Читать книгу Es wird wieder Tag - Minka Pradelski - Страница 6

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Am Tag meiner Geburt hatte ich bereits verloren. Kaum war ich mit meinem Köpfchen auf der Welt, stürmte ein Mann in den grün getünchten Kreißsaal, steckte der erstarrten Hebamme eine Packung Kaffeebohnen in die Kitteltasche und riss mich aus ihren stocksteifen Armen. Er drückte mich fest gegen sein raues Gesicht. Sein wirres, dunkelgewelltes Haar kitzelte mich. Bloß nicht lachen, dachte ich und hielt mich zurück, kein Säugling begrüßt die Welt mit einem Lächeln.

Der Kerl, der mich im Arm hielt, gefiel mir nicht. Er trug neumodische Schuhe mit quietschenden Gummisohlen, schwitzte in seinem verknitterten Hemd, war schlecht rasiert und stank obendrein noch nach abgestandenem Tabak. Ich hasse Tabak, besonders amerikanischen, musste sofort niesen.

Mein winziges Auge blinzelte ihn verstohlen an. Er war hässlich und uralt. Das also ist mein Vater, dachte ich zutiefst enttäuscht. Hätte es nicht ein anderer sein können? Draußen auf dem Korridor vertraten sich aufgeregte Männer die Beine; das helle Linoleum war bereits am frühen Morgen von einem schwarzbraunen Geäst fingerbreiter Schleifspuren überzogen. Wie gerne hätte ich mir meinen eigenen Vater ausgewählt, so wie man sich eine leckere Eistüte aus lauter wohlschmeckenden bunten Farben zusammenstellt. Einen lustigen, einen begeisterten Vater, der es kaum erwarten kann, den langweiligen Säugling in ein aufgewecktes Kind verwandelt zu sehen, um ihn endlich in das Spiel einzuweihen, das ihm selbst in seiner Jugend am meisten Freude bereitet hatte: einen roten Gummiring auf ein verzweigtes Stöckchen spannen, einen spitzen Stein einlegen und auf nackte Mädchenbeine zielen. Ein herrliches Vergnügen! Und ich, sein gelehriger Sohn und Schüler, würde später das berühmte Familienunternehmen erben, eine ruhmreiche Stoffwindelfabrik, unser Name, Generationen von Müttern geläufig, in jede einzelne Windel eingewebt. Vater würde mir seinen gesamten Besitz vertrauensvoll übergeben und ich unser Vermögen gewinnbringend anlegen, meinetwegen sogar in der jungen aufstrebenden Zellstoffwindelindustrie. Stattdessen dieser hier, ein wilder, ungehobelter Mann, der dreist die Vaterschaft beanspruchte. Am liebsten wäre ich ihm aus dem Arm gesprungen. Seine Hände umspannten meinen weichen Hinterkopf, als könne er meine Gedanken erraten, und ich beschloss, auf eine günstigere Gelegenheit zu warten. Grummelnd fing er an, meine feinen, knospengleichen Fingerlein und Zehen in Augenschein zu nehmen, als ob ihn die Anzahl meiner vollendeten Extremitäten etwas anginge. Geschwind zog er ein entsetzlich großes glühend rotes Taftband aus seiner Jackentasche und ließ es langsam vor meinem Näschen von links nach rechts gleiten. Sechs Augen folgten gebannt der Bewegung seiner Hand. Er aber achtete nur auf die Beweglichkeit meiner Augen, nickte zufrieden, zauberte eine silberne Glocke aus seiner Tasche, von der Größe einer Kuhglocke, und klingelte ohrenbetäubend vor meiner empfindlichen winzigen Ohrmuschel. Ich zuckte entsetzt zusammen, und als sei das noch nicht genug, kniffen seine groben Finger das ungewaschene zarte Rosa meines Arms. Ich schrie, schrie und schrie. Unbeeindruckt von meinem lautstarken Klagen, hielt der Unbekannte mich im Arm und wandte sich einer schweißgebadeten Frau zu, von der ich annahm, dass sie von mir in Kürze Mutter genannt werden wollte. Ich blickte auf ihren monströsen Bauch. Die Blöße der Fremden war notdürftig von einem verrutschten Flügelhemd bedeckt. Ein Bein war angewinkelt, als sei es zu erschöpft, sich an das andere zu schmiegen.

Der Alte sagte freudig: »Mein Kaddisch ist da! Mein Kaddischsager ist zur Welt gekommen!« Kaum gesagt, blickten mich seine dunkel umschatteten Augen recht freundlich an. Ich hingegen beobachtete seine höchst sonderbare, hochstehende linke Augenbraue, die aussah wie ein bewaldeter Hügel. Dröhnend klangen mir die Worte des Greises im Ohr. Ich, sein Kaddischsager, sei angekommen? Er wagte es, in der kostbaren Stunde meiner Geburt seinen eigenen lächerlichen Tod ins Spiel zu bringen? Sah er in mir, dem vielversprechenden Däumling, nur den späteren Erwachsenen, den gehorsamen Sohn, der Tag für Tag, elf Monate lang, für den dann verstorbenen Vater das Totengebet aufsagt? Kaum auf der Welt, bedrängt er mich mit seinem eigenen Ende. Wie geschmacklos, mich so auf Erden zu empfangen! Freut sich denn keiner über das neue frische Leben, das ich bin? Das zappelige kleine Wesen, das ich so viele lange Jahre bleiben werde? Wutschnaubend blitze ich ihn an. Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht spucken. Doch fröstle ich. Seine gewaltigen Hände wärmen mich. So ist es recht, weiter so, endlich begreift er, dass er mir zu Diensten ist, und keinesfalls ich ihm. Wie gerne hätte ich ihm kräftig in die Hand gebissen, allein es fehlt mir an Kraft. Ich will fort von ihm. Am liebsten zurück in den bauchigen, warmen Leib, wo ich zuvor war. Ich verspreche, genügsam zu sein und auch nicht weiterzuwachsen. Nur ein wenig Nahrung, ein paar bescheidene Schwimmzüge zur Bauchwand hin und zurück, mehr soll es nicht sein. Ich will alles vergessen, was ich von der Welt gesehen habe, sehne mich zurück zu dem sanften Stimmengewirr, das abgedämpft durch die fleischige Wand drang. Auf allen vieren krieche ich heimwärts in den weichen Schoß, zurück zu der Frau, die mich in ihrem Bauch genährt und beschützt hat. Ab jetzt will ich mein Parasitendasein aufgeben, ihr zur Hand gehen, falls sie es wünscht, jeden Morgen ihre Leber begrüßen, ihre Lungen anpusten, ihr Herz prüfen, ihr verdauen helfen, den vorgewölbten Bauch sanft von innen massieren, damit sie sich wohlfühlt mit mir. Gerne will ich ihr zur Seite stehen, falls der Alte ihr Kummer bereitet oder sie sich einsam fühlt. Sie soll sich mir nur anvertrauen. Nachts, wenn der Alte ins Bett kommt, ziehe ich mich still in die Bauchhöhle zurück. Wir beide halten zueinander, sind ein unzertrennliches Paar, eine ewige Schwangere und ein glückliches Ungeborenes, das beschließt, bis zum Ende aller Tage im Mutterleib zu verweilen.

Bekümmert halte ich Ausschau nach einer Rückkehr, doch augenblicklich richtet sich die Frau auf und schließt mühsam, unter größter Anstrengung, ihre riesigen Beine. Sie versperrt mir den Weg, will mich nicht mehr bei sich haben! Rot im Gesicht, wehre ich mich, schwitze, meine kleinen Hände und Füße zappeln, doch die langen Beine der Frau bleiben geschlossen. Der künftige Tote scheint belustigt, lächelt vergnügt, hält mich noch fester im Arm.

»Na, komm schon. Sieh ihn dir an«, lockt er und legt mich sanft in ihre Arme. Als habe sie auf eine Ermunterung gewartet, blickt die entkräftete Frau mich unsicher an.

Mein Gott, was hatte sie sich bei dem einzigartigen Vorgang meiner Geburt dämlich angestellt. Von den Schmerzen einer Wehe überflutet, rief sie verängstigt nach ihrer eigenen Mutter. Es fehlte nur noch, dass sie all ihre weiblichen Verwandten um sich versammelt, ganze Generationen schlichter Frauen, die alle schon mal geboren haben und sie nun mit ihren als Weisheiten getarnten, törichten Ratschlägen überhäufen, so dass die verstörte Frau nicht mehr wissen kann, welchen sie zuerst befolgen sollte.

»Tja«, meinte die knochige Hebamme, während sie das Hörrohr barsch auf den arg gewölbten Bauch presste, »Wehen kommen nun mal von wehtun.«

»Wehen kommen von wehtun«, wiederholte die einsame Frau beschwörend, als sei dies eine unfehlbare Anleitung zum Gebären, bis ein unbekannter Schmerz in ihrem Unterleib sie plötzlich überrannte und ihre Kehle Urlaute hervorstieß, die sie noch nie gehört hatte. Erschrocken bäumte sie sich auf.

»Ich will nicht wissen, woher sie kommen!«, schrie sie in einem so schrillen Ton, dass ich in ihrem Bauch aufmerksam wurde und das hübsche Spiel mit der Nabelschnur für einen Augenblick unterbrach.

»Ich will diese Wehen loswerden«, flüsterte sie schwer atmend und schlug das Hörrohr fort.

»Sie müssen pressen!«, rief die Hebamme. »Die Herztöne werden schwächer!«

»Die Frau will nicht pressen«, petzte die Hebamme dem Arzt, der leise das Entbindungszimmer betrat.

»Nun, Mutter«, sagte er forsch, »warum wollen wir denn nicht pressen?«

»Ich fürchte mich, Herr Doktor«, antwortete sie mit letzter Kraft, »ich weiß nicht, ob ich einen Dackel oder ein Kind zur Welt bringe.«

Meine Herrlichkeit mit einem Dackel im gleichen Atemzug zu nennen! Wie einfältig, die stupide Drohung der Hundebesitzerin, die ich durch die Bauchwand hörte, so ernst zu nehmen!

Nun wurde es für mich ungemütlich in ihrem Bauch. Ich spürte die Hand des Arztes erbarmungslos die Bauchdecke nach mir abtasten. Geschickt entzog ich mich, doch der Arzt verfolgte mich, bis er mich in einem unachtsamen Moment am Bein packte. Flugs schlängelte ich mich aus seiner Hand und schwamm befreit ein paar fröhliche Runden.

»Zange«, hörte ich den Arzt zischend zur Hebamme sagen. Zum ersten Mal während meines unbehelligten Werdens erschrak ich. Bisher hatte keiner gewagt, Hand an mich zu legen, geschweige denn eine kalte, unbarmherzige Zange. Dem galt es zuvorzukommen. Bedroht von dem eisernen Löffelpaar, das mich wie ein welkes Salatblatt schnappen würde, lockerte ich eilig die Nabelschnur, die ich mir als Schmuck um den Hals gelegt hatte, schwamm mit einem eleganten Schwung noch ein letztes Mal durch die Schlinge, paddelte zum Abschied traurig mit den Armen, besann mich, nabelte mich hurtig ab, ehe ich mich kopfüber durch den tosenden Geburtskanal in die Hände des Arztes fallen ließ.

Zu meiner Überraschung waren die Hände jung, nicht allzu groß, es waren die Kinderhände eines uralten Arztes. Ein glatter, gut gepolsterter Handrücken, gerade so, als habe der Zahn der Zeit vergessen, die Hände des Arztes altern zu lassen. Gewiss freut der Arzt sich seiner jugendlichen Hände. Die zwillingsgleichen Hände haben ein endlos langes Leben vor sich, noch auf seinem Totenbett leben sie fort, begleiten ihn hinunter in sein Grab. Zwei stumpfe Löcher werden seitlich in das Holz des Sargs geschnitzt, ein luftiger Sarg für einen Toten mit lebendigen Händen.

