staat, strenggenommen wäre das eine Hommage an das unbestreitbar richtige geflügelte Wort von wegen:
„Geist siegt über Muskelkraft!“ – na bitte...
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Schon viertel vor Zwei, Bacuda war jetzt völlig aus dem Häuschen, das letzte Bier war scheinbar des Guten zuviel gewesen – übermüdet und rechtschaffend `trumbunken´ prostete er der schönen Britt zu, mit den Worten:
„Warte es ab, Baby – in spätestens acht Wochen strahlen wir beide um die Wette, und hier mein Angebot: Sollte es dich jucken, dann lass mich bitte dein Kratzer sein, du wirst es nicht bereuen – du wirst erstrahlen wie ein Weihnachtsbaum, das schwöre ich dir – ein dreifaches: Huldrio!“
Er lachte lallend, irgendwie verlegen, doch ungeküsst sollte man nicht schlafen gehen – er verspürte ein wohliges Ziehen in der Magengegend, dass er unschwer als das identifizierte, was es war; und er wollte es sich gerade `gemütlich´ machen, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde...
Leise fluchend ordnete er sich, verdammte `Dritte Welt´ - sie kamen zu viert, denn dieses mal war auch der `Chef´ dabei, ein dürres Gerüst namens `Son´; und der fühlte sich scheinbar hier zu Hause, ohne zu klopfen und sämtliche asiatische Zurückhaltung vermissen lassend stürzte er in Bacudas Wohnraum und nahm neben ihm Platz, der `Brittverliebte´ musste sich doch sehr wundern – doch dann lächelte der Vietnamese ihn freundlich an, klopfte ihm vertraulich auf die Schulter und fragte bemüht:
„Bacuda – gut alles – fit, hä?“
Er nickte, er gab dem Asiaten zu verstehen, sich niemals besser gefühlt zu haben – da wurde `Son´ nachdenklich, er runzelte die Stirn, zeigte auf den `Bacuda Tower´ und sagte vorwurfsvoll:
„Bacuda pfui – pfui, Trash pfui – pfui, pfui, pfui – Frau Son kommen...äh, weg Pfui...“
Da brach ihm der Schweiß aus – das durfte ja wohl nicht wahr sein, selbst der `Schmuggellümmel aus Asien´ fing damit an, ihn zu bemitleiden, der wollte doch tatsächlich seine Frau vorbeischicken, um sauber zu machen; Bacuda stand auf und straffte sich, er überragte diesen `Son´ nun um fast zwei Köpfe, dann sagte er streng:
„Son im Irrtum – nix pfui, das Kunst - `Mona Lisa´, Kunst – verstehst du das, du Dumpfmeister, hm?“
Er spürte, dass dieser `Vietnamese´ nur freundlich sein wollte, als er, nicht im Geringsten überzeugt, verstehend nickte:
„Ahhhh – Bacuda Kunst macht..., äh, ahhhhh...“
Er nickte freundlich mit dem schlanken Kopf, und der deutsche `Partner´ war beschämt – mein Gott, der Dürre hatte ja recht, hier sah es aus wie bei den sprichwörtlichen `Hempels´, ein weniger resistenter Organismus als der seine würde hier die Krätze kriegen – und obwohl nur der strahlende `Son´ vor ihm stand, dachte er ernüchternd:
„Was würde Britt dazu sagen, obwohl sie sich tag/täglich mit dem Abschaum beschäftigt, das hier würde sie nur schwer verdauen – äh, ich bin mir sicher, in meinem Fall wäre sie erschüttert...“
Bacuda, Britt und Son – auch solch ein `Triumvirat´ konnte einiges verzerren, das dämmerte ihm so langsam, als er den Vietnamesen mit sanftem Druck aus seinem Zimmer schob; dann legte er sich wieder hin, während seine `Partner´ die Wohnung verließen – doch vorher hatte er noch umgeschaltet, weg von der Geliebten, hin zu der Verhassten – denn jetzt startete Bärbel Schäfer, und er wusste genau, dass er erneut keinen Schlaf finden würde...
Denn wenn Bacuda etwas inbrünstig hasste, dann war es die Lüge, die zum System erhoben wurde – und exakt das konnte er bezüglich `Bärbel Schäfer´ nicht mehr ausschließen – er hatte klare Beweise!
Es war erst ein paar Tage her, da hatte sich folgendes abgespielt:
Seinem `natürlichen´ Rhythmus folgend war er um kurz nach Zwei bei dieser Dame eingetroffen, rein visuell, ohne Ton, versteht sich – und da hatte ihn fast der Schlag getroffen, denn wer saß da gleich auf dem ersten Stuhl, untertitelt mit `Gisela, Hausfrau aus Bremen´, ja, war es denn zu fassen – seine Exfrau Gina, Italienerin und bestimmt keine Hausfrau, hm, und aus Bremen schon mal gar nicht!
