Читать книгу Das Paradies der Damen: mehrbuch-Weltliteratur - Émile Zola - Страница 4
Zweites Kapitel
ОглавлениеAm folgenden Tag um halb acht Uhr morgens fand sich Denise vor dem »Paradies der Damen« ein. Sie wollte sich dort vorstellen und anschließend Jean zu seinem Lehrherrn bringen, der weit weg im Faubourg du Temple wohnte. Da sie gewohnt war, zeitig aufzustehen, war sie zu früh dran; die Angestellten kamen selber erst spärlich an, und da sie sich lächerlich zu machen fürchtete, ging sie noch eine kleine Weile auf und ab.
Es wehte ein kalter Wind, der das Pflaster bereits getrocknet hatte. Aus allen Straßen kamen jetzt eiligen Schrittes die Angestellten, den Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, gleichsam überrascht von diesem ersten Winterschauer. Die meisten gingen allein und verschwanden im Hintergrund des Warenhauses, ohne mit ihren Kollegen ein Wort zu wechseln oder sie auch nur anzublicken. Andere kamen zu zweien oder dreien; in lebhaftes Gespräch vertieft, nahmen sie die ganze Breite des Bürgersteigs ein. Und alle warfen, bevor sie eintraten, mit der gleichen Handbewegung den Rest ihrer Zigarre oder Zigarette in den Rinnstein.
Denise bemerkte, daß mehrere der Männer sie im Vorübergehen anblickten. Da nahm ihre Schüchternheit noch zu. Sie fühlte nicht mehr die Kraft, ihnen zu folgen, und beschloß zu warten, bis der Strom der Angestellten versiegte. Sie errötete bei dem Gedanken, unter der Tür zwischen all diesen Männern hin- und hergestoßen zu werden. Um den Blicken zu entgehen, machte sie langsam die Runde um die Place Gaillon.
Als sie zurückkam, fand sie vor dem »Paradies der Damen« einen langen, blassen, schlaksigen Jüngling, der gleich ihr seit einer Viertelstunde hier zu warten schien.
»Fräulein«, fragte er sie endlich mit stotternder Stimme, »sind Sie vielleicht Verkäuferin hier in diesem Haus?«
Sie war so verblüfft darüber, von einem ihr unbekannten jungen Mann angesprochen zu werden, daß sie nicht sogleich antwortete.
»Ich möchte nämlich gern hier unterkommen«, fuhr er noch verlegener fort, »und ich dachte, daß Sie mir vielleicht Auskunft geben könnten.«
»Ich würde Ihnen gern helfen«, antwortete sie endlich; »aber es geht mir wie Ihnen; ich will mich auch vorstellen.«
»Ach so! Ganz recht!« sagte er, völlig außer Fassung.
Nun erröteten sie alle beide; schweigend und schüchtern standen sie einander gegenüber, gerührt durch die Ähnlichkeit ihrer Lage und doch zu zaghaft, um sich gegenseitig laut einen guten Erfolg zu wünschen. Als schließlich keiner von beiden mehr etwas zu sagen wußte und ihre Verwirrung nur größer wurde, gingen sie linkisch auseinander und warteten einige Schritte entfernt, jeder für sich.
Immer noch kamen Angestellte. Denise hörte sie ihre Spaße machen, wenn sie an ihr vorüberkamen und ihr einen Seitenblick zuwarfen. Sie wurde immer verlegener, das Ziel so vieler Blicke zu sein, und entschloß sich gerade, einen Spaziergang von einer halben Stunde durch das Stadtviertel zu machen, als der Anblick eines jungen Mannes, der raschen Schritts aus der Rue Port Mahon kam, sie einen Augenblick zurückhielt. Es mußte ein Abteilungsleiter sein, denn alle Angestellten grüßten ihn. Er war groß, die Haut zart und hell, der Bart sorgfältig gepflegt; seine Augen, die er im Vorbeigehen einen Moment auf ihr ruhen ließ, waren goldbraun und samtweich. Er war längst mit gleichgültiger Miene im Warenhaus verschwunden, als sie noch immer unbeweglich, wie gebannt von diesem Blick dastand, von einer seltsamen Erregung ergriffen, in der ein Gefühl des Unbehagens überwog. Wieder kam die Angst über sie; sie ging langsam die Rue Gaillon, dann die Rue Saint-Roch hinab in der Hoffnung, ihren Mut wiederzufinden.
Der junge Mann war mehr als ein Abteilungsleiter; es war Octave Mouret selbst. Er hatte die verflossene Nacht nicht geschlafen; nach einer Abendgesellschaft bei einem Wechselagenten war er mit einem Freund und zwei Frauen, die sie hinter den Kulissen eines kleinen Theaters aufgelesen hatten, noch essen gegangen. Sein zugeknöpfter Mantel verbarg den Frack und die weiße Krawatte. Er stieg rasch in seine Wohnung hinauf, um sich zu waschen und die Kleidung zu wechseln. Als er in sein Arbeitszimmer, das im Zwischenstock lag, zurückkehrte und an seinem Schreibtisch Platz nahm, war er wieder frisch, sein Blick war klar, er war völlig beim Geschäft, als habe er zehn Stunden in seinem Bett zugebracht. Das geräumige Arbeitszimmer hatte eichene, mit grünem Rips überzogene Möbel. Die einzige Zierde des Raumes war ein Bild: das Porträt jener Frau Hédouin, von der man im Stadtviertel noch immer sprach. Octave bewahrte ihr ein zärtliches Andenken und zeigte sich im Gedächtnis sehr dankbar dafür, daß sie ihm durch die Heirat ein Vermögen zugebracht hatte. Bevor er daran ging, die Wechsel zu unterschreiben, die auf seinem Tisch lagen, warf er auch jetzt ein Lächeln zu dem Bild empor, das Lächeln eines Glücklichen. Hier vor ihren Augen fand er sich immer wieder ein, um zu arbeiten, wenn er sich die Zerstreuungen eines jungen Witwers gegönnt hatte, wenn er aus den Schlafzimmern heraus war, in die er sich in seinem Bedürfnis nach Vergnügen verirrt hatte.
Es klopfte an die Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat ein junger Mann ein, groß und hager, mit schmalen Lippen, spitzer Nase, elegant gekleidet, die langen Haare, in denen schon einige graue Strähnen zu sehen waren, glatt nach hinten gestrichen. Mouret schaute einen Moment auf, dann sagte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen:
»Gut geschlafen, Bourdoncle?«
»Danke, sehr gut«, erwiderte der junge Mann, der mit vertraulicher Ungezwungenheit im Raum umherging.
Bourdoncle, Sohn eines armen Pächters aus der Umgebung von Limoges, war gleichzeitig mit Mouret im »Paradies der Damen« eingetreten zu einer Zeit, als das Geschäft noch kaum mehr als die Ecke der Place Gaillon einnahm. Sehr klug, sehr tätig, schien er damals ganz dazu angetan, seinen Kameraden zu verdrängen, der, weniger ernsthaft veranlagt, ständig mit Weibergeschichten zu tun hatte. Allein Bourdoncle hatte nicht den genialen Zug dieses leidenschaftlichen Provenzalen, es fehlte ihm dessen kühner Schwung, seine überwältigende Liebenswürdigkeit. Übrigens hatte er sich mit sicherem Instinkt vom ersten Augenblick an widerstandslos dem andern gebeugt. Als Mouret seinen Angestellten den Rat erteilt hatte, ihr Geld in seinem Geschäft anzulegen, hatte Bourdoncle als einer der ersten nachgegeben und ihm sogar eine Erbschaft anvertraut, die ihm von einer Tante unerwarteterweise zugefallen war. Und nachdem er alle Stufen emporgeklettert war, erst Verkäufer, dann Zweiter, schließlich Leiter der Seidenabteilung, war er schließlich einer der Stellvertreter des Inhabers geworden, der geschätzteste und angesehenste, einer der sechs Teilhaber, die den Chef in der Leitung des Hauses unterstützen, eine Art Ministerrat unter einem absoluten Herrscher. Jeder von ihnen überwachte ein Teilgebiet; Bourdoncle hatte die Oberaufsicht.