Wo bin ich? Bin ich im Kreißsaal eines Altersheims zur Welt gekommen? Alle um mich herum sind verwirrend groß und steinalt. Werde ich auch einmal so abscheulich aussehen? Ich schaue mir die unbekannte Greisin an, die ab jetzt die Mutterschaft übernommen hat. Warum wollte sie mich nicht mehr bei sich haben? Wie schön wäre es gewesen, immer in ihr zu leben, geschützt vor Kälte und Schnee, Hitze und Regen, gut genährt und versorgt, ich, der nackte König in seinem Reich, ihrem Bauch. Sie wird bald erkennen, wie mühselig es ist, mich außerhalb ihrer selbst zu nähren, zu kleiden, zu pflegen, mir die Langeweile zu vertreiben, und alles begleitet von meinem unerhört nervigen Geschrei. Sie wird sich nach dem alten Zustand, bauchpack mit mir, zurücksehnen.

Ich nehme ihr übel, dass sie mich nicht zurücknimmt. Meine Rache wird süß sein, langwierig und quälend. In ein paar Monaten wird sie von mir erwarten, dass ich Mama zu ihr sage. Sag schön Mama. Ma-ma wird sie jede Silbe betonend sagen. Nichts da. Von mir hört sie keinen Ton. In froher Erwartung wird sie die zwei Silben aussprechen, die Lippen erwartungsvoll aufeinandergepresst lauschen, ob ich es wiederhole. Ich bleibe stumm. Sie wird erneut versuchen, beide Silben melodisch zu wiederholen, um sie schließlich zu einem Lied zu vertonen. Vergeblich, mein Mund bleibt verschlossen.

Ich könnte augenblicklich Mutter zu ihr sagen, um den Spuk zu beenden, aber wozu ihr eine so tiefe Furcht vor einem sprechenden Neugeborenen einjagen? Sie würde mich vor Schreck fallen lassen und sich weigern, mit mir zusammen das Krankenhaus zu verlassen, und ich bliebe jämmerlich als Waisenkind zurück.

Die Arme weit von sich geschoben, als könne sie sich bei mir anstecken, hielt sie mich vorsichtig im Arm. He, pack mich ruhig an, ich bin nicht aus Glas, wir Säuglinge mögen es hart, wir liegen gerne im Arm einer Frau, die keine Angst vor uns hat. Neugierig beäugte sie mich wie einen auf dem Rücken liegenden zappelnden Käfer. An einem hübschen kleinen Maikäfer hätte sie gewiss mehr Freude. Den könnte sie von einer Hand zur anderen laufen lassen, bis er sich im Labyrinth ihrer überkreuzten Arme verirrt, und ihn dann mit dem Zeigefinger schnell in einem Gefängnis, einer leeren Zündholzschachtel verschwinden lassen. Meine feinen Arme ruderten, ich wollte sie näher ansehen, kam aber nicht vom Fleck. Die Greisin war gewiss mal ein schönes Kind gewesen, ich schaue interessiert ihre zarten Wangen an, die sanft gewölbten rosigen Lippen mit dem ausladenden Schwung, von einem pastellfarbenen Rand liebevoll eingerahmt, aus welchem Winkel ich sie auch betrachtete. Ihr unbewegliches Gesicht wirkte blässlich, die blonden Haare hingen ihr klebrig im Gesicht. Sie hätte sich zu meiner Begrüßung ruhig kämmen können! Plötzlich trieb es mich zu den schmackhaft riechenden Rundungen unter ihrem cremefarbenen Spitzennachthemd, das ihr die knochige Hebamme gerade übergezogen hatte. Hunger tobte in meinem Bauch, ein hässliches, widerliches Gefühl, das ich sogleich weghaben wollte. Hunger, schrie ich. Aber die beiden hörten mich nicht.

»Siehst du«, sagte der Fremde zu der Frau, »du bist mit einem eigenen Nachthemd in die Klinik gegangen, genau, wie du es dir gewünscht hast.«

Die Frau rang sich ein müdes Lächeln ab und nickte. Ich verhungere, während die beiden sich über Nachthemden unterhalten! Ich brüllte los: Hallo ihr beiden, hört ihr nicht, ich habe Hunger, Hunger! Was interessiert mich euer albernes Nachthemd? Bloß weil ihr im Lager keine Nachtwäsche hattet, glaubt ihr, ich, euer Sohn, sei in Freiheit geboren, weil die Fremde bei meiner Geburt ein Nachthemd neben sich liegen hatte? Ich pfeife auf euer Spitzennachthemd, zernage es, zerreiße es in tausend Stücke. Füttert mich, ich will trinken, wachsen und gedeihen, dann entscheide ich, ob ich bei euch bleibe! Ich bewege mich heftig, will mich an die monströse Frau krallen, aber ich erreiche sie nicht. Sie ist gefühllos und kalt. Wie soll sie einen brüllenden Säugling ertragen? Schon beim Bäuerchen wird sie versagen. Womöglich muss mein winziger Finger auf die volle Windel deuten, damit sie mich bitteschön trockenlegt? Sie wird mich mit Essen betäuben und füttern, bis ich unbeweglich bin. Bei so einer Mutter muss ich ja um mein Leben bangen. Ich sehe ihr an, dass sie außer mir keine weiteren Kinder zur Welt bringen wird. Auch dulde ich keine plärrenden kleinen Geschwister, die von den Freiheiten profitieren, die ich mir in hartem Kampf erobert habe. Sie gehört mir. Am liebsten würde ich sie behutsam an die Hand nehmen und mit ihr nach Hause gehen. Den hässlichen Alten brauchen wir nicht.

»Hören Sie«, sagte der Arzt jetzt laut zur ehemaligen Schwangeren, ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich kann Ihnen versichern, dass es ein gesunder kleiner Junge ist. Er schreit wie ein Dreimonatskind, ist sogar schon am Kopf behaart. Er ist ungewöhnlich kräftig für ein Neugeborenes.«

Erneut warf er einen Blick auf mich. Am liebsten hätte ich ihm aus Spaß die Zunge herausgestreckt, damit er was zum Gucken hat.

»Er sieht aus, als habe er die Welt schon einmal gesehen«, sagte der Arzt nachdenklich und kratzte sich die Stirn mit der jugendlichen Hand. Dann, mit dem entschlossenen Blick eines Mediziners, der keine weiteren Fragen duldet, gratulierte er, die Hacken zusammenschlagend, dem frischgebackenen Vater, verabschiedete sich mit einem leisen Weihnachtsgruß auf den Lippen und versprach, später nochmals nach der Fremden zu sehen.

Sobald der Arzt das Entbindungszimmer verlassen hatte, kam die vor Ehrfurcht erstarrte Hebamme zu sich, räusperte sich, legte ihre Packung Kaffee ans Fußende des Bettes. Nun war sie unumstößlich die Herrin des Zimmers. Der Arzt ahnte es nicht, aber er assistierte lediglich ihr, der Hebamme. Dammriss und Kaiserschnitt mögen sein Handwerk sein, für sie ist er der Mann fürs Grobe. Sie ist die Erste, die das Neugeborene wäscht und pflegt.

Sie nahm mich aus den Armen der Frau und trug mich zu einem hohen Waschbecken. Der harte Wasserstrahl irritierte mich so sehr, dass ich alle Anstrengungen unternahm, mich aus dem festen Griff der Hebamme zu winden. Ich kämpfte mit ihr, blickte in ihr großporiges, gelbliches Gesicht, das die Größe eines Fußballfeldes hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt sie misstrauisch inne, sah kurz meinen prüfenden Blick, drehte mich dann auf den Bauch, fuhr unbeirrt fort, mich mit Wasser zu besprengen. Nach dem Baden wickelte sie mich in eine säuerlich nach Desinfektionsmittel stinkende Decke, die meinen Geruchssinn beleidigte und mich aufschreien ließ.

»Ruhen Sie sich aus, zum Füttern bringe ich ihn wieder!«, versprach sie der Frau, griff nach der Packung Kaffee, schob sie erneut in ihre Kitteltasche, wandte sich zum Alten und herrschte ihn an:

»Und Sie verlassen jetzt sofort das Zimmer!«

Ich schrie erbärmlich, als sie mit mir den Korridor betrat. Sie verlangsamte den Schritt und schaukelte mich sanft in ihren Armen.

»Na, wer wird sich denn so aufregen, junger Mann?«

Die Hebamme strich mir über das spärliche lockige schwarze Haar. Ich brauchte ihre Liebkosung nicht, mein seidenzarter Haarwuchs war ganz ordentlich, zumindest konnte ich es schon mit jedem beginnenden Glatzkopf aufnehmen. Kaum dass wir das Geburtszimmer verlassen hatten, schien die nach gemahlenem Kaffee duftende Hebamme heiter gestimmt. Vermutlich raubt sie taufrischen Müttern allzu gerne ihre neugeborenen Kinder, trägt sie mit heimlichem Vergnügen ins Säuglingszimmer.

Sie wiegte mich aus liebgewonnener Gewohnheit im Arm, flüsterte mir Koseworte ins Ohr, summte ein Weihnachtslied. Aber statt das Gute zu genießen, schrie ich auf, weil mir der leidige Geruch der Decke erneut in die Nase stieg.

Wir, meine Hebamme und das schreiende Ich, traten eng aneinandergeschmiegt durch die weiß gestrichene Holztür in das Säuglingszimmer. Augenblicklich beruhigte ich mich. Endlich unter Gleichaltrigen. Wir gingen an meinen Gefährten vorbei, die nur ein paar Stunden oder Tage älter als ich waren. Zur Begrüßung ließ ich einen fahren. Keiner beachtete mich. Ich zwinkerte hier und da, in der Hoffnung auf ein waches Augenpaar. Aber die Kameraden lagen hilflos wie Hirnverletzte in ihrer Bettenburg, auf die Pflege der Schwestern angewiesen, wo sie sich doch jüngst im wässerigen Leib noch freihändig und munter bewegt hatten. Kein Lachen war zu hören. Die vergitterten Bettchen standen rechter und linker Hand an den rapsgelb getünchten Wänden, der freie Mittelgang war die Versorgungsallee. Anstelle der hellen Wände wäre ein feierliches Grau zu unserer Begrüßung weitaus passender gewesen. Wir Säuglinge verfügen nun mal über Geschmack und Standesdünkel. Entscheidend für das zukünftige Leben ist der Standort des Bettes, in dem der Säugling zuerst liegt. Es gibt eine Ecke der Arrivierten und eine der Deklassierten. Ich will zu den künftigen Gewinnern gehören, den rührigen Kameraden, auch wenn sie da noch schemenhaft in ihren vollen Windeln liegen, da bin ich nicht zimperlich. Zwischen der schrumpeligen, an Gelbsucht leidenden zukünftigen Unternehmerin in Bettchen vier und der angehenden Emanze mit den winzigen Hexenbrüstchen in Bett drei will ich liegen. Keinesfalls neben der gegipsten Spreizhose, die sich in späteren Jahren am Bahnhof herumtreiben wird. Manch einer von uns schreit sich im Säuglingszimmer die Seele aus dem Leib, weil er glücklos im Eck der Verlierer liegt, den Geschmack des Versagens wie Bittermandel auf der Zunge, spuckt, würgt und ekelt sich. Von wegen Koliken und Darmbeschwerden. Äußerlich gleichen sie einander, die nackten Körper mit einer rauen Windel umwickelt. Die Kleinen, die bald an den oberen Schalthebeln sitzen werden, reifen unauffällig im steten Rhythmus zwischen Schlafen und Wachsein. Ihr unscheinbares Bettchen ist eine Brutstätte der Macht. Zarte Pflänzchen sind wir, niedlich anzusehen, und trotzdem ist es todernst bei uns im Säuglingszimmer. Ein winziger Kompass ist in uns angelegt, noch zittert die Nadelspitze, aber sie ist ausgerichtet.