Obwohl er dann den Ton zugeschaltet hatte war es ihm nicht gelungen, exakt herauszufinden, worum es überhaupt ging – denn es herrschte ein Gekeife vor, dass es schon nicht mehr schön war; drei Frauen, dann unser `Bärbelchen´ und ein Thema, dass irgendetwas mit Polygamie zu tun haben musste – Bacuda war vor Scham rot übergossen, obwohl er allein war konnte er es nicht ertragen, dabei zuzusehen, wie sich die Mutter seiner Tochter freiwillig auf das Niveau des Abschaums begab – weshalb er kurzerhand den Apparat ausgeschaltet hatte; in Schweiß gebadet hatte er das Radio angemacht und sich ein Bier aufgemacht, ein erster Schluck beruhigte ihn in soweit, dass er sich nunmehr in die Lage versetzt sah, dieses Fiasko gedanklich zu hinterfragen...
War Gina denn verrückt geworden? Nicht nur, dass sie ein Teil der `Blödenparade´ war, an der sich das Pack zu Hause ergötzte, nein – sie segelte auch noch unter falscher Flagge, ein Stück aus dem Tollhaus!
Warum tat sie so etwas? Welchen Grund hatte sie, all´ das über Bord zu werfen, was in den sieben gemeinsamen Jahren mit ihm unverbrüchliche Werte dargestellt hatten – oder lag es eben genau daran?
Das war vielleicht ein Gesichtspunkt – bedingt dadurch, dass sie gut zehn Jahre jünger war als er, war sie ihm eigentlich all´ die Jahre hindurch regelrecht gläubig gefolgt, hm, zumindest im spirituellen Sinn; und dann hatte sie ihn ausgeschifft, vor gut drei Jahren – Bacuda hatte seine eigene Theorie darüber, wie solch ein momentanes Fehlverhalten zu erklären wäre...
Wie wäre es denn zum Beispiel damit:
Stellte man sich Intellektualität gepaart mit höchstem Niveau als eine physische Masse vor, die, sofern sie nicht täglich unterfüttert wurde, durch Blödheit und Vulgarität proportional zum Grad derselben stetig abnahm – dann hatte man es, er hatte zwar seinerzeit einen ziemlichen Batzen zurückgelassen, aber auch der war nur eine endliche Größe – und dieser Batzen schien aufgebraucht zu sein, ja, und nicht nur das...
Denn mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der man diesen Batzen auf Null gebracht hatte, rauschte man nun in den Minusbereich – und es gab scheinbar keinerlei Regulativ, nichts und niemand, das diesen `freien Fall in ungeahnte Tiefen prähistorischer Froschscheiße´ aufhalten konnte!
Bacuda hatte sich all´ die Jahre nichts vorgemacht – es war nicht Ginas geistiges Format gewesen, das dafür verantwortlich gezeichnet hatte, dass sie beide die gleiche differenzierte Meinung bezüglich der Welt und der menschlichen Existenz hatten, nein, nein, weit gefehlt; es war vielmehr ihr Unverständnis und die daraus resultierende Sprachlosigkeit, die es ihm gestattete, sich vorzumachen, dass „...wir beide irgendwie eins sind!“
Nun gut, man konnte nicht alles haben – warum auch, für ihn persönlich kam es ohnehin auf das Selbe hinaus; und eine Begleiterscheinung dieser Erkenntnis war damals die, dass er sich ihrer vollkommen sicher war – ein katastrophaler Fehler, er erinnerte sich mit Unbehagen...
Die letzten zwei Jahre ihrer Beziehung hatte er sich hemmungslos ausgelebt, er kam, wann er wollte, er ging, wann es ihm passte und er trank, was hineinging – das waren selbstverständlich die besten Voraussetzungen für ein harmonisches Familienleben, äh, ganz ohne Frage...
Die Kleine war damals gerade auf der Welt, und ihn zwickte noch heute sein Gewissen – nicht nur, dass er die beiden Mädels damals hatte schändlich allein gelassen, nein, auch schon während der Schwangerschaft hatte er in einem Ausmaß versagt, das jeder Beschreibung spottete!
Bacuda konnte das alles bis zum heutigen Tag nicht verstehen, entsprach es doch in so gar keiner Weise seinem eigentlichen Charakter – und auch seine Erklärungsversuche, von wegen „... ich wollte nie ein Kind, ich weiß auch gar nicht, wie man sich in einem solchen Fall verhält!“ - überzeugten nicht einmal ihn selbst; denn nachdem die Entscheidung für das Kind gefallen war, hätte er sich nur an die zahllosen Filme erinnern müssen, die er gesehen hatte, in denen es um die Pränatalphase ging – mit dem Ohr auf den Bauch, permanentes Streicheln des selben, diesem Körperteil der Frau zugewandtes `Liebesgeflöte´ - eben das volle Programm, er gab sich zu, dass er das draufgehabt haben würde, wenn er es nur gewollt hätte!