»Und wie haben Sie die Nacht zugebracht?« fragte er vertraulich.
Als Mouret ihm erwiderte, daß er gar nicht zu Bett gegangen sei, schüttelte er den Kopf und brummte:
»Sehr unvernünftige Lebensweise!«
»Wieso denn?« meinte der andere vergnügt. »Ich bin weniger müde als Sie. Sie haben vom Schlaf verklebte Augen; Sie werden ganz schwerfällig, wenn Sie allzu solide sind. Amüsieren Sie sich: das muntert die Gedanken auf.«
Sie stritten oft freundschaftlich über diesen Gegenstand. Bourdoncle hatte anfangs seine Geliebten geprügelt, weil sie, wie er sagte, ihn nicht schlafen ließen. Jetzt gestand er offen, daß er die Frauen hasse. Indessen hatte er sicherlich auswärts Zusammenkünfte, von denen er nicht sprechen wollte, so wenig berührten sie sein Inneres; er begnügte sich damit, im Geschäft die weiblichen Kunden auszubeuten, wobei er sich voller Verachtung über die Leichtfertigkeit ausließ, mit der sie ihr Geld für so manchen unnützen Tand vergeudeten. Mouret dagegen tat sehr entzückt, war in Gegenwart der Frauen stets verführerisch, liebenswürdig und fortwährend in neue Liebschaften verwickelt. Und diese Liebschaften waren gleichsam eine Reklame für sein Geschäft; man war versucht zu sagen, daß er das ganze schöne Geschlecht in einer einzigen Umarmung umfange, um es desto sicherer zu betören und sich dienstbar zu machen.
»Ich habe gestern auf dem Ball Frau Desforges gesehen«, fuhr er fort. »Sie war reizend.«
»Aber Sie haben nicht etwa anschließend mit ihr gegessen?« fragte sein Teilhaber.
»Wo denken Sie hin!« rief Mouret. »Sie ist viel zu anständig für so etwas, mein Lieber ... Nein, soupiert habe ich mit Héloise, der kleinen Schauspielerin aus den Folies. Sie ist dumm wie eine Gans, aber sehr drollig!«
Er nahm ein neues Bündel Wechsel zur Hand und fuhr fort zu unterschreiben. Unterdessen ging Bourdoncle im Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick durch die hohen Fensterscheiben auf die Rue Neuve-Saint-Augustin; dann kam er zum Schreibtisch zurück und sagte:
»Sie werden sich rächen.«
»Wer denn?« fragte Mouret zerstreut.
»Nun, die Frauen.«
Diese Bemerkung versetzte Mouret erst recht in heitere Stimmung; er kehrte die Brutalität hervor, die sich unter all der Anbetung der Frauen verbarg. Verächtlich zuckte er die Achseln, um gleichsam damit auszudrücken, daß er sie wie leere Säcke abschütteln werde, sobald sie ihm zum Aufbau seines Vermögens verholfen hätten. Bourdoncle aber wiederholte eigensinnig:
»Sie werden sich rächen ... Es wird sich eine finden, die alle übrigen rächt; es ist ein Verhängnis mit den Frauen.«
»Da habe ich keine Angst!« rief Mouret. »Diese eine ist noch nicht geboren. Wenn sie kommt, wird sie an mir ihren Gegner finden.«
Sie schwiegen; man hörte nichts als das Gekritzel der Feder Mourets. Auf seine kurzen Fragen gab Bourdoncle dann Auskunft über den großen Sonderverkauf von Winterartikeln, der am nächsten Montag stattfinden sollte. Es war ein gewagtes Unterfangen, die ganze Existenz des Hauses stand dabei auf dem Spiel; die im Stadtviertel umlaufenden Gerüchte waren nicht unbegründet.
Mouret hatte sich mit dem Elan eines Künstlers in dieses Unternehmen gestürzt, mit einem solchen Aufwand, mit einer solchen Leidenschaft für das Kolossale, daß er auch heute noch, trotz seiner ersten Erfolge, seine Teilhaber zuweilen in Bestürzung versetzte. Man tadelte ihn im stillen, daß er allzu rasch vorgehe; man beschuldigte ihn, daß er in gefährlichem Maße das Lager erweitert habe, ohne noch zu wissen, woher er die zusätzliche Kundschaft nehmen sollte; insbesondere zitterte man, als man sah, daß er alles Geld auf eine Karte setzte, ganze Berge von Waren anhäufte, ohne Rücklagen zu behalten.
Doch als Bourdoncle sich jetzt erlaubte, seine Besorgnisse über die allzu schnelle Erweiterung einiger Abteilungen des Hauses zu äußern, deren Rentabilität noch ungewiß war, lachte Mouret zuversichtlich und rief:
»Lassen Sie's gut sein, mein Lieber, das Haus ist noch immer zu klein.«
Der andere war völlig verblüfft, von einer Angst erfaßt, die er gar nicht zu verbergen suchte. Das Haus zu klein! Ein Modewarenhaus, in dem es neunzehn Abteilungen gab und das vierhundertdrei Angestellte beschäftigte!
»Trotzdem«, sagte Mouret. »Ehe anderthalb Jahre vergehen, werden wir uns vergrößern müssen. Ich denke ernstlich daran. Gestern abend hat Frau Desforges mir versprochen, mich mit einem Herrn bekannt zu machen ... Kurz, wir werden später noch darüber reden, wenn die Sache spruchreif ist.«
Bevor sie nun aber zu ihrem üblichen Rundgang ins Geschäft hinuntergingen, besprachen sie noch einige Einzelheiten miteinander. Sie sahen sich das Muster eines Abreißblocks an, den sich Mouret für die Verkaufsabrechnungen ausgedacht hatte. Er hatte nämlich festgestellt, daß die sogenannten Ladenhüter um so rascher abgesetzt wurden, je größer die Provision war, die er seinen Angestellten gab. Daraufhin hatte er etwas völlig Neues eingeführt. Er beteiligte seither seine Angestellten an allem, was sie umsetzten, und gab ihnen Prozente für den kleinsten Stoffrest, für den geringsten Artikel, den sie verkauften. Diese Einrichtung hatte einen wahren Kampf ums Dasein unter den Angestellten entfacht, einen Kampf, der den Geschäftsinhabern zugute kam.
Das Muster wurde für gut befunden. Auf dem oberen Teil des Blocks wie auf dem Abriß waren Abteilung und Nummer des Verkäufers angegeben; dann befanden sich auf beiden Teilen gleiche Rubriken für die Meter- oder Stückzahl, die Art des Artikels und den Preis; der Verkäufer hatte das Blatt nur zu unterzeichnen, bevor er es an der Kasse abgab. Auf diese Weise war die Überprüfung sehr einfach, es genügte, die abgegebenen Kassenzettel mit den in den Händen der Angestellten gebliebenen Kontrollabschnitten zu vergleichen. Jede Woche konnten so die Verkäufer ihre Provisionen abheben, ohne daß ein Irrtum möglich war.
»Wir werden weniger bestohlen werden«, bemerkte Bourdoncle zufrieden; »das war ein ausgezeichneter Gedanke von Ihnen.«
»Ich habe diese Nacht noch an andere Dinge gedacht«, sagte Mouret. »Ich hätte Lust, den Leuten unserer Abrechnungsstelle eine Prämie für jeden Fehler auszusetzen, den sie in den Kassenblocks entdecken. So sind wir sicher, daß sie die Prüfung sorgfältig vornehmen.«
Er begann zu lachen, während der andere ihn bewundernd anblickte.
»Also gehen wir hinunter«, meinte er dann. »Wir müssen uns um den Sonderverkauf nächste Woche kümmern. Die Seidenstoffe sind gestern angekommen? Bouthemont wird wohl in der Annahmestelle sein.«
Bourdoncle folgte ihm. Die Warenannahme lag im Keller nach der Rue Neuve-Saint-Augustin zu. Zu ebener Erde befand sich ein verglaster Vorraum, in dem die ankommenden Waren abgeladen wurden. Nachdem sie gewogen waren, glitten sie auf einer Rutschbahn in die Tiefe.