»Marianne«, sagt die Hebamme, »hier bringe ich dir einen kleinen Jungen.«

Die Säuglingsschwester will mich in ihre Arme nehmen, aber ich wehre mich. Jetzt auch noch eine in bodenlanger, schwerer Schwesterntracht. Hat sich wohl zu unserer Ermunterung verkleidet. Eine erste Zirkusvorführung in unserem Säuglingszimmer. So ein gefälteltes Häubchen habe ich noch nie gesehen. Wäre schön, es runterzureißen und mir selbst aufzusetzen. Meine Hebamme reicht mich weiter. Man nimmt mich bewundernd auf den Arm. Haben wohl alle einen Narren an mir gefressen, kann ich durchaus verstehen. Aber kaum gewöhne ich mich an eine, gibt sie mich an die Nächste ab. Schade, ich lag so sicher im Arm meiner Hebamme. Ich wollte sie unmerklich zu meinem Wunschbett dirigieren, ohne ihr Misstrauen zu wecken. Die Chancen standen gut, der Kampf im Säuglingszimmer ist ihr wohl gänzlich unbekannt. Sie war sicherlich eine schlichte Hausgeburt. Damals war das Leben eines Säuglings noch bescheiden. Man lag bewegungslos in einem knarrenden Stubenwagen. Heute kämpfen wir von der Stunde der Geburt an schon um unseren Platz in der Welt. In einem Moment der Unaufmerksamkeit überrumpelt mich die Säuglingsschwester Marianne, legt mich an ihre rechte Schulter, ich erschnüffele eine wohlriechende, saubere Windel, lecke kurz daran. Hebe den Kopf und staune: wie herrlich dieser Ausblick auf meine Gefährten! Bin so stolz auf meine kleine Gemeinschaft, so froh, kein erwachsener Greis zu sein! Plötzlich klopft mir Marianne mehrmals hart auf den Rücken. Ich will mich umdrehen, aber ihre warme Hand hält meinen Kopf und hindert mich in meinem Bewegungsdrang.

He, passen Sie auf, Sie ziehen mich ja an den Haaren!, will ich ihr zurufen, bringe aber zu meinem Entsetzen außer einem unanständigen Rülpser keinen Ton heraus.

»Na, siehst du wohl«, lobt die Säuglingsschwester, »so ist es recht, mein Kleiner.« Jetzt lobt man mein Rülpsen, und später treiben sie es mir wieder aus. Da soll einer klug werden aus der Moral dieser alten Frauen. Marianne dreht mich wieder. Schade, die Lage gefiel mir, und die Schwester war auch nicht übel.

»Es ist der erste kleine Mann seit drei Tagen. Ist ja ein drolliges Kerlchen. Habe schon zehn Mädchen im Zimmer, sind alle ganz friedlich«, sagt Marianne und klopft mir sanft auf die Brust. Nun ist es aber genug. Ich mag ihr Klopfen nicht. Ich mag überhaupt nicht angefasst werden. Bin ich ein Tier in einem Streichelzoo, das jeder berühren darf? Sie haben mich, bitte schön, höflich zu fragen. Auf mein Strampeln achten sie nicht. Schreien beeindruckt die abgebrühten Schwestern nicht. Es ist aussichtslos, ich muss ertragen, dass ich ihnen ausgeliefert bin. Nur der Anblick meiner kleinen Kameradinnen tröstet mich. Voller Freude blicke ich mich um. Zehn weibliche Neugeborene, weibliche Gesichtszüge sind kaum zu erkennen, ich sehe Konturen noch ein wenig verschwommen. Aber in Bettchen vier liegt eine, in die ich mich verlieben könnte. Heute habe ich das einzigartige Vergnügen, meine erste Nacht mit zehn Jungfrauen zu verbringen. Ein paradiesischer Zustand im Säuglingszimmer.

»Die Nummerierung des kleinen Bromberger können wir uns sparen«, reißt die Hebamme mich aus meinen vergnüglichen Gedanken. »Er ist der einzig Behaarte unter den kahlen Mädchen. Schau nur die kleinen Löckchen.«

»Übertragen?«, fragt Marianne, wirft einen routinierten Blick auf meine Nägel und zieht mir Fäustlinge aus hellem Baumwollstoff über, die sie am Handgelenk mit Schleifen festbindet. So ein Blödsinn, denke ich wütend, warum fesselt sie mir die Hände? Ich werde mir doch nicht mein eigenes zartes Gesicht zerkratzen! Was glaubt sie! Ich prüfe die Fessel, zum Glück sind die Enden nicht fest verknotet, so dass es mir zweifellos gelingen wird, sie unauffällig am Gitterbett abzustreifen.

»Nein, eine Spontangeburt. Der Kleine hat die Nabelschnur durchgebissen.«

»Auf Station lernt man nie aus.«

»Es ist ein kleiner Jude. Ist halt doch eine eigene Rasse.«

»Ich dachte, die seien alle tot.«

»Nein, einige leben noch. Seine Eltern. Wir haben schon seit Jahren keine von denen auf Station gehabt. Du, Marianne, denk doch mal nach. Der ist an Heiligabend geboren. Wie unser Heiland«, fügt sie bedeutungsvoll hinzu.

Marianne blickt mich fassungslos an.

»Jesus kam auch als Jude zur Welt«, flüstert sie verängstigt und reicht mich an die Hebamme zurück. Na, endlich bin ich wieder bei meiner nach Bohnenkaffee duftenden Hebamme. Ein wunderbarer Geruch.

»Ob das ein Zufall ist?«, fragt die Hebamme.

»Wer weiß. Du, Helga, ich traue mich nicht, den Kleinen anzufassen.«

»Ach was. Hier, nimm sein Händchen.« Sie zieht mir einen Fäustling wieder aus und steckt Mariannes Finger in meine Hand. Ich packe zu wie ein junger Gott und spüre Mariannes Hand zittern.

»Du, ich mag den nicht anfassen«, wiederholt sie schüchtern.

»Ach was, der kommt wie gerufen. Den leihen wir uns für eine Nacht aus und nehmen ihn mit zur Weihnachtsfeier. Kleiden ihn um. Ich bringe die Krippe, sie steht bei uns im Keller. Die Holzfiguren habe ich noch von meinem gefallenen Bruder, er war Pfarrer. Sie wurden in unserem Keller eingelagert. Ich müsste sie nur etwas sauber machen. Dann stelle ich sie im Schwesternzimmer auf. Schau mal, ich habe echte Kaffeebohnen bekommen, für unsere Weihnachtsfeier. Willst du mal riechen?«

»Wo hast du denn den her? Habe mich vorhin schon über den fantastischen Duft gewundert.«

»Geschenk vom Vater«, sagt die Hebamme und deutet auf mich. Zum ersten Mal, seitdem ich ihr begegnet bin, lacht Helga.

Ich zapple vor Wut in ihren Armen. Sie legt mich in ein freies Bett, wickelt mich fest in eine Wolldecke, die sie am Fußende einschlägt, schränkt meinen Bewegungsdrang ein, deckt mich bis zum Hals zu, so dass ich kaum noch etwas sehe. Sie will mich loswerden. Schon eilt sie zur nächsten Geburt. Tonnenschwer liegt die straffgezogene Wolldecke auf mir. Ich achte nicht mehr auf die Platzierung. Nehme sogar in Kauf, neben einer künftigen Toilettenfrau zu liegen. Ich kämpfe um mein Leben. Ich wollte die Säuglingsschwester warnen, mit mir können sie nicht Heiland spielen und dabei genüsslich den geschenkten echten Bohnenkaffee trinken. Doch meine Lippen gehorchen mir nicht, sie bleiben stumm, aus meiner Kehle dringt kein Laut. Ich bin der Sprache noch nicht mächtig. Tränen schießen mir in die Augen. Bringen Mütter ihre Kleinen so hilflos zur Welt, um mit ihnen spielen zu können? Nicht mit mir. Ich spiele mit keinem, und wenn, dann bestimme ich das Spiel. Wenn sie mich jetzt für ihre Feier missbrauchen, mich auf stacheliges Heu legen, spiele ich toter Mann, täusche eine Lungenentzündung vor, oder, besser noch, ich ersticke am Kerzenrauch, versetze sie alle in Panik. Wie klingt wohl die reißerische Schlagzeile der neu gegründeten Tageszeitungen: Der erste nach dem Krieg in einem katholischen Krankenhaus in Frankfurt zur Welt gekommene jüdische Säugling stirbt an einer Rauchvergiftung bei der Weihnachtsfeier im Schwesternzimmer? Das wäre doch zum Lachen, sie mit einem kinderleichten Trick von ihrem unverschämten Vorhaben abzubringen. Doch anstatt zu lachen, gelingt mir nur ein schwaches Hüsteln. Muss wohl erst das Lächeln erlernen, den kleinen Bruder vom Lachen, diese komische Gesichtszerrung, die alle Herzen im Nu erweicht. Verteufelt schwierig, diese Engelsfratze. Als Vorübung schürze und dehne ich meine Lippen, verziehe meine Mundwinkel unter Aufwendung aller Kräfte, auch ein Lächeln will mir nicht gelingen. Wiederholt übe ich, aber erst beim vierten Versuch spüre ich ein erstes Lächeln in meinem Gesicht. Eines, das sich sehen lassen kann, ein richtig schönes, ein bezauberndes Lächeln, das ich, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, testen werde.

Kühn hebe ich meinen schweren Säuglingskopf und beobachte, wie Marianne ihren Dienst versieht. Eine weiße Schürze über das lange graue Gewand gebunden, wickelt sie die Kleinen, schiebt einem schreienden Neugeborenen ihren Finger in den Mund, als ob sie seinen Hunger prüfe. Mir wird sie keinen Finger in den Mund stecken, oder ich beiße zu. Ich fühle schon, wie sich im Unterkiefer etwas regt. Bloß kein frühzeitiges Zahnen, nur keine Aufmerksamkeit erregen. Nur nicht auffallen, vielleicht vergessen die Schwestern mich und nehmen statt meiner eine geschnitzte Holzfigur als Jesuskind. Aber falls sie mich holen, werde ich mich zu wehren wissen. Die widerlichen Fäustlinge an meinen Händen stören mich, mühsam streife ich die Fesseln an der Bettdecke ab. Mädels, könnt ihr sehen, wie stark ich bin? Ich stütze mich auf einen Arm, plötzlich gelingt es mir, mich vorwärtszubewegen. Vor Freude kann ich nicht aufhören, robbe langsam aus der wärmenden Bettdecke heraus, wie eine aus dem Meer kommende Amphibie, die sich kriechend auf dem warmen Sand bewegt, presse meinen Kopf erneut gegen die Stäbe. Unverändert liegen die Gefährtinnen auf dem Rücken, den Kopf auf das Kissen gebettet. Wie man von Marianne gebettet wird, so liegt man. Ich fürchte, meine Kameradinnen beachten mich nicht. Dabei will ich sie beeindrucken mit meinem Talent, sie sollen mich als ihren Helden verehren, mich, den einzigen Mann im Säuglingszimmer.