Doch nichts von alledem hatte Bacuda seinerzeit unternommen, er war Gina und dem `Bauch´ regelrecht aus dem Weg gegangen, ja, er hatte die `Beiden´ gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser; und auch den Tag der Geburt seiner Tochter hatte er in unangenehmer Erinnerung, hm... – ihm war heute noch stark präsent, wie er sich damals gefühlt hatte...
Die meisten Männer schildern solche Tage als die ergreifendsten Momente ihres Lebens, geradezu heimgesucht von Wallungen des Glücks, wohlig erschüttert von der Vorstellung, ab jetzt `Vater´ zu sein – er memorierte da völlig anders, ihn hatte nichts ergriffen, ihn hatte etwas gepackt – und zwar die nackte Angst, eiskalte Panik und die schwitzige Furcht vor dem, was jetzt unweigerlich kommen musste!
Nichts mehr würde so sein wie bisher, die Tage bekamen einen anderen Rhythmus, Schreierei und weinerliches Krähen, hilfloses Brüllen im Wechsel mit glucksendem Spucken, und auch die Musik musste in einer Lautstärke abgespielt werden, die gewährleistete, dass das `Babyphon´ immer und überall zu hören sein würde – von der ab jetzt in Permanenz laufenden Waschmaschine einmal ganz abgesehen war das alles nicht gerade das, was er unter einem `angenehmen Dasein´ verstand; denn das alles lief auf etwas hinaus, was er mehr hasste als alles andere auf der Welt – nämlich darauf, `Verantwortung übernehmen zu müssen´!
Tja, und nach zwei Jahren der Negation seinerseits, ein Vater zu sein, hatte sie ihn eines Abends beiseite genommen, um ihm eine Geschichte zu erzählen – und die lautete folgendermaßen:
„Also, du weißt ja, dass ich vom Sternzeichen her `Skorpion´ bin, äh, und jetzt erzähle ich dir mal eine Geschichte von einem Skorpion! Wie ja allgemein bekannt ist gehört der Skorpion zur Familie der Spinnen, und dementsprechend kann er nicht schwimmen, also:
Es war einmal ein Skorpion, der am linken Flussufer entlang spazierte und sich fragte, wie er denn wohl auf die rechte Seite gelangen könnte – denn da wollte er hin, und wie es das Schicksal so wollte, traf er einen Frosch, der sich in der Sonne aalte! Da hatte der Skorpion eine Idee, er fragte den Frosch:`Eh, Frosch, könntest du wohl so lieb sein, und mich auf die andere Seite des Flusses bringen, ich muss nämlich dringend dorthin – wärst du so gut?´ Doch der Frosch lachte ihn aus, er blinzelte und sagte: `Eh, Skorpion, ich bin doch nicht wahnsinnig – denn kaum sitzest du auf meinem Rücken, tja, dann wirst du mich stechen und ich bin tot – nein danke, muss ich nicht haben!´; der Skorpion war betroffen, überlegte kurz und sagte dann zu dem Frosch: `Das ist doch Unsinn – denn wenn ich dich steche und du stirbst, dann gehe ich ebenfalls unter und ersaufe – das wäre doch blöd, oder?´; da wurde der Frosch nachdenklich, denn das leuchtete ihm ein – und, gesagt, getan, er nahm den Skorpion auf seinen Rücken und schwamm los... – und alles ging gut, bis zur Mitte des Flusses, wo es am tiefsten war – da stach der Skorpion zu, und der Frosch fragte noch, im sterbenden Untergehen: `Warum hast du das gemacht?´ - und der Skorpion, ebenfalls sterbend, weil ersaufend, antwortete: `Weil ich ein Skorpion bin!´ - Ende der Story - verstehst du, alter Freund, was ich damit sagen will?“
Sie hatte ihn damals mit Tränen in ihren schönen, braunen Augen angeschaut, und Bacuda hatte – ebenfalls mit einem Kloß im Hals – geantwortet:
„Um bei den Märchen zu bleiben, die `Bremer Stadtmusikanten´ - mehr als den Tod findest du überall, du willst, dass ich gehe...“
Dann hatten sie sich schluchzend umarmt, eine ganze Weile, bis sie erneut initiativ geworden war – sie hatte ihn recht brüsk von sich geschoben, ihre Tränen fortgewischt und mit fester Stimme verkündet:
„Zuerst dachte ich, du liebst den `Rock `n Roll´, dann spürte ich, du lebtest ihn – doch heute weiß ich: Du bist `Rock `n Roll´, äh, und auf deinen `Rock `n Roll´ habe ich keinen Bock mehr, also – fuck off!“
Da hatte er sich wortlos seine Lederjacke angezogen und war gegangen, um stumm und allein Abschied zu nehmen – was für eine Frau, hm, und was für eine dämliche Geschichte...