Einen Augenblick blieb Mouret hier stehen. Es herrschte reger Betrieb: lange Reihen von Kisten kamen die schräge Bahn herab, von unsichtbaren Händen auf den Weg geschickt. In dem fahlen Licht, das durch die breiten Kellerfenster hereinfiel, war eine Schar von Männern damit beschäftigt, die herabgleitenden Sendungen in Empfang zu nehmen, eine andere Gruppe hatte die Aufgabe, unter der Aufsicht des Abteilungsleiters die Kisten und Ballen zu öffnen. Die Betriebsamkeit einer Werkstatt erfüllte den ganzen Keller.
»Ist alles da, Bouthemont?« fragte Mouret einen kräftig gebauten jungen Mann, der eben dabei war, den Inhalt einer Kiste festzustellen.
»Es wird wohl jetzt alles angekommen sein«, erwiderte Bouthemont. »Aber ich werde den ganzen Vormittag mit der Abnahme vollauf zu tun haben.«
Der Abteilungsleiter stand an einem großen Tisch, und während einer seiner Verkäufer Stück für Stück die Seiden aus der Kiste nahm und vor ihm stapelte, verglich er jeden Posten mit den Angaben auf dem Begleitschein. Um sie herum reihte sich Tisch an Tisch, sämtlich vollgepackt mit Waren, die von einem Heer von Angestellten geprüft wurden. Es war ein allgemeines Auspacken, ein scheinbares Durcheinander von Stoffen, die unter lebhaftem Stimmengewirr hin- und hergewendet, geprüft und schließlich ausgezeichnet wurden.
Bouthemont, der in seinem Fach schon einen gewissen Ruf genoß, hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, einen pechschwarzen Bart und schöne, braune Augen. Er war etwas prahlerisch veranlagt, für den Verkauf nicht sonderlich geeignet, im Einkauf dagegen unbezahlbar. Sein Vater, der in Montpellier ein kleines Modewarengeschäft führte, hatte ihn nach Paris geschickt, damit er etwas Rechtes lerne. Als es ihm aber genug erschienen war und er den Sohn hatte zurückrufen wollen, damit er das väterliche Geschäft übernehme, hatte der junge Mann sich geweigert, Paris zu verlassen. Seither hatte sich die Kluft zwischen Vater und Sohn mehr und mehr vertieft. Der Alte hielt an seinem Kleinhandel fest und war ganz empört, als er sehen mußte, daß ein einfacher Angestellter das Dreifache von dem bekam, was er selbst verdiente. Der Sohn dagegen machte sich lustig über den Betrieb daheim, prahlte mit seinen Errungenschaften und stellte alles auf den Kopf, wenn er zuweilen nach Hause kam. Gleich den übrigen Abteilungsleitern bezog er außer seinen dreitausend Franken Jahresgehalt noch eine Umsatzprovision. Er hatte im Einkauf völlig freie Hand, reiste fast jeden Monat nach Lyon, um bei den Fabriken seine Bestellungen aufzugeben, und mußte nur von Jahr zu Jahr in einem bestimmten Verhältnis den Umsatz seiner Abteilung steigern.
Bourdoncle hatte mittlerweile einen der Stoffe zur Hand genommen, dessen Griffigkeit er mit der Miene des Fachmanns prüfte. Es war eine Seide mit blau-silberner Webkante, das berühmte »Pariser Glück«, mit dem Mouret einen entscheidenden Schlag führen wollte.
»Die Seide ist wirklich sehr gut«, murmelte Bourdoncle.
»Und vor allem wirkungsvoll«, bemerkte Bouthemont. »Bleibt es dabei: wir zeichnen sie mit fünf Franken sechzig aus? Sie wissen, das ist knapp der Einkaufspreis.«
»Ja, fünf Franken sechzig«, erwiderte Mouret lebhaft; »wenn es nach mir allein ginge, würde ich sie mit Verlust weggeben.«
Der Abteilungsleiter lachte laut auf.
»Das wäre mir nur angenehm; sie ginge dann dreimal so schnell weg, und mir liegt ja daran, daß recht viel verkauft wird.«
Bourdoncle hingegen blieb ernst und kniff die Lippen zusammen. Er bezog seine Prozente vom Reingewinn, folglich hatte er kein Interesse an herabgesetzten Preisen. Die Kontrolle, die er übte, war hauptsächlich darauf gerichtet, die Auszeichnung zu überwachen, damit Bouthemont, um seine Umsätze zu vergrößern, nicht mit zu niedrigen Spannen arbeitete.
»Wenn wir sie mit fünf Franken sechzig abgeben, ist es so gut wie mit Verlust verkauft«, bemerkte er, »denn wir dürfen unsere sehr beträchtlichen Unkosten nicht vergessen. Überall sonst würde man sie für sieben Franken verkaufen.«
Mouret wurde ärgerlich, schlug mit der flachen Hand auf die Seide und rief erregt:
»Das weiß ich ja, und deshalb will ich meinen Kunden ein Geschenk damit machen! Mein Lieber, Sie werden die Frauen niemals verstehen. Begreifen Sie denn nicht, daß sie sich um den Stoff reißen werden?«
»Natürlich! Und je mehr sie sich darum reißen, desto größer ist unser Verlust.«
»Wir werden an diesem Artikel einige Centimes verlieren. Was weiter? Ist das ein Unglück, wenn es uns damit gleichzeitig gelingt, alle Frauen anzulocken, ihnen mit unserer Warenmenge die Köpfe so zu verdrehen, daß wir mit ihnen anfangen können, was wir wollen, und sie den Inhalt ihrer Börsen ungezählt bei uns lassen? Die ganze Kunst, mein Lieber, besteht darin, sie Feuer fangen zu lassen, und dazu bedarf es eines Artikels, der ihnen schmeichelt, der Aufsehen erregt. Dann können Sie alles andere so teuer verkaufen wie woanders – sie werden immer glauben, es bei Ihnen billiger zu bekommen. Die ›Goldhaut‹ zum Beispiel, diesen Taft zu sieben Franken fünfzig, der überall zum selben Preis verkauft wird, werden sie ebenfalls für ein besonders günstiges Angebot halten, und das wird genügen, um unseren Verlust am ›Pariser Glück‹ zu decken. Warten Sie nur ab! Ich will, daß das ›Pariser Glück‹ in acht Tagen die ganze Stadt in Aufruhr bringt, verstehen Sie? Es ist das große Los, es wird uns den Sieg sichern und uns zum Erfolg führen. Man wird von nichts anderem als von diesem Stoff reden. Sie sollen sehen, wie das unsere Konkurrenz im Kleinhandel trifft! Begraben lassen können sie sich allesamt, diese Trödler, die in ihren Kellern nach und nach am Zipperlein eingehen!«
Die Angestellten ringsum lächelten und lasen ihm die Worte vom Munde ab. Er hörte sich gern reden und wollte immer recht behalten. Und Bourdoncle gab wieder einmal nach.
»Den Fabriken ist am schlimmsten dabei zumute«, bemerkte nun Bouthemont. »In Lyon ist man wütend auf Sie; die Leute behaupten, daß Ihre niedrigen Preise sie zugrunde richten. Sie wissen, daß Gaujean mir mit aller Entschiedenheit den Krieg erklärt hat. Er will lieber den kleinen Häusern langfristige Kredite gewähren, ehe er meine Preise annimmt.«
Mouret zuckte die Achseln.
»Wenn Gaujean nicht zur Vernunft kommt«, sagte er, »wird er den kürzeren ziehen. Was wollen die Leute denn? Wir bezahlen bar und nehmen alles, was sie produzieren. Da ist es doch das wenigste, zu verlangen, daß sie billiger arbeiten! Im übrigen kommt es darauf an, daß das Publikum zufrieden ist.«
Einen Augenblick sah Mouret noch den Arbeiten zu, dieser Geschäftigkeit beim Auspacken der Waren, die allmählich den Keller fast bis an die Decke füllten; dann entfernte er sich wortlos, mit der Miene eines Feldherrn, der mit seinen Truppen zufrieden ist. Bourdoncle folgte ihm.
