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Der Hundefuttermann
ОглавлениеMein Name ist Ronny Luschke und damit ist schon so einiges gesagt. Ich hatte als Kind immer den untrüglichen Verdacht, mit meinem Namen würde etwas nicht stimmen. Mit dem - K - in meinem Nachnamen, oder andersrum, mit dem Rest, lässt man das - K - einfach weg. An sich war es keine große Sache, doch gab es immer wieder einige, die mich damit aufzogen. Da es andere auch taten, wurde es doch ein recht großer Personenkreis, der sich für Derartiges nicht zu schade war. Nur ging diesem ach so kreativem Wortspiel im Laufe der Zeit die Puste aus, bis es schließlich gänzlich in der Schublade der erfolgloseren verbalen Scherzartikel verschwand. Das lag wohl auch daran, dass diese verkrüppelten Albernheiten sowieso immer mehr an mir abperlten, so wie manches einfach an mir abperlte. Auf der anderen Seite war mir allerdings auch klar, dass ich sicher nicht zu der Kategorie Typen gehörte, die, sagen wir mal, die Allerschnellsten waren. Nicht, dass ich in allen Belangen vollkommen antriebslos war, nur gab es zu wenige Dinge, die mich dazu brachten, meinen durchaus vorhandenen Raketenschub zu zünden. Mutter sagte einmal, bei mir ginge es immer nur um irgendwie, irgendwann und irgendwo. Mutter hatte recht. Wir konsultierten deshalb in frühen Jahren – ich war noch ein Kind – sogar mal einen Arzt, doch der bescheinigte uns nur, dass leicht apathische Spätzünder in den besten Familien vorkommen können. Jahre später, ich war irgendwo im jugendlichen Alter angekommen, saß mir dieser Weißkittel wieder gegenüber und sprach von einem Paradoxon aus Furcht und Mut, was er meinte, bei mir festgestellt zu haben. Er lag nicht vollkommen verkehrt mit seiner Diagnose. Zu dieser Zeit meiner persönlichen Entwicklung war ich oft genug nicht in der Lage, Furcht und Mut in den dafür passenden Situationen einzusetzen. Wo Furcht angebracht war, zeigte ich Mut und wo Mut gefragt war, reagierte ich zuweilen heftig furchtsam. Ich sprang als Kind einmal in ein Eselgehege, obwohl ich und auch jeder andere sah, wie vorher einer der Esel ein Kind am Zaun mehrfach in den Arm biss. Ich lief schreiend auf den Esel zu und bekam als Quittung sogar einige Tritte vom aufgebrachten Huftier ab. Mutter bedankte sich bei dem Tierpfleger, der noch Schlimmeres verhinderte. Demgegenüber stand meine merkwürdige Furcht. Beispielsweise war da die Furcht vor anderen Kindern, waren sie auch noch so jung und noch so klein. Als Zwölfjähriger wurde ich von zwei Sechsjährigen verprügelt, obwohl beide wirkliche Miniaturmenschen waren. Vater sah es einmal, als er am Fenster stand, und forderte mich später in einem Vater-Sohn-Gespräch auf, mir das nicht gefallen zu lassen und zurückzuschlagen. Doch ich schlug nicht. Ich schlug nie. Ich hatte nur Furcht. Es gab sehr viele dieser Situationen, in denen mein Pendel unangemessen stark in die falsche Richtung ausschlug. Dies alles zusammen nannte der Arzt ein Paradoxon. Mutter sagte mir, bei diesem Doktor würde es sich um einen ganz normalen Arzt handeln, doch mein Blick auf die Patienten im Wartezimmer sagte mir etwas anderes. Er war wohl eher der Mann, der sich um geistige Fehlentwicklungen kümmerte. Die Jahre zogen ins Land und ich lernte mit meiner Furcht und meinem Mut besser umzugehen, was nichts anderes bedeutete, als dass meine Reaktionen sich den Situationen immer mehr soweit anpassten, wie es unter normalen Menschen üblich war. Als Sechzehnjähriger musste ich mich dann beim Weißkittel einem letzten Kontrolltest unterziehen. Mutter war wie immer mit dabei. Der Psychoarzt beschrieb bestimmte Situationen und ich sollte antworten, wie ich reagieren würde. Spontan und schnell. Eine der merkwürdigsten Situationen, mit denen ich konfrontiert wurde, war folgende: „Ronny, deine Lehrerin lockt dich nach dem Unterricht in eine Toilette und fordert dich auf sie zu befriedigen. Was machst du?“ Tja, was mache ich wohl. Mutig die Lehrerin befriedigen oder voller Furcht davonlaufen? Ich war mir ziemlich unsicher und überlegte lange hin und her. So lange, bis Mutter für mich antwortete: „Mein Sohn würde es natürlich nicht tun. Er würde davonlaufen und die Lehrerin dem Rektor melden. Nicht wahr, Ronny? Das würdest du doch tun.“ Ich war mir noch immer nicht sicher, ob ich wirklich so reagieren würde. Ich wollte keinen weiteren Test und so antwortete ich: „Ja, Mutter, natürlich. Genau das würde ich machen.“ Und so bestand ich und wurde als normaler Junge entlassen. Dachten zumindest beide.
Als auch Mutter viel zu früh starb, saß ich bei ihr am Sterbebett und hörte sie sagen: „Und fürchte dich vor dem Alkohol, Junge! Fürchte dich vor den Wirkungen des Alkohols! Denk an deinen Vater, wie es ihn dahinraffte!“ „Ja, ja, Mutter, natürlich, ich werde drauf achten. Ist schon klar.“ Es gab wohl nichts, vor dem ich mich so wenig fürchtete wie vor Alkohol. Diese Furchtlosigkeit hatte ich mit großer Sicherheit von meinem Vater vererbt bekommen, der sich wie kein Zweiter auf die Flaschen stürzte. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Mutter, Vater und ich in den Urlaub an die Nordsee fuhren. Vater steuerte wie immer seinen klapprigen Wagen. Mutter fuhr nie. Während der Fahrt trank er eine Flasche Whisky. Wir waren vielleicht fünf Stunden unterwegs und er trank in dieser Zeit die Flasche bis zum letzten Tropfen leer. Nur einmal gab es auf der Reise eine Situation, in der Mutter „Jetzt wird’s brenzlig, Ronny!“ zu mir nach hinten rief und sich am Haltegriff festkrallte. Vater, zunehmend whiskygetränkt, rutschte fast in einen angrenzenden Fluss. Er überkreuzte beim Gegenlenken auf das Merkwürdigste seine Arme, sodass seine linke Hand rechts am Steuer hing und seine rechte links. Langsam und ohne Hektik brachte er so unseren Wagen wieder zurück in die Spur. Nun, es war Sommer und sehr heiß. Etwas Abkühlung hätte ich durchaus gebrauchen können. Dies passierte, bevor kaum noch Leber in Vater war. Es gab Leute, die sich – nachdem unsere Reise in aller Munde war – über diese, ihrer Meinung nach, unglaublichen Dummheit Vaters, nur so entrüsteten. Es war mir schnurzpiepegal, was diese Leute sagten. Es perlte und perlte nur so an mir ab. Nachdem wir auch Mutter unter die Erde gebracht hatten, ging ich nach Berlin. Es gelang mir dort sogar auf Anhieb, mich erfolgreich an einer Hochschule einzuschreiben, ein Zeichen dafür, dass ich sehr wohl geistig auf der Höhe der Zeit war. Da sich jedoch ein Studium nicht von selbst erledigt, wurde ich schneller als gedacht, so etwas wie ein abgebrochener Student. Ich ging nur ein paar Mal in den monströsen Hörsaal und das Einzige, was mir während meiner kurzen Stippvisiten dort durch den Kopf ging, war, was für ein guter Ort der Hörsaal für Rockkonzerte wäre. Ich suchte mir eine Band und begann zu trommeln. Und so trommelte und trank ich mich, so gut es eben ging, durch die Zeit. Es war so, wie ich es haben wollte. Bis auf eine Sache: Meine finanzielle Situation. Die war so wie sie war, nämlich miserabel. Auf meiner nicht existenten Liste an Dingen, die ich verbessern wollte, stand nur: Eine für mich passende Geldquelle musste her. Die Rechnung dafür war ganz einfach. Zumindest auf dem Papier. Wer für sich einen Anspruch auf selbstbestimmtes Trinken definiert, muss finanziell ausreichend ausgestattet sein. Ich war es bei Weitem nicht. Ich hinkte sozusagen meinem Anspruch kilometerweit hinterher. Schlecht. Sehr schlecht, und so warf ich den stotternden Motor in meinem Kopf an und sortierte, sauber hin oder her, ein paar Gedanken. Dies in der Hoffnung, sie würden zu irgendetwas führen.