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Und heute, mehr als drei Jahre später, wurde er Zeuge eines solchen Auftritts – sie als `Bremer Hausfrau Gisela´ zu Gast beim `Bärbelchen´, einer Person, die sich tatsächlich vorstellen konnte, wirklich wichtig zu sein – Bacuda war entsetzt;mehr als tausend Tage und Nächte, und er wusste immer noch nicht, wie er zu empfinden hatte – und jetzt so was, hm, war irgendwie ein `Schwanengesang´...
Nun gut, man sollte fair bleiben – denn wenn man etwas verloren hatte, ohne es zu wollen, neigte man zur Glorifizierung – und dieser dann imaginär erreichten Höhe konnte so gut wie niemand gerecht werden!
Doch auch, wenn er diesen Umstand in Rechnung stellte, fehlten ihm die Worte – er musste sich anscheinend mit dem Gedanken vertraut machen, dass diese Frau zwar `Gina´ war, aber nicht mehr die `Gina´, die seine Frau gewesen war – und Bacuda nahm ein zweites Mal Abschied, dieses Mal jedoch ohne Lederjacke...
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Zurück in der Realität, es war immer noch September, ein ganz stinknormaler Dienstag – und diese Bärbel war wieder einmal `on air´, er konnte einfach nicht begreifen, dass man mit dieser Art von Betrug so einfach durchkam; er stellte sich vor, ein Kollege dieser Bärbel zu sein, mit einer eigenen `Show´ - der gleiche Abschaum als Klientel, aber mit ehrlicher Legende, da wäre er doch mächtig sauer, wenn da jemand das Gefühl beschmutzte, dass der Zuschauer hatte, wenn er sich darüber klar wurde, dass dieser `Schmutz´ tatsächlich existierte – denn worum ging es denn hier eigentlich:
Es ging um die Intensität des Gefühls von Überlegenheit – und die konnte das Pack nur dann empfinden, wenn es sich hundertprozentig darüber im Klaren war, dass dieser besichtigte Pöbel real, und nicht gespielt war – denn wenn dem nicht so wäre, könnte man sich auch gleich `Die Unverbesserlichen´ anschauen, hm, mit dem göttlichen Joseph Offenbach:
„Du, Käthe, ich danke dir – ich danke dir wirklich, ich glaube, manchmal unterschätze ich mich tatsächlich!“... – ganz einfach nur w u n d e r v o l l ...
Bacuda schloss seine Augen, er wollte das alles nicht sehen, er war wild entschlossen, nur durch das `Zuhören´ in einen gnädigen Schlaf zu fallen – doch irgendwie war heute Mittag der Wurm drin, er hörte die Stimme dieser Bärbel, erinnerte sich an Gina und vermisste die kleine Angela, seine Tochter – eigentlich ein Unding, denn wie konnte das sein - als er noch ein Teil dieser Familie gewesen war, hatte er seinen Nachwuchs lediglich als Störfaktor empfunden – und jetzt so was, hm?
Er lag rücklings und starrte die Zimmerdecke an, er hatte sich eine Zigarette angezündet und beobachtete, wie der Rauch aufstieg und sich dann in konzentrischen Kreisen über die Decke ausbreitete – kein Wunder also, dass die so ätzend aussah, ihm wurde klar, dass er in absehbarer Zeit hier einmal würde den Pinsel schwingen müssen; und allein die Vorstellung, körperlich aktiv zu werden, verursachte ihm Übelkeit...
Weg vom Profanen, hin zum Wesentlichen – warum vermisste man etwas erst dann, wenn man es verloren hatte? Und in seinem Fall – vermisste er tatsächlich seine Tochter als Person, oder war es eigentlich eher so, dass sie ein Synonym dafür war, was er unter `Verlust´ verstand? War nicht gar die Tochter eine Variable für Gina? Denn, zuzugeben, dass er seine Exfrau vermisste, tja, das verbot ihm sein Chauvinismus – und wenn man den Faden logisch weiterspann, waren nicht gar beide nur eine Personifizierung eines sächlichen Umstandes – standen die Zwei nicht eigentlich nur stellvertretend für das, was er unter einem `guten Leben´ verstand?
Bacuda war ganz aufgewühlt, eben so wie jedes Mal, wenn er gedanklich retrospektiv unterwegs war – verdammt noch mal, warum machte er das, immer und immer wieder, die Auslöser waren unterschiedlich, doch das Endergebnis immer das Selbe – ein larmoyantes, vor Selbstmitleid triefendes, verlogenes Bekenntnis darüber, die alleinige Schuld an seiner momentanen Misere zu tragen, ja, über den Punkt, Schuldige zu suchen und zu finden, war er seit geraumer Zeit hinaus, und trotzdem – das hier war auch kein Weg, keine Lösung, hm, das alles machte ihn nur irgendwie weicher...
Überhaupt Verlust – war nicht gar das Leben an sich geprägt von dem, was man unter Zugewinn und Verlust verstand, ja, war es nicht stellenweise so, dass aus einem anfangs empfundenem Verlust ein späterer Glücksfall wurde, der einem den Eintritt in etwas Neues, ganz Wunderbares erst ermöglicht hatte?