Aus einem halb geöffneten Auge beobachte ich, wie Marianne sich über die Bettchen beugt. Warum heißt sie Marianne? Reimt sich auf Kanne und Pfanne. Und ich, wie heiße ich? Der kleine Bromberger, so nannten mich die Schwestern. Meine Nenneltern haben sich offenbar noch nicht für einen Vornamen entschieden. Wenn sie mich bloß nicht Spitzi oder Hemdi nennen, will ich schon zufrieden sein. Bis zur Beschneidung haben sie noch Zeit, einen Namen für mich auszuwählen. Vielleicht aber vergessen sie es, weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt sind: Die vergesslichen Eltern tragen mich nach Hause, füttern mich, ziehen mich groß. Sie gewöhnen sich so sehr an ihr namenloses Kind, dass sie später keinen Vornamen mehr finden. Falls sie beim Spaziergang angesprochen werden, wie denn das hübsche Kind im Kinderwagen heiße, nicken die Eltern freundlich und streichen mir stumm über den Kopf. Namenlos bin ich, und namenlos bleibe ich. Namenlos ist mein Name. N. N., noch zu nennender Name, wird auf meinem Schild im Waschraum des Kindergartens stehen, in Kinderhöhe angebracht, oberhalb des Hakens, an dem mein bunter Waschlappen hängt. Während andere Kinder stolze Besitzer von zwei oder gar drei Vornamen sind, reise ich im Familienpass bloß mit Bild und Geburtsdatum. Ohne schützenden Vornamen dem Gespött meiner hänselnden Klassenkameraden ausgesetzt, bin ich wie ein Haus ohne Tür, ungebetene Gäste dringen ungehindert zu mir vor. Ich benenne mich selbst, um meine Namensblöße zu überdecken. Werde meinen beiden Schöpfern leise meinen Lieblingsvornamen einflüstern, bis sie gar nicht anders können, als mich so zu nennen, im festen Glauben, sie hätten den Namen selbst gewählt.

Da, mit einem Mal Geräusche hinter der Glaswand, die uns vom Besucherzimmer abtrennt. Endlich was los in diesem langweiligen Zimmer: Ich entdecke ein paar neugierige Gesichter, Väter, Tanten, Geschwister drücken sich die Nasen platt, pressen Lippen und Hände gegen das Glas, um einen Blick auf uns zu erhaschen, winken, als ob wir sie beachten würden. Pustekuchen. Noch gehören wir uns. Wir sind schillernde Fabelwesen, glitzernde Zwitter, ein Füßchen noch frech im Mutterleib, das andere schon freischwebend in den Lüften. Wir Säuglinge gehören einer von der Wissenschaft vernachlässigten Spezies Mensch an. Noch vernabelt mit der Erde hören und spüren wir, wie sie sich seit Milliarden Jahren mit mächtigem Getöse ächzend und stöhnend um die eigene Achse dreht. Nur als Säuglinge und später am Ende des Lebens, auf dem Sterbebett, bevor wir zerfallen, sind wir der Natur so nahe, so anverwandt gleich.

Zu viert verließen wir das Krankenhaus. Der widerwärtige Greis, die Frau, die darauf bestand, meine Mutter zu sein, meine Hebamme Helga und ich. Ich hatte Helgas Herz vollständig erobert, sie verzaubert, sie mir gefügig gemacht. Um sie für mich zu gewinnen, spielte ich an Heiligabend, hinter dem Rücken der Frau, die mich geboren hatte, für die gesamte Belegschaft des Krankenhauses das Christkind in der Wiege. Der Coup gelang. Mit offenen Augen lag ich wach und brav in der sauber gebürsteten, geflochtenen Krippe und spielte die Rolle des Christkindes so präzise, so täuschend ähnlich, dass drei Oberärzte, vor Rührung ergriffen, vor mir niederknieten.

Scharfsichtig erkannte Helga mein göttliches Potential. Sie ließ ihre gebärenden Frauen im Stich und bot sich den künftigen Erziehungsberechtigten als Säuglingsschwester an. Der Alte hatte nichts einzuwenden, erleichtert willigte die Alte ein. Offenbar hatte ich sie durch die Tatsache meiner Geburt in arge Verlegenheit gebracht, wusste sie doch mit mir, dem König Säugling, der sich aus ihrem schlichten Schoß in die Welt fallen ließ, herzlich wenig anzufangen.

Helga hatte ihre Regeln der Hygiene und Ordnung, Fütterungs- und Schlafzeiten wie ein portables Krankenhaus in unsere Wohnung mitgebracht. Unruhige Nächte, Erbrochenes, stinkende Windeln, nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Augenzwinkernd nannte sie meinen unbändigen Drang, am frühen Abend aus voller Leibeskraft zu brüllen, meine Schreistunde. Schreistunde, das gefiel mir. Entzückt über die gewaltige Kraft meiner Stimme, schrie ich, als würde man mich häuten und vierteilen. Kein Schaukeln, kein gutes Zureden half. Helga wusste das. Pünktlich um achtzehn Uhr, wenn meine Schreistunde begann, verließ sie beim ersten schrillen Ton seelenruhig das Kinderzimmer. Es war ein mörderisches, lustvolles Schreien. Ich variierte, für die abgenutzten Ohren der Greise kaum hörbar, die Töne, steigerte sie nach Herzenslust, kreischte ohne Unterlass, schrie mich ins Delirium, bahnte mir brüllend einen Weg wieder hinaus. Die verunsicherte Alte im Zimmer nebenan zuckte verängstigt zusammen, wenn ich, Wände und Türen durchdringend, mit der Lautstärke von mindestens drei cholerisch gewordenen Dreijährigen zu schreien begann. Kaum fing das Gebrüll an, beglückwünschte sie sich, die Säuglingsschwester zu haben. Flaute der Lärm ab, bedauerte sie es wieder, denn Helga hatte inzwischen die Herrschaft im Kinderzimmer an sich gerissen.

In der Wohnung gab es ein ständiges Kommen und Gehen. Klingeln, Lärm, Fußgetrampel, Geräusche, fremde Stimmen, sogar das Greinen von Säuglingen war zu hören. Aufmerksam lauschte ich. Das sind deine Milchschwesterchen, klärte Helga mich auf. Ich will keine Geschwisterchen, meine Wiege teile ich mit niemandem. Die sind doch viel jünger als du, die armen Würmchen, beschwichtigte Helga, sie bekommen die gleiche Muttermilch, weil ihre Mütter nicht genügend für sie haben. Von mir aus dürfen die kleinen Schmarotzerinnen meine Überbleibsel wegnuckeln, sobald ich, der Senior-Säugling, mich sattgetrunken habe. Aber in meinem Kinderzimmer dulde ich sie nicht.

Ich horchte gespannt, wenn die Eingangstüre krachend ins Schloss fiel. Staubkörnchen flogen auf, ein Käferlein suchte krabbelnd ein schützendes Versteck, Helgas Stricknadeln hielten mit dem Klappern einen kurzen Augenblick inne, Frauenstimmen im Flur verabschiedeten sich rasch. Ich hatte ein Ohr für die Schritte des Alten, kannte sie genau, sie klangen wie die Schritte eines Eindringlings, störend, penetrant, laut. Der Alte war bei uns zu Hause. Mein Geschrei vertrieb ihn nicht, genauer gesagt, es berührte ihn kaum. Er behauptete steif und fest, das lange anhaltende Schreien stärke die schwachen Lungen seines kleinen Sohnes. Eine Beleidigung! Umpusten würde ich ihn glatt mit der gewaltigen Kraft meiner Stimme, wenn ich nur ein klein wenig größer und kräftiger wäre.

Wie auf Knopfdruck ebbte mein Geschrei pünktlich um achtzehn Uhr dreißig ab. Resolut öffnete Helga die Türe zum Kinderzimmer und sah mich prüfend an. Ich schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln, streckte ihr meine kleinen Arme entgegen und jauchzte vor Wonne, wenn sie mich auf den Arm nahm. Zu unserer beider Freude kitzelte sie mein fein gefälteltes Hälschen, freute sich über mein fröhliches Lachen. Wie hübsch und lustig es klang! Helga lachte ebenfalls. Sie verzog ihren riesigen Mund wie ein Papierschiff. Recht primitiv fand ich ihren Mund, er stachelte mich erneut zum Lachen an. Sie warf mich ein wenig in die Luft, uiii, wie schön das war! Ich zitterte vor Freude! Mein Bärchen, nannte mich ihr lachender schiffförmiger Mund. Sie schnupperte an meiner wohlriechenden Haut.

»Mein Bärchen«, sagte sie, »du duftest wie Alpenröschen.«

Königliche Lilien wären mir lieber gewesen, aber vielleicht kannte Helga sich bei Königs nicht aus. Das Spiel des Lachens mochten wir beide, wir hatten so richtig unseren Spaß. Jeder Spaß hat ein Ende. Sie hieß mich ruhig sein, verschloss ihren Mund mit dem gestreckten Zeigefinger, trug mich zum Füttern ins Schlafzimmer der Alten. Treffsicher und mit ungeheurer Geschwindigkeit schnappte ich mir die Brustwarze, umschloss sie samt Warzenhof mit meinem Mündchen, besoff mich an der Milch. Sekundenlang schielte ich unauffällig zu meiner Hebamme, die während der Fütterung kopfschüttelnd neben uns stand.

»Der Kleine ist ein Genießer, der trinkt wie ein ausgewachsener Kerl«, bemerkte sie schmunzelnd.

»Ist das gut oder schlecht?«, fragte die Greisin ängstlich und schob mich befremdet von sich.

»Wie man es nimmt«, antwortete die Hebamme in einem überheblichen Ton.

Ich beschloss, nicht weiter auf das Gerangel der beiden zu achten, kuschelte mich ein, grapschte mit meinen kleinen rosa Fingern nach der zweiten warmen Brust, trank sie mit einem Zug leer, um die Alte zu beeindrucken. Sie beachtete mich nicht, als sei sie in Gedanken versunken. Hallo! Mal hergeschaut! Hier bin ich, seine Majestät, der Säugling! Dass ihre Milch, die ohne ihr Zutun trinkfertig aus ihrem Körper fließt, mir so gut schmeckt, ist doch ein großes Kompliment! Ruppig stieß ich sie mit meinem Ellenbogen an, langsam senkte sie den Kopf, blickte mich scheu an, da riss Helga mich aus ihren Armen.

Zwei Monate nach meinem fulminanten Eintritt in die Welt saß ich morgens aufrecht wie ein Buddha in meiner Wiege. Helga rieb sich die Augen, erstarrte vor Ehrfurcht, bekreuzigte sich, versuchte, nachdem sie sich gefangen hatte, mich sachte wie eine Billardkugel anzustoßen. Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen, federte ihren Schubs ungerührt ab. Knappe sechs Wochen später erwischte mich Helga, wie ich nachts voller Tatendrang den schweren, wolkigen Wiegenhimmel öffnete, elegant aus der schaukelnden hölzernen Wiege stieg und kein bisschen tapsig durch die dunkle Wohnung lief. Das langweilige Kriechen und Krabbeln hatte ich wie zwei lästige Schulklassen einfach übersprungen. Helga holte mich ein. Wir liefen Hand in Hand durch die Wohnung, die ich bisher nur schemenhaft kannte. Sie im langen weißen Nachthemd und ich in den von ihr hübsch gestrickten Hemdchen und Söckchen, meine gelbgraue Gummihose über die weiße Baumwollwindel geknöpft. Besonders die Toilette hatte es mir angetan. Helga setzte sich auf die interessante hölzerne Brille und zeigte mir, was sie für einen kleinen und einen großen Wunsch hielt, lehrte mich mit dem lustigen, baumelnden Ding, das sie meinen Piepmatz nannte, umzugehen. Ich ahmte es nach. Helga meinte, ich wäre jetzt sauber, obwohl ich mich zuvor keineswegs schmutzig gefunden hatte. Ich nehme es ihr nicht übel, wir Säuglinge sind eben anders.