Ich kannte genug Leute, die tagtäglich auf der Suche nach einem Job, meist in rauchgeschwängerten Kneipen während der frühen Morgenstunden, sämtliche Tageszeitungen durchwälzten und nichts anderes als reichlich Druckerschwärze an ihren Fingern mit nach Hause nahmen. Sie blieben bis morgens um fünf in den Kneipen hocken und vergruben sich still, aber doch auch von einer gewissen Nervosität gezeichnet, in ihre frisch ergatterten Blätter. Ohne Umwege tauchten sie mit einem weichgekauten Bleistift zwischen den Zähnen in die Zeitungsanzeigen ein und waren nicht mehr ansprechbar. Wie verschwunden in einer fremden Welt. Wenn sie wenigstens tranken, aber dafür reichte ja ihr Geld nicht. Sie waren wie Getriebene auf der Suche nach ehrlicher, auch sei sie noch so schlecht bezahlter, Arbeit. Und es wurde eingekringelt was das Zeug hielt und die Anzeigen hergaben. Abend für Abend, Woche für Woche, bis zum Ende oder Abbruch ihres Studiums. Es war ein jämmerlicher Anblick, der mir nach ausreichend Bier Gott sei Dank auch wieder aus dem Blick fiel. Mir kamen Studenten in den Sinn, die sich ihre Nächte im Winterdienst herumschlugen. Wahrscheinlich schoben sie schon deshalb wie die Wilden knöcheltiefen Schnee von den Bürgersteigen, um nicht festgeklammert am Schneeschieber zu erfrieren. Und ich rede von einer Zeit, es war Ende der 80er, in der die Winternächte in Berlin nur so vor klirrender Kälte und endlosem Schneefall strotzten. Diese Burschen taumelten sogar Samstagsnacht halberfroren über die Bürgersteige der Stadt. Sie machten nicht einmal vor den Wochenenden halt, so klamm mussten ihre tiefen Parkertaschen gewesen sein. Ich für meinen Teil entschied, dass eine Samstagnacht niemals zum Schneeschieben herhalten durfte. Es ging zum Tanz, zur Musik, oder ganz einfach nur darum, bis zum Morgengrauen an einem noch so klebrigen Tresen zu hocken und auf die Getränkeflaschen der Bar zu glotzen. Nebenbei, für diese armen Hunde im Winterdienst hatte niemand zuvor die Wege mit Salz gestreut, damit sie einen ordentlichen Stand bei ihrer Arbeit haben würden. Das Risiko einer Verletzung bewertete ich für mich als enorm. Finger weg davon. Besser war es, bis März im Bett liegen zu bleiben, erst dann den Fuß behutsam tastend auf die Gehwegplatten zu setzen, um sogleich genussvoll und zufrieden die letzten Reste des Rollsplitts unter den Sohlen knirschen zu hören.
Der nächste März kam und ich nahm, bei vollem Verstand wohlgemerkt, meinen ersten echten Job an, der sich als absolute Absurdität entwickeln sollte. Ich machte Straßenwerbung auf dem Kurfürstendamm für eine große Berliner Diskothek. Ich ging mit einem mannsgroßen Werbeschild, schwer und unhandlich, durch die Menschenmengen und war ständig auf der Hut, mich oder Passanten mit dem Schild nicht unglücklich zu treffen. Wäre ich von Kopf bis Fuß als Tanzbär verkleidet gewesen, hätte mich niemand erkennen können, so war es ein einziger Spießrutenlauf, immer darauf bedacht, nicht von jemandem entdeckt zu werden, der mich kannte. Es gelang mir nicht immer, mich rechtzeitig wegzudrehen und stiften zu gehen. Ich wurde zu oft entdeckt, bei dem was ich tat. Jemand – ich sah in ein mir namenloses, jedoch nicht unbekanntes Studentengesicht – tippte mir auf die Schulter. Er stand wie aus dem Nichts vollkommen überraschend hinter mir und zeigte sich sehr erfreut, aber irgendwie auch erschreckt im Anblick meiner Art des Geldverdienens. Zu allem Überfluss konnte er sich die Anmerkung nicht verkneifen, dass das, was er dort gesehen hatte, auch noch hinaus in die Welt posaunen würde. Nach diesem Aufeinandertreffen beschloss ich, mich und mein Werbeschild hinter einem Kiosk zu deponieren. Über Stunden und jeden Tag. Nur für eine neue, weitere Dose Bier, kroch ich aus meinem Versteck, zwischen der Rückwand des Kiosks und einem angrenzenden hohen Gebüsch, hervor zum Kioskmann. Der Werbeeffekt für den Diskothekenbetreiber war dadurch zweifelsohne etwas in den Hintergrund gerückt und nicht ganz so durchschlagend wie er sich vielleicht erhoffte. Der Diskochef gab mir sieben Mark die Stunde und ich durfte, was ich anfangs als durchaus angenehm empfand, drei Freibiere in dem Schuppen trinken, nachdem ich das Schild dorthin zurückbrachte. Doch schon nach drei Tagen war dieser Nebeneffekt wie verflogen, weil es sich für mich merkwürdig anfühlte, am späten Nachmittag allein in einer menschenleeren, riesengroßen Diskothek drei Gläser leerend an der Bar zu sitzen, ganz ohne Musik, ganz ohne Lichteffekte. Hätten sie wenigstens die Diskokugel stumm für mich drehen lassen, aber nicht mal das. Was meine Touren anging, wählte ich immer mehr irgendwelche Schleichwege zu meinem Kiosk, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Das Schild trug ich mittlerweile nur noch in Hüfthöhe am langen Arm, am stärkeren schwachen rechten. Ich verrutschte mehr und mehr in eine Schieflage, bis mir meine Wirbelsäule deutlich Meldung machte, sie wäre nicht mehr gewillt, diese Tortur fortzuführen. Schließlich lief ich wie ein Betrunkener einen taumelnden kleinen Kreis, bevor ich mich und das Schild in meinem Gebüsch fallen ließ. Ich verkroch mich im Gestrüpp wie ein Eremit, der mit der Gesellschaft abgeschlossen hatte. Erst nach Stunden der Ruhe kroch ich wieder heraus. Es reichte, ich wollte es nicht übertreiben, auch wenn ich es dort in meinem Versteck mochte. Ich trank wieder mal am Kiosk ein paar Dosen Bier und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen jungen Mann, der mit einer Geldbüchse rasselte. Neben ihm stand ein Zirkuspony. Warum nicht eine Ziegennummer in einem Zirkus einstudieren und jeden Tag am Stadtrand den Applaus der Kinder auf der Seele spüren? Oder sich mit benzingetränkten Messern bewerfen lassen, in der Hoffnung, der Messerwerfer hätte alles unter Kontrolle? Vielleicht wäre es ein Versuch wert. Ich nahm mir vor etwas näher darüber nachzudenken und ließ das Werbeplakat im Gebüsch zurück. Ich war mir sicher, der Kioskmann würde es finden. Auch ein Kioskmann braucht ein Werbeschild.
Wochen später horchte ich auf, als mir ein Kommilitone aus gutem Hause an der Salatbar in der Mensa – was hatte ich dort überhaupt zu suchen? – mir die Adresse eines Markforschungsinstitutes gab. Dieses Institut war ständig auf der Suche nach Leuten, die sie für Befragungen in die große weite Stadt schickten. Ich heuchelte etwas Interesse an seiner Idee. Anfangs. Das Heucheln wich einem ersten Anflug von echtem Interesse, als er nachschob, dass es sich um einen ziemlich angenehmen Job handeln würde, der, so drückte er sich aus, auch noch lukrativ gestaltet wäre. Ich übersetzte seine Sprache in meine und kam zu der Erkenntnis, dieser Job würde um einiges mehr einbringen, als beispielsweise das harte Dasein eines Schneeschiebers oder einer menschlichen Plakatsäule. Ich wollte mehr erfahren und wir stellten uns große Portionen Rohkostsalate auf unsere Tabletts und ich folgte ihm an den Tisch. Was man nicht alles in Kauf nimmt, um an Informationen zu kommen. Rohkostsalate waren so das Letzte, von dem ich mich damals ernährte. Trocken, spröde, wirkungslos. Einfach nicht der Rede wert. Ich versuchte grüne Blätter zwischen meinen Backenzähnen zu zermalmen und ermunterte mein Gegenüber, mehr über den Job in diesem Institut zu erzählen. Er erklärte mir, dass es meine Aufgabe wäre, von Tür zu Tür zu laufen, wildfremden Menschen neue Produkte testen zu lassen und gemeinsam Fragebögen auszufüllen. Dies gefiel mir. Dies gefiel mir richtig gut, je mehr ich darüber nachdachte. Das war mein Ding. Ich würde tagsüber von Haus zu Haus schlendern, mich in den Villen im Grunewald zu den älteren oder auch jüngeren Damen setzen, um sie zu befragen und zu begaffen. Ich würde sie vormittags aufsuchen, dann, wenn ihre Männer sich in ihre Zahnarztpraxen oder Anwaltsbüros verzogen haben. Vielleicht würden sie gerade aus der Dusche oder aus dem Bett kommen, sie würden ihre plüschigen Bademäntel tragen und wir könnten es uns lasziv auf der Couchgarnitur gemütlich machen. Während sie mir einen Cognac an der Hausbar einschenken würde, lasse ich meinen Blick mit ausgestreckten Beinen genüsslich in den Garten schweifen, wo zwei Doggen mich wahrscheinlich grimmig anschauen könnten. Ich würde ihnen freundlich zuwinken. Genau dies sollte mein Job werden. Der Kommilitone schob mir eine Visitenkarte des Institutes zu, worauf ich ihn auf seine glattrasierte Wange küsste, sein beißendes After Shave roch, und die Karte in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Die Frauen aus dem Grunewald gingen mir nicht mehr aus dem Schädel. Ich wollte so schnell wie möglich dorthin.