Nun gut – seit seinem Rausschmiss vor drei Jahren war ihm nicht gerade das wiederfahren, was man als `Glücksfall´ bezeichnen konnte – aber er hatte da ein paar Erfahrungen machen dürfen, auf die er mittlerweile nicht mehr verzichten wollte – zum Beispiel seine Behausung in Kreuzberg, dieser `Subsummierung allen Ekelhaftem´, wenn er daran nur dachte, wurde ihm heute noch ziemlich blümerant...
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Das war nun ca. zwei Jahre her, er war damals das gewesen, was man einen `Strohmann´ nannte – wie gesagt, in Berlin lag das Geld praktisch auf der Strasse, man musste nur bereit sein, `kleinere´ Risiken einzugehen!
Sein Risiko hieß damals Jozo, war Serbe, Bauarbeiter und nicht berechtigt, sich selbständig zu machen; doch er verfügte über exzellente Verbindungen, was die Beschaffung von Aufträgen betraf – aber an die richtigen `Schätzchen´ kam er nicht ran, ihm fehlte ein Firmenmantel – und da war er ins Spiel gekommen!
Denn eines musste man Bacuda lassen – er war geradezu ein `Glücksritter´, was die richtige Zeit, den richtigen Ort und die richtige Person betraf – so auch dieses Mal, er hatte völlig abgebrannt und ohne feste Bleibe mit seinem Klamottentäschchen in seiner Stammkneipe gekauert, als er durch Zufall diesen Jozo kennengelernt hatte; und da es seine Taktik war, neue Bekanntschaften unmittelbar auf ihre `Verwertbarkeit´ hin zu untersuchen, war man sich nach zwei Stunden bereits einig gewesen – sie waren Partner, dass neu zu gründende Unternehmen würde man `BB – Bacuda Bau´ nennen, und in der in den nächsten Tagen zu erstellenden Eröffnungsbilanz nahmen die Bewirtungskosten von heute den ersten Kostenposten ein, tja... - `Money for nothing, and the chiks for free...´ - na ja, eben etwas in der Art...
Dieser Jozo war damals echt erschüttert, als er von seinem Ungemach hörte – und da er seine neue `Investition´ schützen musste, hatte er ihn in einer Pension untergebracht und mit ein paar hundert Mark flüssigen Mitteln ausgestattet – und nachdem Bacuda geduscht hatte, war er, regelrecht euphorisch, formidabel essen gegangen, hm... – war das Leben nicht schön, was?
Wie auch immer – einige Tage später, die Firma war gegründet und die ersten `Einstellungen´ erfolgt, und auch die `AOK – Unbedenklichkeitsbescheinigung´ hatte man sich besorgt – da hatte ihm dieser Jozo eine neue Bleibe besorgt, selbstredend nur für den Übergang; denn diese Bude, in die er da verfrachtet worden war, entsprach in jeder Hinsicht seinen schlimmsten Alpträumen...
Anfangs fiel es ihm schwer, `das da´ überhaupt zu glauben – denn es entsprach zu sehr dem Klischee von `Ganz unten´, Bacuda war in einem Ausmaß schockiert, dass ihm zuerst die Worte fehlten!
Man musste sich diese `Wohnung´ folgendermaßen vorstellen:
Süffiger Hinterhof, kleines, beengtes, übelriechendes Treppenhaus mit Holzschwellen aus dem Gipskrieg, dritter Stock, rechts – und da begann dann das, was er schlussendlich für die nächsten sechs Monate sein `Zuhause´ nennen würde – eine unglaubliche Zumutung...
Ein dunkler, langer, schlauchähnlicher Flur, der in der Toilette endete, kopfseitig gesehen – und diese Toilette war ein `Scheißhaus´ übelster Ausprägung, man sah dem Trichter und der lieblos integrierten, ambulanten Dusche förmlich an, dass hier seit Jahren nicht mehr sauber gemacht worden war – wie gesagt, Bacuda war hart im Nehmen, aber das hier sprengte jeden auch nur halbwegs zu akzeptierenden Rahmen! Und auch die Küche – nein, strenggenommen war das lediglich der Küchenraum, denn sämtliche elektrischen Geräte fehlten oder waren defekt, die gesamte übrige Einrichtung stand wie zur Abholung bereit in der Mitte des Raumes aufgestapelt – Bacuda rang um Fassung!
Und dann war da noch der Wohn/Schlafraum, ebenfalls in katastrophalem Zustand – er konnte es kaum glauben, scheinbar hatte hier ein Wanddurchbruch stattgefunden, der riesige Haufen herausgebrochener Steine ließ zumindest darauf schließen, hm, und auch die Mörtelhaufen waren bezeichnend; an der Wand stand ein Sofa, zwei Sessel und ein Tisch rundeten dieses Ensemble ab – und auf dem Tisch war eine Fernseher/Radiokombination postiert, die Bildschirmgröße hatte das Format eines Bierdeckels, und selbstverständlich – bildröhrenseitig! – nicht in Farbe, sondern in schwarz/weiß, wie gesagt:
Herzlich willkommen in der Welt des Abschaums – denn auch seine `Nachbarn´ waren ein ungeheurer Pöbel!