Meine beängstigenden Fortschritte hielt Helga vor den Alten geheim. Sie verschwieg ihnen sogar, dass ich in meinem wunderschönen hellrosa Mündchen schon über etliche beißscharfe elfenbeinfarbene Zähnchen verfügte. Helga war erschrocken, als sie es entdeckte. Dies brachte ihren strikten Fütterungsplan durcheinander. Sie passte sich schnell an, gab mir heimlich feste Nahrung. Wie sehr genoss ich den duftenden Schokoladenbrei, die fettige Haferflockenmilch, die sie in der Küche angeblich nur für sich selbst anrührte. Vor ihr musste ich mich nicht mehr verstellen. Ich weigerte mich, mit dem dummen, aus Gummi gefertigten Beißring zu spielen. Bald stellte ich das wilde abendliche Schreien ein, stürzte mich auf andere Vergnügungen. So zertrümmerte ich mit einem einzigen gezielten festen Faustschlag das klappernde hölzerne Mobile, drei aneinandergereihte Holzpferdchen, dieses Säuglingsfolterinstrument, das über meinem Köpfchen schwebte. Wenn sie nur wüssten, wie uns dieses ohrenbetäubende Geräusch quält! Als ob man mit einem Eisenhammer auf unsere empfindliche zarte Schädeldeckel einschlagen würde! Ich gab Helga zu verstehen, ihre Säuglingsspiele langweilten mich, das stumpfsinnige Kuckuck-Spiel könne sie sich an den Hut stecken! Ich wollte nur wie ein in die Jahre gekommener ältlicher Dreijähriger auf ihrem Bett herumhüpfen. Am liebsten spielte ich Ball mit ihr. Den Ball schoss ich aus meiner Wiege direkt in Helgas Schoß! Tor! Ich bin genial!

Apropos, was machen meine jungen Kameradinnen aus der Säuglingsstation; wie hilflose Krüppel lagen sie damals in ihren Bettchen. Gerade mal mit Müh und Not die Bauchlage geschafft? Bestenfalls können sie in zwei Monaten auf ihrem windelbepackten Hintern sitzen, unter dem Applaus der gesamten Familie, während ich, das schlaue Kerlchen, schon mit Helga sprach.

Lustig war es bei uns im Kinderzimmer, obwohl Helga meinte, von einem Kinderzimmer könne, bei Gott – sie schluckte –, keine Rede mehr sein. Ich hätte, sagte sie, einen klugen Kopf, wie ein kleiner Professor. Wissbegierig sog ich Worte in mich hinein. Ich sehnte mich nach komplizierten Wörtern, die ich wie ein Spielzeug zerlegen könnte. Stattdessen lehrte sie mich fromme Abendgebete, versuchte, mich mit ihren Wiegenliedern zu besänftigen. Für kurze Zeit kehrte Ruhe ein, dann nahm ich Witterung auf, Helga wusste weitaus mehr. Her damit! Seufzend legte Helga ihr Strickzeug weg und brachte mir bei, was sie an Wissen in sich barg. Nach kurzer Übung sprach ich die wenigen lateinischen Ausdrücke, die sie aus ihrem Arbeitsleben kannte, fehlerlos nach. Ich wollte mehr, sprühte Funken wie ein trockener Ast im Feuer. Helga weihte mich in die Funktionen des weiblichen Leibes ein. Hatte ich mir ihr Wissen einverleibt, steigerte sich meine Gier. Wie ein Raubvogel hockte ich auf Helga und pickte die Worte aus ihrem Kopf. So leicht gab Helga sich nicht geschlagen. Sie brachte mir das Alphabet bei, lehrte mich, ihre Armbanduhr zu lesen. Ich entzifferte die Zeit, begriff die willkürliche Einteilung in Gestern und Heute, wollte sie spielerisch durcheinanderwirbeln, Helga bestand auf der bewährten Ordnung.

Abends las sie mir als Gutenachtgeschichte eine Fortsetzung aus ihrem farbig titulierten Arztroman vor. Die Abenteuer der bildhübschen Krankenschwester und des Arztes, die über kurz oder lang ein Paar wurden, langweilten mich. Auf meinen berechtigten Einwand, ob es denn keine hässlichen Krankenschwestern gäbe, schimpfte Helga zum ersten Mal mit mir: »Das kannst du nicht verstehen, du bist zu jung für die Liebe«, sagte sie aufgebracht. Liebe. Die Liebe, was das sei? Bevor Helga antworten konnte, bewegte sich der Türgriff. Mit einem Satz war ich in der Wiege. Die Alte stand ohne vorherige Einladung in unserem Zimmer. Argwöhnisch schnüffelte sie herum, fand nichts Verdächtiges, ging wieder.

Ich langweilte mich. Ich nörgelte herum, weinte grundlos, schmiss das Kissen aus der Wiege, hängte mich wie ein Äffchen an den Wolkenhimmel, bis er zerriss. Helga rutschte die Hand aus. Ich beruhigte mich sofort. Übernächtigt blickte sie mich am nächsten Morgen an, dunkle Augenringe hatten sich in ihr blasses Gesicht eingegraben, beschämt gestand sie ein, sie könne mir nichts mehr beibringen. Sie werde ihre vakante Stelle in der Säuglingsstation wieder einnehmen. Sie kündigte, ließ mich im Stich. Jede große Liebe endet tragisch. Für sie war es schwerer als für mich. Beim tränenreichen Abschied flüsterte sie mir ins Ohr, sie werde ihr Bärchen niemals vergessen. Eines, sagte sie, wisse sie genau, ihr kluges Bärchen sei einer, der die Welt verbessert, eben ein junger Gott, rief sie aus und rannte, erschrocken über die eigenen Worte, für immer zur Tür hinaus. Nachdenklich blieb ich in meiner Wiege zurück. Ich, Helgas junger Gott, wurde geboren, um die Welt zu verbessern? Erst will ich die Welt kennenlernen, sagte ich mir, bevor ich ein einziges meiner entzückenden Fingerlein krümme.

Mein Verschleiß an Kinderschwestern war alles andere als göttlich, er war enorm. Nach einer guten Woche vergraulte ich sie alle, scheuchte sie im hohen Bogen zur Türe hinaus. Ich war unausstehlich. Nur zwei Bauernmädchen hielten es länger als drei Wochen bei mir aus. Sie waren wortkarg und an harte Arbeit gewöhnt. Den ersten Tag ließ ich sie im Glauben, ich wäre ein friedlicher, gut entwickelter Säugling. In der zweiten Nacht schwang ich mich zum Gott des Kinderzimmers auf, hüpfte auf ihr Bett, meißelte Worte aus ihnen heraus. Die Mädchen glaubten, ein widerwärtiges Gespenst habe sie die Nacht über geplagt, während ich, der Täter, friedlich in meiner Wiege lag und genüsslich meine Ausbeute zählte. Dank der gründlichen Nachtarbeit beherrschte ich zwei neue Dialekte aus dem Effeff, Oberhessisch und Sächsisch. Ich kannte mich beim Heueinbringen aus, wusste über Mistgabel, Hagelschlag, Kuckuckskind, Notgroschen, Trümmerfrauen und Onkelehe Bescheid. Mich dürstete nach mehr. Nur Helga hatte verstanden, ihren unersättlichen Säugling zu bändigen. Zu ihren Nachfolgerinnen war ich hässlich und böse. Die letzte flüchtete unter Tränen, ohne Entlohnung, mitten in der Nacht aus unserer Wohnung. Der lästige Alte, der mich gegen meinen gebrüllten Willen zu seinem Vergnügen aus der Wiege hob, sprach zum ersten Mal ein Machtwort.

»Nur über meine Leiche«, schrie er, »kommt eine neue Kinderschwester ins Haus.«

Ganz imponierend sein Geschrei, die Lautstärke zumindest gefiel mir. Vielleicht war das Urgestein gar nicht so übel. Sein altes Gesicht, seine ellenlangen Beine waren mir längst vertraut. Und an den widerlichen amerikanischen Tabak hatte ich mich inzwischen gewöhnt.

Meine erste gute Tat war ein wahrhaft schöpferischer Akt. Helga wäre stolz auf mich gewesen. Dank des mir innewohnenden göttlichen Funkens verhinderte ich beherzt ein Blutbad im Kinderzimmer. Zwei Uralte standen kurz vor einem Kindesmord. Wie sonst mit einem monströsen Ungeheuer von Säugling umgehen? Wir hatten keine Kinderschwester mehr als Sicherheitspuffer zwischen uns. Wir wären zusammengeprallt wie zwei Lokomotiven, die ohne Halt aufeinander zurasen. Eine Rolle rückwärts, und ich schrumpfte dem Alten und seiner Frau zuliebe um etliche wertvolle Monate. Ich stellte mich hilflos und dumm. Zappelnd wie ein ungeschicktes Kleines ließ ich mich wickeln und pudern, quietschte vergnügt aus heiterem Himmel, patschte vor Freude mit perfekt simulierten ungelenken Händchen auf meine geliebte von Helga gestrickte Wolldecke, um beim nächsten Wimpernschlag den Mund zur weinerlichen Schnute zu verziehen. Ich ließ mich stupide in der Wohnung herumtragen und widerstand dem starken Drang, vom Arm zu springen und die interessante Toilette aufzusuchen. Geradezu meisterhaft imitierte ich das sinnlose Kleinkindgebrabbel, hörte mir allzu gerne zu, wenn ich nach Herzenslust klingende Laute aneinanderreihte, fremdelte gekonnt, wenn sich mir ein unbekanntes Gesicht näherte, weinte erbärmlich, wenn ein Unbekannter es wagte, seinen dämlichen Kopf nickend in meine Wiege zu stecken.

Kündigte sich Besuch an, schrie ich durchdringend in schrillsten Tönen, bis sie endlich die Wiege ins Wohnzimmer schoben. Ich trickste sie aus, stellte mich schlafend, tat, als könne keine noch so laute Unterhaltung mich aus meinem Tiefschlaf wecken. Dabei schnappte ich wie ein Verdurstender nach jeder gesprochenen Silbe. Worte, Sätze, ganze Geschichten erfrischten mich wie ein kalter Wasserstrahl an einem glutheißen Sommertag. Am liebsten hätte ich mir ein Wortpolster um Brust und Bauch gebunden, als Vorrat für karge, stille Stunden. Meine Kehle vibrierte. Meine Zunge tanzte wie wild in meinem Mund. Leute, wollte ich rufen, redet mit mir! Ich kann euch verstehen, ich kenne eure Geschichten: Lager, Peitsche, Furunkel, Befreiung, Zigaretten, Schwarzmarkt, Heirat, Bankrott. Am liebsten wäre ich aus der Wiege gesprungen, hätte mich zu ihnen gesetzt und mit ihnen geredet. Aber den Alten zuliebe blieb mein Mündchen fest verschlossen.

Nachts, wenn die beiden schlafen gingen, lauschte ich an der Tür ihres Schlafzimmers. Sie ahnten nicht, wie viele Worte durch die Ritzen nach außen drangen. Wie gebannt blieb ich an ihrer Tür stehen, bis sie schwiegen. Ich hätte ihnen auch die Reihenfolge der grunzenden Laute vorführen können, bevor die alten Sprungfedern so grässlich ächzten, dass meine Ohrmuscheln minutenlang schmerzten. Die gutgläubigen Greise erwischten mich nie. Ich war viel schneller als sie, brauchte weniger Schlaf, für eine Erwachsenenstunde nicht länger als zehn Minuten. Wenn einer aufstand, um mitten in der Nacht ein Glas Wasser zu holen, lag ich längst wieder unschuldig und brav in meiner Wiege.