Am nächsten Morgen ließ ich mich auf meinem ausrangierten Klappsofa nieder, um mir ein paar wichtige Sachen durch den Kopf gehen zu lassen. Die Frauen, die dort in ihren millionenschweren Villen einsam ihre Tage verbrachten, werden nicht in Lumpen oder mit Sachen aus der Altkleidersammlung durch ihr Leben huschen. Ihre Designerklamotten entstammen allesamt gut sortierten edlen Boutiquen. Feinste Ware auf sonnenbankgebräunten Körpern. Oder sie sind im besten Fall tagsüber gänzlich nackt. Und womit konnte ich glänzen? Ich musste mir was überlegen, sonst würden die Damen mich gar nicht erst zu ihnen ins Haus lassen. Haare, Gesicht, Zähne, Duftwasser, Hemden, Hose, Anzug, Socken, die Liste wurde endlos lang von Dingen und Körperteilen, die ich auf Hochglanz bringen oder mir anschaffen müsste. Ich starrte auf meine Parkerjacke hinter der Tür und der Winterdienst mit einem Schneeschieber in der Hand schwirrte wieder in meinem Kopf, wie ein Haufen lästiger Scheißhausfliegen.
Meine Spardose war mit einhundert Mark gefüllt, eine Art Notgeld, wenn´s echt hart werden sollte. Und mit echt hart meine ich echt hart. Für einen Job erst einen Sack voll Klamotten besorgen zu müssen war schier unmöglich. Ich durchpflügte meine Wohnung nach brauchbarem Material. Was ich fand waren ein paar schräge Hawaiihemden, eine rostbraune Cordhose und einen Anzug, der mich geschmacklich komplett von meiner Umwelt abspaltete. Ich nannte ihn nur den sogenannten „Turkvolk-Anzug“ und ich mochte ihn. Außer mir trug niemand so ein Kleidungsstück. Außer mir wagte niemand so etwas zu tragen. Sollten Turkvölker tatsächlich derartige Anzüge, zu welchen Anlässen auch immer, getragen haben, hätte ich ihnen damals ausnahmslos einen guten Geschmack bescheinigt. Dieser Anzug wurde aus dickem, derbem Stoff produziert. Er war tiefblau und durchsäht mit silbernen, wenig dezenten Streifen, die sich vertikal von oben bis unten durchzogen. Nur gab es ein kleines Problem mit der Passform an mir. Trug ich den „Turkvolk-Anzug“ auf, reichte das Hosenbein nicht mal zu den Knöcheln und den Ärmeln fehlte es so sehr an Länge, dass er wie eine Kindergröße an mir wirkte. Einmal probierte ich den Anzug in Kombination mit Tennisschuhen, aber so kam ich nicht mal in den Bus. Um den fehlenden Stoff an den Armen zu kaschieren, hob ich hin und wieder einfach meine Arme nicht an. Ich ließ sie einfach am Körper baumeln und trank Cola-Rum nachts in meinen angestammten Läden mit einem Trinkhalm. Alles aber keine echten Lösungen, um gut durch die Nacht zu kommen und was die Ladies in den Villen anging, schätze ich die Abschreckungswirkung des Anzuges als außerordentlich hoch ein.
Ich telefonierte mit dem Institut und wurde schon für den kommenden Tag zu einem Gespräch eingeladen. Ich beließ es bei dem was ich hatte: „Turkvolk-Anzug“, Kölnisch Wasser, die zum x-ten Mal mit Uhu selbst geklebten Sohlen meiner Halbschuhe und ein rotes Polyester-Oberhemd, aus dem die Chemikalien nur so ihren Weg in die Freiheit suchten. Sonst nix. Der Rest war ich. Es sollte reichen. Es musste einfach reichen. Am nächsten Tag befand ich mich in einem dieser Bürohäuser mitten in der Stadt zu meinem ersten echten Bewerbungsgespräch. Meine Vorbereitung für dieses Gespräch begrenzte sich darauf, dass ich mich am Vorabend trotz einer gewissen Aufregung nicht gänzlich zudröhnte und ich, bevor ich meine Bude zu dem Gespräch verließ, meinen Anzug am offenen Fenster ein paar Momente im Wind hin- und herwedelte. Der Zigarettenmief in den Fasern sorgte selbst bei mir für Würgereiz. Ich goss einen kleinen See gutes Kölnisch Wasser in meine Hand und verrieb das Duftmittel unter die Achselstellen der Jacke und den Rest in den Schoß der Hose. Mir wurde schnell klar, dass ich mich nicht frontal meinem Gegenüber nähern sollte, sondern nur leicht schräg. Alles in allem war ich zufrieden.
Stunden später saß ich an einem schweren massiven Schreibtisch, möglicherweise Mahagoni. Mir gegenüber saß ein adrett gekleideter Mann irgendwo in einem Alter zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahren. Grobe Schätzung. Hinter ihm offenbarte sich ein für mich bisher nicht gekannter Blick über die Stadt. Ich empfand die Situation und den Ausblick als sehr erhaben und schob meinen Hals noch ein Stück aus dem mich würgenden Hemd, um einen noch besseren Blick zu erhaschen. „Also, ich an ihrer Stelle würde den ganzen Tag nur aus dem Fenster gucken,….also, wenn Sie nicht gerade arbeiten.“, warf ich meinem Gegenüber zu. Ein guter Anfang eines Vorstellungsgespräches ist eben durch nichts zu ersetzen.
Der sportliche Mann vom Institut schenkte mir trotz meiner aufheiternden Worte kaum Beachtung und kramte unentwegt in einem braunen Papphefter, in dem haufenweise beschriebene DIN-A4-Blätter lagen. Möglicherweise waren das die Bewerbungen derer, die den Job nicht bekommen werden, oder vielleicht doch eher derjenigen, die noch im Rennen waren. Ein Papier zu meiner Person fand er schon deshalb nicht, weil es nur ein kurzes Telefonat zwischen uns gab. Dann schob er den Ordner beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit auf meine Wenigkeit. Er schaute mir Ewigkeiten nur so ins Gesicht, fast teilnahmslos, ohne auch nur den Schimmer eines prüfenden Blickes. Er wirkte ziemlich entspannt und atmete tief und lang und ruhig. Ganz bestimmt war ich bereits inmitten eines Tests. Ganz bestimmt. Ich hatte zwar vorgehabt ebenfalls tief, lang, ruhig und teilnahmslos dazusitzen, aber es gelang mir nicht. Ich gaffte ihn in Erwartung irgendeines Signales an und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Schließlich ließ ich eine zweite Gesprächseröffnung folgen. „Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich mal kurz ihr Klo benutze? Sie können währenddessen ruhig noch in Ruhe weiter nachdenken.“ Er schnappte tief nach einer Portion Luft und stellte mir dann kurz und trocken folgende Frage: „Was sagt Ihnen der Begriff „Hundefutter“?“
Wie gern wäre ich damals genau in diesem Moment zum Klo gegangen. Ich war bereits dabei mich auf den Armlehnen aufzustützen, um mich in Gang zu setzen, ließ mich nach der Frage dann aber doch sofort wieder in den Sessel zurückfallen. Ich konnte nicht antworten, da mir nichts, was zu seiner Frage passen könnte, einfiel. Nix war parat, keine Antwort, keine Idee, gar nix, geistige Leere. Womöglich hatte ich mich nicht ausreichend mit den großen und kleinen Fragen der Koexistenz von Mensch und Tier beschäftigt. Wie nur reagieren? Ich befürchtete, ich könnte mich jetzt in einem Redeschwall um Kopf und Kragen reden, zu einem Thema, das ich bis dahin für komplett unbedeutend hielt. Ich entschied mich auf Nummer sicher zu gehen und fragte nach.
„Nur um sicher zu sein, dass ich Sie richtig verstanden habe. Die Frage geht in die Richtung, ob ich,…“
„Hören Sie mir nicht richtig zu? Die Frage war klar und verständlich formuliert! Also nun, ich warte.“
Nicht nur er wartete, ich auch. Ein letztes Aufbäumen, die Brust drückte ich nach vorn und dann, letztlich, geistesblitzartig, sprudelte es nur so aus mir heraus.
„Sehen Sie, für die einen ist es lediglich nur eine breiige Masse oder es sind ein paar knochenharte Rundlinge, die lieblos in den Napf geworfen werden, um das tägliche Überleben des vierbeinigen Wohnungsgenossen abzusichern. Für die anderen ist es jedoch Teil einer Weltanschauung, ein Lebensgefühl, was zelebriert und zur Schau gestellt wird. Jede Futtergabe, jede noch so kleine und überflüssige Zwischenmahlzeit, wird zum Tageshöhepunkt erkoren. Sie verzieren den nach Erbrochenem aussehenden Brei sogar mit Minze und Basilikum, denn auch ein Hundeauge frisst ja mit.“
Dann erklomm ich sogar die Ebene der Gesellschaftskritik: „Sollen doch die Obdachlosen unter den Brücken verrecken und erfrieren. Hauptsache Frauchen, Herrchen und der vierbeinige Liebling können sich an dem ganzen Hundegourmetmist ergötzen. Und was er nicht frisst, das bekommen nicht die Straßenköter der armseligen, hungernden Zausel an den Bordsteinkanten, nein, das wird einfach im Klo weggespült.“
„Machen Sie weiter, das gefällt mir!“, wurde ich von ihm unterbrochen und zugleich ermuntert.