Zum Glück war es Sommer, die Fenster waren geöffnet und irgendwo zwitscherte sogar ein Vogel – und just in diesem Augenblick war Bacuda schlagartig klar geworden, dass er jede Art von Selbstbestimmung verloren hatte!
Er sah den genervt wirkenden Jozo, er empfand `instinktiv´, hier und jetzt keinen Fehler machen zu dürfen – zum Beispiel einen Spruch abzusondern wie – „Gegen diesen Saustall ist ein Obdachlosenheim ein Prunkbau!“, tja... – das könnte ihn seine `Existenz als Strohmann´ kosten; nun gut, diese Wohnung war ein Fiasko, aber allemal besser als eine Adresse wie `...Bacuda, männlich, unter der Brücke links, Karton vier!´ - nein, danke vielmals... - und außerdem, der ihm zugedachte monatliche Barbetrag stellte ein Vielfaches des Sozialhilfesatzes dar, hm, man musste jetzt einfach mal etwas flexibel sein...
Ergo machte er gute Miene zum bösen Spiel, eine Frage war ohnehin erlaubt: Wofür brauchte er eigentlich eine Wohnung?
Doch wohl lediglich zum Schlafen, hm, na also, bitte sehr – und für die nötige Hygiene war öffentlich gesorgt, es gab Waschsalons, es gab Schwimmbäder – wer sagt `s denn, also, na bitte:
„Nicht gerade üppig, aber ein Zuhaus...“
Diese wohl dosierte Aussage schien auch dem Jozo zu genügen, denn nun fühlte der sich genötigt, mit schon fast um Entschuldigung bittendem Tonfall ihm diese Behausung als in jedem Fall temporär stark begrenzt zu offerieren – und damit waren dann alle zufrieden, die gesamte `Führungsebene´ der Firma `BB – Bacuda Bau´...
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Er erinnerte sich, dass er damals nicht lange dafür gebraucht hatte, seine neue Bleibe in diesem Kontext zu akzeptieren – womit er sich jedoch erheblich schwerer getan hatte waren die Mitbewohner dieses Hauses - da gab es zum Beispiel einen gewissen Herbert, Mitte fünfzig, eine ungeheure Type!
Diese Berliner Wohnhäuser waren so angeordnet, dass sich um den Hinterhof zwei Seiten - , ein Hinter – und ein Vorderhaus zur Strasse hin drapierten, er selbst wohnte im Seitenaufgang links – ebenso wie dieser Herbert, der jedoch zwei Etagen über ihm hauste; und in diesem Vorderhaus gab es das `Cafe Blüte´, ein `rund um die Uhr´ Laden, `ne ziemlich heruntergekommene Kneipe, der man schon `anroch´, dass die vorgeschriebene `Putzstunde´ niemals eingehalten worden war – dementsprechend war auch das Publikum, und schon am ersten Abend hatte er diesen Herbert zur Kenntnis nehmen dürfen...
Bacuda hatte den gesamten ersten Tag damit verbracht, sein neues Wohnumfeld zu sondieren – ein Bierchen hier, ein Schnäpschen da, ja, sogar eine `Mini Pizza Salami´ hatte er sich gegönnt; dann war er im Bilde gewesen, diese Gegend war in der Totalen das, was er als `arm´ bezeichnete – selbst den Geruch empfand er als signifikant, alles roch hier irgendwie nach `Pipi und Sauerkohl´!
Ein letztes Bier, ein letzter Schnaps, dann hinauf, um die Couch einzuweihen – das war sein Plan gewesen, als er das erste Mal das `Cafe Blüte´ betrat; doch dieses `Kaleidoskop der Grauzone´ hielt ihn regelrecht am Tresen fest, damals erkannte er noch nicht, warum das so war...
Die Musik kam aus einer Musicbox, und nachdem er sich durch ein paar von ihm ausgewählte Rocksongs identifiziert hatte, fühlte er sich schon fast heimisch – da entdeckte er diesen Herbert, der verzweifelt versuchte, seinem `Glück´ an einem Geldspielautomat auf die Sprünge zu helfen!