Langsam durchschritten sie den Kellerraum; durch die in gleichmäßigen Abständen angebrachten Fenster fiel ein mattes Licht herein; in den dunklen Winkeln, den schmalen Gängen brannten ständig Gasflammen. Im Vorübergehen warf Mouret einen Blick auf die Heizung, die am nächsten Montag zum erstenmal in Betrieb genommen werden sollte. Weiter links, nach der Place Gaillon zu, lagen die Küche und die Speiseräume, ehemalige Keller, die in kleine Säle umgewandelt worden waren. Endlich gelangte er am anderen Ende des Geschosses in den Warenabgang. Hierher kamen alle Pakete, die die Kunden nicht mitgenommen hatten. Sie wurden auf langen Tischen nach Zustellungsbereichen sortiert; über eine breite Treppe, die gerade dem »Vieil Elbeuf« gegenüber mündete, wurden sie dann in Wagen verladen.
»Campion«, sagte Mouret plötzlich zum Leiter der Abteilung, »weshalb sind sechs Paar Laken, die gestern gegen zwei Uhr von einer Dame gekauft wurden, nicht noch am gleichen Abend zugestellt worden?«
»Wo wohnt die Dame?« fragte Campion.
»Rue de Rivoli, an der Ecke Rue d'Alger ... Frau Desforges.«
Zu dieser frühen Morgenstunde waren die Sortiertische noch leer, die Regale enthielten nur wenige Pakete, die vom Abend vorher zurückgeblieben waren. Campion blätterte in einem Buch und suchte dann unter den Paketen; Bourdoncle betrachtete mittlerweile Mouret und dachte bei sich, dieser verteufelte Mensch merke doch alles, beschäftige sich mit allem, selbst an den Tischen der Nachtlokale und in den Schlafzimmern seiner Geliebten. Endlich entdeckte der Vorsteher den Fehler: die Kasse hatte eine falsche Hausnummer angegeben, und das Paket war zurückgekommen.
»Welche Kasse?«
»Nummer zehn.«
»Nummer zehn? Das ist Albert, nicht wahr?« fragte Mouret, zu Bourdoncle gewandt. »Wir werden mit dem jungen Herrn ein Wörtchen reden.«
Vor seinem Rundgang durch das eigentliche Geschäft wollte er jedoch noch in die Versandabteilung hinauf, die mehrere Räume des zweiten Stocks einnahm. Hier liefen alle Bestellungen aus der Provinz und dem Ausland zusammen. Mouret kam jeden Morgen, um sich die Korrespondenz anzusehen. Seit zwei Jahren wuchs sie von Tag zu Tag. Ursprünglich waren hier zehn Angestellte beschäftigt gewesen, jetzt konnten dreißig nur mit Mühe die Arbeit bewältigen.
Oben angelangt, fragte Mouret wie gewöhnlich:
»Wieviel Briefe haben wir heute, Levasseur?«
»Fünfhundertvierunddreißig«, erwiderte der Abteilungsleiter.
»Ich fürchte, daß ich nach Eröffnung des Sonderverkaufs mit meinen Leuten nicht auskommen werde. Gestern sind wir nur mit knapper Not fertig geworden.«
Bourdoncle nickte befriedigt. An einem Dienstag hatte er nicht mit fünfhundertvierunddreißig Briefen gerechnet.
Dies war eine der kompliziertesten Abteilungen des Hauses, denn es war Vorschrift, daß alle am Morgen eingelaufenen Bestellungen bis zum Abend ausgeführt sein mußten.
»Sie sollen so viel Leute bekommen, wie Sie brauchen, Levasseur«, sagte Mouret, der mit einem Blick festgestellt hatte, daß hier alles reibungslos lief.
Im Stockwerk darüber, unter dem Dach, befanden sich die Schlafkammern der Verkäuferinnen. Doch Mouret ging jetzt hinunter und begab sich zur Hauptkasse, die neben seinem Arbeitszimmer lag. Der Raum war durch eine Glaswand mit Gitterfenstern gesichert: im Hintergrund sah man, in die Mauer eingelassen, einen riesigen Stahlschrank. Zwei Kassenführer verwalteten hier die Einnahmen, die Lhomme, der erste Kassierer, jeden Abend heraufbrachte; sie bestritten daraus sämtliche Ausgaben, bezahlten die Fabrikanten, das Personal und alle die Leute, die zu der kleinen Welt des Geschäfts gehörten. Von der Kasse gelangte man in einen zweiten Raum, wo zehn Angestellte damit beschäftigt waren, die Fakturen zu prüfen. Dann kam die Abrechnungsstelle; hier waren sechs junge Leute dabei, die Provisionsforderungen der Verkäufer an Hand der Kassenblocks zu überprüfen. Diese erst kürzlich eingerichtete Abteilung funktionierte schlecht.
Als Mouret und Bourdoncle plötzlich eintraten, fuhren die jungen Leute, die sich unterhalten hatten, anstatt zu arbeiten, überrascht zusammen. Anstatt ihnen einen Verweis zu geben, setzte Mouret ihnen auseinander, daß er ihnen von nun an für jeden Fehler, den sie in den Kassenabrechnungen entdeckten, eine kleine Prämie aussetzen wolle. Als er hinausgegangen war, hatte das Lachen und Scherzen ein Ende; die Angestellten stürzten sich mit einem wahren Feuereifer auf ihre Arbeit und suchten nach Fehlern.
Im Erdgeschoß ging Mouret geradeswegs auf die Kasse zehn los, wo Albert Lhomme auf Kunden wartete und sich soeben die Nägel polierte. Man sprach im Hause schon von der »Dynastie Lhomme«, seitdem Frau Aurélie, die Direktrice der Konfektionsabteilung, zuerst ihrem Mann den Posten des ersten Kassierers und dann auch noch ihrem Sohn die Stelle eines Abteilungskassierers verschafft hatte. Albert war ein blasser, liederlicher Bursche, der es nirgends lang aushielt und ihr viel Kummer machte.
Als sie bei dem jungen Mann angekommen waren, trat Mouret in den Hintergrund; es widerstrebte ihm, sich durch die Rolle des Gendarmen etwas zu vergeben; er wollte lieber der väterliche Gebieter bleiben. Er stieß Bourdoncle, den Zahlenmenschen, leicht mit dem Ellbogen an und betraute ihn wie üblich stillschweigend mit dem Strafgericht.
»Herr Albert«, sagte Bourdoncle laut, »Sie haben schon wieder eine Adresse falsch notiert, und das Paket ist zurückgekommen! ... Das geht so nicht weiter!«
Der junge Kassierer suchte sich zu verteidigen und rief den Laufburschen Joseph, der das Paket fertiggemacht hatte, als Zeugen herbei. Dieser Joseph gehörte auch zur Dynastie Lhomme; er war ein Milchbruder Alberts und verdankte seine Stelle ebenfalls dem Einfluß von Frau Aurélie. Als Albert ihn drängen wollte, zu sagen, die Kundin sei selbst an dem Irrtum schuld, begann er zu stottern und zupfte an seinem schütteren Bart, der sein blatternarbiges Gesicht noch länger erscheinen ließ; er schwankte zwischen seiner Ehrlichkeit und der Dankbarkeit gegenüber seinen Beschützern.