„Seien wir doch mal ehrlich. Was passiert denn schon, wie ist denn tatsächlich die Situation? Da liegt der Rassehund in seiner Stadtvilla im Grunewald, lässt sich an warmen Sommertagen den Hundebauch am Pool kraulen und frisst sich gedankenlos durch den Tag. Und sonst? Was ist für ihn von Bedeutung? Er hat im schlimmsten Fall von Herrchen und Frauchen gelernt, sich von den Straßenkötern abzuheben, der piekfeine Terrier oder die versnobte Pudeldame mit Söckchen aus Hermelin, die von Madame an kalten Tagen über die Pfoten gestülpt werden. Und nur so nebenbei, für den Preis einer Packung Hundefutter gehe ich dreimal Minipizza essen, so sieht es doch aus in unserer kranken Gesellschaft!“
Pause. Ich hatte mich aufgeregt und musste mich beruhigen. Ich sollte in die Politik gehen, ging mir durch den Kopf. Dann ließ ich mein abschließendes Statement folgen. Jetzt kam der finale Schlag, quasi der Knock-Out.
„Der Mensch, definiert als konsumgetriebenes Wesen, differenziert sich auch über Hundefutter und wenn es der Mensch tut, tut es zwangsläufig sein Hund auch, so ist das, basta, keine weiteren Fragen, ich muss mich beruhigen!“
Stille. Er lächelte und warf mir den nächsten geistigen Brocken zu, nach dem ich schnappen sollte.
„Sehr gut, und jetzt sage ich Ihnen ein zweites Wort, was Sie sicherlich auch schon mal gehört haben. Es lautet: Marken! Und wenn ich jetzt beides miteinander kombiniere, dann ergibt das,…na was ergibt das dann?“
Ich neigte früher dazu, wenn man mich mit bestimmten Fragen aus der Reserve locken wollte, meinen Kopf etwas zur rechten Seite kippen zu lassen, ähnlich wie es eben auch Hunde manchmal tun.
„Hundefutter-Marken!“ blökte ich erfreut in den Raum.
„Und jetzt das Ganze andersrum!“, forderte er mich freudig schreiend auf.
Ich drehte meinen Kopf hoch in Richtung Deckenstrahler und dachte kurz über das „andersrum“ nach. Ohne meine Antwort abzuwarten, riss er sich aus seinem Ledersessel empor und donnerte seinerseits in die Weiten seines nicht gerade klein geratenen Büros. „Marken-Hundefutter, oh Mann, ich rede von Marken-Hundefutter, kapiert?“ Er war sehr erregt. Ich hätte nie gedacht, was eine einfache Packung Hundefutter mit einem Menschen so alles anrichten kann. In diesem Moment war ich mir ziemlich sicher, dass ich ihn nur noch in seiner grandiosen Erkenntnis bestätigen musste, um mir diesen Job zu angeln.
„Sag ich doch, darum geht es heutzutage, Marken-Hundefutter. Ein Thema, was meiner Meinung nach maßlos unterschätzt wird, wirtschaftlich wie auch gesamtgesellschaftlich betrachtet, meine ich.“ Meine Bestätigung war ein Treffer. Ich wusste, ich werde Hundefuttermann. Ich hätte überhaupt kein Problem damit gehabt, mit ihm den ganzen Tag nur über Hundefutter zu reden, zumal ich an diesem Tag sowieso nichts Besseres vorhatte. Dann holte er erneut aus und ließ dabei seine Arme kreiseln, etwas was ich aus irgendeinem Film kannte. Während seine Arme Kreise in die Luft malten, überlegte ich, aus welchem Film ich dieses dämliche Getue kannte.
„Was ist ein Kilo Pansen ohne einen Markennamen und ohne ein Markenschild? Richtig, mein Junge, nichts außer ein dreckiger, stinkender Haufen Mist, den Hunde fressen.“ Nun unterbrach ich ihn, erhob meinen linken Zeigefinger, beugte mich zu ihm vor und fiel ihm ins Wort.
„Und ein Kilo Pansen mit einem Markennamen und einem Markenschild ist alles.“ Ich fuhr, vor Erregung fast platzend, meinen Monolog fort. „Wenn wir diese Geschichte den Leuten nur lange genug ins Hirn hämmern, den Leuten und den Tieren, dann zahlen sie den Preis von drei Minipizzen, obwohl Pansen vielleicht nur die Hälfte von einer Minipizzahälfte kostet. Die Scheiße schmeckt sowieso immer gleich, egal, ob wir über Minipizzen oder Pansen reden.“ Er gaffte mich verdutzt an, da er wohl dachte, ich würde wissen, wie Pansen schmeckt. Wir beruhigten uns wieder, ließen uns in unsere Ledersessel fallen und er begann mir zu erklären, was ich in meinen neuen Job tun müsste. Meine Aufgabe würde es sein, von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung zu laufen, um zuerst eine sogenannte Testverkostung am lebenden Objekt, sprich am Hund, durchzuführen. Dann würde mit Frauchen oder Herrchen oder auch beiden, der Teil der Fragen folgen, wobei ich die Antworten in Fragebögen kritzeln müsste. Für den Fragenteil drückte er mir Hunderte Fragebögen in die Hand, für den Fütterungsteil sollte ich Dutzende von 1,5 Kilo Packungen eines vollkommen neuen Hundefutters mit auf den Weg bekommen. Er verschwand kurz hinter seinem Schreibtisch und zog eine Packung von eben diesem noch nie dagewesen Hundefutter hervor. Beste Qualität, neu aufeinander abgestimmte Nährstoffe, neues Geschmackserlebnis. Er pries mir das Futter mit einer Inbrunst an, als ginge es um Leben und Tod. Alles war so unglaublich neu an diesem Produkt und ich als Hundefuttermann mittendrin. Ich hatte nur noch darauf gewartet, er würde hinzufügen: „….und das Zeug ist sogar weltraumgetestet. Haben Sie verstanden? Weltraumgetestet!“
„Dies ist das neue Trockenfutter, um das es geht. Damit gehen Sie auf Reise. Wie gesagt, rein in die Wohnung, Verkostung durchführen, Fragebogen ausfüllen und seien Sie immer schön nett und freundlich. Lesen sie vorher was über Hunde, es macht sich immer gut, wenn Sie ihre Kunden besser kennen und eine Dogge von einem Dackel unterscheiden können. Sie kriegen einen Ausweis, dann sind Sie offizieller Marktforscher im Feld, und los, Feuer frei!“
Danach bekam ich noch ein paar Erklärungen zum Produkt eingebläut, welche die ganze Angelegenheit aber nicht gerade einfacher machten. Das Trockenfutter war angeblich nicht für jeden Hund geeignet. Besser gesagt, die Marketingfritzen derer, die die Brocken herstellten, waren allen Ernstes der Meinung, dass nur mittelgroße Hunde ab fünfzehn Kilo Lebendgewicht auf das staubtrockene Zeugs abfahren würden. Für alle kleineren Rassen und zu kurz geratene Mischlinge sollte der Fraß angeblich einfach nichts sein. Es passe einfach nicht zu dieser Zielgruppe, erklärte mir der Typ ernsthaft. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein hungernder Rauhaardackel den Unterschied erkennen würde, ob irgendein Trockenfutter nicht für ihn speziell gemacht worden ist, sondern nur für seine deutlich größeren Artgenossen. Nein, das würde er nicht tun. Er würde sich genauso darauf stürzen, wie auf die Kartoffelschalen, die er unter dem Küchentisch finden würde. Eines war mir klar, bei mir wird jede noch so kleine Töle das Zeug testen, also fressen dürfen. Das Einzige, was aus Sicht meines neuen Bosses noch fehlte, war das Gebiet, welches ich beackern sollte. In seinem Büro hing an einer Wand ein übergroßer Stadtplan von Berlin. Ich schätzte die Karte auf ungefähr vier Meter in der Höhe und sechs Meter in der Breite. Ein wahrhaftiges Ungetüm, welches jede noch so kleine Straße der Stadt verschlang. Von Spandau bis tief nach Ostberlin rein war alles drauf. Der Osten war nur farblich grau unterlegt, wie üblich zur damaligen Zeit. Wir standen kaum eine Armlänge von der Karte entfernt stumm nebeneinander und mein Blick blieb auf dem Grunewald kleben. Ich zeigte wortlos genau dorthin, wie ein Kind, was sich von drei Lutschern genau einen aussuchen darf. An seinem Kopfschütteln erkannte ich, dass er das wohl anders sah. Er musterte mich kurz von Kopf bis Fuß und schloss seine Kurzanalyse meines Äußeren mit einem weiteren, heftigeren Kopfschütteln ab. Er war wohl der Meinung, dass ich für dieses Gebiet nicht ausreichend adrett wirkte. Na gut, wenn schon nicht dort, dann wenigstens in meinem Heimatbezirk, im Wedding. Dort kannte ich mich bestens aus. Die Leute dort hatten zwar wenig Geld, aber es gab tausende kleiner Recken. Mir war klar, dass Stadtteile wie Kreuzberg und auch mein geliebtes Schöneberg, in dem ich zwischen Yorkstraße und Mehringdamm so gut wie jede Kneipe kannte, schon deshalb nicht in Frage kamen, weil dort Typen, die mit einem Fragebogen in der Hand an fremden Türen klingeln, um unbekannterweise persönliche Fragen stellen zu wollen, einen derartigen Tritt in den Arsch bekommen, dass sie im Sturzflug durchs Treppenhaus fliegen würden. Noch überlegte mein Boss und ließ seinen Blick quer über die Stadt wandern. Oh Mann, wo will der Typ mich bloß hinschicken? Bitte, bloß nicht nach Spandau oder Tegel, da ist doch der Hund begraben, flehte ich in meinem Kopf. Ich musste ihm mit einem guten Vorschlag zuvorkommen und tippte meinen Finger auf den Wedding. Ich sang sodann ein Loblied auf diesen Stadtteil, dort, wo Frauchen und Herrchen noch ihr letztes Hemd für ihre Teckel geben würden. Dort wäre ich richtig aufgehoben, dort muss ich hin. „Glauben Sie mir, im Wedding gibt es genauso viele Hunde wie Menschen, und ich kenn jeden Baum, an dem sie ihr Bein heben,…also, die Hunde in der Regel.“ Er überlegte kurz und sagte: „Gut, der Wedding gehört Ihnen. Durchpflügen Sie ihn tief und gründlich! Seien Sie ein Fischer! Werfen Sie ihr Netz aus und kommen Sie mit reichlich Beute zurück!“ Ein interessanter Vergleich, dachte ich mir, ich bin also auch ein Fischer. Ein Hundefuttermann und ein Fischer. Die Sache war geritzt.