Den Alten lieferte ich so ein grandioses Schauspiel. Ich spielte den tadellosen Säugling, als sei mir die Rolle auf den Leib geschneidert. Prompt gingen sie mir auf den Leim. Berauscht von meinem eigenen Kunstwerk, fand ich Gefallen an meinem Publikum und verstieg mich zu meiner nächsten guten Tat. Ich, schöner als ein Pfauenauge, stieg in all meiner Herrlichkeit zu den Greisen hinab. Ich gestattete den beiden, mich als ihren Sohn anzusehen. Ich erhob sie zu meinen Eltern! Auf Widerruf, versteht sich. Wie aber meinen neugeborenen Eltern die freudige Nachricht überbringen?

Am nächsten Morgen bewegte ich meine zarten Lippen, sprach sie an.

»Ma Pa«, piepste ich, beobachtete sie dabei scharf.

Die Alte fiel in Ohnmacht. Der Alte fächelte seiner Frau Luft zu. Ich wiederholte stolz mein prächtiges Wortgebilde.

»Das ist deine Mama, und ich bin dein Papa«, sagte Vater überdeutlich und wies auf Mutter und sich.

»Ma Pa«, insistierte ich mit feiner Stimme.

»Und wer bist du?«, konterte Vater.

»Bärchen«, antwortete ich frech.

»Bärelchen heißt er«, lachte Vater, »da schau an!«

Schon wollte ich ihm ins Wort fallen, ob der Unverschämtheit, meinen herrlichen selbstgewählten Namen zu verhunzen, hielt mich aber gewaltsam zurück. Ahnte Vater etwas? Wollte er mich mit seiner Frage in die Falle locken? Mutter rätselte, wo nur das Kind den Namen aufgeschnappt haben konnte. Um mich nicht zu verraten, beschloss ich, das Sprechen bis auf weiteres einzustellen. Nichts konnte mich zum Sprechen verleiten, weder ein kindisch bunter Luftballon noch ein klebriger Lutscher, die ich nur bekommen würde, wenn ich das Zauberwörtchen Danke sagte. Beharrlich schwieg ich, bekam Lutscher und Luftballon dennoch. Als ob ich Wert auf diese lächerlichen Kindereien legte.

»Er mag halt nicht sprechen«, sagte Vater, »der Junge ist ein Spätentwickler. Wirst sehen, mit einem einzigen Satz holt er alles auf.«

Vater hielt mich also für einen Spätentwickler. Wie blind Vater war! Überhaupt glaubten die Eltern, ihr stummer Sohn verstünde sie nicht. Ohne Rücksicht auf mich verständigten sie sich untereinander in einem seltsamen Sprachengemisch. Ich war der Spion in der Wiege. Nachts stieg ich hinter ihr Geheimnis, schraubte ich ihre Sätze auseinander, bog sie zurecht, verflocht sie aufs Neue, jonglierte mit komplizierten Worten. Ganze Wortkaskaden flossen mir dreisprachig über die Lippen, bis ich ihre Sprachen beherrschte; Polnisch, Deutsch und Jiddisch.

Knapp ein Jahr nach meinem glanzvollen Eintritt in die Welt entdeckte ich ein neuartiges Vergnügen: die Lektüre der Eltern. Sobald sie eine Zeitung, einen Brief oder einen beschriebenen Fetzen Papier zur Hand hatten, brüllte ich wie am Spieß, bis sie mich auf den Arm nahmen. Nur in Sichtweite des Papiers verschonte ich sie mit meinem Geschrei. Unauffällig übte ich. Ich studierte verwundert die engen, bis an den Rand beschriebenen Briefe, stutzte über die Kürze der einreihig bedruckten graugrünen Telegramme, die vom Postboten persönlich in die Wohnung gebracht wurden. Besonders das Wort Stop hatte es mir angetan. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag »ANKOMME STOP ABFAHRE STOP« gerufen. Die Versuchung war groß, aber ich hielt meinen kleinen Mund. Mein Lieblingsspielzeug war ab jetzt beschriebenes Papier. Ich raschelte, wedelte, fächerte mir Luft zu, aber in unbewachten Momenten ahmte ich mit den winzigen Fingern kunstgerecht die geschriebene Schrift nach.

Dank Helgas Uhr waren mir Zahlen längst geläufig, Addieren und Subtrahieren flogen mir nur so zu. Aufmerksam verfolgte ich die Geschäfte des Vaters, seine auf einem Fetzen Papier geschriebene Kalkulation. Eifrig suchte ich nach Rechenfehlern, entdeckte ich einen, so würde mein Händchen so lange auf den Tisch patschen, bis er unwillkürlich die Rechnung an sich reißen, den verhängnisvollen Fehler entdecken und ihn verbessern würde. Nur erwischte ich Vater nie. Er verfügte offenbar über exzellente Rechenkenntnisse. Aber ich blieb wachsam. Vier Augen sehen mehr. Ganz besonders meine.

Ich erwies mich als ein nützliches Mitglied der Familie. Für andere dagegen war ich unerzogen, hässlich und böse. Während eines Kindergeburtstags verpassten sie mir sogar einen üblen Spitznamen: Krabeiski.

Ich saß blöd herum am hübsch gedeckten Geburtstagstisch, ein albernes Hütchen schräg auf dem Kopf. Ich sah mich gründlich um, konnte zu meinem Ärger noch nicht einmal Ehemalige aus meiner alten Säuglingsstation entdecken. Was sollte ich hier? Die kleinen Geburtstagsgäste waren mir, dem Senior-Kleinkind, viel zu jung. Aus lauter Langeweile kürte ich das hässliche, zweizahnige Mädchen mit Riesenschleife im spärlichen Haar neben mir zu meinem Versuchskaninchen. Ich kitzelte ihren Arm, kratzte sie urplötzlich, schnappte mir ihr Händchen, biss kräftig hinein, versetzte ihr einen mittelschweren Fußtritt unter dem Tisch. Dass sie meine Experimente so gering schätzte und kreischend nach ihrer Mutter rief, enttäuschte mich zutiefst. So eine Spielverderberin! Blitzschnell huschte ich unter den Tisch, zog den Kleinen auf den Knien umherkriechend die Schühchen aus. Geübt zählte ich ihre Zehen, gebe zu, konnte nicht widerstehen, kratzte und biss ein klein wenig an ihnen. Alle Mann vollständig durchgezählt, fünf Kinder, fünfzig Zehen, kommandierte ich flüsternd und tauchte flott wie ein U-Boot-Kapitän wieder an meinem Platz auf, ohne die Tischdecke zu verziehen. Kinder und Eltern schrien wild durcheinander. Zu meinem Entsetzen hörte ich eine Mutter rufen, so einen kratzenden, beißenden, kickenden Bengel dulde sie beim Kindergeburtstag nicht! Sie zurrte meine Taten in einem unflätigen Namen zusammen und schimpfte mich Krabeiski!

»Krabeiski, Krabeiski!«, schallte es aus allen Ecken.

Sogar die Kleinsten schrien mit. Ich hielt mir die Ohren zu und rannte blitzschnell zur Türe. Keine zehn Pferde, und wären es die schönsten Rennpferde aus dem teuersten Stall, brächten mich nochmals zu so einer geistlosen Veranstaltung. Ich wartete auf meine Eltern. Zum ersten Mal vermisste ich sie.

Zum großen Kummer meiner Mutter wurde ich danach zu keinem Kindergeburtstag mehr eingeladen. Ich konzentrierte mich auf unsere Wohnung, nahm alle verrückbaren Gegenstände auseinander, zwickte Nägel aus der Wand, schraubte wackelige Tischbeine ab, baute um, reparierte. Über Nacht waren stumpfe Messer frisch geschliffen, die Küchenschublade klemmte nicht mehr, der lose Griff an der Türe war festgeschraubt. Wären mir ein paar stocklangweilige Erfinder nicht zuvorgekommen, hätte ich zweifelsohne die Elektrizität, das Fahrrad und das Mikroskop erfunden. Meine Entwicklung wäre kometenhaft in Helgas göttliche Richtung verlaufen, hätte sie nicht ein jähes, abruptes Ende gefunden.

Das geschah an einem sonnigen Nachmittag, als Mutter Liliput im Park begegnete.

Es war ein Sonntag. Glockengeläut dröhnte blechern in meinem Köpfchen. Mutter war eine Frischluftfanatikerin. Täglich zwang sie mir die lästige Ausfahrt auf. Stundenlang blieben die Fenster unserer Wohnung geöffnet. An manchen Tagen hatte Mutter den Gestank »von dort«, wie sie es nannte, im Kopf. Sie beugte sich halb über dem Fensterrahmen, hängte ihren Kopf zum Fenster hinaus, um frische Luft einzuatmen.

Still schob sie den Kinderwagen vor sich her, ein eleganter weißer Korbwagen, aus Weide geflochten, wie ich sie einmal stolz sagen hörte. Das machte ihn keinen Deut besser. Allein schon der Name des unbequemen, nachlässig konstruierten Gestells war mir zuwider. So saß ich im Sporteinsatz besagten Kinderwagens, eine widerliche, dummdreiste Lüge, da er jegliche Sportübung unterband! Noch dazu eingeschnürt in einen festen braunen Lederriemen, dem Oberteil einer burschenhaften Lederhose ähnelnd. Gefesselt wie ein wildes Tier, wurde ich im Gefährt für meinesgleichen durch die Ansammlung von Grün, die sie Park nannten, geschoben. Wozu reden, dachte Mutter, wenn ihr Sohn ohnehin schwieg. Aber auch ein schweigendes Kind hat Gefühle, vor allem, wenn es nicht ausgefahren werden will.

An jenem Sonntag waren wir nachmittags im Park. Mutter, wie üblich in einem leichten hübschen Sommerkleid, Schuhe mit klackernden Absätzen an den Füßen, die Haare seitlich mit Kämmchen aufgetürmt. Vor meinen Augen immerzu das gleiche Bild, nie ein Baum, der mit der Krone auf der Erde steht, Menschen auf drei Beinen oder ein lichterloh brennendes Haus, damit ich endlich was Ordentliches zum Gucken hätte. Wie eingegipst saß ich schwitzend im Sportwagen, fügte mich verbissen in mein Kinderschicksal. Was blieb mir auch anderes übrig. Zum Zeitvertreib fütterte ich meinen klugen Kopf mit Zahlen, multiplizierte, subtrahierte die winzigen Knöpfe an meiner Ausfahrgarnitur.

Ein Ruck, Mutter blieb urplötzlich stehen. Das Gesicht weiß wie ein Gespenst. Ihr Atem ging stoßweise. Mutter kehrte um, lief zu meinem Unmut den gleichen langweiligen Weg, den wir schon gegangen waren, wieder zurück, verlangsamte ihren Schritt, musterte mit zusammengekniffenen Augen eine kleine schwarzhaarige Frau, die Arm in Arm mit einem riesigen, kräftigen Kerl daherspazierte. In einem ungewohnt scharfen Ton herrschte sie mich an: »Schau nicht hin! Da ist sie, die Teufelin!«

Ich hörte nicht auf Mutters Worte. Ich war entzückt. Endlich eine willkommene Abwechslung. Eine schwarze Frau mit zwei Hörnern und einem Schwanz! Aber außer dem riesigen Bauch gab es an der Schwarzhaarigen nichts Besonderes, geschweige denn Höllisches zu entdecken. Klein war sie, viel kleiner als meine Mutter. Die kleine Frau lächelte mich sogar an. Mutter zuckte zusammen, raste mit mir davon, murmelte verworrenes Zeug. Am liebsten hätte ich sie in den Sportwagen gepackt und nach Hause geschoben, so verwirrt war sie. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, fing sich wieder, rannte so schnell, dass ich herauszufallen drohte. Und Mutter hätte den Verlust ihres Sohnes womöglich erst vor unserer Haustür bemerkt.