»Lassen Sie doch Joseph in Ruhe!« rief Bourdoncle endlich, »und widersprechen Sie nicht immer! ... Ihr Glück, daß wir auf die guten Dienste Ihrer Mutter Rücksicht nehmen!«
In diesem Augenblick eilte der alte Lhomme herbei. Von seiner nahe an der Tür gelegenen Kasse aus konnte er die seines Sohnes sehen, die in der Handschuhabteilung lag. Er war schon ganz weißhaarig und durch das immerwährende Sitzen schwerfällig geworden; sein Gesicht war fahl und verschwommen. Er war der Sohn eines Steuereinnehmers aus Chablis und hatte als Kontorist bei einem Weinhändler in Paris angefangen. Eines Tages hatte er die Tochter seines Hausmeisters, eines kleinen Elsässer Schneiders, geheiratet. Seither stand er unter der unbestrittenen Herrschaft seiner Frau, deren kaufmännische Fähigkeiten ihn mit Achtung erfüllten. Sie verdiente in der Konfektionsabteilung zwölftausend Franken, während er nicht mehr als fünftausend hatte. Und die Nachgiebigkeit gegenüber dieser Frau, die solche Summen ins Haus brachte, erstreckte sich auch auf ihren Sohn.
»Wie?« murmelte er, »hat Albert etwas falsch gemacht?« Seiner Gewohnheit gemäß mengte sich jetzt Mouret in die Sache ein, um die Rolle des gütigen Herrschers zu spielen. Wenn Bourdoncle Schrecken um sich verbreitet hatte, kam Mouret, um für seine Beliebtheit zu sorgen.
»Eine Dummheit«, sagte er. »Mein lieber Lhomme, Ihr Albert ist ein Wirrkopf; er sollte sich seinen Vater zum Vorbild nehmen.«
Um sich noch liebenswürdiger zu zeigen, wechselte er das Thema.
»Wie war das Konzert neulich? Hatten Sie einen guten Platz?«
Die blassen Wangen des alten Kassierers färbten sich rot. Er besaß nur diese eine Leidenschaft: die Musik – ein heimliches Vergnügen, dem er sich ergab, indem er alle Theater, Konzerte, Generalproben besuchte. Obgleich ihm der eine Arm abgenommen war, spielte er mit Hilfe eines sinnreichen Systems von Klammem Waldhorn; und da seine Frau keine lauten Geräusche duldete, hüllte er am Abend, wenn er spielte, sein Instrument in ein Tuch ein, vollkommen befriedigt durch die seltsam dumpfen Töne, die er ihm auf solche Weise entlockte. In seinem zerrütteten Haushalt gewährte die Musik ihm Trost. Sie und seine Kasse – etwas anderes kannte er nicht, außer der Achtung vor seiner Frau.
»Einen sehr guten Platz«, erwiderte er mit funkelnden Augen.
»Sie sind zu gütig, Herr Mouret.«
Mouret, der ein Vergnügen daran fand, die Leidenschaften anderer zu befriedigen, pflegte Lhomme die Konzert- und Theaterkarten zu schenken, die ihm von wohltätigen Damen aufgeredet worden waren.
Bourdoncle hatte unterdessen den Rundgang schon fortgesetzt. In der Mittelhalle, einem mit Glas überdachten Innenhof, befand sich die Seidenabeilung. Sie folgten zunächst einem Gang an der Seite der Rue Neuve-Saint-Augustin, an dem vom einen Ende bis zum andern Weißwaren ausgestellt waren. Sie fanden nichts Auffallendes und gingen langsam durch die Reihen der achtungsvoll dastehenden Angestellten. Dann kamen sie durch die Abteilungen für Baumwollstoffe und für Wirkwaren, wo die gleiche Ordnung herrschte. In der Wollwarenabteilung aber nahm Bourdoncle seine Rolle als Scharfrichter wieder auf, als er an einem Ladentisch einen jungen Mann hocken sah, dem man eine schlaflos durchjubelte Nacht am Gesicht ablesen konnte. Der Gescholtene, Liénard mit Namen, Sohn eines reichen Modewarenhändlers in Angers, duckte sich unter diesen Vorwürfen, denn in seinem Dasein voller Trägheit, Sorglosigkeit und Vergnügungen fürchtete er nur eines: von seinem Vater nach Hause gerufen zu werden.
Von da ab regnete es die Rügen hageldicht, ein wahres Gewitter ging über die Angestellten nieder. Den Abschluß machte die Handschuhabteilung: hier hatte einer der wenigen Pariser, die im Hause tätig waren, der hübsche Mignot, sich über das Essen beklagt. Es gab drei Tischzeiten: die erste um halb zehn, die zweite um halb elf, die dritte um halb zwölf Uhr. Mignot, der zur dritten Schicht gehörte, behauptete, er bekomme von allem nur ungenießbare Reste.
»Wie, das Essen ist nicht gut?« fragte Mouret verwundert. Er bezahlte dem Küchenchef anderthalb Franken je Kopf und Tag, und dieser, ein fürchterlicher Auvergnate, fand dabei noch immer Mittel und Wege, sich die Taschen zu füllen; aus diesem Grund war das Essen wirklich abscheulich. Allein Bourdoncle zuckte die Achseln: ein Küchenchef, der zweimal täglich vierhundert Mahlzeiten zu liefern habe, könne sich nicht um Feinschmecker kümmern, meinte er.
»Wenn schon«, entgegnete Mouret in wohlwollendem Ton; »meine Leute sollen eine gesunde und ausreichende Kost erhalten ... Ich werde mit dem Küchenchef reden.«
Damit war Mignots Beschwerde begraben. Mouret und Bourdoncle waren jetzt zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Sie standen in der Nähe der Tür, wo einer der vier Inspektoren des Hauses das pünktliche Eintreffen der Angestellten kontrollierte. Gerade schloß er sein Buch und begann, die Verspäteten einzeln aufzuschreiben. Das ganze Geschäft lag sauber und ordentlich bereit und harrte des Zustroms der Kunden.
Im hellen Licht der Mittelhalle plauderten am Stand für Seidenwaren zwei Angestellte. Der eine – er hieß Hutin –, ein kleiner, hübscher Bursche, kräftig gebaut und mit rosiger Gesichtsfarbe, war der Sohn eines Gastwirts aus Yvetot und hatte sich binnen achtzehn Monaten dank seiner anpassungsfähigen, einschmeichelnden Natur zu einem der ersten Verkäufer hochgearbeitet.
»Hören Sie, Favier, ich an Ihrer Stelle hätte ihn geohrfeigt«, sagte er zu dem andern, einem großen, hageren, gallig aussehenden jungen Menschen, der aus einer Weberfamilie aus Besançon stammte und sich sehr korrekt gab, während sein kühles Äußeres eine besorgniserregende Willenskraft verbarg.
»Das führt zu nichts, wenn man die Leute ohrfeigt«, brummte er. »Besser, man wartet.«
Sie sprachen von Robineau, der die Angestellten zu beaufsichtigen hatte, wenn der Abteilungsleiter nicht da war. Hutin hetzte im stillen gegen den Zweiten, weil er selber nach dessen Stelle trachtete. Um ihn zu verletzen und hinauszuekeln, hatte er an dem Tag, als der Robineau versprochene Posten des Abteilungsleiters frei geworden war, Bouthemont ins Haus gebracht. Allein Robineau war zäh, und der Krieg riß nicht mehr ab. Hutin intrigierte mit liebenswürdiger Miene und stachelte insbesondere Favier auf, der als Rangnächster in der Reihe der Verkäufer sich scheinbar von ihm leiten ließ, während er in Wirklichkeit nur seine eigenen Interessen verfolgte.
»Pst, siebzehn!« rief er jetzt seinem Kollegen zu. Dies war ihr Zeichen, wenn Mouret oder Bourdoncle sich näherten.
Diese setzten in der Tat ihren Rundgang fort und kamen nun durch die Halle. Vor einem Stapel Samt, der sich auf einem der Tische türmte, blieben sie stehen und fragten Robineau, was das solle. Als dieser antwortete, er habe keinen Platz, rief Mouret:
»Ich sage Ihnen doch, Bourdoncle, das Geschäft ist zu klein! Eines Tages werden wir alle Mauern bis zur Rue de Choiseul niederreißen müssen. Am nächsten Montag sollen Sie einen Ansturm zu sehen bekommen!«
Sie sprachen weiter mit Robineau, doch gleichzeitig beobachtete Mouret Hutin, der sich damit abmühte, blaue, graue und gelbe Seide nebeneinander zu dekorieren, aber mit der Wirkung nicht recht zufrieden schien. Plötzlich trat Mouret dazwischen.