Selbstverständlich war das ein völlig sinnloses Unterfangen, Bacuda erkannte mit einem Blick, dass dieser Kerl ein totaler Verlierer war – wie der schon aussah, wie er da wie wild auf die Knöpfe drückte, diesen Knecht umgab die Aura einer vollkommenen Null; und während er ihn angewidert betrachtete musste er erkennen, dass diesem `Herrn´ just in dem Moment ein Malheur passierte; Bacuda konnte es nicht fassen, unwillkürlich irrte sein Blick auf dem Boden herum, er suchte regelrecht das `Eimerchen´... – doch irgendwie durchzuckte ihn eine menschliche Regung, die ihn veranlasste, zu diesem Herbert zu gehen und ihm zuzuraunen:
„Hören Sie, Sie sollten die Toilette aufsuchen, äh, Sie `machen´ bereits...“ - weiter kam er erst gar nicht, denn der Herbert blaffte ihn ungehalten an:
„Wat willst du denn, det trocknet och wieder – und jetzt lass mer in Ruhe, verpiss dir!“
Wie betäubt war Bacuda zum Tresen zurückgeschlichen, er schüttelte angewidert mit seinem Kopf, so dass die Barfrau ihn fragte:
„Wat war denn?“
„Nun ja, ich habe den Herrn nur darauf aufmerksam machen wollen, dass er scheinbar an Inkontinenz leidet...“
„An wat leidet der?“
„Er pisst sich gerade ein!“
„Ja, ja, det is der Herbert, det macht der ständig, keene Panik, mein Kleener...“
Aha, nun gut, wenn dem so war... – und tatsächlich, jedes Mal, wenn er ihn in den darauffolgenden Wochen sah, da war der Herbert manchmal nass, manchmal trocken, doch eine Konstante gab es zumindest – er trug immer die selbe Hose...
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Im Laufe der Zeit hatte man ihn dann darüber aufgeklärt, warum der Herbert vollkommen die Orientierung verloren hatte – denn eigentlich war der noch verheiratet, wenn auch getrennt lebend – und einen leicht geistig behinderten Sohn hatte er ebenfalls; und obwohl Bacuda es nicht wollte, erinnerte er sich immer wieder an eine Geschichte im September vor zwei Jahren, an einem Sonntag – es war eine `Begegnung der unaussprechlichen Art´ gewesen...
Angefangen hatte alles Sonntagmorgens gegen neun Uhr – Bacuda war auf dem Weg in die `Blüte´ gewesen, als er auf der Treppe der ersten Etage den Herbert aufgefunden hatte – in einer Position bzw. einem Zustand, der selbst für einen Penner wie ihn bemerkenswert war!
Denn er lag mit ausgebreiteten Armen über die Treppenstufen verteilt, mit dem Kopf nach oben – und links neben ihm war auf dem Treppenabsatz ein Sechserpack Bier postiert, rechts neben ihm seine Schuhe – und seiner Hose sah bzw. roch man an, dass sie dieses Mal die `volle Packung´ abbekommen hatte!
Bacuda schrak zurück, dann blickte er hasserfüllt in `des Penners Konterfei´ – wobei er feststellte, dass der Herbert mit seiner linken Gesichtshälfte im eigenen Erbrochenen lag, ah ja... – und ganz kurz, aber wirklich nur ganz kurz schoss ihm folgender Gedanke durch den Kopf:
`Ein Tritt aufs Genick, und wir alle haben es endgültig hinter uns!´
Selbstverständlich setzte er diesen Gedanken nicht in die Tat um – Luft anhalten, sich so an ihm vorbeidrücken, dass auch nichts von alledem auf seine Schuhe kam und fluchtartig das Treppenhaus verlassen, das war praktisch alles eins; und draußen dann, im Hof, an der frischen Luft, erinnerte er sich an den `Eimerchenträger´, doch er gab sich zu, dass es nicht das Gleiche war – denn den hatte er damals aus `wirtschaftlichen´ Gründen entsorgen lassen, heute hingegen lebte er mit solchen `Menschen´ unter einem Dach...
Doch das war lediglich der Anfang eines abscheulichen Vormittags, denn etwas später hatte er in der `Blüte´ die Frau und den Sohn von unserem Herbert erstmalig zur Kenntnis nehmen dürfen – er hatte seinen Zechkumpanen gerade lautstark von „...diesem Stück Scheiße auf der Treppe!“ berichten wollen, als ihm einer zugeraunt hatte:
„Nicht so laut, da hinten sitzen Herberts Frau und Sohn...“
Man hatte ihn dann darüber ins Bild gesetzt, dass die beiden im Hinterhaus wohnten, im zweiten Stock – das waren sozusagen ebenfalls Nachbarn von ihm; und als die Beiden Stunden später hinauswankten, grinste einer der Zecher und meinte sabbernd:
„Tja, und jetzt muss der Kleine ran, die Alte juckt `s wieder mal...“
Er hatte damals eine verstandesmäßige Blockadehaltung eingenommen, er wollte einfach nicht registrieren, was er sofort und unmittelbar für möglich gehalten hatte – Bacuda hatte wider besseren Verstandes immer wieder gesagt, dass „...das ja wohl nicht wahr sein darf, ich meine, der Sohn ist doch debil, der weiß doch gar nicht, wofür der Piephahn da ist – also bitte!“
Und diesbezüglich gab man ihm unisono recht, aber ja... – doch dann wurde es krachledern, angefeuert durch gespielte Empörung, eine merkwürdige Art von Wollust und reichlich Alkohol hatte der Zecher von eben lautstark festgestellt:
„Es ist hier allgemein bekannt, dass der Kleine seiner Mutter immer mal wieder die Muschi ausschleckt – und der Herbert ahnt das ebenfalls, vielleicht weiß er es sogar! Von seinem Küchenfenster aus kann er der Alten direkt aufs Bett gucken, wer weiß, vielleicht macht ihn das sogar an... – äh, diesem Lumpen traue ich alles zu!“
Niemand hatte damals widersprochen, alle sahen irgendwie betreten aus – da klirrte es aus dem Hinterhof, von Schreierei und Gezeter begleitet, tja, wie auf Bestellung – und alle waren nach hinten gelaufen, neugierig auf das, was sich dort abspielte; eben alle, ohne Ausnahme, und Bacuda mittendrin...