Zu Hause angekommen, klingelte sie Sturm. Sie war zu entkräftet, um aufzusperren. Vater rannte die Treppen herunter, nahm mich auf den Arm, stützte Mutter zwei Stockwerke hinauf in unsere Wohnung. Er bettete sie auf das Sofa, ein kalter Waschlappen kühlte ihre erhitzte Stirn. Mich setzte er auf eine warme Decke, wie man ein Paket abstellt. Mucksmäuschenstill war ich, spielte mit den Knöpfchen meiner Ausgehgarnitur, aber ich horchte mit wachen Sinnen.

»Die Stiefel, die Stiefel«, keuchte Mutter.

Vater zog ihr die Schuhe aus, massierte ihre Füße. Sie stieß ihn fort.

»Ich habe sie an ihren Stiefeln erkannt!«, flüsterte sie.

»Wen?«, fragte Vater irritiert.

»Liliput«, hauchte sie.

Liliput? Ein putziger Name. Aber warum sah Mutter so erbärmlich aus? Sie krümmte sich, stöhnte, übergab sich. Erbrochenes, Galle, Spucke schwappten aus ihrem Mund, schwammen wie ein kleiner See auf dem Boden. Pfui, wie das stank, dagegen duftet unsere pastellfarbene Kotze lieblich wie ein Blumenbeet. Vater wischte die wabbelige Lache schusselig auf, am liebsten wäre ich aufgesprungen und ihm zur Hand gegangen.

»Bist du dir sicher?«, fragte er dumpf und richtete sich auf.

»Ich habe sie von hinten an ihren Stiefeln erkannt. Sie trägt die gleichen Stiefel wie damals!«

»Du hast nur die Stiefel erkannt?«

»Ich bin die Tochter eines Schusters«, erboste sich Mutter, »mit Stiefeln und Schuhen kenne ich mich aus! Ich habe sie im Park gesehen, ihre Stiefel sind mir sofort aufgefallen.«

»Hast du ihr Gesicht gesehen?«

»Ja! Sie hat ihre Haare zur Tarnung schwarz gefärbt, will wie eine von uns aussehen, aber ich hätte ihre Visage unter Tausenden erkannt, selbst wenn sie kahlköpfig gewesen wäre. Wäre ich bloß nicht umgekehrt«, sagte sie keuchend, »sie hat unser Kind mit ihren mörderischen Augen angesehen. Ihr Blick ist wie ein böser Fluch!«

Mutter schüttelte sich. Sie weinte.

»Klara, sie kann uns nichts mehr tun. Sie kommandiert kein Lager mehr.«

»Dem Kind wird etwas geschehen«, flüsterte Mutter angsterfüllt. »Ich fühle es. Ich lasse ihn nicht mehr aus den Augen.«

Nicht nötig. Ich passe gut auf mich auf. Mich hätten sie nicht abgeholt; ich hätte siedendes Öl vom Fenster auf sie hinuntergeschüttet wie einst die Ritter zur Verteidigung ihrer Burg.

Zitternd saß Mutter da, stoßweise kamen Worte aus ihrem Mund: »Sie … lief mit einem Mann im Park herum! … schwanger!« Mutter schrie auf.

»Nimm dich vor dem Kleinen zusammen, auch wenn er nichts versteht!«, sagte Vater scharf.

Und ob ich sie verstand, nur zu gut. Meine kleinen Ohren waren ganz rot vom angestrengten Zuhören, noch nicht einmal der Schall einer Knallerbse hätte mich abgelenkt.

Mutter legte sich hin, stand wieder auf, wusste nicht, wohin, lief vor Erregung im Zimmer herum.

»Sie wohnt vielleicht ein paar Häuser weiter!«, ängstigte sie sich. Sie rannte in den Flur, und ich hörte, wie sie die Wohnungstür von innen abschloss. Schwer atmend legte sie sich wieder auf das Sofa.

»Ich organisiere ein paar Jungens, wir lauern ihr auf und schlagen sie tot!«, zischte Vater.

Mutters unsicherer Blick streifte mich kurz, nicht länger als der Flügelschlag eines Vogels.

»Was wird er von uns denken, wenn er groß ist?«, fragte sie schwankend.

»Was kümmerst du dich um ihn? Er ist viel zu klein, er kriegt nichts davon mit.«

»Und wenn er es später erfährt? Wird er später auf seine Eltern stolz sein oder uns verachten?«

Mutter sprach von dem älteren Jungen, der ich werden würde, für den ich mich aber schon hielt. Beide Eltern schwiegen, ich gebe zu, auch ich, das schlaue Kerlchen, war verwirrt. Nachdenklich spielte ich mit meinen Händchen.

»Nein«, sagte Mutter schneidend, »du wirst dich nicht an Liliput vergreifen und zum Mörder eines ungeborenen Kindes werden. Du nicht!«

»Wer sonst?«

»Begreifst du denn nicht? Auch wenn Liliputs Brut von einem SS-Mörder gezeugt wurde, das Balg wird nicht durch dich zu Tode kommen!«

»Was willst du?«

Mutter antwortete nicht. Ihre Wangen blähten sich auf, verfärbten sich dunkelrot. Ich fürchtete schon, sie würden aufplatzen wie reife Kirschen.

»Sie frei herumlaufen lassen? Nach allem, was sie uns angetan haben?«

Mutter schüttelte heftig den Kopf.

»Dich einsperren, aus Angst, ihr zu begegnen?«

Mutter schrie erneut auf.

»Was denn?«, schäumte Vater.

»Diese Mörderin darf nicht herumlaufen wie eine harmlose Schwangere!«, kreischte sie.

Noch nie waren die Stimmen der Eltern so laut. Mich hatten sie vergessen.

Fünf Abende später, ein Klingeln an der Tür, Besuch kündigte sich an. Beim dritten Mal summte die Türglocke schon altersschwach.

»Sie sind da!«, rief Vater in die Küche.

Aufgeregte Stimmen im Flur, beißender Zigarettenqualm, keiner achtete auf mein Hüsteln hinter der angelehnten Türe des Kinderzimmers. Ich dulde keine Stimmen im Flur, die ich nicht zuordnen kann. Vor allem wollte ich in das Wohnzimmer. Ich überlegte, wie ich mich entsetzlich brüllend am besten in Szene setzen könnte. Zugegeben, die Waffe Geschrei wurde mir allmählich lästig, am liebsten wäre ich auf zwei Beinen ins Wohnzimmer spaziert, hätte mich zu den Gästen auf das Sofa gesetzt. Schließlich ging es um meine Mutter, da hatte ich ein Wörtchen mitzureden.

Feine Absätze trippelten in Richtung Küche, Schnittchen wurden angerichtet, der Teekessel brodelte. Die Kinderzimmertür wurde weit aufgerissen, eine süßliche Duftwolke sauste herein, Tante Martha, Mutters Lagerschwester, trat ein. Sie roch angenehm nach einem Gemisch aus französischem Parfüm und amerikanischem Waschpulver, beides, schätzte ich, gegen grüne Dollars bei den Amerikanern eingetauscht. Martha hob mich liebevoll aus der Wiege, trug mich ins Wohnzimmer, tauchte ihren Zeigefinger blitzschnell in das bereitstehende Glas dampfenden Tees, anschließend in die Zuckerdose und ließ mich die klebrige Süße des Zuckers abschlecken. Ein königlicher Genuss. Aber so leicht kriegt sie mich nicht herum. Sie will, dass ich mich still in ihre Arme schmiege, damit sie mich einige verstohlene Minuten lang für ihren verstorbenen Sohn halten kann. Er hieß Bärel wie ich. Ein Namensvetter. Die Gäste verstummten, sie starrten uns an. Den süßen Finger wie ein Köder im Mund, lag ich zappelnd wie ein gefangener Fisch in ihren Armen. Ermattet blickte ich zu Mutter. Sie saß ruhig da, nur die Hände, wie im Krampf erstarrt, sahen aus wie zwei Tatzen. Ich muss ein Auge auf Mutter haben, sonst wird sie sich noch in ein Tier verwandeln.

Behutsam, als wäre Tante Martha eine Mondsüchtige, löste ihr Mann mich aus ihren Armen, legte mich in die Wiege, die Vater vorsorglich hereingeschoben hatte. Martha kam zu sich, wischte die Tränen ab, deckte mich zu, setzte sich zu Mutter auf ein Eckchen Stuhl, als stünde ihr nicht mehr zu. Zum Glück waren Mutters Hände wieder schmal und beweglich, sie legte sanft einen Arm um Martha, teilte den Stuhl mit ihr. Die Gäste redeten wild aufeinander ein, und ich war mitten unter ihnen. Immer lauter wurde es, so dass ich trotz höchster Aufmerksamkeit kaum eine Silbe verstand. Sie ließen sich gegenseitig nicht zu Wort kommen, gestikulierten, schrien, bis ein Teeglas klirrend zerbrach. Stille. Marthas Mann Adam, die riesige Nase wie ein Schmetterling in seinem Gesicht, griff nach dem unversehrten Henkel und bedrohte Vater mit dem zerborstenen Glas.

»Als sie uns in die Gruben trieben, hätten wir, anstatt mit der Hand unser Geschlecht zu bedecken, mit der geballten Faust in den Tod gehen sollen! Jetzt Rache zu nehmen ist billig!«

Vater schlug ihm das Glas aus der Hand.

»Du Feigling«, stieß Vater hervor, »musst ja nicht mitmachen!«

»Martha, wir gehen«, rief Adam. Er stand auf. Seine breitflügelige Nase bebte vor Ärger. Ob der Falter gleich davonfliegen würde?

»Wer mit meinem Ambulanzwagen abgesetzt werden will«, rief Adam laut, »kommt mit. Ich warte keine Minute.«

»Adam, bleib«, sagte Siggi beschwichtigend. »Wir müssen beraten, was wir mit ihr tun.«

Er drückte ihn gewaltsam in den Stuhl.

Siggi war gut zwei Erwachsenenköpfe kleiner als Adam, ich bewunderte seine kolossal muskulösen Arme.

Mutter zitterte, als friere sie. Tante Martha saß wie ein Häufchen Elend neben ihr. Beide sahen wie zwei abgeknickte, abgeblasene Pusteblumen aus. Jagte die Teufelin ihnen so eine Furcht ein?

»Solange wir auf dieser blutbesudelten Erde leben, werden wir ihnen begegnen«, sagte Vater mit zusammengekniffenen Lippen.

»Wir wollen weg von hier. Heimwärts, nach Hause, nach Palästina!«, sagte Sali, so blass, als hätte er sein Gesicht mit Kreide bemalt.

»Und wir nur nach Amerika, in das reichste und mächtigste Land der Erde«, sagte Adam. »Dort sind wir vor dem nächsten Krieg sicher. Ich verdiene Geld, chauffiere die Amerikaner, und Martha singt.«

»Die Amerikaner können nicht alle Mörder erwischen«, sagte Vater nachdenklich.

Mutter schrie auf, als wäre sie mit einer Nadel gepikt worden.

»Die Amerikaner! Gerechtigkeit! Das ist es, was ich will. Die Amerikaner sollen sie aufhängen! Hinter eiserne Gitter mit ihr. Vor Gericht stehen bei den Amerikanern soll sie. Gerechtigkeit!«

Was war das für ein Wort, an das Mutter sich so klammerte? Wie ein Äffchen an einen rettenden Ast? Gerechtigkeit. Seltsam. Ein gewaltiges, kraftstrotzendes Wort. Die Runde schwieg, als habe Mutter einen Nerv getroffen, der allen Menschen innewohnt, auch so unterschiedlichen wie Adam und Vater. Gerechtigkeit! Kindgerecht, artgerecht? Wenn wir gerade davon sprechen, ist es kindgerecht, das eigene Kind so zu vernachlässigen?