»Warum wollen Sie denn das Auge schonen?« sagte er. »Keine Angst: blenden Sie es! Nehmen Sie Rot, Grün, Gelb!«
Bei diesen Worten griff er in die Seidenstoffe und warf sie durcheinander, um erregende Farbkontraste zu erzielen. Alle stimmten darin überein, daß ihr Chef der beste Dekorateur von Paris sei, ein wahrhaft eigenwilliger Schöpfer und Reformer auf dem Gebiet der Schaufenstergestaltung. Mouret schwärmte für grellste Effekte, für unregelmäßig verteilte, bunt gemischte Mengen von Stoffen, als seien diese kaskadenförmig den Regalen und Fächern entquollen. Nur Hutin, der der klassischen Schule des Gleichmaßes und Farbenwohlklangs angehörte, sah ihm wortlos zu und begnügte sich damit, verächtlich die Lippen zu schürzen, wie ein Künstler, dessen Geschmack durch solche Roheiten verletzt wird.
»Da haben Sie es!« rief Mouret, als er fertig war. »Lassen Sie die Anordnung so. Sie werden am Montag sehen, wie die Frauen anbeißen.«
In diesem Augenblick erschien in der Mittelhalle ein weibliches Wesen, das ganz verblüfft vor der Dekoration stehenblieb. Es war Denise. Nachdem sie in ihrer unüberwindlichen Schüchternheit fast eine Stunde lang auf der Straße gezögert hatte, war sie endlich eingetreten. Allein sie war dermaßen verwirrt, daß sie die einfachsten Auskünfte nicht begriff. Vergebens zeigten ihr die Angestellten, bei denen sie sich stotternd nach Frau Aurélie erkundigte, die nach dem Zwischenstock führende Treppe; sie wandte sich nach links, wenn man sie nach rechts gewiesen hatte. So irrte sie schon seit zehn Minuten durch alle Abteilungen des Erdgeschosses inmitten der boshaften Neugierde oder der mürrischen Gleichgültigkeit der Verkäufer. Sie wäre am liebsten wieder davongelaufen und wurde doch zugleich durch ein Gefühl der Bewunderung zurückgehalten. Sie fühlte sich so klein, so verloren in diesem ungeheuren Warenhaus, und wenn sie an den finsteren, engen Laden des »Vieil Elbeuf« dachte, erschien ihr dieses Geschäft noch riesiger, in goldenes Licht getaucht, gleichsam eine Stadt für sich mit Plätzen, Denkmälern und Straßen, durch die sie niemals den Weg zu finden glaubte. Indessen hatte sie bisher noch nicht gewagt, weiter in die Seidenhalle vorzudringen, die ihr mit ihrem hohen Glasdach und ihrem Prunk unheimlich war. Als sie endlich eintrat, um aus dem Bereich der spöttelnden Angestellten der Weißwarenabteilung zu kommen, stieß sie auf Mourets Dekoration. Trotz ihrer Angst erwachte plötzlich die Frau in ihr, ihre Wangen röteten sich, und sie betrachtete selbstvergessen diese Feuersbrunst an Stoffen, die Mouret da entfacht hatte.
»Sieh einer an«, flüsterte Hutin Favier ins Ohr, »das Gänschen von der Place Gaillon!«
Obgleich Mouret tat, als hörte er Bourdoncle und Robineau zu, war er im Grunde durch die Bewunderung dieses einfachen Mädchens sehr geschmeichelt. Denise blickte jetzt auf und geriet in noch größere Verlegenheit, als sie den jungen Mann wiedererkannte, den sie immer noch für einen Abteilungsleiter hielt. Sie bildete sich ein, daß er sie streng anblicke, und da sie in ihrer Verwirrung nicht wußte, wie sie wegkommen sollte, wandte sie sich noch einmal an den nächstbesten Angestellten, diesmal an Favier, und fragte:
»Bitte, wo finde ich Frau Aurélie?«
Favier, ungefällig, wie er war, begnügte sich damit, trocken zu antworten:
»Im Zwischenstock.«
Denise, die den vielen Männerblicken rasch entkommen wollte, dankte und wandte der Treppe abermals den Rücken, als Hutin, von seiner angeborenen Liebenswürdigkeit getrieben, ihr zu Hilfe kam.
»Nicht dorthin – hier herum, Fräulein.«
Er ging einige Schritte vor ihr her und brachte sie bis zum Fuß der Treppe, die sich an der linken Seite der Halle befand. Lächelnd verbeugte er sich und sagte:
»Oben wenden Sie sich links, und Sie befinden sich direkt vor der Konfektionsabteilung.«
Denise war von dieser einschmeichelnden Höflichkeit tief ergriffen. Es war ihr, als komme ihr jemand brüderlich zu Hilfe. Sie schaute Hutin an, und alles an ihm gefiel ihr: das hübsche Gesicht, die freundlichen Blicke, die ihr die Furcht nahmen, die Stimme, die tröstend und weich klang. Ihr Herz war von Dankbarkeit erfüllt.
»Sie sind zu gütig – Geben Sie sich weiter keine Mühe... Tausend Dank, mein Herr!«
Doch Hutin war schon zu Favier zurückgekehrt und flüsterte ihm zu:
»Ist das ein Knochengerüst!«
Oben befand sich das junge Mädchen sogleich in der Konfektionsabteilung, einem großen Raum, dessen Fenster auf die Rue de la Michodière gingen. Fünf oder sechs Verkäuferinnen in schwarzen Seidenkleidern, sehr kokett frisiert, waren unter lebhaftem Geplauder bei ihrer Arbeit. Nur eine von ihnen, eine große, hagere Person mit übermäßig langgezogenem Kopf, stand wie erschöpft an einen Schrank gelehnt.
»Wo finde ich Frau Aurélie?« fragte Denise abermals.
Die Verkäuferin betrachtete sie, ohne zu antworten, voll offenkundiger Mißachtung für ihren ärmlichen Aufzug. Dann wandte sie sich an eine ihrer Kolleginnen, ein kleines, auffallend blasses Mädchen, und fragte:
»Fräulein Marguerite, wissen Sie zufällig, wo die Direktrice ist?«
Die Angesprochene war damit beschäftigt, Umhänge nach der Größe zu ordnen, und nahm sich kaum die Mühe aufzublicken.
»Nein, Fräulein Claire, keine Ahnung«, meinte sie.
Es entstand ein kurzes Stillschweigen. Denise stand regungslos da, und niemand kümmerte sich um sie. Nach einer Weile faßte sie sich ein Herz und fragte:
»Glauben Sie, daß Frau Aurélie bald zurückkommt?«
Nun rief ihr die Zweite, eine magere, häßliche Frau, die sie bisher nicht bemerkt hatte, eine Witwe mit vorspringendem Kinn und strähnigen Haaren, von einem Schrank aus, wo sie die Preisschilder nachsah, zu:
»Warten Sie doch, wenn Sie durchaus mit Frau Aurélie persönlich sprechen müssen!«
Denise wartete also. Es standen wohl einige Sessel für die Kunden herum; da man sie aber nicht aufforderte, Platz zu nehmen, wagte sie nicht, sich zu setzen. Die Verkäuferinnen hatten offenbar eine neue Kollegin in ihr gewittert und musterten sie wie Leute, die am Mittagstisch sitzen und nicht zusammenrücken wollen, um für hungrig Hinzukommende Platz zu machen. Denise geriet immer mehr in Verlegenheit, sie ging mit kleinen Schritten auf und ab und trat endlich an ein Fenster, um sich etwas Haltung zu geben. Sie sah gerade auf den »Vieil Elbeuf«. Mit dem abbröckelnden Verputz der Fassade und den blinden Schaufenstern erschien er ihr so häßlich, so trübselig im Vergleich mit dem Luxus und dem Leben, die sie hier um sich fühlte, daß etwas wie Gewissensbisse ihr das Herz vollends zusammenschnürte.
»Haben Sie ihre Schuhe gesehen?« flüsterte hinter ihr Ciaire Marguerite zu.