Und viele Stunden später hatte man dann endlich rekonstruiert, was eigentlich passiert war – es hatte sich folgendes ereignet:
Dem Herbert war es mühsam gelungen, seine Wohnung im fünften Stock zu erreichen, und dort musste er wohl erkannt haben, in welch´ einem derangierten Zustand er sich befand – worauf er sich kurzerhand seiner Kleidung entledigt und sich mehr als oberflächlich gesäubert hatte; wie gesagt, seine Wohnung hatte nur ein Spülbecken in der Küche, die Toilette befand sich `auf halber Treppe´, ein Bad fehlte in toto – und er hatte sich, immer noch Urin – und Kotbespritzt bis zum Hals, nackt ans Küchenfenster gesetzt, um dort endlich mal in Ruhe ein Bier zu trinken – und da war es dann passiert...
Denn er hatte beobachtet, wie sein Sohn seine Noch – Ehefrau oral befriedigen musste, was dem Sohn irgendwie gar nicht schmeckte – und da war der Herbert dann völlig ausgerastet!
Zuerst hatte er leere Flaschen, die in seiner Wohnung reichlich vorhanden waren, schreiend und tobend in den Hinterhof geworfen – und geschrieen hatte er:
„Er leckt se, die eijene Mutter – er leckt da rum, ihr Schweine, äh..., du Fotze, du Sau, ick bring dir um...“
Doch Frau und Sohn hatten nicht reagiert, da sie ihn nicht hörten – die Musik war zu laut, die Fenster waren geschlossen und sie war scheinbar mächtig in Stimmung, da wurde es dem Herbert zuviel!
Total aus dem Häuschen hatte er seine völlig versaute Kleidung in Richtung ihres Fensters geworfen, was jedoch auch keinerlei Ergebnis zeitigte – da hatte er dann von seiner `ultima ratio´ Gebrauch gemacht, er hatte sein `Big One´ direkt in ihr Fenster geschleudert, und der Effekt war außerordentlich gewesen:
Denn sein `Big One´ war sein eiserner Fäkalieneimer, gefüllt bis zum Rand, weil... – der Herbert schaffte es nur selten bis zur `Toilette auf halber Treppe´, herrje... – und dieser Eimer durchschlug mit großer Wucht die Scheibe, durch Splitter, Eimer, Kot und Urin wurde sie aus ihren orgiastischen Gefühlen gerissen, im wahrsten Sinne des Wortes: `Schlagartig´!
Dann entstand ein Tohuwabohu, das jeder Beschreibung spottete – zuerst erschien sie samt Sohn blutend und übergossen von Fäkalien im Hinterhof, hysterisch kreischend, dann kam er, ein kleines Beil schwingend, ebenfalls unten im Hof an – splitternackt und zorngerötet, ja, da war ein `Mann´ bereit, als Racheengel Gottes zu fungieren!
Einige der Zecher überwältigten ihn dann, die herbeigerufene Polizei nahm zuerst einmal alle drei in Gewahrsam, man hatte diese `Prachtfamilie´ daraufhin wochenlang nicht mehr gesehen – und Bacuda war in die Arme einer dicken Frau geflüchtet, er war ein paar Tage später ausgezogen, denn das hier war selbst ihm eine Spur zu heftig – doch das mit der dicken Frau, hm, das war eine ganz andere Geschichte...
Während Bacuda immer noch rücklings den Rauchkringeln hinterher schaute, dachte er grinsend, was das wohl für eine Sendung wäre – der Herbert, seine Frau und sein Sohn bei Bärbel Schäfer, und das alles `live´ – ach du liebes Bisschen, das würde alle Quoten sprengen, da war er sicher!
Auch heute noch, zwei Jahre und viele Erfahrungen später, konnte er einfach nicht begreifen, wie und warum man auf einer solchen Stufe der Evolution einfach verharren konnte – das alles hatte mit Gewalt zu tun, doch dies war nicht die Stunde, darüber nachzudenken; er war nun todmüde, ein Mittagsschläfchen tat dringend Not, es war schon zwanzig nach Zwei – und, tatsächlich, er schlief ein, nicht tief, aber traumlos... – Gott sei Dank...