Ich gab ihm jedoch auch zu bedenken, Wochen würde ich möglicherweise brauchen, um den Wedding zu durchkämmen, und dass ich viele Packungen Hundefutter mitnehmen müsste, sehr viele. Er beruhigte mich, ich könne jederzeit genug Nachschub bekommen. Und was die Zeit angeht, zwei Wochen hätte ich Zeit, keinen Tag mehr. Mein Boss gab mir meine sechs Packungen Trockenfutter und eine Broschüre mit auf den Weg, in der all die famosen Vorteile des Futters zusammengefasst waren. „Durchlesen! Merken! Machen!“ waren seine letzten Worte, dann drückte er mich aus der Tür. Ich stapelte diese äußerst unhandlichen und sperrigen Pappkartons übereinander, schleppte sie das Treppenhaus hinunter, dann in die U-Bahn, dann wieder hoch auf die Straße, dann in meine Bude, um sie schließlich in meiner Küchenspüle fallenzulassen. Dort lagen sie dann und ich starrte sie minutenlang an. Was hatte ich mir denn da für einen unsinnigen Job eingebrockt? Ein Mann läuft zu Fuß, an beiden Armen Plastiktüten, vollgestopft mit Hundefutterpackungen, quer durch Berlin, um dann das Zeug an mittelgroße Hunde zu verfüttern und sie nach dem Geschmack zu fragen, ohne zu wissen, hinter welcher Tür sie überhaupt zu finden sind? Wie war ich denn drauf? Ich versuchte etwas runterzufahren, nahm mir eine Packung und schüttelte sie ein wenig. Das Rascheln der Brocken klang beruhigend und meine Gedanken kreisten wieder um all die Hundebesitzerinnen, auf die ich treffen werde. Dies war der einzige Antrieb, den ich für diesen wirklich merkwürdigen Job hatte. Zeit mit den alleinstehenden Frauen in ihre Wohnungen verbringen zu können. Für was auch immer. Wahrscheinlich werden sie von ihrer Liebe zu ihrem Hund erzählen und von ihrem ach so eintönigen Leben, was noch eintöniger wäre, wenn ihr bester Freund nicht bei ihnen wäre. Vielleicht würden wir auch nur zusammen ein wenig das Vormittagsprogramm im TV sehen und den Hund beim Fressen beobachten. Nun ja, auch nicht schlecht, hätte schlimmer kommen können. Ich musste mir nur irgendwie überlegen, wie ich am besten in die Wohnungen gelangen könnte. Die Zeit war reif für einen Plan. Ich verzog mich in meine Stammkneipe und bastelte mir etwas zurecht, was ich, ohne dass ich in überschwängliche Übertreibung verfiel, als fast schon genial betrachtete. Mein Plan sah wie folgt aus: Zuerst verschaffe ich mir mit einem unzweifelhaft miesen, jedoch wirkungsvollen Preisausschreibentrick Zutritt. Diese Masche bedeutet nichts anderes, als dass ich in einer kleinen Eröffnungsrede von großen Gewinnen in naher Zukunft und kleineren bereits heute reden werde. Im Anschluss an meine vollmundigen Ankündigungen folgt die Präsentation einer Packung Hundefutter mit einer anschließenden ausgiebigen Fressprobe für den Vierbeiner. Zu guter Letzt werde ich mit Frauchen oder Herrchen gemeinsam den Fragebogen in gemütlicher Atmosphäre bei einem Drink und etwas Knabbergebäck ausfüllen. Jeder, der mitmacht, nimmt an meinem Preisausschreiben teil. Fernreisen und kiloweise Trockenfutter winken. Abrunden werde ich die ganze Prozedur zum Abschied mit einem Handkuss, sofern es sich um die Dame des Hauses handeln sollte. Dazu festes und ehrlich gemeintes Daumendrücken für den bestimmt kommenden Hauptgewinn. Soweit zur Theorie.
Mir ging natürlich auch durch den Kopf, und was durchaus naheliegend war, sämtliche Fragebögen ganz einfach selbst auszufüllen und die Futterbrocken im Park an die Umherstreunenden zu verteilen. Sicher, das alles hätte ich machen können, doch dann hätte ich jedoch nie erfahren, was sich hinter den Türen im tiefsten Wedding so abspielte, und genau das wollte ich wissen. Der Moment kam, in dem sich der Hundefuttermann an eine große, wuselige Kreuzung mitten im Bezirk begab. Dieser Ort sollte sozusagen mein Startpunkt meines Ausschwärmens für die kommenden zwei Wochen werden. An meinen Armen hingen Plastiktüten, die vor lauter Hundefutter bis zum Reißen gespannt waren. Ich sah, wie an jeder Ecke Gassi gegangen wurde, auf den Gehwegen, in den Parks, in den U-Bahnschächten. Meine Kundschaft lief mir ständig über den Weg und oft auch fast in mich rein. Es war überhaupt nicht notwendig, irgendwo blind an irgendwelchen Türen zu klingeln, um zu sehen, ob ein Hund Familienmitglied ist oder nicht. Etwas, was ich mir auch sehr mühsam vorstellte. Das Einzige, was ich tun musste, war, mich an ihre Fersen zu heften und ihnen bis in ihre gemütlichen Wohnstuben zu folgen. Die Krux an der Sache war nur, ich hatte keinen Schimmer, ob Herrchen oder Frauchen im Begriff waren, ihre Tour zu beenden oder ob sie sich gerade erst am Anfang ihrer Route befanden. Lief ich einem Frauchen bereits erfolglos eine viertel Stunde, in ausreichendem und sehr wohl professionellen Abstand hinterher, und ich bemerkte ein zweites interessantes Duo, welches meinen Weg kreuzte, sah ich mich oft genug gezwungen – in der Hoffnung, endlich zum Ziel zu gelangen –, von einem Pärchen zum nächsten zu wechseln. An manchen Tagen musste ich mehrere Male diesen fast zwanghaften Wechsel meiner Zielpersonen über mich ergehen lassen. Lief es ganz schlecht, wirkte es, als hinge ich in einer Zeitschleife fest, die mich hin und wieder fast schon zermürbte. Aber nur fast, denn oft genug flutschte es gut und ich hatte das richtige Timing. Waren wir erst einmal am Zuhause angekommen, schob ich einfach nur, um ein Zufallen zu verhindern, meinen Fuß in die Eingangstür des Wohnblocks und folgte mit etwas Abstand unauffällig mit tief ins Gesicht gezogener Pudelmütze und gesenktem Haupt ins Treppenhaus. Dort wartete ich ein Stockwerk tiefer einige Minuten, lauschte meinem Herzschlag, zog dann meine Pudelmützentarnung vom Kopf, versuchte mein Haar zu glätten, klemmte meinen Marktforschungsausweis zwischen die Zähne, packte mit beiden Händen nach den randvoll mit Packungen gefüllten Tüten und schob mich die letzten Stufen bis zum alles entscheidenden Ort der Kontaktaufnahme empor. Das war die ganze Prozedur der Kontaktvorbereitung. Immer wieder. Ich empfand mich fast wie eine männliche AVON-Beraterin, ich klapperte wie eine Ein-Mann-Kolonne die Türen ab. Was ich hinter all den Türen antraf, lässt sich wohl am treffendsten mit einem Querschnitt derer beschreiben, die so gut wie nie auf der Sonnenseite des Lebens standen. Es erstaunte mich schon etwas, dass viele in einem Zustand hausten, der sogar noch weit unter dem lag, den ich tagtäglich pflegte. Nicht eine lasziv rekelnde Arztgattin traf ich an. Eine kleine Analyse meinerseits zeigte immerhin, dass ich in achtzig Prozent aller Fälle mit Frauen zusammen war. Es zeigte sich nämlich, auch wenn ich mich ausschließlich an Frau mit Hund heftete, ich keineswegs nur mit ihnen die Zeit verbrachte. In einigen Fällen wurde ich nach Einlass von der Frau an den Mann übergeben, was ich innerlich mit einem enttäuschten „Nun denn, wenn es denn sein muss“ kommentierte. Doch letztlich stimmte die Quote. Ein kleiner