»Na, und erst das Kleid!« tuschelte die andere.
Denise, die noch immer auf die Straße hinunterschaute, hatte das Gefühl, als ob sie von den haßerfüllten Blicken der Verkäuferinnen verschlungen würde. Allein sie verspürte deswegen keinen Zorn. Sie fand die Mädchen nicht hübsch, weder die lange Ciaire mit der roten Mähne noch Marguerite mit ihrem platten, fast knochenlosen Gesicht. Ciaire Prunaire, die Tochter eines Holzschuhmachers aus Vivet, war, nachdem sie durch die Hände aller Lakaien auf Schloß Mareuil gegangen war, wo sie als Näherin gearbeitet hatte, erst in ein Geschäft in Langres eingetreten und später nach Paris gekommen, wo sie an den Männern Rache nahm für alle Fußtritte, die sie zu Hause von Vater Prunaire erhalten hatte. Marguerite Vadon hinwiederum, in Grenoble geboren, wo ihre Familie ein kleines Leinengeschäft betrieb, war nach Paris geschickt worden, um die Folgen eines Fehltritts zu verbergen. Sie führte sich jetzt sehr brav auf und sollte bald in ihre Heimat zurückkehren und einen Vetter heiraten, der auf sie wartete.
»Na«, brummte Ciaire vor sich hin, »die wird es bei uns auch nicht weit bringen.«
Doch jetzt schwiegen sie; eine Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren trat ein. Es war Frau Aurélie, eine etwas üppige Dame, fest eingeschnürt in ihr schwarzes Seidenkleid, dessen Oberteil sich wie ein leuchtender Panzer über den massiven Rundungen der Schultern und des Busens spannte. Unter dichten schwarzen Brauen saßen große, starre Augen, der Mund war streng, die Wangen breit und schon ein wenig hängend. Die Würde einer Abteilungsleiterin gab ihrem Gesicht die Geschwollenheit einer Cäsarenmaske.
»Fräulein Marguerite«, sagte sie mit gereizter Stimme, »warum haben Sie gestern das Modell des auf Taille gearbeiteten Mantels nicht ins Atelier zurückgebracht?«
»Es ist noch einiges zu ändern«, erwiderte die Verkäuferin,
»Frau Fréderic hat ihn hierbehalten.«
Die Zweite nahm den Mantel aus einem Schrank, und die Auseinandersetzung ging weiter. Alle zitterten vor Frau Aurélie, wenn sie glaubte, ihre Autorität hervorkehren zu müssen. In ihrer Überheblichkeit war sie nur gegen jene Angestellten freundlich, die ihr schmeichelten und in Bewunderung vor ihr erstarben. Sie hatte schwer kämpfen müssen, bis sie es zu ihrer jetzigen Stellung im »Paradies der Damen« gebracht hatte, wo sie jährlich zwölftausend Franken verdiente, und sie zeigte sich nun allen Anfängerinnen gegenüber genauso hart, wie das Leben ihr selbst mitgespielt hatte.
»Genug!« sagte sie endlich trocken. »Sie sind nicht vernünftiger als alle anderen, Frau Frédéric ... Die Änderungen müssen sofort gemacht werden!«
Während dieser Auseinandersetzung hatte Denise sich vom Fenster abgewandt. Sie merkte wohl, daß dies Frau Aurélie war; allein erschreckt durch ihre schroffe Stimme, blieb sie stehen und wartete. Die Mädchen, die sich freuten, daß sie die Direktrice und die Zweite in einen Streit miteinander verwickelt sahen, waren mit gleichgültiger Miene zur ihrer Arbeit zurückgekehrt. Es vergingen einige Minuten, und keine von ihnen war barmherzig genug, das junge Mädchen aus seiner Verlegenheit zu reißen. Endlich war es Frau Aurélie selbst, die Denise unbeweglich dastehen sah und fragte, was sie wünsche.
»Ich suche Frau Aurélie.«
»Die bin ich.«
Denises Lippen waren trocken, ihre Hände zitterten. Sie stotterte ihre Bitte hervor und mußte noch einmal von vorn anfangen, um sich verständlich zu machen. Frau Aurélie schaute sie mit ihren großen, starren Augen an, ohne daß sich auf ihrem majestätischen Antlitz auch nur eine Spur von Milde gezeigt hätte.
»Wie alt sind Sie?«
»Zwanzig Jahre.«
»Wie, zwanzig Jahre? Sie sehen aus, als wären Sie kaum sechzehn!«
Die Verkäuferinnen hoben die Köpfe, um diesem Verhör zu folgen. Denise beeilte sich hinzuzufügen:
»Aber ich bin sehr kräftig.«
Frau Aurélie zuckte die breiten Schultern, dann erklärte sie kühl:
»Mein Gott, ich werde Sie vormerken. Wir schreiben jede auf, die sich vorstellt. Fräulein Marguerite, geben Sie mir die Liste.« Man fand sie nicht sogleich; sie müsse wohl noch beim Inspektor Jouve sein, hieß es. Während Marguerite fortging, die Liste zu holen, erschien Mouret und hinter ihm Bourdoncle. Sie hatten auch im Zwischenstock ihren Rundgang gemacht und schlössen nun mit der Konfektionsabteilung ab. Frau Aurélie trat mit ihnen beiseite und erwähnte eine Mantelbestellung, die sie bei einem Pariser Großunternehmer aufzugeben gedachte. Gewöhnlich kaufte sie auf eigene Verantwortung ein; bei bedeutenderen Posten dagegen zog sie es vor, sich mit der Geschäftsleitung zu besprechen. Bourdoncle benützte die Gelegenheit, um ihr vom neuesten Schnitzer ihres Sohnes Albert zu berichten. Sie schien ganz verzweifelt: dieses Kind werde noch ihr Tod sein. Mouret hatte mittlerweile die Anwesenheit Denises bemerkt und beugte sich zu Frau Aurélie, um sie zu fragen, was das Mädchen hier wolle. Als die Direktrice erwiderte, sie habe sich als Verkäuferin beworben, war Bourdoncle in seiner gewohnten Geringschätzung für alles Weibliche höchst erstaunt über diese Anmaßung.
»Das kann doch nur ein Scherz sein!« flüsterte er. »Sie ist ja viel zu häßlich.«
»Schön ist sie nicht, das stimmt«, sagte Mouret. Er wagte nicht, sie in Schutz zu nehmen, obgleich er durch ihr Staunen vor seiner Dekoration unten für sie eingenommen war.
Man brachte jetzt die Liste, und Frau Aurélie kam zu Denise zurück. Diese machte in der Tat keinen günstigen Eindruck. Sie wirkte zwar sehr sauber in ihrem dünnen schwarzen Wollkleid, und man nahm an der Ärmlichkeit ihres Aufzugs auch keinen Anstoß, denn das übliche Seidenkleid der Verkäuferinnen wurde von der Firma gestellt; allein sie sah zu zart aus, und ihr Gesicht war gar zu traurig. Die Verkäuferinnen mußten nicht gerade hübsch sein, aber es war doch wünschenswert, daß sie eine angenehme Figur machten. Unter den Blicken der Damen und Herren, die sie musterten und mit den Augen abschätzten wie eine Stute, um welche die Bauern auf dem Jahrmarkt feilschen, verlor Denise vollends die Fassung.
»Wie heißen Sie?« fragte die Direktrice.
»Denise Baudu.«
»Ihr Alter?«
»Zwanzig Jahre und vier Monate.«
Sie wagte es, die Augen zu Mouret zu erheben, den sie in allen Abteilungen mit der gleichen Autorität hatte auftreten sehen und dessen Anwesenheit sie in Verlegenheit setzte; unbeholfen fügte sie hinzu:
»Ich bin recht kräftig, wenn ich auch nicht danach aussehe.«
Alles lächelte.
»In welchem Haus haben Sie in Paris gearbeitet?« fragte die Direktrice.