»Gerechtigkeit für diese Mörder, diese Verbrecher?«, schleuderte Vater ihr entgegen.

»Ohne Gerechtigkeit will ich nicht leben!«, schrie Mutter.

Mutter besprach sich mit Martha, stand taumelnd auf, sie hielt sich mit der Linken an Martha fest, die andere Hand zitterte. Am liebsten wäre ich hinzugesprungen, um ihr zu helfen. Mit brüchiger Stimme sagte sie: »Martha und ich haben Liliputs Kommando überlebt. Wir bestimmen, was mit ihr geschieht. Sie kommt vor Gericht. Ich glaube an die Justiz. Sie werden sie zum Tode verurteilen.«

Am nächsten Morgen blickte Vater besorgt auf Mutters Teller. Sie hatte ihr Frühstück kaum angerührt, nur an einer Tasse Tee genippt.

»Nun iss. Wenigstens ein halbes Hörnchen«, bat er.

Mutter schüttelte den Kopf.

»Klara«, sagte er laut und hob den Brotkorb in die Höhe, »wenn wir hinterfragen, wo unser Bäcker ein paar Monate zuvor als Soldat gewütet hat, verhungern wir am gedeckten Tisch!«

Mutter schwieg.

»Du hast doch deinen Willen. Wir zerren sie vor Gericht. Nun ist aber gut«, sagte Vater beschwichtigend.

Heile, heile Gänschen. Aber es wurde nicht wieder gut. Mutter aß auch an den folgenden Tagen wie ein Suppenkasper. Am dritten Morgen griff ich mit meinen Händchen nach den Essenshäufchen auf ihrem Teller, stopfte sie in mich hinein, damit ihr Teller wie gewohnt ordentlich und leer aussah. Mutter bemerkte es nicht. Sie sah der Fliege nach, die an einem angebissenen Apfelstückchen knabberte, ohne sie zu verjagen. Überhaupt war Mutter anders. Sie holte sich blaue Flecken an Tisch- und Bettkanten, ließ Teller, die sie zum Abtrocknen in der Hand hielt, plötzlich fallen, verbrannte sich beim Kochen am Herd, trug einen großen, nässenden Verband am linken Handgelenk. Mutter war nicht mehr heile.

Fünf Tage später, als Vater in aller Frühe das Haus verließ, um ein großes Gitter für unsere Eingangstür zu besorgen – Mutter hatte auf ein eisernes Gitter zum Schutz gegen die Mörder bestanden –, blieben am Morgen die vertrauten Geräusche aus. Ich horchte angestrengt, aus dem Schlafzimmer drang kein Laut. Ich wagte kaum zu atmen, als sich die Schlafzimmertüre endlich öffnete. Mutter kam herein, blickte mich nicht an, setzte mich wortlos in den Sportwagen, schob mich in die Küche, schnallte mich an, setzte sich auf einen Stuhl und blieb wie festgenäht sitzen. Ab und an tastete ihre ausgestreckte Hand nach mir, als wolle sie sich vergewissern, dass ich lebe. Ich hätte mich spielend aus dem Ledergeschirr des Kinderwagens befreien können, aber ich wagte nicht, mich zu rühren, und blieb unter entsetzlichen Kinderqualen neben ihr sitzen.

Gegen Mittag erhob sich Mutter, band mir ein Lätzchen um, schnitt ein Stück Brot ab, ließ es fahrig auf dem Tisch liegen. Ich hätte vor Hungergeschrei ganze Wände zum Einsturz bringen können, zügelte mich mit all meiner Kraft. Mutter aß nichts, trank nichts, stierte vor sich hin. Wegen mir war sie so niedergeschlagen. Weil ich der Teufelin trotz ihres strikten Verbots ins Gesicht geguckt hatte! Deswegen war Mutter so verändert! Mein Glanz erlosch. Meine Herrlichkeit war dahin. Fort. Verschwunden. Ich war Krabeiski. Ich war böse.

Nie hätte ich gedacht, dass ich Vaters Rückkehr so herbeisehnen würde. Endlich hörte ich den Schlüssel in der Tür. Ich wimmerte, um auf mich aufmerksam zu machen. Er hatte nur Augen für sie. Wie abwesend hielt er mir die abgeschnittene Scheibe Brot in den Sportwagen. Ich grapschte danach, stopfte mir so viel ich konnte in den Mund, verschluckte mich, japste hilflos nach Luft. Die beiden beachteten mich nicht. Ich hätte vor ihren Augen ersticken können! Zum Glück fing ich mich wieder, aß hicksend den Rest Brot, den ich in meiner Faust versteckt hielt. Auch mein quälender Schluckauf bekümmerte sie nicht.

»Klara!«, rief er. »So kann das nicht weitergehen!«

Regungslos saß Mutter da, sah ihn nicht an.

»Am Nachmittag noch im Nachthemd. Ungekämmt. Kein Essen auf dem Herd. Der Kleine hungrig im Sportwagen, stinkende Windeln!«

Mutter antwortete nicht.

»Ich war bei den Amerikanern. Habe sie angezeigt.«

Vater wischte Mutters pitschnasse Wangen mit einem Geschirrtuch trocken.

»Klara«, sagte er eindringlich, »sie werden sie finden. Jetzt komm zu dir. Sei stark.«

Mutter rührte sich nicht, saß da wie eine riesige Holzpuppe.

»Klara«, sanft strich er ihr über den Kopf, »hörst du mich? Bitte, Klara, bitte, komm zu dir.«

Hatte Mutter ihre Ohren verloren?

»Du bist eine Kämpferin. Du hast so viele Gefahren überlebt, wirst doch nicht an einer einzigen Begegnung mit dieser SS-Mörderin zugrunde gehen!«

Er kniete vor ihr, suchte ihren Blick.

»Ich flehe dich an, Klara, lass mich nicht alleine mit dem Kind.«

Mutter saß da, unbeweglich wie ein Tisch.

Vater verlor die Geduld, packte sie an den Armen, riss sie hoch, schüttelte sie, als wolle er sie wach rütteln.

»Komm zurück, Klara!«

Sie sackte wieder auf den Stuhl.

Schweißperlen traten ihm auf die Stirn: »Pass auf, Klara«, stieß er hervor, »komm zu dir, oder ich nehme dir das Kind weg!«

Mutter zuckte zusammen. Ich hielt entsetzt den Atem an. Mein Schluckauf war verschwunden.

»Ja! Du hast dich nicht verhört! Ich nehme dir das Kind fort. Gebe es zu Martha in Obhut. Sie wird sich um Bärel kümmern und ihn wie einen eigenen Sohn aufziehen.«

»Nein!«, schrie Mutter auf. »Er bleibt hier!«

»Dann sei dem Kind eine Mutter!«

Vater riss die Küchenschublade auf, zog mehrere Bogen Papier heraus, warf sie auf den Tisch. Sauberes, unbeschriebenes, dünnes Papier, Luftpostpapier. Für mich? Zum Malen? Krachend rückte er Mutters Stuhl an den Tisch, presste ihr einen Bleistift in die Hand, umklammerte eisern ihre Finger, damit sie ihn nicht losließ.

»Schreibe, Klara, schreibe. Bann das Böse auf das Papier! Fessele es mit deinen Worten! Verpass Liliput den Todesstoß!«

»Was willst du von mir? Ich kann nicht mehr schreiben. Habe das verlernt. Dass ich auf der Schule war, ist schon so lange her.«

»Buchstabieren kannst du«, sagte er streng. »Schreibe, ich befehle es dir! Schreib dich gesund für dein Kind, wenn du es behalten willst! Kämpfe um jeden Satz! Sobald du den Stift aufsetzt, wird sich das Blatt füllen!«

Vaters herrischer Ton gefiel mir. Wenn Not am Mann war, kehrte er den Mächtigen raus, das imponierte mir. Mutter drehte gehorsam den Bleistift zwischen ihren Fingern: »Das Kind bleibt!«, flüsterte sie.

Ihre Augen wanderten vom Papier zu mir und wieder zurück. Eine endlos lange Weile für mein ausgeprägt feines Gefühl. Flecken, rot wie Marmeladenkleckse, verfärbten ihren Hals. Mutters Hand fuhr sanft über das dünne Blatt, als spürte sie schon die freischwebenden Buchstaben. Sie sprang auf, schnallte mich los, zog mich aus dem Sportwagen, nahm mich auf ihren Schoß, drückte mich an sich, dass ich ihr Herz pochen hörte.

»Du bleibst bei mir«, flüsterte sie.

Zart strich sie über mein Ärmchen, als wolle sie die Rundung meiner Armbeuge erkunden. Ihre Finger berührten mein vorgewölbtes Bäuchlein, als spürte sie es zum ersten Mal. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, hielt ganz still. Wie warm ihre Hand war. Mutter spielte Kolumbus mit mir. Sie ging auf Entdeckungsreise. Tastete die Konturen meines Körperchens ab, als erforschte sie eine ihr unbekannte Küste. Immer weiter wanderte ihre neugierige Hand, sanft umfasste sie meine Füßchen, begrüßte sie freudig, als betrete sie Neuland. Mutter liebkoste meine kleinen Zehen, kitzelte meine Sohlen. Ich kicherte. Spaßeshalber knabberte sie an meinen Händchen, als schmeckten sie ihr. Lustig. Schließlich ankerte ihre Hand am heißesten Ort der Erde, meinem erhitzten Köpfchen. Sie tippte mit der Fingerspitze spielerisch auf meine winzige Nase, zwickte meine warmen, dicken Backen. Mutter küsste mich. Mir wurde glühend heiß, als ob die Sommerhitze mich versengte. Mutter entdeckte ihr Herz für mich, obwohl wir schon mehr als eineinhalb Jahre miteinander lebten?

»Ich schreibe«, begann sie langsam, stockend. »Nachts. Am Küchentisch. Für dich … mein Kind … Für meinen kleinen Sohn.«

Ihr Gesicht war ganz nass. Warum trocknete Vater es ihr nicht ab? Vater fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen, wie zwei kleine Schlitze sahen sie aus.

»Wenn ich schreibe …«, sie stockte wieder zwischen den Worten, schluckte, wischte sich mit dem Ärmel über die nassen Augen, »dann die ganze Wahrheit.«

Vater nickte bekräftigend, als ob er die Wahrheit kannte.

»Der Junge bleibt bei mir, während ich schreibe.«

»Nein«, widersprach Vater, »zum Schlafen gehören Kinder ins Kinderzimmer. Das weißt du doch.«

»Kinder schlafen überall.«

»Bärel braucht Ruhe.«

»Das Kind schläft bei mir, während ich schreibe. Ich muss wissen, für wen ich mir die Gedärme aufreiße.«

Nur zögernd willigte Vater ein.

Ein kleiner Stein plumpste zu Boden, zwei, drei, vier, kullerten wie Murmeln an mir herunter. Ich war so erleichtert. Sie behalten mich. Mutter gibt mich nicht fort. Sie lässt mich nicht im Stich. Sie will mich. Mutter liebt mich. Ich will nicht einen Wimpernschlag länger Krabeiski sein. Ich zauberte mein allerschönstes Lächeln auf die Lippen und sprach das Wort aus, das Mutter sich so sehr wünschte.

Ich sagte: »Mama.«

Vater stand auf, verließ die Küche, er wolle das Eisengitter an der Eingangstüre befestigen, murmelte er. Beim Gehen sah ich ihn verstohlen die Augen mit den Handballen abwischen.

Es wird wieder Tag

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