Teilerfolg, doch Quantität ist ja bekanntermaßen nicht alles. Einen wirklich bleibenden Eindruck hinterließ eine junge Jugoslawin, die in einem Nachtclub an der Bar arbeitete. Sie erzählte mir, dass sie zur Animation der Gäste eine sogenannte Baby-Doll-Nummer abzog. Da ich keine richtige Vorstellung von einer Baby-Doll-Nummer hatte, zog sie sich rasch um und kam in ihrem Kostüm zurück in die Stube. Jetzt verstand ich. Alles an ihr, außer ihrer Haut, war nun rosafarben. Sie trug auf ihrem Kopf eine plüschartige Bommel, eine weitere an ihrem Hintern, und war in ein rosa Korsett gestopft. Untenrum blickte ich auf einen sehr dezent angedeuteten Slip. Oder so etwas. Sie stand kaum einen Meter von mir entfernt, ich saß tief auf ihrer Couch, und sie tanzte und drehte sich mehrmals für mich im Kreis. Ich applaudierte der kleinen, gelungenen Vorstellung. Was mich nicht weniger beeindruckte, war ihr Körperbau. Ich meine nicht ihren Körper, vielmehr ihren Körperbau. Sie war eine ausgesprochen muskulöse und breite Person. Ich hatte vorher noch nie eine derart bepackte Frau bestaunen dürfen. Was sie tat, war nicht so etwas wie Fitness oder Gymnastik, sie machte Kraftsport. Und genauso sah sie auch aus. Enorme Schultern und Oberarme. „Fass mal an“, sagte sie zu mir und ich wusste in diesem Moment nicht richtig, wohin ich fassen sollte. Ich dachte instinktiv an ein bestimmtes Körperteil, doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass auch sie dieses meinte. Sie spannte ihren Oberarm an und ich fühlte an ihm. „Ufff!“ Und wieder machte ich: „Ufff!“ Es war der härteste Muskel einer Frau, den ich je berühren durfte. Sie warf sich zu mir auf die Couch und wir sprachen über das, was sie in dem Nachtclub tat. Für mich war sie eindeutig keine Prostituierte, sie war eine Bardame mit Bommeln dran. Mehr nicht. Erst spät kramte ich meinen Fragebogen heraus und wir tranken, was sie hatte. Es gab Weinbrand zum Kaffee. Danach gab es braunen Rum zum Kaffee. Wir tranken und redeten und ich ließ den Fragebogen unangetastet dahindämmern. Sowieso war erst ihr Hund dran, ein ausgewachsener Schäferhund, der währenddessen die ganz Zeit in der Küche lag. Er blieb dort, weil sie es wollte. Und wolle sie etwas anderes von ihm, dann, so ihre Worte, würde er hart drauf gehen. Auf jeden. „Er ist auch so etwas wie meine Waffe….“, sagte sie mir mit einem belanglosen Schulterzucken. Ich war der Meinung, sie war ausreichend bewaffnet, sie hatte ihren Hund und sich selbst. Um diese Frau musste sich wirklich niemand sorgen. Nur machte ich mir ganz andere Sorgen, als wir in ihre Küche zur Fütterung gingen. Der Napf des Hundes war nicht nur mit Resten irgendwelchen Nassfutters besudelt, er war voller Kakerlaken. Lebender Kakerlaken. Und es gab sie nicht nur im Napf. Überall in der Küche schleppten sich Kakerlaken über den Linoleumboden. So viel Weinbrand und braunen Rum konnte ich gar nicht trinken, um diesen Anblick ohne Ekel zu überstehen. Sie hielt mir ein Einwegglas vor die Nase, normalerweise erwartet man darin Apfelkompott, doch war das Glas gefüllt mit toten Kakerlaken. Sie sammelte die Tiere und bewahrte sie in Einweggläsern auf. Und was sie nicht sammelte, fraß ihr Hund. Ich bekam einen anderen Blick auf ihre Baby-Doll-Nummer. Baby-Doll war nicht mehr so schön wie vorher. Baby-Doll hatte einen Makel bekommen. Als wir uns verabschiedeten, sagte sie mir, sie würde sich freuen, mich mal im Club zu sehen. „Ich mache viel Baby-Doll für dich, komm doch bitte!“ Während sie das sagte, drehte sie sich in der Türschwelle ein letztes Mal für mich und wackelte gekonnt mit ihrer Oberweite. Ich versprach ihr, sie zu besuchen, bekam einen Kuss und ging. Ich blendete die Kakerlaken aus und es war rundherum ein schöner Vormittag, auch wenn mein eigentlicher Auftrag überhaupt nicht in Erscheinung trat. Nun stand mein letzter Tag als Hundefuttermann bevor. Zwei Wochen waren rum und ich hatte kiloweise Futter in die Näpfe purzeln lassen und Fragebögen beschrieben was das Zeug hielt. Meine ausgeklügelte Preisausschreibenmasche entwickelte sich schnell als Rohrkrepierer, da die Leute von mir nicht nur vollmundige Ankündigungen hören, sondern schwarz auf weiß irgendetwas sehen wollten, wie „Jedem, der bei dem Fragebogen mitmacht, garantiere ich, Ronny Luschke höchstpersönlich, eine 99,9%ige Gewinnchance auf eine Fernreise zu den Pygmäen!“ Doch so etwas gab es natürlich nicht. Ich faselte nur erfolglos davon, und schon nach kurzer Zeit verschwand dieser angebliche Trick aus meinem Kopf. Ich beließ es dabei, oft nur an den Haustüren mit den Packungen zu rascheln wie der Weihnachtsmann. Ich schob mich schon am Morgen meines letzten Arbeitstages auf eine Parkbank, um Ausschau nach Frau-Hund-Pärchen zu halten. Mein Paket bestand aus noch fünfzig Fragebögen und vier Packungen Trockenfutter. Bei normaler Arbeitsweise zu viel für einen Tag. Viel zu viel für einen Tag. Wer jedoch auf einer Parkbank mit einigen Packungen neusten Trockenfutter sitzt, braucht nicht lange zu warten, bis er von den ersten Hunden umzingelt wird. Die Köter nahmen ganz einfach Witterung auf und zerrten an den Leinen, bis sich, samt Anhang, eine große Traube um mich herum bildete. Einer von ihnen hob sich aus der Masse deutlich hervor. Ich tippte auf Bulldogge. Gedrungene Gestalt, kurze Beine und vor Kraft nur so strotzend. Er riss förmlich wie ein Berserker an der Leine, sodass Frauchen ins Schwanken geriet, sich der Kraft ihres Rüden schließlich ergab und von ihm zu mir gezogen wurde. Der Kerl war vollkommen seinem Fresstrieb erlegen und er stopfte seinen Kopf tief in jede meiner Plastiktüten. Ich entschied mich spontan für diesen triebhaften Rüden als ersten Testfresser für den letzten Tag. Hin und wieder passierte es auch mal, dass der Hund und nicht die Frau den entscheidenden Impuls für eine Verfolgung gab. An der Leine des Hundes war eine Frau von dürrer Gestalt mit krummem Rücken. Sie sah viel älter aus, als sie wahrscheinlich war. Diese Frau wirkte auf mich wie eine Hexengestalt. Ihr Haar bestand aus dünnen, spröden, langen und schwarzen Fäden, die nicht vollständig ihren Kopf abdeckten. Irgendwo fehlte immer was, wodurch man an einigen Stellen ihre Kopfhaut sehen konnte. Ihr Kopfhaar erinnerte mich an ein Bündel Fäden, die man auf der Kirmes beim Fadenziehen in die Hand bekommt. Und an ihrer Seite war ein Hund, der wie ein zu kurz geratener Schwergewichtsboxer daherkam und einfach nicht zu ihr passte. Hätte ich in diesem Moment genau darüber mal näher nachgedacht, …nun, ich tat es nicht. Sie zog so lange mit ihrer fehlenden Kraft an dem Tier, bis er schließlich ein Erbarmen mit ihr hatte und beide davontrotteten. Ich erklärte der verbleibenden Menge an Menschen und Hunden, dass die Schnüffelstunde nun vorbei wäre und musste zusehen, dass ich den Anschluss zu dem triebhaften Rüden mit der Hexenfrau mit den Fäden am Kopf nicht verlor.