»Ich bin eben erst aus Valognes angekommen.«
Das war ein neues Mißgeschick. Gewöhnlich verlangte man beim »Paradies der Damen«, daß die Verkäuferinnen mindestens ein Jahr in einer Pariser Firma gearbeitet hatten. Denise glaubte, nun sei alles verloren; und wären die beiden Brüder nicht gewesen, für die sie Geld verdienen mußte, sie wäre sicherlich davongelaufen, um diesem nutzlosen Verhör ein Ende zu machen.
»Wo waren Sie in Valognes?«
»Bei Cornaille.«
»Den kenne ich, das ist eine gute Firma«, bemerkte Mouret. Gewöhnlich enthielt er sich bei der Einstellung von Verkäufern oder Verkäuferinnen jeder Einmischung, denn die Abteilungsleiter waren für ihr Personal verantwortlich. Aber mit seinem feinen Sinn für Frauen spürte er bei diesem Mädchen einen verborgenen Reiz heraus, dessen sie sich selbst nicht bewußt war.
Der gute Ruf des Hauses, aus dem ein Anfänger kam, war von großer Bedeutung und oft entscheidend für die Aufnahme. Frau Aurélie fuhr mit milderer Stimme fort:
»Warum sind Sie von Cornaille weggegangen?«
»Aus Familienrücksichten«, erwiderte Denise errötend. »Wir haben unsere Eltern verloren, ich mußte mich meiner Brüder annehmen. Übrigens habe ich hier ein Zeugnis.«
Das Zeugnis war ausgezeichnet. Schon begann sie zu hoffen, als eine letzte Frage sie in Verlegenheit setzte.
»Können Sie uns in Paris irgendwelche Empfehlungen nennen? Wo wohnen Sie?«
»Bei meinem Onkel«, flüsterte sie, zunächst ohne den Namen zu nennen, denn sie fürchtete, daß man die Nichte eines Konkurrenten niemals einstellen werde. »Bei meinem Onkel Baudu gegenüber«, sagte sie endlich.
Da konnte sich Mouret nicht länger enthalten dreinzureden.
»Wie, Sie sind die Nichte Baudus? Hat Baudu Sie geschickt?«
»Oh nein!«
Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, so seltsam erschien ihr die Frage. Im gleichen Augenblick war sie wie umgewandelt, ihr Gesicht bekam Farbe, und das Lächeln auf ihren Lippen schien ihr ganzes Wesen erschlossen zu haben. Ihre grauen Augen gewannen einen zarten Schimmer, allerliebste Grübchen erschienen auf ihren Wangen, selbst ihre schweren blonden Haare wirkten heiter und duftig.
»Sie ist ja sogar hübsch!« bemerkte Mouret leise zu Bourdoncle.
Dieser machte eine ablehnende Geste. Claire schürzte die Lippen, während Marguerite sich abwandte. Frau Aurélie allein schien gewonnen und stimmte mit einem Kopfnicken Mouret zu, als dieser fortfuhr:
»Es ist nicht recht von Ihrem Onkel, daß er Sie nicht herübergebracht hat, seine Empfehlung hätte genügt. Man erzählt, daß er böse auf uns sei. Wir sind nicht so engherzig, und wenn er für seine Nichte im eigenen Haus keine Beschäftigung hat, werden wir ihm zeigen, daß sie bei uns nur anzuklopfen braucht, um aufgenommen zu werden. Sagen Sie ihm, daß ich ihn hochachte und daß er nicht über mich ungehalten sein dürfe; die veränderten Verhältnisse im Handel sind an allem schuld. Und sagen Sie ihm auch, daß er verloren ist, wenn er an seinen lächerlichen alten Gewohnheiten eigensinnig festhält.«
Denise war ganz blaß geworden. Dieser Herr war also Mouret! Niemand hatte seinen Namen genannt, aber er selbst hatte sich als der Chef zu erkennen gegeben. Sie begriff jetzt, warum der junge Mann einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte, zuerst auf der Straße, dann in der Seidenabteilung und jetzt wieder. Dieser Eindruck, den sie sich nicht zu erklären vermochte, lastete immer schwerer auf ihrem Herzen. Alle Geschichten, die der Onkel ihr erzählt hatte, kehrten in ihre Erinnerung zurück und ließen Mouret noch ungewöhnlicher erscheinen, umgaben ihn mit einer Legende, machten aus ihm den Meister der schrecklichen Maschinerie dieses Warenhauses, von deren Rädern sie sich seit dem Morgen erfaßt fühlte. Hinter seinem hübschen Kopf mit dem wohlgepflegten Bart und den schönen goldbraunen Augen meinte sie seine tote Frau, diese Frau Hedouin zu sehen, mit deren Blut das Haus gebaut war. Da packte sie wieder ein unklares Gefühl der Furcht.
Mittlerweile hatte Frau Aurélie die Liste zugeklappt. Sie brauchte nur eine einzige Verkäuferin, und es waren schon zehn vorgemerkt. Allein sie wollte zu sehr dem Chef gefällig sein, als daß sie noch länger gezögert hätte. Sie meinte nur, die Sache müsse ihren üblichen Gang gehen; der Inspektor Jouve werde Erkundigungen einholen, ihr berichten, und dann werde sie ihren Entschluß fassen.
»Es ist gut, Fräulein«, sagte sie endlich majestätisch. »Man wird Ihnen die Entscheidung schriftlich mitteilen.«
Denise stand noch immer verwirrt und unbeweglich da. Sie wußte nicht, wie sie von all diesen Leuten fortkommen sollte; endlich dankte sie Frau Aurélie und ging mit einem Gruß an Mouret und Bourdoncle vorüber. Diese beschäftigten sich übrigens längst nicht mehr mit ihr und vergaßen, den Gruß zu erwidern. Claire machte eine mürrische Geste zu Marguerite hinüber, wie um vorauszusagen, daß die neue Verkäuferin in dieser Abteilung keinen angenehmen Stand haben werde. Denise fühlte ohne Zweifel die Gleichgültigkeit und das Unbehagen, das sie zurückgelassen hatte, denn sie stieg ebenso verlegen die Treppe hinab, wie sie heraufgekommen war, die Beute einer seltsamen Beklemmung und ganz ungewiß, ob sie sich freuen oder ärgern sollte, daß sie hierhergekommen war. Durfte sie auf diese Stelle zählen? In ihrem Unbehagen, das sie daran hinderte, alles genau abzuwägen, vermochte sie sich diese Frage nicht zu beantworten. Von all ihren verschiedenen Empfindungen blieben zwei zurück und verdrängten allmählich alle übrigen: der tiefe Eindruck, den Mouret auf sie gemacht hatte, ein Eindruck, der an Furcht streifte, und die Liebenswürdigkeit Hutins, die sie jetzt noch mit Dankbarkeit erfüllte. Als sie das Geschäft verließ, suchte sie den jungen Mann, um ihm wenigstens mit einem Blick noch einmal zu danken; zu ihrem größten Kummer konnte sie ihn nicht entdecken.
»Nun, Fräulein, haben Sie Glück gehabt?« fragte sie eine Stimme, als sie endlich auf der Straße anlangte.
Sie wandte sich um und erkannte den großen, blassen, schlaksigen Jüngling, der sie am Morgen schon angesprochen hatte. Auch er kam aus dem »Paradies der Damen« und schien noch bestürzter als sie, noch verwirrter durch das Verhör, dem er sich hatte unterziehen müssen.
»Mein Gott, ich weiß es nicht einmal«, erwiderte sie.
»Genauso geht's mir auch. Die haben eine seltsame Art da drinnen, einen auszufragen und anzusehen ...«
Wieder standen sie einander gegenüber, und da sie nicht wußten, wie sie sich verabschieden sollten, erröteten sie abermals. Um doch wenigstens etwas zu sagen, fragte der junge Mann in seiner linkischen und biederen Art:
»Wie heißen Sie, Fräulein?«
»Denise Baudu.«
»Und ich heiße Henri Deloche«, stellte nun auch er sich vor. Da lächelten beide. Im Gedanken an die Gleichartigkeit ihrer Lage gaben sie einander die Hand.
»Viel Glück!«
»Ja, viel Glück!«