Am Türschild stand „Schmidtke“, schlecht leserlich mit einem Kuli draufgekritzelt. Ich brachte mich in Position, stellte mich gerade auf und läutete. Die Haustür ging auf, Frau Schmidtke schaute durch einen kleinen Spalt, fixierte mich für einen Moment grimmig mit zusammengekniffenen Augen und schlug die Tür wieder zu. Ich war mir sicher, dass sie mich erkannt hatte. Nur wenn sie sich doch an mich erinnern konnte, warum schlug sie dann ohne zu zögern die Tür so schnell wieder zu? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie das tat, weil sie mich wiedererkannte. Ich stand vor einer verschlossenen Tür und machte keinerlei Anstalten wieder meines Weges zu gehen. Ich stand einfach da und schaute mich im Treppenhaus um. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht zu verschwinden, obwohl Frau Schmidtke mir die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Ich war zum ersten Mal in einer solchen Situation. Normalerweise öffneten die Leute und wenn sie nicht interessiert waren, wurden die üblichen Dinge wie „Ich kaufe nichts und mein Hund auch nicht.“ gesagt. So in der Art halt. Auf dem Weg nach unten, drehte ich wieder um und ging zurück an die Tür von dieser Frau Schmidtke. Mir ging so etwas wie eine FBI-Masche durch den Kopf. So nannte ich es in diesem Moment. An meinem letzten Tag wollte ich irgendwie noch einen besonderen Moment, mir war nach einer kleinen gespielten Szene. In den Hauptrollen Frau Schmidkte und ich, beide Akteure lediglich getrennt durch ihre Wohnungstür. Ich wusste zwei Dinge: Frau Schmidtke war in ihrer Wohnung und ich als Hundefuttermann war mit meinem Ausweis in offizieller Mission unterwegs. FBI- Agenten geht es nicht anders. Auch sie wissen, dass die Zielperson hinter einer Tür steckt und auch sie haben einen klaren Auftrag, den sie erfüllen müssen. Ich wollte es drauf anlegen. Es war Mut. Ich wurde wieder von Mut erfasst und dachte an den Esel, den ich vertreiben wollte, wie einen bösen Geist, läutete ein zweites Mal, wartete einen kurzen Moment und begann, anfangs etwas verhalten, gegen die verschlossene Haustür zu reden.
„Frau Schmidtke, können Sie mich hören? Hören Sie mich? Wenn Sie mich hören, dann geben Sie mir bitte kurz ein Zeichen!“
Keine Reaktion von Frau Schmidtke.
„Frau Schmidtke, wir kennen uns doch aus dem Park. Ich saß mit den Tüten auf der Parkbank und ihr Hund war doch so verrückt nach mir, wegen dem Hundefutter was ich bei mir hatte und Sie zogen ihn dann doch weg. Frau Schmidtke? Hören Sie?“
Zu diesem Zeitpunkt gab es kein Zurück mehr für mich. Ich war mittendrin in dieser Nummer und stellte mir sogar vor, neben mir würde ein zweiter, imaginärer Agent stehen. Eine Vorstellung, die mir noch mehr Mut gab.
„Frau Schmidtke, ich kann Sie noch heute Morgen glücklich machen. Sie und Ihren Hund!“ Mir ging durch den Kopf, was ich gerade sagte. „Frau Schmidtke, nicht das Glücklich machen, was Sie jetzt vielleicht denken, sondern ein anderes. Das, was ich meine!“
Ich machte immer wieder auf professionelle Art Pausen, um ihr eine Chance auf Reaktion zu geben.
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Frau Schmidtke. Ich will wirklich nichts von Ihnen. Ich verteile kostenlos Hundefutter hier im Viertel und habe einen kurzen Fragebogen dabei, um mehr geht es doch nicht. Alles was ich vorhabe, wird auch in Ihrem Sinne sein!“
Nichts. Dann kam der Moment, in dem ich es für notwendig hielt, der ganzen Angelegenheit einen offiziellen Anstrich zu geben. Ich zückte meinen Ausweis und hielt ihn gegen die verschlossene Tür.
„Hören Sie, Frau Schmidtke, was Sie jetzt nicht sehen können ist, dass ich gerade meinen offiziellen Ausweis an ihre Tür halte, der mich dazu berechtigt, mit Ihnen zu reden, Sie zu befragen und ihren Hund mit Fressproben zu versorgen. Frau Schmidtke, ich kann Ihnen nur empfehlen, zu kooperieren. Es wird Ihnen nichts passieren. Sie brauchen absolut keine Angst zu haben. Wir sind eine offizielle, international tätige und sehr friedfertige Organisation, die nur Gutes im Schilde führt. Uns liegt das Wohl unserer Kunden am Herzen. Frau Schmidtke, was Sie jetzt auch nicht sehen können, ich reiche Ihnen jetzt meine Hand. Greifen Sie zu! Nehmen Sie von mir ein Stück Glück! Nur darum geht es mir doch!“
Ich machte eine Pause und lauschte an der Tür. Mein Puls marschierte ordentlich und ich nahm einige tiefe Züge der kalten Treppenhausluft.
„Frau Schmidtke, das hat doch alles keinen Sinn! So kann es doch mit uns nicht weitergehen! Nun machen Sie schon auf! Ihr Hund wird mit einer halben Packung bestem Trockenfutter belohnt, soviel hab ich noch nie rausgerückt. Bedenken Sie das bitte! Ich appelliere ein letztes Mal an ihre Vernunft! Sollten Sie sich nach wie vor weigern mit mir zu reden, werde ich in meinem Fragebogen einen Vermerk machen. Mein Institut wird darüber nicht sehr erfreut sein. Strapazieren Sie bitte nicht die Friedfertigkeit unserer Organisation zu sehr. Wir können auch anders, Frau Schmidtke, jawohl, auch anders!“
Man sollte immer wissen, wann es genug ist. Ich wusste es nicht und bekam eine Quittung, die sich gewaschen hatte. Ich erinnerte mich noch dunkel, wie ein großer, stinkender, gewalttätiger Mann in Unterhose die Tür aufriss, mich am Schlafittchen packte, schüttelte und gegen die Treppenhauswand warf. Meine Hundefutterpackungen flogen nur so umher. Das übelriechende Monstrum eines Mannes schnappte sich drei meiner Packungen und verschwand brüllend in der Wohnung von Frau Schmidtke. Ich sammelte meine umherliegenden Packungen zusammen und tastete mich mit weichen, zitternden Knien aus dem Häuserblock. Es ging alles so wahnsinnig schnell vonstatten, dass ich noch nicht einmal genug Zeit hatte, mich zu entscheiden, ob Furcht oder Mut die richtige Reaktion gewesen wäre. Jetzt saß ich wieder auf meiner Parkbank und war wie von Angst gepackt. Angst vor großen, stinkenden Männern in Unterhosen. So konnte es nicht weitergehen, nicht einmal für die letzten paar Stunden, die ich noch vor mir hatte. Nur, es war mittlerweile mittags und keiner meiner restlichen fünfzig Fragebögen auch nur ansatzweise beschrieben. Ich begann, Namen und Adressen mir auszudenken und Kreuzchen zu machen. Am Abend werde ich mir meine Wunden lecken und trinken. Richtig trinken. Und ich werde diesen Straßenabschnitt meiden, nicht dass der stinkende Mann sich mein Gesicht gemerkt hatte. Und sprach der idiotische Student in der Mensa nicht von einem angenehmen Job? Ich werde ihn mir vorknöpfen. Ich werde ihm die Packungen und die Fragebögen an seine Hände festketten und ihn dann in die Mietskasernen peitschen. Vom Geruch des Futters angelockt, hatte sich längst wieder eine neue Traube an Hunden um mich herum versammelt. Das tierische Gewusel um mich herum störte mich in meiner Konzentration so sehr, dass mir nicht mal mehr die einfachsten Namen einfielen. Es war eindeutig der falsche Ort für hochkonzentriertes Arbeiten. Während ich meinen Kram zusammenpackte, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Bei näherer Betrachtung war dieser angebliche Geistesblitz kein wirklicher Geistesblitz, sondern nur außerordentlich naheliegend. Vielleicht war der Gedanke auch einfach nur zu banal, um schon viel früher Zugang zu meinem Gehirn zu bekommen. Was war eigentlich in meinem Treppenhaus los? Wo ich wohnte. Ein Dutzend obskurer Menschen lebten dort, einige gemeinsam mit ihren vierbeinigen Freunden. Mit wenigen von ihnen konnte ich sogar, mit vielen nicht. Es kam jetzt nur darauf an, an die Richtigen heranzukommen, aber so kam es leider nicht. Außer Michalski war keiner anzutreffen und Michalski war ein Fall für sich. Wir wohnten im vierten Stock genau gegenüber. Michalski war um die vierzig, hatte immer langes, ungewaschenes, schon gräuliches Haar und er trug ein kleines, dünnes Brillengestell, wie es die Intellektuellen zu tragen pflegen. Er war wohl der Meinung, so könne man ihm sein verwahrlostes Junkiedasein nicht sofort ansehen. Obwohl er von großer Statur war, konnte man erkennen, dass bereits seine besten Jahre, wenn es die überhaupt gab, vorbei waren. Er war leider schon mitten im körperlichen Verfall angekommen. Er bewegte sich nur gebeugt, war oft äußerst nervös und rieb sich ständig mit umherwandernden Blicken die Hände. Es ging mit uns beiden anfangs gar nicht so schlecht los, wir verbrachten sogar einige Sonntage zusammen auf der Trabrennbahn, Michalski, sein Schäferhund und ich. Es waren schöne Tage voller Heiterkeit und viel Unsinn. Aber dann kam der Tag, an dem ich mich mal wieder aussperrte. Michalski bot mir zur Lösung des Problems prompt seine Hilfe an. Was jedoch dann passierte, konnte ich nur noch mit gelähmter Fassungslosigkeit beobachten. Der Mann zerspante mir mit schwerem Bohrgerät im Drogenwahn nicht nur das ganze Schloss, sondern auch die Tür drum herum. Er hinterließ ein Loch von zwanzig Zentimeter Durchmesser. Wir konnten uns mit Leichtigkeit die Hände durch diese Öffnung zur Begrüßung reichen. Der Vermieter betrachtete die ganze Angelegenheit mit weniger Leichtigkeit und ich musste für eine neue Wohnungstür aufkommen. Michalski hatte mit all dem nichts zu tun, wie er dem Vermieter versicherte. Seit diesem Vorkommnis hatte unsere Beziehung erhebliche Risse bekommen. Aber es gab eben auch die schönen Tage mit ihm auf der Trabrennbahn in Mariendorf. Mit Michalski und Hund sonntäglich Zeit auf der Rennbahn zu verbringen bedeutete erst einmal wirklich viel Zeit mitzubringen. Stand ich morgens um neun abmarschbereit bei ihm auf der Matte, machten wir uns keineswegs unverzüglich auf die Socken. Ich durfte mich erstmal auf sein abgewetztes Sofa setzen, und ihn dabei beobachten, wie er sich selbst versuchte zu sortieren. Er war sonntags anfangs immer angeschlagen und besonders durch den Wind. Das hatte jedoch nichts damit zu tun, dass er am Vorabend unterwegs war. Er war in den seltensten Fällen mit anderen unterwegs. Er war ein ziemlich einsamer Knochen, der mit seinem Hund und einem Wellensittich zusammenlebte. Wenn ein vierzig Jahre alter Mann mit einem Hund zusammenlebt ist das eine Geschichte, wenn ein vierzig Jahre alter Mann mit einem Hund und einem Wellensittich zusammenlebt, ist das ein klares Zeichen für fortschreitende Vereinsamung. Aber ich gewöhnte mich an den Anblick eines erwachsenen Mannes, der nichts Besseres zu tun hatte, als frisches Wasser in eine kleine Vogeltränke zu füllen. Auch dies gehörte zu seinen sonntäglichen Vormittagsritualen, bevor wir uns in Bewegung setzen konnten.
Gegen Mittag nahmen wir Platz auf einer der Tribünen. Rufus, so der Name seines Hundes, machte zwischen uns Sitz. Er sabberte nur allzu gern meine Hosen ein. Wir drei waren sofort wie angefixt von diesem Wetteifer der Pferderennen. Michalski war wie ausgetauscht. Die Trabrennbahn war sein Element. Er gestikulierte wild wie ein Verrückter, der er ja ohne Zweifel auch war, und erklärte mir dabei jedes Detail zu jedem Pferd und jedem dazugehörigen Jockey. Dann lief er los und besorgte uns Wettscheine und Bier, und zwar für uns drei, Rufus eingeschlossen, und er meinte das durchaus ernst. Rufus bekam eine Mischung aus Wasser und Bier in eine Trinkschale, die Michalski immer dabei hatte, wobei Michalskis Mischverhältnis selten zugunsten des Wassers ausfiel, was Rufus jedoch nicht weiter störte. Im Gegenteil, er stürzte sich förmlich auf seinen ersten Drink und schlabberte in schnellen Zügen seinen Napf leer. Er quittierte es mit zufriedenem, aber auch forderndem Bellen nach mehr. Auch für Rufus war der erste Napf nur der Beginn für einen feuchtfröhlichen Tag und er wurde von seinem Herrchen keineswegs außen vorgelassen. Rufus bekam regelmäßig, wie auch wir selbst, seine Portion. Michalskis Wettstrategie war, nur auf die hohen Favoriten zu setzen. Er war ein Schisser und mied das Risiko. Außenseiter gewinnen zu selten, brabbelte er ständig. Ich dagegen setzte nur auf Außenseiter und zwar die Form von Außenseiter, die nun wirklich keiner auf der Rechnung hatte. Auch die, denen Michalski totale Formschwäche attestierte. Michalski gewann oft und kassierte wenig, ich ganz selten, aber dafür bis zum Zehnfachen meines Einsatzes. Wir hatten immer einen Grund zu feiern. Rufus ließ es sich nicht nehmen, seine Kommentare in Form von freudigem Gebelle kundzutun. Er war genauso wild auf die Rennen wie wir und bellte die trabenden Pferde lautstark ins Ziel. Michalski übernahm das Ausfüllen von Rufus Wettscheinen, was aber nichts anderes bedeutete, als dass Rufus genauso risikolos wetten musste wie sein Herrchen. Ich war erstaunt, was der Hund vertrug, denn selbst nach vier, fünf leergeschleckten Trinkschalen bellte er keineswegs fahrig, launig oder überdreht. Er war die ganze Zeit wirklich gut bei der Sache. Ich dachte mir, wahrscheinlich wird er als Tier sehr wohl merken, das dort ebenfalls Tiere im Geläuf unterwegs sind, was vielleicht eine gewisse geistige Verbundenheit zwischen Hund und Pferd erzeugte. So konnte es gewesen sein. Sie gehören einer gemeinsamen Spezies an. Rufus und Michalski dagegen nicht und möglicherweise konnte Rufus das erkennen. Vielleicht kreisten in seinem Hundekopf auch Gedanken an eine zukünftige Neuordnung zwischen Tier und Mensch, das eben der Zeitpunkt komme würde, wo Hunde und Pferde sich den Menschen untertan machen und dressieren würden. Rufus war immerhin ein Hund, kein Idiot. Je mehr ich trank und darüber sinnierte, so realistischer erschien mir ein derartiges Bild der Zukunft. Noch nicht morgen, oder nächstes Jahr, aber irgendwann. Wir vertranken immer all unsere Wetteinahmen bis zum letzten Groschen und zogen dann von Glück besudelt, ein Hund und zwei Männer, zurück zur U-Bahn. Ja, es waren wunderbare Sonntage auf der Trabrennbahn.
Mit diesen wohligen Gedanken stand ich vor Michalskis Tür. Wir werden Fragebögen ausfüllen, er sein Gras rauchen, ich sein Bier trinken und beide werden wir Rufus dabei zuschauen, wie er sich genüsslich durch meine Probepackungen fressen würde. Mache den Menschen und Tieren Geschenke und sie sind außer sich vor Freude. Eine alte Binsenweisheit, die auch an diesem Nachmittag ohne Abstriche auf Michalski und Rufus passte. Drei Kilo Trockenfutter bedeuteten für Michalski, den guten alten Rufus über Wochen bei Laune und Kraft halten zu können und klein zerbröselt ginge das Zeug auch als Vogelfutter für seinen Sittich durch. Michalski war nicht der Typ für große Worte, seine Freude über den unerwartet großen Gabentisch zeigte er durch beherzte Schläge auf meine Schulter und einer anschließenden kurzen, aber wilden Luftgitarreneinlage, die so abrupt endete, wie sie begann. Wir machten es uns zu dritt auf seinem mit Brandlöchern durchsiebten Orientteppich gemütlich, tranken, und Rufus fraß die Brocken in sich rein. Michalski stellte noch den Vogelkäfig zu uns, so waren wir eine gemütliche Runde von zwei Menschen und zwei Tieren, jede Spezies war quasi pari vertreten. Ich fand es erstaunlich wie widerstandsfähig beide Tiere, auch der Sittich, waren. Michalski war ständig am Rauchen, egal ob Gras oder Zigaretten, und der Sittich befand sich permanent in einer dichten Wolke. Nur dank seiner gelben Signalfarbe blieb er für uns sichtbar und es war bemerkenswert, dass er nicht von Atemnot geplagt, von der Stange fiel.
Unglaublich, an diesem Nachmittag waren wir in der Lage sämtliche fünfzig Fragebögen auszufüllen. Tatsächlich war es so, dass Michalski nach zehn Bögen auf dem Teppich einschlief und ich die restlichen im Beisein seiner Tiere, die wach blieben und mir zuschauten, selbst bekritzelte. Ich machte schließlich einen großen Schritt über den schlafenden Körper meines Nachbarn, kraulte zum Abschied den borstigen Hundeschädel und schloss leise die Tür hinter mir. Michalski hatte sich seinen Schlaf redlich verdient.
Drei Tage später saß ich wieder im Büro meines Chefs, breitete sämtliche ausgefüllte Fragebogen auf seinem Schreibtisch aus und erzählte ihm, wie großartig und erfolgreich meine Zeit als Befrager und Verkoster gewesen ist.
„Keinen getürkt?“, fragte er.
„Keinen Einzigen, schauen Sie sich die Antworten und die Kommentare an, die können nur von echten Menschen in echten Situationen mit echten Hunden kommen. So viel steht fest!“
„Ja, ich sehe, gute Arbeit, wir starten in vier Wochen einen großangelegten Testlauf für eine neue Zahnpasta und ich hätte Sie gern dabei.“
„Zahnpasta? Für Hunde?“
Er rückte sich seine Krawatte zurecht, drehte an seiner Taucheruhr und sagte: „Natürlich nicht, auf was für Ideen kommen Sie eigentlich? Natürlich für Menschen wie Sie und ich!“ Wie belanglos, dachte ich, lehnte dankend ab und ging.